Ostpreußen - Andreas Kossert - E-Book

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Andreas Kossert

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Beschreibung

Endlich ist der Blick frei für ein neues Ostpreußenbild.

Ostpreußens Kultur- und Geistesgeschichte haben ganz Europa bereichert. Doch in der Nachkriegszeit blieb Ostpreußen ein Mythos. Andreas Kossert erzählt die tausendjährige Geschichte Ostpreußens erstmals ohne die politisch bedingten Verzerrungen, die den Umgang mit Ostpreußen lange prägten. Erst das Auflösen nationalstaatlicher Perspektiven ermöglicht eine differenzierte Darstellung der faszinierenden Vergangenheit dieses Landes zwischen Weichsel und Memel.

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Inhaltsverzeichnis
 
Wem gehört Ostpreußen?
»Deutsches Land« oder »reaktionäres Junkerland«?
Polnisch, litauisch oder russisch?
 
Wo liegt Preußen? - »Brus«, die Prußen und die Ursprünge Preußens
 
Mit Feuer und Schwert?
Der Deutsche Orden in Preußen
Die Schlacht von 1410
 
Copyright
Wem gehört Ostpreußen?

»Deutsches Land« oder »reaktionäres Junkerland«?

Um Ostpreußen tobt seit 1945 so etwas wie ein Glaubenskrieg. »Propagandazentrum für Nationalismus, Faschismus und Revanchismus«, so polemisierte ein linkes Flugblatt 1987 gegen die Eröffnung des Ostpreußischen Landesmuseums in Lüneburg, denn im Westen Deutschlands hat man das Land nach 1945 in erster Linie wahrgenommen, wenn die Vertreter der Vertriebenenverbände sich zu Wort meldeten. Diese pflegten stets heftige Reaktionen der DDR, der Volksrepublik Polen und anderer Staaten des Warschauer Pakts auszulösen, denn ihre territorialen Ansprüche boten den kommunistischen Machthabern geradezu Steilvorlagen.
Während hinter dem Eisernen Vorhang alle gesellschaftlichen Gruppen Angst hatten vor der Rückkehr der Deutschen, war die Gesellschaft der Bundesrepublik in bezug auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete schon früh in zwei Lager gespalten. Wo der vermeintliche Feind saß, machte der SPD-Bundestagsabgeordnete und Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Reinhold Rehs, am 3. Juli 1966 in seiner Rede »Ostpreußens Wort zur Stunde« vor mehr als zweihunderttausend Ostpreußen in Düsseldorf deutlich: »Dazu gehört bei uns jene Gruppe verklemmter intellektueller Eiferer, die über die Heimatvertriebenen reden und schreiben wie über geistig Kranke oder politisch Asoziale... Übrig bleiben sollen... von der 750jährigen deutschen Geschichte Ostpreußens ein paar letzte Jahrzehnte; 12 Jahre deutscher Verstrickung in Irrtum und Verbrechen einer Diktatur.«1
Seitdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, nähern sich die Lager an, weil die jüngsten Entwicklungen und die neuere Forschung dazu führen, daß die extremen Positionen aufgegeben werden. Eine neue Generation blickt unbefangener auf das Land und seine Geschichte und ist mit ihren Fragen längst zum Kern der Dinge vorgestoßen: den deutsch-litauisch-polnischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Damals richtete sich auf Ostpreußen das Augenmerk deutscher, litauischer und polnischer Nationalisten. Während die deutschtumszentrierte Historiographie mit Hilfe abstruser Konstruktionen den »urdeutschen« Charakter der Provinz zu beweisen suchte, leitete die polnische Seite aus der ethnisch polnischsprachigen Dominanz in der Bevölkerung Masurens und des südlichen Ermlandes ihren Anspruch auf das südliche Ostpreußen als »urpolnisches Land« ab, und Litauens Forderung nach »Wiedervereinigung« mit dem großlitauischen Mutterland war auf Preußisch Litauen im Nordosten gerichtet.
Nationen produzieren kollektive Erinnerungen. Das historische und kulturelle Gedächtnis ist das Ergebnis kollektiver Identitätsprozesse. Ostpreußen ist dafür ein wunderbares Beispiel: Litauer und Polen haben ihr Deutschlandbild überwiegend aus Ereignissen gewonnen, die auf ostpreußischem Boden stattgefunden haben. Das ist vor allem darauf zurückzuführen, daß Ostpreußen als kulturelle Schnittstelle in litauisch-baltische, polnische und russische Regionen hineinwirkte, andererseits ist diese Region wie keine andere Provinz des deutschen Sprachraums bestimmt gewesen von der ethnischen Eigenart der Bewohner.
Am Beispiel Ostpreußens läßt sich leider auch verfolgen, wie sehr das kollektive Gedächtnis der Nationen form- und fälschbar ist. Gegenspieler des Erinnerns ist das Vergessen, und das kann im Gedächtnis einer Gesellschaft ebenso beeinflußt werden wie das Erinnern.2 Betrachtet man das historische Gedächtnis der um Ostpreußen ringenden Nationen, muß man auf allen Seiten ein gezieltes Ausblenden konstatieren. Die kollektive Erinnerung wurde seit dem 19. Jahrhundert jeweils im Sinne der eigenen Nation gesteuert.
Die ideologische Manipulation der historischen Hintergründe hat den deutschen Blick auf Preußen verengt. Während in der vornationalen preußischen Historiographie auf die besonderen Verflechtungen Ostpreußens mit seinen Nachbarn hingewiesen wurde und der preußische Historiker Christoph Hartknoch (164-1687) in seinem Werk »Alt- und Neues Preußen« schrieb: »Es steht fest, daß das europäische Sarmatien die Polen, Litauer und Preußen wie eine gemeinsame Mutter ernährt«,3 bemühte man sich noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg, Ostpreußens nichtdeutschen Einfluß zu leugnen. In einer offiziellen Publikation der Landsmannschaft Ostpreußen war 1983 zu lesen: »Es handelte sich um keine Slawen, die hier wohnten, sondern um das Volk der heidnischen Prußen, das der baltischen Gruppe, einem Zweig der großen indoeuropäischen Sprach- und Völkergemeinschaft, zuzuordnen ist... Die prußische Bevölkerung wurde... weder vertrieben noch ausgerottet, sondern in die sehr allmählich geschaffene neue Volksschichtung eingebettet. Durch jahrhundertelange soziale Angleichung ist das altpreußische Volkstum blutsmäßig mit der deutschen Bevölkerung verschmolzen.«4 Noch 1990 verfielen Autoren in einen völlig unangebrachten Überschwang: »Es spricht für die Überlegenheit der deutschen Kolonisatoren, daß sie auch einer zahlenmäßig überlegenen fremdvölkischen Unterschicht den Stempel deutscher Kultur aufdrücken und sie in wenigen Jahrhunderten absorbieren konnten.«5
Ihren Anfang nahm diese deutschtumszentrierte Sichtweise mit Heinrich von Treitschkes Artikel über den Deutschen Orden, der bis in die nationalsozialistische Zeit und darüber hinaus das Bild des Ordens in Deutschland maßgeblich geprägt hat. Preußen sollte unter den europäischen Staaten nicht länger als Parvenu gelten, und dieses Ziel hoffte man zu erreichen, indem man seine Geschichte bis auf den Ordensstaat, eine deutsche Großmacht, zurückführte. Ostpreußen wurde zum »Bollwerk«. In der anarchischen Flut der slawischen Völker repräsentierten nach Treitschke der Ordensstaat wie das deutsche Volk schlechthin das Geordnete, Standhafte, aber auch das Wehrhafte. 6 Der neuralgische Punkt in dieser Geschichte war Tannenberg. Das zwischen 1927 und 1934 erbaute Tannenberg-Nationaldenkmal sollte zweifellos Hindenburgs Sieg in der Schlacht von 1914 verherrlichen, aber man verfolgte noch ein anderes Ziel: die Demonstration germanischer Überlegenheit. Ganz im Sinne der deutschen »Volkstums- und Grenzlandpolitik« sollte das Denkmal dem Slawen - und zwar Russen wie Polen - künden, daß der Niederlage des Ordens gegen ein polnisch-litauisches Heer an diesem Ort im Jahre 1410 der endgültige Sieg gefolgt war.
Die Verbindung von Germanen und Ordensrittern, die unhistorische Verknüpfung von Ereignissen des Mittelalters und der Vorgeschichte mit denen der Gegenwart war kennzeichnend für die Ideologie des »Volkstumskampfes« und fand auch in der Belletristik Verbreitung. Max Halbe etwa schrieb in seiner im »Dritten Reich« publizierten Autobiographie über die Ordenszeit: »›Wir wollen gen Ostland reiten!‹ Der deutsche Ritterorden war es, der zuerst diesen Fanfarenruf durch das Deutschland der späten Stauferzeit erklingen ließ. Jahrhundertelang sind ihm Bürger- und Bauernsöhne aus allen deutschen Gauen und Stämmen gefolgt … Jeder Deutsche hat die Fremde im Blut! (Leider auch meistens das Fremde!)... Nicht umsonst hat ein historischer Seher wie Treitschke die germanische Rückwanderung nach Osten und die Besitzergreifung, Wiederbesiedelung der weiten, fruchtbaren Lande zwischen Weichsel und Düna die größte Tat nicht nur unseres Mittelalters, sondern unserer ganzen Geschichte genannt.«7
Erich Maschke, einer der Protagonisten der deutschen »Ostforschung« während des »Dritten Reiches«, hat in der Nachfolge von Treitschke im Deutschen Orden ein Symbol, eine mythische Verklärung des Führerprinzips gesehen, das zu neuer Größe heranwuchs: »Als Vorbild, als Symbol eines bleibend lebendigen Inhaltes steht die Erscheinung des Deutschen Ordens und seines preußischen Staates heute vor uns. Nichts in der Geschichte wiederholt sich; nichts kann kopiert werden. Aber was in unserer Zeit nach Gestaltung drängt, ist dem Wesen und Werk jenes Ordens der Deutschen im Tiefsten verwandt. Wieder sind Soldat und Staatsmann eins. Wieder wachsen Staat und Volk aus dem Werke der Gemeinschaft. Wieder herrscht die Idee des Ordens, wenn es gilt, in strengster Auslese und höchster Bindung dem deutschen Staate... das Leben und die Größe des Volkes für alle Zukunft zu sichern. Diesem politischen Willen unserer Zeit bietet sich nur ein geschichtliches Symbol: der Deutsche Orden.«8
Symbole, die bereits Jahrhunderte überdauert haben, sind besonders wirkungsmächtig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die ideologisierte Ordensgeschichte das Geschichtsbild mehrerer Generationen bestimmt hat. Der damit verbundene Nationalitätenkampf hat Tod und Verderben über die Völker Europas gebracht. Die Staaten des Warschauer Pakts haben nach 1945 die Schuld dafür der Bundesrepublik Deutschland aufgebürdet. Auch die DDR schwenkte als Bündnispartner des östlichen Paktes ideologisch auf diesen Kurs ein. Walter Ulbricht erklärte bereits im Sommer 1945 den Bewohnern der Sowjetzone: »So schmerzlich es ist, so können wir es doch den anderen Völkern nicht verdenken, daß sie sich jetzt Sicherheiten verschaffen, nachdem unser Volk nicht imstande war, im eigenen Land die notwendigen Sicherheiten gegen die Kräfte des preußischen Militarismus und gegen die reaktionären Vertreter des ›Dranges nach Osten‹ zu treffen.«9 Ulbricht rechtfertigte das Vorgehen der Sieger beziehungsweise Befreier mit dem Argument, es müsse vermieden werden, daß der deutsche Nationalismus wieder außer Kontrolle gerate. Er rief seine Landsleute auf, Verständnis aufzubringen für die Zerschlagung Preußens und die Oder-Neiße-Grenze, die 1950 im Görlitzer Vertrag von der DDR anerkannt wurde oder anerkannt werden mußte.
Die Lehrpläne der DDR folgten fortan den ideologischen Vorgaben Moskaus, die in puncto Ostpreußen dem polnischen Standpunkt sehr nahe kamen. Paul Wandel, Volksbildungsminister in der frühen DDR, sah 1952 in der Legitimierung der Oder-Neiße-Grenze lediglich eine Wiederherstellung des Status quo ante, da die verlorenen Ostgebiete erst »unter der Herrschaft der brandenburgischen Kurfürsten, unter Friedrich II. und seinen Nachfolgern im 18. und 19. Jahrhundert dem preußischen Staat als Eroberungen polnischer und anderer slawischer Gebiete eingegliedert worden« seien. Die übrigen Territorien dagegen seien ursprünglich von Slawen besiedelt gewesen und durch die »feudalen Eroberer« germanisiert worden. Damit schloß sich Wandel weitgehend der These polnischer und sowjetischer Historiker an, wonach die Westverschiebung Polens gewissermaßen die historisch-moralische Wiedergutmachung für den verbrecherischen deutschen »Drang nach Osten« darstellte.

Polnisch, litauisch oder russisch?

Tannenberg - das polnische Grunwald und litauische Žalgiris - steht für den polnisch-litauischen Triumph über den Deutschen Orden 1410, Ostpreußen insgesamt hingegen für den räuberischen Kreuzritterorden. Später repräsentierte es den Junkerstaat und wurde schließlich zum Synonym für den preußischen Militarismus schlechthin. In Polen und Litauen zog man - ebenso wie im Deutschen Reich - eine direkte Linie vom Mittelalter bis zur Gegenwart und kam zu dem Ergebnis, daß der den Slawen wie Balten feindlich gesinnte »Kreuzritter« fester Bestandteil des deutschen Volkscharakters sei.
Die hohen Auflagen der Kreuzritterromane von Henryk Sienkiewicz und Józef Ignacy Kraszewski im Nachkriegspolen, die Feiern zum 550. Jahrestag der Schlacht von Grunwald, zahlreiche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften und nicht zuletzt die Kreuzritterfilme sprechen dafür, daß die »Ideologie des Kreuzrittertums« den nationalen Ressentiments der polnischen Bevölkerung entgegenkam. Parallelen zwischen der Niederlage des Ordens bei Tannenberg 1410 und dem Untergang des »Dritten Reiches« 1945 schienen sich geradezu aufzudrängen. Daß ein großer Teil der preußischen Ostgebiete ursprünglich von Slawen besiedelt, durch die »feudalen Eroberer« germanisiert und diese Fremdherrschaft nach Jahrhunderten durch die Oder-Neiße-Grenze beseitigt worden sei, in diesem Punkt waren sich sogar kommunistische Ideologen und katholisch-oppositionelle Kreise einig.
Das ursprünglich von polnischen Nationalisten des rechten Spektrums entwickelte Schlagwort vom »Drang nach Osten« fand Eingang in die marxistische Geschichtsschreibung. Es lieferte eine - wenn auch irrationale - Erklärung für komplexe Phänomene und trug zur Pflege des liebgewordenen Feindbildes bei. Das zeigte sich noch, als der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Edward Gierek, im Juni 1976 die Bundesrepublik Deutschland besuchte und in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« äußerte: »Die tausend Jahre währende Nachbarschaft war nicht immer gut. Im Laufe der Jahrhunderte waren wir dem Drang nach Osten Ihrerseits ausgesetzt, waren wir das Objekt der deutschen Expansion. Dieser Drang offenbarte sich nicht im Kulturbereich, obwohl es auch solche Perioden in der Geschichte der Beziehungen unserer Völker gab. Leider war es anders. Dieser Drang hatte das Hauptziel, uns Polen von dem Boden unserer Väter zu verdrängen.«10
Seit 1945 haben die Polen die Jahrestage des Sieges von 1410 auf dem Schlachtfeld von Grunwald begangen. 11 An diesem historischen Ort verwahrte man eine Metallurne mit der Erde von 130 Schlachtfeldern, auf denen zwischen 963 und 1945 Polen gegen Deutsche gestanden haben. Die mit den Sowj ets kämpfende kommunistische polnische »Volksarmee« (Armia Ludowa) ist am Grunwaldtag, am 15. Juli 1943, in der Sowjetunion vereidigt worden. Drei Monate später erhielt sie in der Schlacht bei Lenino ihre Feuertaufe. Zehn Jahre danach verschmolzen die Schlachten von 1410 und 1943 in einem neuen Denkmal. Zum 550. Jahrestag des Sieges entstand in Grunwald eine ganze Denkmallandschaft, in deren Zentrum ein Obelisk mit zwei Ritterantlitzen aufragt. Diese richten den Blick drohend gen Westen, wo die »revanchistische« Bundesrepublik Deutschland lag, die die Oder-Neiße-Linie nicht als polnische Grenze anerkennen wollte.
Die Eingliederung des »urpolnischen« Ostpreußens wie aller preußischen Ostprovinzen 1945 feierte Polen als »Rückkehr« nach »700jährigem preußischen Joch«. Überall stößt man bis heute auf diese Auffassung. In das monumentale Denkmal vor dem Rathaus von Bischofsburg wurde nach 1945 eingemeißelt: »Myśmy tu nie przyszli, myśmy tu wrócili« (Wir sind hier nicht angekommen, sondern zurückgekommen). In einer polnischen Publikation aus dem Jahr 1958 ist zu lesen: »1944-45 wurden Ermland und Masuren befreit. Die Erde, um die Bażyński, Kalkstein, Kętrzyński und Pieniężny und viele ungenannte Aktivisten kämpften, kehrte zum Mutterland Polen zurück.«12 Und auf der Internetseite der Stadt Rhein (Ryn) in Masuren wird verkündet: »Ryn do Polski prowrócił w 1945 roku« (Rhein ist 1945 nach Polen zurückgekehrt).
Eines der Forschungsinstitute, die den polnischen Charakter der Region wissenschaftlich belegen sollten, war das für die südöstliche Ostseeregion zuständige Wojciech-Kętrzyński-Institut im ermländischen Allenstein. Wojciech Kętrzyński, ehemals Adalbert von Winkler, nahm als ostpreußischer Mediävist bewußt einen nationalen Identitätswechsel vor und reklamierte fortan als Pole den historischen Anspruch Polens auf Ostpreußen. In seiner Schrift »O Mazurach« (Über die Masuren) verankerte er 1872 erstmals Ostpreußen im polnischen nationalen Gedächtnis als »urpolnisch«. Begründet wurde der polnische Anspruch auf Ostpreußen mit der Polnischsprachigkeit der Ermländer und Masuren, obwohl die nationalen polnischen Minderheitenvereine in den »urpolnischen« Regionen Ermland und Masuren lediglich Splittergruppen waren. Allein das Abstimmungsergebnis von 1920, als mehr als 99 Prozent der Masuren für den Verbleib bei Ostpreußen votierten, führte die Propaganda der polnischen Nationalisten von den »unerlösten polnischen Brüdern« ad absurdum. So schmerzlich das für Polens Nationalisten sein mag: Auch 1945 wartete in Ostpreußen niemand auf die »Heimkehr« nach Polen.
 
Litauen begann einst, wo Preußen endete: an den Ufern des Nemunas, den die Deutschen Memel und die Russen Njemen nennen. Diesem Strom, der in seinem letzten Stück zusammen mit dem Kurischen Haff, in das er mündet, die südliche und westliche Landschaft des heutigen Litauen prägt, fühlen sich die Litauer eng verbunden. Nach ihrer Überlieferung hat der Nemunas dem Eroberungsdrang der Ordensritter Einhalt geboten, weshalb er zum Schicksalsstrom Litauens wurde und entsprechend häufig in der litauischen Volkspoesie erwähnt wie in Liedern besungen wird.13
Ganz zweifellos gehört die Schlacht bei Tannenberg am 15. Juli 1410 zu den historischen Ereignissen, die bis heute für Europa eine wichtige politische und kulturelle Rolle spielen, denn an diesem Tag hat ein polnisch-litauisches Heer mit dem Sieg über die Ordensritter die Machtverhältnisse in diesem Teil des Kontinents grundlegend verändert. Für die Sieger hatte der Entscheidungskampf identitätsstiftenden Charakter. In Litauen wird allerdings nicht wie in Polen König Jagiełło (litauisch Jogaila), sondern sein Vetter, der litauische Großfürst Vytautas (polnisch Witold), als Sieger und Held der Nation gefeiert, und man spricht von der Schlacht bei Žalgiris, wobei es sich um eine Übersetzung des polnischen Namens Grunwald handelt, eine Abwandlung von Grunenvelt, also Grünfelde.
Vytautas dem Großen setzten die Litauer 1932 ein Denkmal vor der Militärakademie im litauischen Kaunas. Zu seinen Füßen lagen ein Deutschordensritter mit zerbrochenem Schwert, aber auch ein Russe, ein Pole und ein Tatar, die sich ihm unzweideutig unterwarfen. Das im Krieg zerstörte Denkmal wurde im März 1990 wieder aufgestellt, diesmal an der Laisvės alėja, der Freiheitsallee im Zentrum von Kaunas. Seither diskutieren die Litauer über die Anlage eines Ehrenhains für den »Helden von Žalgiris«.
Anders als in Polen herrscht in Litauen Nachholbedarf in puncto identitätsstiftender nationaler Symbolik, denn während der sowjetischen Ära sind Litauens Denkmäler nationalen Inhalts geschleift worden, und 1980 hat das KGB sogar Feiern zum 550. Todestag des Vytautas untersagt. Um diesen Bedarf zu befriedigen, begingen der litauische Präsident Valdas Adamkus und sein polnischer Kollege Aleksander Kwaśniewski den Tag des polnisch-litauischen Sieges von 1410 im Jahr 2000 gemeinsam, und die beiden Verteidigungsminister unterzeichneten eine Absichtserklärung für eine gemeinsame NATO-Eingreiftruppe. Schon 1999 war das bekannte Gemälde Jan Matejkos, das auf vierzig Quadratmetern die Schlacht von Grunwald (»Bitwa pod Grunwaldem«) darstellt, als Leihgabe des Warschauer Nationalmuseums nach Wilna gelangt: Zweihunderttausend Ausstellungsbesucher bezeugen, daß Großfürst Vytautas, der Sieger über den Deutschen Orden, der große Held der litauischen Nation ist.
Das nach 1918 neu entstandene Litauen hat historische Ansprüche auf das nördliche Ostpreußen erhoben, die weit über das eigentliche litauischsprachige Gebiet Preußisch Litauens hinausreichten und auch Königsberg einbezogen. Das ist zurückzuführen auf die vielfältigen und engen kulturellen Bezüge Litauens zu Ostpreußen, wie die Situation in Russisch-Litauen zwischen 1864 und 1904 zeigt. Der russische Generalgouverneur von Wilna hatte nach der blutigen Niederschlagung des Januaraufstandes von 1863 ein Druckverbot für litauische Schriften in lateinischen Lettern erlassen und auch die Einfuhr solcher Schriften untersagt. Bis heute lastet die Erinnerung daran auf Litauen, denn das Verbot wurde verhängt gegen die erste zaghafte, aus der Idee der nationalen Wiedergeburt erwachsende Blüte der modernen litauischen Literatur. Da erwies es sich als Segen, daß in Ostpreußen seit Jahrhunderten die lithuanistische Tradition gepflegt wurde und ostpreußische Druckereien darin geübt waren, litauische Bücher herzustellen. Diese wurden nun illegal bei Nacht und Nebel nach Russisch-Litauen gebracht und dort unter Lebensgefahr verbreitet. Daß der in Ostpreußen gesprochene litauische Dialekt zur litauischen Hochsprache wurde, lag an den sprachlichen und kulturellen Traditionen, die mit der Gründung der Universität Königsberg entstanden. Diese sind ein wesentlicher Bestandteil des litauischen Nationalbewußtseins. Ostpreußens preußische Litauer und ihre Kultur erlebten seit dem 18. Jahrhundert jedoch einen steten Niedergang. Für das kleine Volk war der Verlust der ethnischen Eigenart eine Katastrophe, auch wenn diese in einem kulturhistorisch so bedeutsamen Land wie Ostpreußen aufging. In dem Essay »Auf der Suche nach Deutschland« schildert die litauische Schriftstellerin Nerija Putinaitė, was die Litauer an der deutschen Kultur schätzten, die immer ganz besonders mit Ostpreußen verbunden sein wird:
»Mythen, die dazu einladen, Deutschland zu suchen. Deutschland ist für uns das Land der gerechten Helden, die die Eigenart Litauens erkennen und zu schätzen wissen: Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder, Karl Friedrich Lessing, Johann Wolfgang Goethe, Georg Sauerwein, Eduard Gisevius und natürlich, an herausragender Stelle, Immanuel Kant. Sie alle nehmen einen Ehrenplatz auf dem Altar der litauischen Mythen von Deutschland ein. Sie alle haben sich nicht nur mit der litauischen Sprache und Kultur beschäftigt, sondern sie auch in Schutz genommen. Lessing etwa zeigte sich beeindruckt von der ›faszinierenden Einfachheit‹ der litauischen Volkslieder. Herder schloss in seiner Liedersammlung acht litauische Volkslieder mit ein, Hamann interessierte sich unter anderem für die mündliche Überlieferung. Ganz zu schweigen von Gisevius und Sauerwein, die sich mit Leib und Seele dem Litauertum verschrieben hatten.
Unser großes Idol Kant verfasste seine ›Nachschrift eines Freundes‹ zu dem 1800 von Mielke herausgegebenen litauisch-deutschen und deutsch-litauischen Wörterbuch. Dieser Text gilt noch vor seinen philosophischen, ethischen und politischen Überlegungen als Kants größter Beitrag zur litauischen Kultur und erhob ihren Verfasser in den Rang einer Ikone des litauischen kulturellen und philosophischen Lebens, Kant selber bekam das Werk, an dem er bis kurz vor seinem Tod arbeitete, gar nicht mehr zu sehen. Die preußischen Litauer seien es wert, dass die Reinheit ihrer Sprache erhalten bliebe - Kant selbst wird sich der lang anhaltenden Wirkung seiner Worte wohl kaum bewusst gewesen sein. Er konnte nicht ahnen, dass dieser Tropfen im Ozean der deutschen Kultur solch gewaltige Auswirkungen auf das litauische Selbstverständnis haben könnte und zu einem Grundpfeiler des litauischen Heldenmythos von Deutschland werden würde.« 14
Auf einem Triumphbogen in Memel, der zum achtzigsten Jahrestag der »Heimkehr« des Memellandes nach Litauen 2003 feierlich eingeweiht wurde, steht: »Wir sind ein Volk, ein Land, ein Litauen«. Die Worte stammen von Ieva Simonaitytė (1897-1978), einer Memelländerin, die zwischen den Weltkriegen zu dem kleinen Häuflein der prolitauischen Protagonisten zählte. Insbesondere die in den USA und Kanada lebenden Exillitauer bezeichnen den litauischen Einmarsch von 1923 bis heute als »Rückgewinnung«, den deutschen von 1939 aber als Annexion. Auf dem alten Memeler Stadtfriedhof steht seit 1977 ein Denkmal, das die »nationale Wiedervereinigung« symbolisiert und an die litauischen »Aufständischen« von 1923 erinnert. Es wurde aus einem deutschen Grenzpfahl der Kaiserzeit gefertigt, der einst bei Nimmersatt stand. Daß 1939 von hundertfünfzigtausend Memelländern nur 585 für Litauen optierten, will man bis heute nicht hören. Die zahlreichen litauischen Verstöße gegen das Memelstatut haben die Memelländer jedoch deutscher gemacht, als sie jemals waren. Letztlich scheiterte Litauen im Memelland - wie Polen in Masuren und Ermland - mit seinem nationalen Anspruch, der regionale Eigenarten mißachtete. Daß Litauisch die Muttersprache vieler Ostpreußen war, bedeutete nämlich nicht, daß sie auch ein prolitauisches nationales Bewußtsein hatten, vielmehr war die ostpreußische Vielsprachigkeit zurückzuführen auf die jahrhundertelang geübte Toleranz.
Für die Litauer ist Preußens Geschichte in Ostpreußen indes nur Episode und Preußen stets als Teil des vom Deutschen Orden annektierten Großlitauen betrachtet worden. Die Ultranationalisten Litauens beziehen sich in ihren Forderungen bis heute auf das Großlitauische Reich des Mindaugas, der sich am 6. Juli 1253 in Wilna selbst krönte, nachdem er die Oberherrschaft über mehrere baltische Stämme erlangt hatte. Das Memelland mit der nördlichen Kurischen Nehrung wurde 1945 Teil der Litauischen Sowjetrepublik und 1991 Teil der demokratischen Republik Litauen. Man kann sagen zum Glück, denn die Litauer sind behutsam mit dem preußisch-litauischen Erbe umgegangen.
Mit der Unabhängigkeit von 1991 hat das freie Litauen einen Teil Ostpreußens erhalten und sich mit der Bestätigung der Grenzen verspätet unter die Siegermächte eingereiht. Die Nachfahren der Exillitauer pflegen das Erbe Preußisch Litauens und haben mit ihren Spenden an litauische und insbesondere kleinlitauische Organisationen schon viel zur Erforschung der litauischen Kultur in Ostpreußen beigetragen. So erschien im Jahr 2000 der erste Band der kleinlitauische Enzyklopädie »Mažosios Lietuvos Enciklopedija«. Die Forderung an Rußland, einen Teil der Kaliningrader Oblast an Litauen abzutreten, erheben sie indes noch immer von Zeit zu Zeit. Zuletzt löste Anfang der 1990er Jahre der litauische Botschafter in den USA, Stasys Lozoraitis, damit internationale Besorgnis aus.
Wie jüngst aufgefundene Dokumente zeigen, waren solche Forderungen auch den leitenden Funktionären der Litauischen Sowjetrepublik nicht fremd. Nationale Politik, selbst wenn sie sich nur in Forderungen zeigte, wurde während der Ära der Sowjetunion durchaus betrieben, und zwar nicht nur von den Staaten an der Peripherie, sondern auch von einigen Sowjetrepubliken.15 Der Mythos von Žalgiris lebte in der Sowjetära auf, da die politisch abhängigen Litauer in dieser Zeit ihre einzigartige ethnische und religiöse Identität pflegten und sich dabei weit mehr von Wunschvorstellungen als von Realitäten leiten ließen. Die Sehnsucht, Stärke und Halt in der eigenen heldenhaften Vergangenheit zu finden, kreiste um den Kampf gegen die Kreuzritter, die jetzt wieder für das übermächtige Rußland standen. Was in der Vergangenheit gelungen war, mußte doch auch in der Zukunft möglich sein. Historische Genauigkeit war da fehl am Platze, denn sie hätte solche Träume zerplatzen lassen.
Im litauischen Kampf mit dem Deutschen Orden spielte auch der litauisch-polnische Gegensatz eine Rolle, der, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die litauische Historiographie dominiert. In der litauischen Geschichte des 13. bis 15. Jahrhunderts spielen die Beziehungen zum Deutschen Orden nur eine Nebenrolle. In der Skala der moralischen Werte stand der Deutsche Orden immer höher als das polnische Königreich. An der Schlacht von Tannenberg im Jahr 1410, die in der polnischen Geschichtsschreibung traditionell mit starken antideutschen Ressentiments beladen ist, interessiert die Litauer im Grunde nur eines: Wer spielte in der Schlacht die größere Rolle - Polen oder Litauer?
Der nichtlitauische Teil der Sowjetunion in der Kaliningrader Oblast, das nördliche Ostpreußen, das direkt zur Russischen Sowjetrepublik gehörte, machte es sich mit dem Neuanfang 1945 besonders leicht. Hier sah man sich in keiner historischen Kontinuität und betrachtete den nördlichen Teil Ostpreußens schlicht als Kriegsbeute. Die Übernahme durch die Sowjetunion bedeutete zugleich Schlußstrich und Neubeginn aus dem Nichts. Aber auch das Nichts hatte eine Vergangenheit.
Während sich in Litauen und Polen nach 1991 zahllose regionale Initiativen wie befreit vom ideologischen Ballast der Vergangenheit des Themas Ostpreußen annahmen, scheint die Entwicklung im Königsberger Gebiet anders zu verlaufen. Auch in Kaliningrad erlebte Königsberg eine bemerkenswerte Renaissance. Der sozialistischen Betonmonotonie wurden Mosaiksteinchen des alten Königsberg entrissen, liebevoll, ja zärtlich bemühte man sich in der gesamten Oblast um die Spuren einer völlig verdrängten Vergangenheit. Das ist noch immer so, doch wird es offiziell zunehmend weniger gern gesehen. Vielmehr werden großrussische historische Bezüge herausgestellt, die an die Rolle der Russen in der Geschichte Ostpreußens anknüpfen sollen.
Die offiziellen Stellen bemühen sich, in einer komplexer werdenden Welt des politischen Wandels krampfhaft um eine regionale Identität, die das Königsberger Gebiet in einen rußländischen Kontext stellt. In Königsberg wächst eine fünfkuppelige orthodoxe »Erlöserkathedrale« empor zur zweitgrößten Kirche Rußlands - ein Zeichen russischen Territorialanspruchs. An der Nordseite des Pillauer Militärhafens krönt eine überdimensionierte Reiterstatue der Zarin Elisabeth Petrowna eine stilisierte »Elisabethanische Festung«. Das Denkmal sei Teil eines Kulturprogramms für das Gebiet Kaliningrad, welches die Region als europäischen Kulturraum und gleichzeitig als traditionell russisches Gebiet aufwerten soll, erklärte der russische Kulturminister Schwydkoi.16 Während des Siebenjährigen Krieges haben die russischen Truppen der Zarin die preußische Ostseefestung Pillau erobert und Königsberg kurzzeitig besetzt. Beide Bauten sollen nun von der »jahrhundertealten Bindung« der Gegend an Rußland künden.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging auch die deutsche Geschichte Ostpreußens zu Ende. Was dort deutsch gewesen war, verschwand und versank. Nur die Vertriebenen schienen die Erinnerung an das Untergegangene zu bewahren. Aber mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 erwies sich das als Irrtum.Längst hatten die russischen Bewohner der »Oblast Kaliningrad«damit begonnen, nach der Vergangenheit ihrer neuen Heimat zu fragen. Hobbyarchäologen und Historiker förderten versunkene Zeugnisse der deutschen Vergangenheit zutage wie diese Porzellanscherben, die Isaak Rutman in Tilsitsammelte und geduldig wieder zu Tassen zusammensetzte. Solche Spurensuche wird von offizieller Seite zunehmend wenigergern gesehen, vielmehr wünscht man großrussische historischeBezüge herzustellen, die die russische Politik und das Festhalten an diesem Gebiet rechtfertigen sollen.
Zum Jubiläum der Stadt Königsberg hat der Kreml eine historisch fragwürdige Sondermünze »750 Jahre Kaliningrad« prägen lassen, und er bestand darauf, die Feierlichkeiten am 4. Juli 2005 abzuhalten, dem Jahrestag der Umbenennung der ostpreußischen Hauptstadt 1946 in »Kaliningrad«.17 Der deutsche Name der Stadt durfte bei den offiziellen Veranstaltungen nicht genannt werden. Das mutet geradezu absurd an, nachdem große Städte Rußlands wie St. Petersburg, Twer, Nishnij Nowgorod und Ekaterinburg ihre historischen Namen wiedererhalten haben. In Königsberg hält man dagegen an den grotesken Bezeichnungen aus der Sowjetära fest: »Es hat den Anschein, als wären es Klangkörper in einem akustischen Reservat des bedrohten Sowjetjargons oder aber Exponate in einem Freilichtmuseum der untergegangenen Sowjetunion, die in ihrer Authentizität selbst Belarus oder Transnistrien in den Schatten stellen.«18
Ob den Bewohnern des nördlichen Ostpreußen in einer schwierigen Zeit des Umbruchs Namen wie »Sowjetstadt« (Sowjetsk), »Bannerstadt« (Znamensk) und »Rotbannerstadt« (Krasnoznamensk) zu neuer Identität verhelfen, sei dahingestellt. Königsbergs Benennung nach Stalins engstem Weggefährten Michail Iwanowitsch Kalinin (1875-1946), mehrere Jahrzehnte formales Staatsoberhaupt der Sowjetunion, ist auf jeden Fall eine Provokation. Während sich der litauische und polnische Teil Ostpreußens dynamisch verändert, wobei die Rückbesinnung auf gemeinsame historische Wurzeln hilft, ist mit Kalinin kein Staat zu machen. Daß zum sechzigsten Jubiläum von Kaliningrad Rufe nach einem Stalin-Denkmal als Dank an den Gründer der Stadt ertönen, läßt den Wunsch nach einer unzensierten Neuentdeckung der Kulturlandschaft Ostpreußen wachsen.
Wo liegt Preußen?
»Brus«, die Prußen und die Ursprünge Preußens
»Die alte preußische Geschichte ist sagenumwobener als die meisten sagenreichen Urgeschichten. Im Anklang an die gotische Einwanderung von Norden her werden die Brüder König Widewuto und Oberpriester oder Kriwe Pruteno als die ersten Führer bezeichnet, die von Gotland her übers Frische Haff auf Flößen ankamen und in Glück und Segen ihr Volk beherrschten. Sie haben ein Lebensjahrhundert überschritten, als sie bei einer Volksversammlung eichenlaubgeschmückt den Scheiterhaufen an der heiligen Eiche von Romowe besteigen. Brüderlich vereint, nach Ermahnungen ans Volk, ein Loblied den Göttern singend, scheiden sie unter Blitz und Donner im Feuer ab, nachdem die 12 Söhne Widewuts die 12 Gaue in Besitz genommen hatten. Damit soll wohl die glückliche Zeit vor der Zersplitterung in Gaue … angedeutet werden.«1
Diese wunderbare Geschichte von den Prußen und ihrem sagenhaften König Waidewuth, die jedoch keinesfalls gesichert ist, hat der Volkskundler Franz Tetzner aufgeschrieben. Preußens Ursprünge sind von Mythen umrankt. Diese Zeit vor der Landnahme durch den Deutschen Orden im Jahr 1225 ist für den Historiker zumeist in wenigen Sätzen abgehandelt. Erst danach läßt sich am südöstlichen Ostseerand das Geschehene anhand historischer Quellen rekonstruieren. Damit tritt Preußen in den abendländischen Kulturkreis ein.
Ist Ostpreußen das Land der Prußen, Litauer, Polen, Russen oder Deutschen? Kaum waren die Geister des Nationalismus erwacht, erhoben die Nationen Ansprüche auf die Region zwischen Weichsel und Memel. Darüber gerieten die ursprünglichen Bewohner, die Prußen, beinahe in Vergessenheit. Deutsche und polnische, zum Teil auch litauische Wissenschaftler lieferten sich erbitterte Kontroversen und ließen die Geschichte dieses Landes willkürlich dort beginnen, wo es in die eigene ideologische Konzeption paßte. Es ist dem Historiker Hartmut Boockmann beizupflichten, der die Geschichte Ostpreußens mit den Prußen beginnen läßt, weil die »Kontinuität des Wissens der Landesbewohner von ihrer eigenen Vergangenheit jahrhundertelang nicht hinter die Prußen zurückreichte«.2 Es ist nicht leicht, sich den alten Preußen, den Prußen, objektiv zu nähern, weil das wenige, was von ihnen überliefert ist, oft bis zur Unkenntlichkeit im nationalen Sinne manipuliert ist.
Der Name Ostpreußen geht auf die Prußen zurück, die hier einst lebten. Die Ursprünge Preußens, das gemeinhin für preußisch-deutschen Untertanengeist steht, könnten kaum nichtdeutscher sein, denn die Prußen zählten zu den baltischen Völkern. Sie sind bereits - wenn auch schwerlich konkret geographisch nachweisbar - bei Tacitus und Ptolemäus bezeugt. Bekanntheit über die Region hinaus erlangten sie durch ihren größten Reichtum: den Bernstein. Dieses »ostpreußische Gold«, weltweit nur in Ostpreußen im Tagebau gefördert, gelangte über die Bernsteinstraße in den Mittelmeerraum, wo es reißenden Absatz fand. Die Geschichte des Bernsteins - im Prußischen heißt Bernstein gintar, im Litauischen gintaras, im Polnischen bursztyn und im Russischen jantar - beginnt mit einer schönen Sage aus der griechischen Götterwelt: »Phaeton, der Sohn des Helios, hatte sich von seinem zunächst widerstrebenden Vater die Erlaubnis erwirkt, auch einmal die feurigen Rosse des Sonnenwagens lenken zu dürfen. Seine Kraft erwies sich aber als zu schwach; der Wagen kam aus seiner Bahn und steckte Himmel und Erde in Brand. Vom Blitz des erzürnten Jupiter getroffen, stürzte Phaeton in die Fluten des Eridanos. Tiefe Trauer um Phaeton erfüllte seine Schwestern, ›die Heliaden‹, die das Mitleid der Götter zu Pappeln an den Ufern des Flusses verwandelte; aber noch in dieser Gestalt weinten sie Tränen, die sich zu dem ›Electron‹ verhärteten.«3
Man gewann den Bernstein im Laufe der Zeit auf verschiedene Weise: durch Schöpfen, Stechen und Baggern, aber auch durch die Bernsteingräberei. Das staatliche Bernsteinregal garantierte später dem Orden und den preußischen Folgestaaten sichere Einkünfte. Verstöße wurden streng geahndet. Im Samland stand für lange Zeit auf unberechtigtes Bernsteinlesen die Todesstrafe.
Bevor der Orden seine Herrschaft im Land der Prußen aufrichtete, hatte man westlich der Elbe nur vage Vorstellungen von dieser Region. Als erster erwähnte der sogenannte Bayerische Geograph das Volk der Prußen (Bruzi), der ihnen das gesamte Land zwischen Weichsel und Memel als Siedlungsgebiet zuschrieb.4 Das war Mitte des 9. Jahrhunderts. Ein weiterer Hinweis stammt aus einem Bericht des jüdischen Reisenden Ibrahim ibn Ja’qub, der während der Regentschaft Kaiser Ottos I. im Jahre 965 oder 966 nach Magdeburg gelangte und dort über die - von ihm selbst aber nicht bereisten - östlicher gelegenen Regionen »Brus« berichtete.
Die Bernsteingewinnung an der Küste des Samlands hatte eine lange Tradition und reichte bis in die prußische Zeit zurück. Dieser frühneuzeitliche Holzschnitt eines unbekanntenKünstlers von 1662 zeigt Bernsteinfischer bei ihrer mühsamenArbeit. Das Gold der Ostsee war über Jahrtausende ein Exportschlager. Es gelangte bereits in der Antike in den Mittelmeerraum,wo eine griechische Sage von seiner Entstehung erzählte. Der auf der Kurischen Nehrung geborene preußischeBaltist Ludwig Rhesa griff diese Sage in seinem »Lied der Bernsteinfischer« auf:
Weise sagen: HeliadenWeinten einst im goldnen HainUm den Bruder an Gestaden,Und die Träne ward zu Stein.
Unklar ist die Bedeutung des Wortes Preußen (Prußen, Prusai). Einiger Forscher schließen auf einen Beinamen (prausti - waschen, prusna - Maul) oder eine Tätigkeitsbezeichnung (Pferdezüchter, im Kaschubischen bedeutet prus Hengst). Von den einzelnen prußischen Stammesnamen, die gleichzeitig als Territorialbezeichnungen dienten, seien erwähnt: Pomesanien (von Pamedian - »Vorwaldland«) und Pogesanien (Pagudian - »mit Pflanzen bewachsenes Land«). Das benachbarte Ermland (Warmien) könnte seinen Namen von dem Begriff warmai (Hummel - für diese Annahme spricht aber nicht viel) oder vom Adjektiv wormyan, wurman (rot in der Bedeutung »rotes Land«) herleiten.5
Erste Berichte über direkte Kontakte mit den Prußen stammen aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende. Im Zuge der Missionspolitik Kaiser Ottos III. richtete sich damals das Augenmerk der Christen zunehmend auf die östlich des Reiches gelegenen Gebiete. Missionsreisen waren also durchaus keine Unternehmungen religiöser Einzelgänger, sondern standen im Kontext der päpstlichen und königlichen Politik. Die Missionierung der Prußen ist mit dem Namen Adalbert von Prag (tschechisch Vojtěch, polnisch Wojciech, ungarisch Béla) verbunden. Der aus altböhmischem Adel stammende Bischof von Prag konnte schon auf die erfolgreiche Missionierung der Ungarn zurückblicken, als er im Jahre 996 auf Kaiser Otto III. traf. Mit dessen Unterstützung begab er sich in das Land der Prußen, wo er 997 den Märtyrertod starb. Ludwig von Baczko, der Chronist Preußens, hat dazu 1792 in seiner »Geschichte Preußens« geschrieben:
»Dies war... Adalberts Schicksal. Er ging in Begleitung seines Bruders Gaudentius und Benedicts, eines Mönches, von Danzig über das frische Haff, entließ seine polnischen Begleiter, wurde anfänglich von den gastfreyen Preußen liebreich aufgenommen, nachher verjagt, und aus unangezeigten Gründen, wahrscheinlich wegen eines unerwarteten Unglücksfalls, holten ihn die Preußen aus einem Orte, den er früh verlassen, Nachmittags ein, banden ihn, und ein Siggo, oder Pfaffe, durchbohrte ihn mit einem Spieße. Als Tag seines Todes wird der 24. [sic!] April 997 angegeben. Der Ort bleibt unsicher. Nach Ankunft des Ordens wurde St. Albrecht bey Tenkitten, ohnweit Fischhausen, zwischen der Ostsee und dem frischen Haffe gelegen, als die Stelle angegeben, wo Adalbert den Märtyrertod litt.«6
Der polnische König Bolesław I. Chrobry sorgte unverzüglich für die Überführung des Leichnams nach Gnesen. Dorthin reiste Kaiser Otto III. im Jahr 1000, um an der Beisetzung Adalberts teilzunehmen. Schon bald erfolgte dessen Kanonisierung. Adalbert stieg zum polnischen Nationalheiligen auf. Diese Verehrung stärkte Gnesens Bedeutung als erstes selbständiges römisches Erzbistum in Polen. Die Christianitas weihte dem Märtyrer Adalbert großartige Kirchen. Neben dem Dom von Gnesen und dem Veitsdom zu Prag wurde ihm - durch König Stephan von Ungarn - der Dom zu Esztergom (Gran) gewidmet; Reliquien des Heiligen befinden sich unter anderem in der Aachener Stiftskirche Sankt Adalbert sowie in San Bartolomeo zu Rom, wo er sich einige Zeit aufhielt. In einer Heiligenvita hatte Gerbert von Aurillac, der spätere Papst Sylvester II., um 998/999 im Schlußvers geschrieben:
Bischof Adalbert litt die Todesmarter für ChristusIn dem Monat April am dreiundzwanzigsten Tage.Durch sein beharrlich Gebet wolle Christus uns, seine Diener,Die sich fromm ihm weih’n, beschützen auf immer und ewig.7
Das Patrozinium des Heiligen ist der 23. April. An diesem Tag ehrten 1997 - ein Jahrtausend nach seinem Tod - Deutsche, Polen, Tschechen und Ungarn den Missionar Mitteleuropas mit Feiern und Sonderbriefmarken als Apostel Preußens und Schutzpatron Böhmens und Polens.
Dem heiligen Adalbert folgte Brun (Bruno) von Querfurt als »Erzbischof der Heiden« mit einer weiteren Missionsreise zu den Prußen. Brun ist für das südliche Preußen noch bedeutender, da er der erste Christ war, der nachweislich in das Gebiet des späteren Masuren vordrang. Dort wurde er um 1009 in Sudauen, wahrscheinlich im östlichen Kreis Lyck, von den heidnischen Sudauern, einem Prußenstamm, erschlagen. Dennoch verbinden sich mit diesem aus dem deutschen Sprachraum stammenden Missionar die Ursprünge des Christentums in Preußen. An die Anfänge christlicher Mission im späteren Ostpreußen erinnert bis heute das sogenannte Brunokreuz am Großen Löwentinsee, das vor 1945 von Deutschen errichtet wurde und für die katholischen Polen ein Symbol der Christianisierung im Nordosten Europas darstellt.
Beide Missionsreisen waren letztlich Fehlschläge in bezug auf das damit verfolgte Anliegen, aber es setzte immerhin eine verstärkte Wahrnehmung der Prußen durch westliche Chronisten ein. Adam von Bremen berichtete in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in seiner »Chronik der Hamburger Bischöfe« von den Prußen und bestätigte - allerdings nicht aus eigener Anschauung - die Existenz des Samlands und seine Bewohner (Sembi) als einen Zweig der Prußen. Auch später wurden viele Informationen ohne genaue Kenntnisse der Situation in Preußen kolportiert und - aus religiösen Motiven - idealisiert.
Als eigene Ethnie bildeten sich die Prußen erst am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter heraus. Eine erste Darstellung der Prußen findet sich auf einer der Bronzetüren des Gnesener Doms aus dem 11./12. Jahrhundert, auf der die Vita des heiligen Adalbert erzählt wird. Sie lebten in relativ autarken Stammes- und Familienverbänden, was dem Orden ihre Unterwerfung nach 1225 erleichterte. Über die prußische Kultur weiß man kaum etwas. Es gibt nur wenige Zeugnisse der Sprache, doch es hat sich bis 1945 eine erstaunlich große Anzahl von Orts- und Flurnamen erhalten, die im litauischen und teilweise sogar im polnischen Äquivalent noch heute erkennbar sind.
Die baltische Sprachgemeinschaft umfaßt vier Sprachen: Prußisch, Kurisch, Lettisch und Litauisch. Das Prußische weist zahlreiche Lehnworte aus dem benachbarten slawischen Sprachraum auf. Insgesamt sind nur etwa 1800 prußische Wörter überliefert. Bis ins 16. Jahrhundert fand die Sprache keinerlei schriftlichen Niederschlag. Erst mit Übersetzungen des lutherischen Katechismus ins Prußische unter Herzog Albrecht von Preußen erfolgte die Umsetzung der Laute in Lettern. Den Untergang der prußischen Sprache im 17. Jahrhundert hat das nicht aufhalten können.
Vor der Eroberung Preußens durch den Orden gliederte sich die Region in jene zwölf Landschaften, die der Legende nach Waidewuths Söhne in Besitz genommen hatten. Peter von Dusberg hat sie in seiner »Chronik des Preußenlandes« im 14. Jahrhundert benannt: Pomesanien, Warmien, Natangen, Samland, Kulmer Land, Löbau, Pogesanien, Nadrauen, Schalauen, Sudauen, Galinden und Barten. Nach Dusberg wurden sie von Völkern (nationes) bewohnt, was den autarken Charakter der einzelnen Regionen bekräftigt. Nach Schätzungen von Hartmut Boockmann lebten auf dem Gesamtgebiet Preußens einschließlich des Kulmer Landes vor der Eroberung durch den Orden etwa 220 000 Menschen.8 Die polnischen Historiker Gerard Labuda und Marian Biskup schätzen die Einwohnerzahl an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert auf etwa 170 000.9
Obwohl an der prußischen Küste ein so bedeutender Handelsplatz wie Truso lag, waren die Prußen keine Seefahrer, sondern eine eher ländliche Gemeinschaft, deren Handel mit anderen Völkern sich mehr oder weniger auf Bernstein und Pelze beschränkte. Daß dieser Handel nicht unbeträchtliche Gewinne abwarf, belegen Silberfunde aus der Zeit unmittelbar vor der Eroberung durch den Deutschen Orden, etwa der altsudauische Silberschatz bei Skomenten (Kreis Lyck).
Die Prußen mußten ihr Land gegen Westen, Süden und Osten verteidigen. Mit der Ankunft des Deutschen Ordens wurde die Westgrenze zur gefährdetsten. Dort tobte fortan der Abwehrkampf der einheimischen Stämme. Als letzte wurden die in den südlichen Landschaften Sassen, Galinden und Sudauen - dem späteren Masuren - lebenden prußischen Stämme unterworfen. Sie konnten sich länger als die anderen der äußeren Feinde erwehren, weil ihnen die natürlichen Gegebenheiten Masurens, die undurchdringlichen Wälder und die vielen Seen, zu Hilfe kamen. Der in Tilsit an der Memel geborene Schriftsteller Johannes Bobrowski hat diesem untergegangenen Volk der Prußen - durchaus politisch idealisiert - in seinem Poem »Pruzzische Elegie« ein Denkmal gesetzt:
Direin Lied zu singen,hell von zorniger Liebe -dunkel aber, von Klage...Namen reden von dir,zertretenes Volk, Berghänge,Flüsse, glanzlos noch oft,Steine und Wege -Lieder abends und Sagen,das Rascheln der Eidechsen nennt dichund, wie Wasser im Moor,heut ein Gesang, vor Klagearm -10
In Ostpreußen wird eine mythenumwobene prußische Kultstätte »Romuva« (slawisiert Romove) vermutet - was wohl auf ramus oder romus zurückgeht und soviel wie »ruhevoll, friedlich« bedeutet -, von der man nicht genau weiß, wo sie sich befand. Es ist anzunehmen, daß sie im nadrauischen Gebiet lag. Vermutlich hat es mehrere »Romuva« gegeben, deren oberster Priester Krivê hohes Ansehen genoß. Das Wissen über die prußische Götterwelt, wie sie in Bobrowskis Poem anklingt, ist letztlich vage. Die Anzahl der Götter, die in heiligen Hainen und an geweihten Gewässern verehrt wurden, ist ungewiß, und man weiß auch nicht, welche Aufgabe sie im einzelnen zu erfüllen hatten. Der Chronist Simon Grunau zählte sechs Gottheiten auf: Pattollo, Potrimpo, Perkuno, Wurschaito (oder Borsskaito), Svaibrotto und Curcho. Aus der im Laufe der Zeit vielfach getrübten Überlieferung heben sich die Götternamen Perkuns, Natrimpe oder Patrimpe und Patollu heraus, wenn die Namensformen auch schwanken. Urkundlich verbrieft - nämlich im Christburger Friedensvertrag von 1249 - ist nur der Feldgott Curcho oder Curche.
Die Prußen verbrannten ihre Toten und behielten diese heidnische Praxis während der Ordenszeit bis tief ins 15. Jahrhundert bei. Zu Perkuno (oder Perjuns, Perkunas, Perkunos), dem Kriegsgott, der sich Blitze schleudernd und mit Donnergrollen bemerkbar machte, wurde vermutlich in Heiligtümern am See Perkune im Kreis Preußisch Eylau sowie im Dorf Perkuiken im Kreis Bartenstein gebetet. Auch in Litauen wurde er verehrt. In der vorchristlichen Welt Litauens sind nämlich identische oder ganz ähnliche Gottheiten bekannt, und in der litauischen Kultur und Sprache gibt es viele Übereinstimmungen mit der prußischen Tradition, wenn auch keine Deckungsgleichheit. Bis heute ist den Litauern der Berg »Rombinus« an der Memel heilig. Auf einer Anhöhe befindet sich dort der prußisch-litauische Opferstein des Gottes Perkun:
»Schräge der Stadt Ragnit gegenüber an der andern Seite der Memel erhebt sich hart an dem Ufer des Stroms ein ziemlicher Berg, mit vielen Spitzen und Löchern und bewachsen mit Fichten. Der Berg heißt der Rombinus. Hier war vor Zeiten der heiligste Ort, den die alten Litthauer hatten, denn dort war der große Opferstein, auf welchem ganz Litthauen dem Ersten seiner Götter, dem Perkunos, opferte; von dort aus wurde Heil und Segen über das ganze Land verbreitet. Der Opferstein stand auf der Spitze des Berges. Der Gott Perkunos hatte ihn selbst noch dort hingelegt. Unter dem Stein war eine goldene Schüssel und eine silberne Egge vergraben; denn Perkunos war der Gott der Fruchtbarkeit; darum begaben auch bis in die späteste Zeit die Litthauer sich zum Rombinus und opferten dort, besonders junge Eheleute, um Fruchtbarkeit im Hause und auf dem Felde zu gewinnen.«11
Nach Auffassung der Christianitas hatten die prußischen Heiden sich ihr Schicksal selbst zuzuschreiben. Schon der Chronist Peter von Dusberg hat diese Auffassung befördert, denn was er über die Lebensweise der Heiden schrieb, diente vorrangig dem Ziel, die Abscheulichkeit dieser Söhne des Satans zu zeigen, gegen die der Orden im Auftrag der Christenheit zu Felde zog.12 Erst Jahrhunderte später haben sich einige ostpreußische Adelsfamilien prußischer Abstammung auf die vorchristlichen Traditionen Preußens besonnen und das Andenken an ihre Vorfahren aufleben lassen. So hörte ein Sproß der altpreußischen Familie von Kalnein im 19. Jahrhundert auf den Namen Natango Weidewuth Graf von Kalnein.
Die Prußen gingen indes nicht unter, sondern haben - wie die polnische Prußenexpertin Łucja Okulicz-Kozaryn herausgefunden hat - in einem langen Assimilationsprozeß während des 17. Jahrhunderts ihre kulturelle Eigenart und Sprache zugunsten der deutsch-, polnisch- oder litauischsprachigen Kultur Ostpreußens aufgegeben.13 Spuren haben sie vor allem in den Namen von Orten und Seen hinterlassen. Die meisten Ortsnamen prußischer Herkunft konzentrieren sich im Samland, im Raum Königsberg, in den Kreisen Labiau, Wehlau, Preußisch Eylau, Bartenstein, im Ermland und in der Gegend um Rastenburg. Prußische Bezeichnungen sind aber über das gesamte Ostpreußen verteilt, bis tief in den Süden nach Masuren hinein. Namen wie Sangnitten, Canditten, Tykrigehnen, Skerwitten, Topprienen, Worglitten, Serpallen, Bieskobnicken, Palmnicken, Pertelnicken, Pentekinnen, Prilacken, Pokirren, Keykuth und Willgaiten haben Ostpreußen seinen besonderen Klang verliehen. Diese Ortsnamen erzählen auch vom alten Preußen, das seine Wurzeln hier am südöstlichen Rand der Ostsee in der nichtdeutschen Welt der Balten hatte.
Mit Feuer und Schwert?

Der Deutsche Orden in Preußen

»Der Heidenschaft hat er dieses Land abgewonnen, und mit seinem Blute hat er es gedüngt, mit dem edelsten deutschen Blute. Nicht leer hat er die Kampfstätte gelassen; aus allen Gauen des Heimatlandes hat er die kräftigsten Arbeiter hierher zusammenberufen und jedem seine Scholle angewiesen. Hier ist Sachsen und Franken, Bayern und Schwaben! Rundum aber bedrohen Polen und Massowier, Litauer und Szamaiten die Grenzen dieser deutschen Nordwacht und möchten das Licht auslöschen, das hier angezündet ist und ihnen die blöden Augen blendet. Deutsche Lehre, deutsche Sitte, deutsches Recht sind ihnen ein Greuel.«1
Ernst Wichert hat in seinem Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen historischen Roman »Heinrich von Plauen« der nationaldeutschen Gesinnung mit diesen Worten Ausdruck verliehen. Mit seiner Interpretation der Ordenssiedlung führte er weiter, was einst der Ordenschronist Peter von Dusberg begonnen hatte. Auf der Gegenseite versammelten sich die Ideologen in Polen und Litauen, später auch die der DDR sowie der Linken im Westen, eben all jene, die eine direkte Linie vom »räuberischen« Orden zu den ostelbischen Junkern zogen, den Steigbügelhaltern Hitlers. Ostpreußen war Junkerland, und das stand für Kolonialismus, Unterwerfung, Großgrundbesitz, Reaktion und Arroganz. Das alles sind mythenüberfrachtete Bilder des 19. und 20. Jahrhunderts, die Wirklichkeit ist hingegen ganz anders.
Schon vor der Eroberung Preußens durch den Orden unternahm die Christenheit auf Drängen des Gnesener Erzbischofs Anstrengungen, die Mission in Ostmitteleuropa voranzutreiben. In Rom wurde 1215 der Abt von Łekno zum Bischof für die Preußenmission geweiht. Papst Honorius III. rief 1217 sogar zum Kreuzzug gegen die Prußen auf, allerdings vergeblich. Nachdem auch ein militärischer Versuch masowisch-polnischer Fürsten mißlungen war, die Region nach westlich-christlichem Verständnis zu »befrieden«, entschloß sich Konrad von Masowien 1226, den Deutschen Orden zu Hilfe zu rufen.
Der Orden, der 1198 während des dritten Kreuzzugs im Heiligen Land gegründet worden war, hatte zunächst in Siebenbürgen gewirkt, wo er auf Bitten Andreas’ II. die Kumanen unterwarf. Noch bevor er sich dort etablieren konnte, hat der ungarische König ihn aber des Landes verwiesen. Auch dem masowischen Herzog schwebte kein langfristiges Engagement des Ordens in der Region vor, sondern eine befristete Aktion zur Befriedung und Christianisierung des nördlichen Nachbarn. Aber es sollte sich zeigen, daß die masowischen Teilfürsten und der polnische König an einen expansiv ausgerichteten Konkurrenten um die Vorherrschaft im südöstlichen Ostseeraum geraten waren.
Für dreihundert Jahre war der Deutsche Orden die gestaltende Kraft in der Region. Der Hochmeister Hermann von Salza hat nämlich nicht nur mit dem masowischen Herzog Konrad eine Vereinbarung getroffen, sondern sich sowohl beim Papst als auch beim Kaiser rechtlich abgesichert. Kaiser Friedrich II. sprach dem Orden 1226 in der Goldenen Bulle von Rimini alle Eroberungen in Preußen zu und hob ihn in den Stand eines Reichsfürsten. Im Jahr 1230 wurde in dem umstrittenen Vertrag von Kruschwitz die Übertragung des Kulmer Landes durch den Masowierfürsten Konrad auf den Deutschen Orden besiegelt. Vier Jahre später, am 3. August 1234, bestätigte Papst Gregor IX. im Vertrag von Rieti den Landbesitz des Ordens und erklärte das Gebiet zum Eigentum des Patrimonium Petri.
Seit 1230 nahm der Orden von seiner Burg in Thorn aus das Kulmer Land in Besitz. Schon 1233 erfolgte die Gründung der Städte Kulm und Thorn. Von der Weichsel und halbkreisförmig weiter entlang der Ostseeküste hat der Orden das noch zu erobernde Preußen von Westen und Norden umschlossen (Marienwerder 1233, Elbing 1237, Balga 1239) und schließlich 1255 auf einer Erhebung oberhalb der Pregelmündung eine Ordensburg angelegt, die zu Ehren des Kreuzzugsführers König Ottokar II. von Böhmen »Königsberg« genannt wurde. Um die Burg herum entstanden die selbständigen städtischen Siedlungen Altstadt (1286), Löbenicht (1300) und Kneiphof (1327), die 1724 zur »Königlich preußischen Haupt- und Residenzstadt Königsberg« vereinigt wurden. Fast alle späteren Stadtgründungen in Preußen erfolgten nach dem Vorbild der Kulmer Handfeste, ausgestellt bei der Gründung der Stadt Kulm an der Weichsel. Die »Handfeste« entsprach dem lateinischen »Privileg«. Die Bezeichnung geht auf den Akt zurück, durch den mit der Hand ein Vertrag gültig gemacht wurde (»manu firmata«).2
Im Vertrag von Christburg wurden 1249 auf Wunsch der Kurie den bekehrten Prußen umfangreiche Freiheitsrechte zuerkannt, und auch die nichtbekehrten genossen Privilegien und Schutz. Die Praxis sah hingegen anders aus: Die ursprünglichen Bewohner des Landes wurden unterdrückt und in untergeordnete Stellungen gedrängt. Der soziale und wirtschaftliche Ausgrenzungsprozeß ging einher mit der vom Orden geförderten Ansetzung deutschsprachiger Siedler in den neugegründeten Orten. In die südlichen Regionen Preußens kamen zunehmend polnische Siedler, die sich seit dem 14. Jahrhundert im späteren Masuren niederließen, während im Norden und Nordosten des Ordensstaates der Zuzug litauischer Siedler verzeichnet wurde.
Von Anfang an hat der Orden beabsichtigt, unabhängig von äußeren Einflüssen ein eigenes Souverän zu schaffen und seine Abhängigkeiten von Polen und dem Reich auf ein Mindestmaß zu beschränken. Dazu gehörte auch, daß die preußischen Bistümer nicht dem Erzbistum Gnesen, sondern dem als Metropolitanbistum eingerichteten Riga unterstanden. Noch wichtiger war, daß es dem Orden gelang, in drei der vier 1243 auf seinem Territorium gegründeten Bistümer, nämlich Kulm, Pomesanien, Ermland und Samland, die Domkapitel mit eigenen Ordensbrüdern zu besetzen und eine kuriale Einmischung von außen zu verhindern.
Im Innern hatte der Orden mehrere prußische Aufstände zu überstehen. Im Jahr 1260 erhoben sich die Prußen in einem vierzehn Jahre währenden Ringen gegen die Fremdherrschaft. An ihrer Spitze stand Herkus Monte, der um 1225 geborene Natanger Heerführer mit dem deutschen Taufnamen Heinrich. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands floh Monte in die Wildnis des Stablack, wurde aber aufgegriffen und erhängt. Bis 1283 gelangte das von Prußen besiedelte Land vollständig in die Hand des Ordens. Nach der Eroberung Pommerellens 1308 verlegte der Orden seinen Hochmeistersitz von Venedig in die Marienburg und brachte damit unmißverständlich seinen Anspruch auf die uneingeschränkte säkulare Herrschaft über Preußen zum Ausdruck. Im 14. Jahrhundert strebte er eine Konsolidierung seiner Herrschaft an. Unter Hochmeister Winrich von Kniprode (1351 - 1382), der als geschickter Diplomat und Verwalter die Ordensinteressen brillant vertrat, erreichte der Orden den Höhepunkt seiner Macht.
Spätestens mit der Taufe des litauischen Großfürsten Jagiełło 1386 war der Auftrag des Ordens erfüllt, da es fortan in Ostmitteleuropa formal keine heidnischen Territorien mehr gab. Der ignorierte das jedoch und fuhr mit dem Aufbau eines weltlichen Staates fort. Durch seine machtpolitisch motivierten Eskapaden war er für die Nachbarn längst zu einem unberechenbaren Risiko geworden. Jagiełło hingegen hatte mit seiner Taufe den Grundstein gelegt für das im selben Jahr entstehende polnisch-litauische Großreich, denn er konnte nun die polnische Königstochter Jadwiga heiraten. Als Władysław II. Jagiełło (1386 - 1434) bestieg er den polnischen Königsthron und begründete die Jagiellonendynastie.
Im Mai 1409 kam es zum offenen Kampf Polen-Litauens mit dem Orden, als Hochmeister Ulrich von Jungingen gegen einen Aufstand im litauischen Schemaiten vorging. Im Sommer des folgenden Jahres schlug das polnisch-litauische Heer - verstärkt durch masowische Truppen und Tataren - zurück und besetzte große Teile des Ordensstaates. In der Schlacht von Tannenberg erlitt der Orden am 15. Juli 1410 dann jene vernichtende Niederlage. Hochmeister Ulrich von Jungingen fiel in der Schlacht. König Władysław II. Jagiełło besetzte große Teile Preußens. Dem neuen Hochmeister Heinrich von Plauen gelang es jedoch, moderate Friedensbedingungen auszuhandeln. Bis auf kleinere Gebietsverluste und ein Strafgeld behielt der Orden seinen Besitz, da Jagiełło die besetzten Gebiete nach dem Ersten Thorner Frieden von 1411 wieder räumte. Materiell konnte der polnische König von dem Sieg nicht profitieren, aber es gelang ihm ein gewaltiger Prestigegewinn, während der Orden politisch und moralisch nachhaltig geschwächt wurde.
Nach dem Friedensschluß setzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Polen-Litauen und dem Ordensstaat jedoch fort. Dabei ging es vorwiegend um Sudauen, zu dem das östliche Masuren zählte. Die erbitterten Kämpfe endeten am 27. September 1422 mit dem Frieden vom Melnosee. Der Orden verzichtete auf die von ihm besetzten litauischen Gebiete und stimmte einer Teilung Sudauens zu. Die Grenzziehung wurde 1435 im Frieden von Brest (Brześć) bestätigt. Der in diesen Friedensschlüssen ausgehandelte Grenzverlauf zwischen Ostpreußen und Polen, die polnisch-ostpreußische Süd- und Südostgrenze, hatte - sieht man vom Soldauer Land ab - bis 1939 Bestand.
Der überwiegend ethnisch deutsche Adel und die einflußreicher werdenden Städte im Ordensgebiet begannen nun, gegenüber dem autokratischen Orden eigene Interessen zu vertreten. Im Jahr 1440 schlossen sie sich im »Preußischen Bund« zusammen, der für den Orden zur innenpolitischen Bedrohung werden sollte. Schon 1454 kam es zum Konflikt, als die Stände dem polnischen König Kazimierz IV. Jagiellończyk die Oberherrschaft über Preußen anboten. Offiziell inkorporierte dieser das gesamte Ordensgebiet, wobei er Adel und Städten die zugesicherten Rechte bestätigte. Der Orden empfand das als unerhörte Provokation. Er sah seinen Einfluß schwinden, weigerte sich aber beharrlich, der Option der preußischen Stände, die unter seiner Herrschaft ihre Freiheit massiv beschnitten sahen, für die polnisch-litauische Union nachzugeben.
Der Kampf um die Oberherrschaft in Preußen wurde schließlich im Dreizehnjährigen Krieg zwischen Polen und dem Orden entschieden, der 1466 mit dem polnischen Sieg und dem Zweiten Thorner Frieden endete. Das Ergebnis war eine einschneidende territoriale Veränderung des Ordensstaates. Pommerellen mit Danzig, das Kulmer Land, Elbing, Marienburg und das Ermland wurden Polen zugesprochen, wodurch das ostmitteleuropäische Großreich Polen-Litauen einen Zugang zur Ostsee erhielt. Die neu geschaffenen Wojewodschaften Pommerellen, Kulm und Marienburg wurden als »Preußen königlichen Anteils« nicht direkt der Krone Polens unterstellt, sondern erhielten einen Sonderstatus, der ihnen weitgehende Freiheiten einräumte und zur Blüte der dortigen Hansestädte beitrug. Für den Orden dagegen läutete der Zweite Thorner Frieden den Anfang vom Ende ein.
Das im Thorner Frieden geteilte Preußen war erst unter der Herrschaft des Ordens aus dem Kulmer Land sowie dem eigentlichen Preußen und Pommerellen entstanden. Wenn der Orden auch pluralistisch von den Terrae Prussiae sprach, wurde das Gebiet als Einheit betrachtet. Landes- und Schirmherrschaft des Ordens hatten dazu geführt, daß sich bis Mitte des 15. Jahrhunderts die Bevölkerung in diesem Gebiet so entwickelt hatte, daß von einem Neustamm der Preußen gesprochen werden kann. Im Zuge der Ostsiedlung waren zudem Siedler aus vielen deutschsprachigen Regionen nach Preußen gekommen, die das Land kulturell nachhaltig prägen sollten.
Die Herrschaft des Deutschen Ordens hat eine für mittelalterliche Verhältnisse sehr wirkungsvolle Verwaltung hervorgebracht, nachdem das Land gleichmäßig in Verwaltungsbezirke unterteilt worden war. Das Abgaben- und Dienstsystem funktionierte vorbildlich, denn es gab klare Vorgaben für Längen-, Flächen-, Hohlmaße und Gewichte. Dagegen hat die ostmitteldeutsche Kanzleisprache des Ordens die Mundarten offenbar kaum beeinflußt. Die einheimischen Prußen sowie eingewanderte Polen, Litauer und Kuren (Letten) bewahrten zunächst ihre jeweiligen Sprachen.
Tapiau, am Knie von Deime und Pregel gelegen, ist eine typischeGründung des Deutschen Ordens. Es dauerte nicht lange, bis sich im Schutz der Burg eine Siedlung herausbildete, die 1722 Stadtrecht erhielt. Die Ordensburg, deren heutige Gestalt um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstand, beherbergtein den Jahren vor 1945 eine Armen- und Besserungsanstalt,danach ein staatliches Heim für geistig Behinderte, heute ein russisches Gefängnis. Der wohl berühmteste Sohn der Stadt ist der große impressionistische Maler Lovis Corinth, der hier 1858 geboren wurde. Er hat für die evangelische Pfarrkirche seiner Heimatstadt 1910 das Altargemälde »Golgatha«geschaffen, das seit der Auslagerung 1944 als verschollengilt.
In der Spätzeit des Ordens bildete sich die adlige Grundstruktur heraus, die für Ostpreußen bis 1945 prägend sein sollte. Nach der Eroberung Preußens hob der Orden das prußische Sozialgefüge auf, so daß er den Neuaufbau ohne Rücksicht auf ältere Strukturen vornehmen konnte. Im Ordensland gab es Kleine und Große Freie. Große Freie waren Deutsche, Polen und Prußen, die einen oder mehrere Reiter zur Landesverteidigung stellten. Für ihre Dienste verlieh der Orden ihnen beachtliche Dienstgüter. Sie standen damit Grundherrschaften vor, die sich über Dörfer und Höfe vieler Bauern erstreckten. Sobald der Orden das Land militärisch gesichert hatte und der Dienste der Freien nicht mehr bedurfte, gab er größere Dienstgüter nicht mehr aus der Hand. Die Freien waren nicht adlig, glichen sich in der Lebensform aber immer mehr dem aristokratischen Habitus an, so daß schließlich aus der Schicht der Großen und Kleinen Freien die spätere preußische Adelsschicht erwuchs.
Eine zweite adlige Gruppe bildete sich im Ordensland infolge des Dreizehnjährigen Krieges heraus. Für den Krieg gegen Polen benötigte der Orden Söldnertruppen, deren Bezahlung allerdings mangels Barschaft mit Grundbesitz vergolten werden mußte. Umfangreiche Ländereien gelangten so in den Besitz weniger Familien. Es entstand die selbstbewußte Kaste der ehemaligen Söldnerführer, die zu mächtigen Grundherren aufstiegen, etwa die Dohnas, Eulenburgs und Schliebens. Am 8. April 1469 verschrieb der Statthalter des Hochmeisters Heinrich Reuß von Plauen den beiden Brüdern Georg und Christoph von Schlieben Schloß und Stadt Gerdauen mit Mühle sowie Schloß und Stadt Nordenburg mit Mühle, vierzehn Dörfern, drei Seen und Landbesitz.3 Im Jahr 1468 gelangte zunächst als Pfand und 1474 als fester Besitz das Kirchdorf Mühlhausen, Kreis Preußisch Eylau, an den Söldnerführer Daniel von Kunheim aus dem Elsaß (um 1430 - 1507). Zum Besitz gehörte das Gut Knauten, mit dem fortan das Patronat über die Kirche Mühlhausen verbunden war. Einige besonders begüterte Adlige kauften Forderungen anderer Söldner an den Orden auf. Diese Entwicklung setzte sich nach Auflösung des Ordens 1525 fort. Auch Ämter wurden verpfändet. Das Amt Gilgenburg gelangte erstmals 1528 in die Hände der Erbhauptleute Finck von Finckenstein und blieb dort bis 1832, als die Finckensteinschen Privilegien durch den preußischen Staat aufgehoben wurden.4
Diese alte Karte Preußens, die kurz nach dem Übergang vom Ordensstaat zum Herzogtum entstand, entstammt der »Cosmographiauniversalis« (1550) des Schweizers Sebastian Münster,der schon damals schwärmte: »Preußen ist ein so großes, so fruchtbares und so glückliches Land, daß Zeus, sofern es ihm bestimmt wäre, vom Himmel herabzustürzen, in kein besseres Land herabfallen könnte als nach Preußen.«
Im Jahr 1511 wählte das Ordenskapitel Albrecht von Brandenburg aus der jüngeren Linie Hohenzollern-Ansbach zum Hochmei-ster, der zugleich Reichsfürst war. Der Orden war zu dieser Zeit politisch am Ende und zählte zehn Jahre später nur noch etwa fünfzig Ritter. Der aus Franken stammende Albrecht suchte nach Lösungen für die Zukunft und beriet sich diesbezüglich in Nürnberg mit Osiander, der seit 1521 in der dortigen Sankt-Lorenz-Kirche predigte. Dieser machte ihn mit Luthers Lehren vertraut, worauf Albrecht in eine lebhafte Korrespondenz mit dem Wittenberger Reformator trat. Luther riet ihm 1523, den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum umzuwandeln und der Krone Polens zu unterstellen. Die Säkularisierung gelang. Am 10. April 1525 huldigte Albrecht feierlich seinem Onkel, dem polnischen König Zygmunt I. Stary, und wurde offiziell mit dem Herzogtum Preußen belehnt. Der Ordensstaat war nun ein weltliches Herzogtum.

Die Schlacht von 1410

In den heißen Julitagen des Jahres 1410 unterlag auf einem Feld zwischen den Dörfern Tannenberg und Grünfelde der Deutsche Orden unter seinem Hochmeister Ulrich von Jungingen einem Heer unter Führung des polnischen Königs Władysław II. Jagiełło und des litauischen Großfürsten Vytautas. Die Schlacht war ein Ringen um die Vorherrschaft im Ostseeraum zwischen dem Ordensstaat und der aufstrebenden J agiellonendynastie.5 Der »Große Krieg« (1409-1411) war ausgelöst worden durch die schemaitische Frage. Wiederholt waren die Ordensritter in die westlitauische Region Schemaiten eingedrungen, hatten dort Burgen errichtet, doch keine dauerhafte Herrschaft aufrichten können. Als dann im Mai 1409 ein allgemeiner Aufstand ausbrach, der von Vytautas geschürt wurde, drohte der Besitz in Schemaiten verlorenzugehen. Nur ein Krieg schien das verhindern zu können. Aus dem begrenzten Konflikt entwickelte sich eine länderübergreifende Auseinandersetzung, da sich neben Litauen auch Polen unter König Władysław II. Jagiełło gegen den Orden stellte. Seit der spektakulären Hochzeit mit der polnischen Regentin Hedwig in Krakau 1386 bildeten Polen und Litauen eine Union, die sich trotz schwerer innerer Konflikte im entscheidenden Kampf mit dem Orden bewährte.
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