Masuren - Andreas Kossert - E-Book
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Masuren E-Book

Andreas Kossert

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Beschreibung

Die erste umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte Masurens

Andreas Kossert erzählt vom historischen und kulturellen Erbe der preußischen Grenzlandschaft zwischen Deutschland und Polen. Er erzählt von ihren Menschen, von der masurischen Sprache, dem harten Lebensalltag der Bauern, ihrem Los während der zahllosen Kriege. Und er erzählt von Flucht und Vertreibung, von den Erinnerungen an Masuren und der Faszination Ostpreußens.

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Seitenzahl: 512

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Buch

Andreas Kossert erzählt vom historischen und kulturellen Erbe der preußischen Grenzlandschaft zwischen Deutschland und Polen. Er erzählt von ihren Menschen, von der masurischen Sprache, dem harten Lebensalltag der Bauern, ihrem Los während der zahllosen Kriege. Und er erzählt von Flucht und Vertreibung, von den Erinnerungen an Masuren und der Faszination Ostpreußens.

»Eine grandiose historische Arbeit. Das alte Masuren ist in der Geschichte versunken. Das Buch von Andreas Kossert ist geeignet, es dem Vergessen zu entreißen.«

Die Zeit

»Ein faszinierendes Geschichtspanorama.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Autor

ANDREAS KOSSERT, geboren 1970, studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und lebt seit 2010 als Historiker und Autor in Berlin. Auf seine historischen Darstellungen Masurens (2001) und Ostpreußens (2005) erhielt er begeisterte Reaktionen. Zuletzt erschienen von ihm der Bestseller »Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945« (2008), »Ostpreußen. Geschichte einer historischen Landschaft« (2014) sowie »Flucht – Eine Menschheitsgeschichte« (2020). Für seine Arbeit wurden ihm der Georg Dehio-Buchpreis 2008, der NDR Kultur Sachbuchpreis 2020 und der Preis für »Das politische Buch« 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung verliehen.

Andreas Kossert

MASUREN

Ostpreußens vergessener Süden

Pantheon

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Copyright © dieser Ausgabe 2006/2022 by Pantheon Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2001 by Siedler Verlag, München

Karten: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © mauritius images/Mikolaj Gospodarek

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31344-9V001

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Masuren, das unbekannte Land

Eine europäische Grenzregion zwischen Preußen, Deutschland und Polen

Mythos und Wirklichkeit

Die Landschaften Sassen, Galinden und Sudauen im Ordensstaat (1225–1525)

Masuren vor der Ordenszeit

Der Deutsche Orden in Preußen

Prußen, Polen und Deutsche im südlichen Ordensstaat

Die Große Wildnis als Teil Preußens (1525–1701)

Das herzogliche Preußen

Besiedlung der Großen Wildnis

Die Tataren und der Zweite Schwedisch-Polnische Krieg im historischen Gedächtnis

Die polnischen Ämter im Königreich Preußen (1701–1815)

Altpreußen bis 1815

Soziale Missstände und die große Pest

Das Kolonisationswerk an der Grenze

»Nur die Lehrer sind größtentheils traurige Subjekte« – Von Schulen und Kirchen

Napoleon in Masuren

»Masuren« entsteht (1815–1871)

Masuren im modernen Preußen

Die Amtskirche und die Bewegung der »Gromadki«

»Damit fortan keine Nationalität erlösche!« – Der Sprachenstreit

Masurische Traditionen, Mythen und Legenden

Kaufleute, Fischereipächter und Krugwirte – Juden in Masuren

Ein Beispiel religiöser Toleranz: die Philipponen

»Mit dem Eisenbahnstrang kommt die Germanisierung« (1871–1914)

Masovias erste Blüte

Die wilhelminische Ostmarkenpolitik

Polen entdeckt Masuren

Abwanderung in das rheinisch-westfälische Industrierevier

Die kurze Blüte jüdischen Lebens

Im Schatten von Tannenberg (1914–1918)

»Grenz- und Volkstumskampf« (1918–1933)

»Ostpreußen« oder »Polen«

Germanias ärmstes Stiefkind

Deutscher »Grenzlandgeist« und polnisches Masurenprojekt

Unter dem Weißen Adler – Das Soldauer Land

Pilgerstrom zu den Goldbergen

»Masurenland empfängt den Führer«

Totengräber Masurens (1933–1945)

Masurens wirtschaftliche Blüte

Totale »Germanisierung«

Das Schicksal der masurischen Juden

Kriegsalltag in trügerischer Ruhe

Im Angesicht des Schreckens

1945: Das Ende des preußisch-deutschen Masuren

Polnische Brüder? Masuren in Polen

Ende und Neubeginn (1945–1948)

Im Stalinismus (1949–1956)

Der stille Exodus (1956–1969)

Masuren ohne Masuren (1970–1989)

Exkurs – Masuren in Deutschland

Neues Leben

Anmerkungen

Bibliografie

Personen- und Ortsregister

Abbildungsnachweis

Masuren, das unbekannte Land

Eine europäische Grenzregion zwischen Preußen, Deutschland und Polen

Masuren – Ostpreußens vergessener Süden? Warum sollte ausgerechnet der Landstrich Ostpreußens, der am häufigsten von Fremden besucht und ob seiner landschaftlichen Reize gepriesen wird, vergessen sein? Und doch ist Masuren vergessen, seine Geschichte und die ehemaligen Bewohner dieser Grenzregion, die einst wie kaum eine andere Bindeglied zwischen polnischer und deutscher Kultur war. Die Geschichte des Landes und die Geschichte wie das Schicksal der Menschen, die hier einst lebten, dem Vergessen zu entreißen, nach den Spuren einer untergegangenen Ethnie Ostmitteleuropas zu suchen, dazu will dieses Buch einladen.

»Wo sich aufhört die Kultur, beginnt zu leben der Masur.« Solche Verse voller Spott und Hohn prägten über Jahrzehnte das Bild Masurens in der deutschen Öffentlichkeit. Masuren, das ferne und unbekannte Land im Osten, stand für Rückständigkeit, Armut und kulturelle Wüste an der Peripherie des Reiches und wurde absichtlich in seiner kulturellen Bedeutung herabgesetzt, belächelt und verhöhnt. Masuren hatte, so weit seine Geschichte zurückreicht, zu kämpfen mit Vorurteilen, Fehlinterpretationen und Versuchen politischer Vereinnahmung. Weder die deutsche Politik bis 1945 noch die folgende polnische Masurenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg räumten der Region eine gleichberechtigte Rolle ein. Masuren besaß keine politische Lobby.

Das Leben der Masuren lief gleichförmig dahin, bestimmt vom schweren Kampf ums tägliche Brot. Wer hier geboren wurde, den erwartete ein hartes Schicksal. Dagegen stand der Zauber des Landes. Ein Sohn Masurens, der Schriftsteller Siegfried Lenz, lässt die versunkene Welt Masurens in den heiteren Erzählungen »So zärtlich war Suleyken« wieder erstehen: »Meine Heimat lag sozusagen im Rücken der Geschichte; sie hat keine berühmten Physiker hervorgebracht, keine Rollschuhmeister oder Präsidenten; was hier vielmehr gefunden wurde, war das unscheinbare Gold der menschlichen Gesellschaft: Holzarbeiter und Bauern, Fischer, Deputatarbeiter, kleine Handwerker und Besenbinder. Gleichgültig und geduldig lebten sie ihre Tage, und wenn sie bei uns miteinander sprachen, so erzählten sie von uralten Neuigkeiten, von der Schafschur und vom Torfstechen, vom Vollmond und seinem Einfluß auf die neuen Kartoffeln, vom Borkenkäfer oder von der Liebe.«1

»Reise in die Masuren« – diese Überschrift stand in den achtziger und neunziger Jahren verschiedentlich über Zeitungsartikeln und zeigt, wie weit vielen Deutschen diese alte Landschaft entrückt ist. Die aus dem Polnischen übernommene, aber in der deutschen Masurenrezeption unübliche Pluralkonstruktion (im Polnischen heißt es na Mazury, also in die Masuren, im Deutschen dagegen im Singular nach Masuren) offenbart Ignoranz und Unkenntnis. Während sich jede Zeitschrift mit einer Reportage über eine Reise »nach Toskana«, »in die Cornwall« oder »in die Flandern« maßlos blamiert hätte, konnte sie derartige Unkenntnis vom Osten an den Tag legen, ohne größere Kritik fürchten zu müssen. Glücklicherweise hat sich das Blatt nach 1989 gewendet. Heute fährt man wieder »nach Masuren« und kann dort eine einzigartige Landschaft erleben.

»Nach Masuren« zu fahren sollte aber auch heißen, sich der Kultur und Geschichte der hier einst lebenden Bevölkerung zu nähern. Dieses Buch begibt sich auf die Spurensuche. Die Erkundung der Geschichte Masurens versteht sich als ein Versuch, Interesse an der historisch einzigartigen Grenzkultur zu wecken, die hier im Laufe von Jahrhunderten durch Prußen, Polen und Deutsche geschaffen wurde.

Die deutsche wie die polnische Geschichtsschreibung haben Masuren bislang fast ausschließlich als Objekt ihrer nationalen Begehrlichkeit gesehen. Menschen und Geschichte dieses Landes wurden entweder »germanisiert« oder »polonisiert« – eine Sonderrolle zwischen Deutschland und Polen, eine masurische regionale Identität, war nicht erwünscht und wurde von beiden Seiten mit allen Mitteln bekämpft. Masuren soll hier der Platz eingeräumt werden, den es in der Geschichte nie einnehmen durfte: den eines eigenständigen, vollwertigen Subjekts. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn Masuren und seine Geschichte waren lange Zeit nichts weiter als ein Spielball nationalistischer Interessen. Der deutsch-polnische Konflikt führte schließlich zum Untergang des Grenzvolkes zwischen Preußen, Deutschland und Polen. Damit teilen die Masuren das Schicksal vieler ethnischer, nationaler und konfessioneller Minderheiten Ostmitteleuropas, die durch den Wahn ethnischer Ausgrenzung und nationaler Vereinnahmung im 20. Jahrhundert ausgelöscht wurden. Überlebt haben hingegen die nationalen Denkkategorien.

Der Name Masuren geht auf die Siedler aus dem polnischen Herzogtum Masowien zurück. Bereits der polnische Historiker Wojciech Kętrzyński bezeichnete Masuren daher als »Mazowsze pruskie«, als preußisches Masowien. Schon im 14. Jahrhundert siedelten polnische Masowier in den südlichen und südöstlichen Gebieten des Ordensstaates und späteren Herzogtums Preußen. Masowien steht in diesem Fall als Oberbegriff für alle polnischen Regionen südlich der preußischen Grenze. Vor allem aus dem grenznahen polnischen Bug-Narew-Gebiet, der Sumpflandschaft Kurpie mit den Städten Ostrołęka, Mława, Łomża und Płock, kamen immer wieder Siedler in das südliche Preußen. Nach der Reformation in Preußen vollzogen auch die polnischen Untertanen des preußischen Herzogs den Glaubenswechsel. Der polnischsprachige Protestantismus war eine der Besonderheiten Masurens. Friedrich Krostas Definition von 1875 war daher durchaus zutreffend: »So weit also der masurische Dialect von einer evangelischen Bevölkerung gesprochen wird, ist Masuren.«2

Obwohl die geografische Eingrenzung Masurens schwer festzulegen ist, stimmen deutsche und polnische Forschung darin überein, dieser Region heute die Kreise Neidenburg (Nibork, später Nidzica), Ortelsburg (Szczytno), Sensburg (Ządzbork, seit 1946 Mrągowo), Johannisburg (Jańsbork, seit 1946 Pisz), Lötzen (Lec, seit 1946 Giżycko) und Lyck (Ełk) im 1905 geschaffenen Regierungsbezirk Allenstein zuzurechnen. Weiter zählen Teile des Kreises Osterode (Ostróda) zu Masuren sowie der Kreis Oletzko (nach 1928 Treuburg, seit 1945 Olecko) und Teile der Landkreise Angerburg (Wgorzewo) und Goldap (Goldap), die zum Regierungsbezirk Gumbinnen gehörten.

Landschaftlich gliedert sich Masuren von Westen nach Osten in acht Zonen. Im äußersten Westen liegen die Kernsdorfer Höhen zwischen den Städten Gilgenburg, Osterode und Hohenstein, die zugleich die höchste Erhebung Masurens sowie der ehemaligen Provinz Ostpreußen darstellen (bis 313 Meter). Weiter östlich erstreckt sich das Hügelland zwischen Neidenburg und Soldau, das nach Osten hin zunehmend sandiger wird. Im Norden, angrenzend an das Ermland und Natangen, liegen das so genannte Obere Allegebiet und das Sensburger Höhenland, das von langen Seenketten geprägt ist. Im mittleren Masuren bestimmen Sanderflächen der Ortelsburger und Johannisburger Heide die Landschaft, die sich in der Kurpischen Heide (Puszcza Zielona) bis zum Narew fortsetzt, sowie die Masurische Senke mit den größten Seen, dem Mauer-, Löwentin- und Spirdingsee. Südlich davon liegen die seearmen Höhen von Bialla, die bis nach Kolno reichen. In Richtung Südosten erstreckt sich von dort aus das ostmasurische Hügelland von Lötzen und Lyck. Den äußersten östlichen Abschluss Masurens bilden die Seesker Höhen im Kreis Oletzko, die bis 309 Meter ansteigen.

Der landwirtschaftliche Großgrundbesitz konzentrierte sich um die Kernsdorfer Höhen im äußeren Westen und entlang einer Linie, die man westlich von Sensburg nach Ortelsburg ziehen kann, da es dort die besten Böden gab. Auch die Kreise Angerburg sowie der südliche Kreis Lötzen wiesen Gutsbetriebe auf. Charakteristisch für Masuren waren jedoch eher Mittelbesitz in den Kreisen Lötzen, Lyck und Oletzko sowie kleinere Betriebe in den Heide- und Waldgebieten der Kreise Johannisburg, Ortelsburg und Neidenburg. Zu Masuren gehörte mit Johannisburg der waldreichste Kreis Ostpreußens (ein Drittel der Fläche) sowie mit Lötzen der waldärmste (ein Sechzehntel der Fläche). Das raue Kontinentalklima mit langen Wintern und kurzen, heißen Sommern ließ nur kurze Reifephasen zu. Auf den Seesker Höhenzügen im Kreis Oletzko maß man im Vergleich zu ähnlichen Landschaften die niedrigsten durchschnittlichen Jahrestemperaturen im ehemaligen Deutschen Reich. Marggrabowa verzeichnete jährlich 56,9 Tage unter dem Gefrierpunkt.3

Wie bei fast allen Ethnien Europas handelte es sich auch bei den Masuren um eine Mehrheitsethnie, die andere Gruppen wie Altpreußen, Deutsche, französische Hugenotten, Schotten und Salzburger assimilierte. Die ethnisch polnische Bevölkerung blieb dabei bis 1945 stets die dominierende Gruppe im Süden Preußens. Über Jahrhunderte prägte sie sprachlich und kulturell das Land und gab die entscheidenden Impulse für das, was wir heute unter Masuren verstehen.

Mit Masuren verbindet die Deutschen eine tiefe Sehnsucht. Es ist das »Land der dunklen Wälder« und der »lichten Wunder«, die heitere Stimmung aus Siegfried Lenz’ Erzählungen »So zärtlich war Suleyken«, aber auch das Geschehen im Januar 1945, als sowjetische Panzer in das Land einrückten. Es war eine Geschichte voller Tragik, die sich hier abspielte und die mit dem Untergang der masurischen Ethnie endete. Aber es sind Spuren geblieben, denen eine junge, unbelastete Generation in Polen heute nachgeht.

© Ralf Freyer, Freiburg

Masuren mit seiner spezifischen ethnischen Struktur hätte – in idealer Weise – wunderbar die Brücke zwischen deutscher und polnischer Kultur bilden können, doch noch heute wird seine Geschichte manchmal aus einseitig nationalen Perspektiven betrachtet. Dabei sah schon 1870 der preußische Historiker Max Toeppen in der Geschichte Masurens den »Gegensatz und die Versöhnung« zwischen Deutschen und Polen dokumentiert. In Anlehnung an Toeppen soll die vorliegende Geschichte der Masuren das Zusammenspiel von Deutschem und Polnischem bei dieser Grenzbevölkerung zum Inhalt haben. Allein aus einer vergleichenden Analyse der nationalen Positionen kann die Dimension des nach 1870 entstandenen Konflikts um die ethnische und nationale Zugehörigkeit Masurens deutlich werden. Vor allem offenbart der Vergleich die Unversöhnlichkeit der beiden nationalen Lager, die eine Annäherung beider Seiten aus ideologischen Gründen unmöglich machte. Lange war die Frage der ethnischen und nationalen Zuordnung der Masuren von starken emotionalen Reaktionen begleitet.

Die Geschichte der kleinen Grenzbevölkerung, die in den Strudel der großen Politik geriet und als Opfer zweier konträrer Nationalismen mit dem Untergang masurischen Eigenlebens zahlte, soll hier weder einem »deutschen« noch einem »polnischen« Lager zugeordnet werden. Masurens spannende und komplexe Geschichte kann durchaus als Mahnung verstanden werden – als Plädoyer für den Erhalt der Vielfalt in den Grenzregionen Europas. Den einstigen Bewohnern Masurens, die von der ethnischen Landkarte Europas verschwunden sind, sei diese Arbeit gewidmet.

Mythos und Wirklichkeit

Nationale Mythen überleben mit erstaunlicher Beharrlichkeit. Ihre unkritische Rezeption bestimmte bis in die jüngste Gegenwart gerade das deutsch-polnische Verhältnis. Zwar gab es schon immer heikle Punkte im Verhältnis beider Nationen zueinander, doch das nationalstaatliche Denken dominierte erst seit dem 19. Jahrhundert die Interpretation der vorangegangenen Jahrhunderte. Die deutsche Nationalhistoriografie seit Heinrich von Treitschke sah in der Geschichte des Deutschen Ordens ein langfristig kulturell überlegenes Zivilisationsmodell, während die polnische Geschichtsschreibung eine Linie von den Ordensrittern bis zu Hitler zog und aller deutschen Politik den »Drang nach Osten« unterstellte. Sinnlose Kontroversen über die ethnische und nationale Zugehörigkeit von Nikolaus Kopernikus oder Veit Stoß banden die Gelehrten beider Staaten, unzählige Abhandlungen galten dem deutschen oder polnischen Status der Hansestadt Danzig.

Auch Masuren war ein Zankapfel, auf den beide Nationen Anspruch erhoben. Am Beispiel Masurens und der unterschiedlichen Bewertung seiner Geschichte dringt man sofort zum Kern der deutsch-polnischen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts vor. Aus der ethnisch polnischen Dominanz in der masurischen Bevölkerung leitete die polnische Seite einen historischen Anspruch auf Masuren als »urpolnisches Land« (prapolskie ziemie) ab. Sowohl nach 1918 als auch nach 1945 ignorierte man die jahrhundertealten Traditionen dieser Landschaft in einem preußisch-protestantischen Staat.

Gemäß nationaler Logik war es nur folgerichtig, dass die deutsche Geschichtsschreibung wegen der unwiderlegbaren polnischen Dominanz in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Besiedlung Masurens auf andere frühere Perioden zurückgriff, wenn sie den »urdeutschen« Charakter unterstreichen wollte. Neben der Betonung der herausragenden Bedeutung des Deutschen Ordens als »Kulturträger« verwies die deutsche Forschung gern auf frühgeschichtliche prußische oder vorprußische Elemente. Abstruse Konstruktionen sollten den Beweis liefern, dass lange vor den Prußen und Slawen die Goten und Germanen Masuren besiedelt hätten und die erste nachweisbare menschliche Besiedlung also eine »deutsche« gewesen sei. Nach 1933 wurde dann jeder frühgeschichtliche Wall, jedes steinzeitliche Grab zur »Stätte des Germanentums« stilisiert und der deutsche Anspruch auf diesen Siedlungsboden bis in die vorchristliche Zeit zurückgeführt. Diese Tendenz setzte sich noch nach 1945 fort.

Die polnische Seite wertete die polnische Sprache und Kultur der Masuren als Indiz für deren nationale Gesinnung, während die deutsche Seite seit der wilhelminischen Zeit den Einfluss des Polnischen in Masuren zurückzudrängen oder herunterzuspielen suchte. Schließlich leugneten die deutschnationalen Ideologen sogar, dass in Masuren Polnisch gesprochen wurde, indem sie den masurischen Dialekt der polnischen Sprache kurzerhand zum »Masurischen« erklärten. Damit entzog man sich nicht nur dem stärksten Argument der Gegner, sondern verschloss sich vorsätzlich historischen Tatsachen. Die Landschaft Masuren und das Verbreitungsgebiet der polnischen Sprache stimmen im südlichen Ostpreußen nämlich überein. Masowische Dialekte des 14. und 15. Jahrhunderts bildeten die Ursprünge des masurischen Polnisch. Mit der Einwanderung nach Preußen wurden die masurischen Polen von ihren masowischen Herkunftsregionen getrennt. Damit verloren sie den Kontakt zur polnischen Hochsprache und bewahrten den archaischen Dialekt der frühen Neuzeit, ein grammatisch einfach strukturiertes bäuerliches Idiom, das in der Aussprache wesentlich härter ist als das Hochpolnische.

Sprachlich isoliert und auf sich gestellt, gelang den polnischsprachigen Masuren keine Weiterentwicklung des Polnischen, vielmehr behalf man sich bei Neuerungen, indem man deutsche Begriffe übernahm. Beamte waren beamty, man ging zum banof (Bahnhof) und fuhr mit dem cug (Zug). Aus den wenigen Germanismen kann jedoch nicht auf eine deutsch-polnische Mischsprache geschlossen werden. Es handelt sich beim masurischen Polnisch auch nicht um »Wasserpolnisch«, da es im Gegensatz zu den oberschlesischen polnischen Dialekten ohne Einschränkung ein polnischer Dialekt blieb. Slawisten bescheinigen ihm eine authentischere Reinheit der polnischen Sprache als anderen Dialekten Polens. Gerade anhand des masurischen Polnisch gelang polnischen Sprachwissenschaftlern vor 1945 die Rekonstruktion von Aussprache und Satzstruktur der hochpolnischen Sprache im 16. und 17. Jahrhundert. Masurens polnische Sprache gibt einen unvergleichlichen Einblick in den bäuerlichen Alltag, der reich ist an Sagen, Märchen, Erzählungen und Liedern. Eines davon besingt das Schicksal eines Waisenkindes Sierotka (in masurischer Aussprache wiedergegeben):

Z kaniena na kanien

Von Stein zu Stein

Skowroneczek skaze

die Lerche springt

Tak i moje serce, tak i moje serce

so mein Herz, so mein Herz

Zawze we mnie płaze.

immer in mir weint.

Ojculek z matecko

Vater und Mutter

Pod zimie sie skryli

haben sich unter der Erde versteckt

A mnie Sierotezke, a mnie Sierotezke

und mich, arme Waise, arme Waise

W swiecie zosta żili.

in der Welt zurückgelassen.

Die bäuerliche Welt Masurens verharrte selbst im nationalen Zeitalter noch lange in vornationalen Strukturen. Für einen Masuren war es überhaupt kein Widerspruch, auf Polnisch stolz zu verkünden: festem Prußakiem (ich bin ein Preuße). Die Masuren gaben bis ins 20. Jahrhundert ein Beispiel dafür, dass Sprache, Kultur und nationale Identität nicht kongruent sein müssen.

Nach 1873 verschwand die polnische Sprache schrittweise aus dem öffentlichen Leben Masurens. Trotz massiver Germanisierungsbestrebungen überdauerte sie in der mündlichen Überlieferung der dörflichen Gemeinschaften und Familien bis 1945. Den Höhepunkt der deutschen Eliminierungsbemühungen bildete das 1939 erlassene formelle Verbot, Polnisch zu sprechen. Verdrängung, Ausgrenzung und bewusste Verdrehung der historischen Tatsachen bestimmten aber auch nach 1945 die Lage. Als Hunderttausende von Masuren in die Bundesrepublik Deutschland kamen, taten die Vertriebenenverbände nichts zur Rettung und Dokumentierung der polnischen Sprache Masurens. Das war der Todesstoß: Das masurische Polnisch ist untergegangen.

Da hier dem Nationalismus kein später Sieg zuteil werden soll, sind für alle Orte die amtlichen preußisch-masurischen Bezeichnungen von 1912/13 beziehungsweise noch frühere Namen gewählt worden. Damit sind die zentralen Germanisierungsaktionen der zwanziger und dreißiger Jahre in ihrer Bedeutung auf das reduziert, was sie waren, nämlich politisch-ideologische Konstrukte, die nur eines zum Ziel hatten: die Auslöschung des masurischen Antlitzes dieser Landschaft.

Wie sich innerhalb von hundert Jahren das Bild von den Masuren wandelte, je mehr die Ideologie im Spiel war, dokumentieren die Lexikoneinträge seit 1846. Laut Allgemeiner Deutscher Real-Encyklopädie von 1846 sprachen die Masuren als eingewanderte Polen »ein verderbtes Polnisch«. Meyers Konversations-Lexikon von 1897 bezeichnet die Masuren als »poln. Landbevölkerung im südlichen Teil der Provinz Ostpreußen sowie in den angrenzenden polnisch-russischen Gouvernements Plozk, Łomża und in einem kleinen Teil von Suwałki«. Noch in der Hochphase der wilhelminischen Ostmarkenpolitik werden die preußischen und die polnischen Masowier auf dieselbe Weise charakterisiert: »Die Masuren sind ein biederes, von Landwirtschaft und Viehzucht lebendes Völkchen, bei dem noch patriarchalische Familienzustände herrschen. Sie gelten für fröhlich, gemütlich und weich, kleiden sich zum Teil noch in selbstgewebtem grauen Wollzeug (Wand), lieben den Branntwein und verzehren meist vegetabilische Nahrung (Kartoffel, Pastinaken, Rüben und Mehlspeisen).«4

In der Brockhaus-Ausgabe von 1932 sind die Masuren bereits ein »Volksstamm … mit eigener Sprache, einem polnischen, vom Deutschen stark beeinflußten Dialekt«, und zwei Jahre später sind sie gar ein »slaw. Volksstamm« mit polnischer »Mundart«. In Meyers Lexikon von 1939 schließlich findet sich zu den Masuren eine verzerrte, allein ideologisch motivierte Definition, die von der deutschen Geschichtswissenschaft bis in die jüngste Gegenwart teilweise unkritisch rezipiert wurde. Die polnischen Masowier, die nach Masuren kamen, sind demnach »altpreußischen Ursprungs, wenn auch masowischer Sprache«. Dabei deklarierte die nationalsozialistische Forschung die masowischen Herkunftsgebiete in Polen als Teile der altpreußischen Gaue Galinden und Sudauen. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass die polnischen Masowier Prußen und damit keine Slawen waren. Ihre Sprache deutete man zu einer »vom Polnischen durch ihre Altertümlichkeit völlig verschiedene slaw. Mundart« um.

Polnische Lexika betonten unter dem Stichwort Mazowsze pruskie (preußisches Masowien), dass 1870 »noch 75 Prozent der Bevölkerung polnischer Nationalität« gewesen seien und sich ihre Zahl nur »unter dem Druck der Germanisierung« verringert habe. Die größte polnische Enzyklopädie – die Wielka Enzyklopedija Powszechna – führte 1966 »das Wirken der Verteidiger des Polentums« an, die im 19. Jahrhundert mit ihrem Schaffen das gesamtpolnische Augenmerk auf Masuren lenkten. Das Jahr 1945 feiert der Beitrag als Datum, an dem »Masuren … durch die sowjetische Armee der 1. und 2. Weißrussischen Front befreit wurde«.

Was deutscher und polnischer Nationalismus anrichteten, offenbart sich in zynischer Weise in einem Lexikonbeitrag aus der DDR von 1974: »Mazury: das eiszeitlich gestaltete seen- und waldreiche Hauptgebiet des Baltischen Landrückens in den nordostpolnischen Wojewodschaften Olsztyn und Białystok.«5 Einen Querverweis auf die deutsche Bezeichnung gibt es nicht. Die Bevölkerung Masurens wird überhaupt nicht mehr erwähnt – im Osten nicht und auch nicht im Westen.

Die Landschaften Sassen, Galinden und Sudauen im Ordensstaat (1225–1525)

Masuren vor der Ordenszeit

Wann beginnt die Geschichte Masurens? Hier ist Hartmut Boockmann beizupflichten, der den Anfang der Geschichte Ost- und Westpreußens dort ansetzt, wo mit den Prußen eine erste Bevölkerungsgruppe in dieser Region auftritt, die »eine Kontinuität des Wissens der Landesbewohner von ihrer eigenen Vergangenheit«1 hat.

Über die historischen Landschaften Sassen, Galinden und Sudauen, die ungefähr dem Gebiet des späteren Masuren entsprechen, ist wenig bekannt. Die hier lebenden Menschen zählten zu den baltischen Völkern. Ihre Existenz wurde bereits – wenn auch geografisch kaum konkret nachweisbar – von Tacitus und Ptolemäus bezeugt.

Vor der Ordensherrschaft existierten nur vage Vorstellungen über das Siedlungsgebiet der Prußen. Zum ersten Mal taucht eine schriftliche Erwähnung der Region bei dem jüdischen Reisenden Ibrahim ibn Ja’qub auf. Dieser frühe Kosmopolit reiste zwar nur bis Magdeburg, verfasste aber während der Regentschaft Kaiser Ottos I. im Jahre 965 oder 966 einen Bericht, in dem auch die ihm persönlich unbekannten östlicher gelegenen Regionen beschrieben sind. In diesem Zusammenhang erwähnte er den Namen »Brus«.

Erste Berichte über direkte Kontakte zweier Missionare mit den Prußen stammen aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende. Mit den Missionierungsideen Kaiser Ottos III. richtete sich das christliche Bekehrungswerk immer mehr auf die östlich des Reiches gelegenen Gebiete. Missionsreisen waren daher keine Unternehmungen religiöser Einzelgänger, sondern Bestandteil der päpstlichen und königlichen Politik.

Der erste bedeutende Kleriker, der sich um die Missionierung der Prußen bemühte, war der aus altböhmischem Adel stammende heilige Adalbert (tschechisch Vojtěch, polnisch Wojciech). Als Bischof von Prag hatte Adalbert resigniert und sich hinter Klostermauern auf dem römischen Aventin zurückgezogen. Dort traf er auf Kaiser Otto III., dessen Missionsvorstellungen er teilte. Mit nachhaltiger Unterstützung des Kaisers begab sich Adalbert in das westliche Land der Prußen, wo er 997 den Märtyrertod starb. Der polnische König Bolesław I. Chrobry kaufte den Prußen den Leichnam Adalberts ab und sorgte für dessen Überführung nach Gnesen, wo Otto III. höchstpersönlich im Jahre 1000 an der feierlichen Beisetzung des Märtyrer-Bischofs teilnahm. Wenig später erfolgte die Kanonisierung Adalberts, der zum polnischen Nationalheiligen aufstieg, durch Papst Silvester II. Noch im selben Jahr wurde Gnesen gegen den Willen der bisherigen Metropole Magdeburg zum eigenständigen Erzbistum erhoben. Damit war eine eigene polnische Kircheneinheit geschaffen, die den Prozess der polnischen Staatwerdung maßgeblich unterstützte.

Auf den heiligen Adalbert, dessen Vita von den Prußen berichtet, folgte Brun von Querfurt, der als »Erzbischof der Heiden« eine Missionsreise in das Land der Prußen unternahm. Brun gilt als der erste Christ, der in das Gebiet des späteren Masuren vordrang. Dort wurde er um 1009 in Sudauen, wahrscheinlich im östlichen Kreis Lyck, von den heidnischen Sudauern, einem Prußenstamm, erschlagen. Mit Bruns Reise beginnt die Geschichte des Christentums in Masuren, wenngleich er ebenso erfolglos war wie der heilige Adalbert: Die Prußen blieben bis zur Ankunft des Deutschen Ordens Heiden.

Immerhin wurden die Prußen nun von westlichen Chronisten wahrgenommen. Adam von Bremen berichtete in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in seiner »Hamburgischen Kirchengeschichte« von den Prußen, obwohl er sich gar nicht bei ihnen aufgehalten hat. Vieles wurde damals ohne genaue Kenntnisse kolportiert und – religiös motiviert – idealisiert, so dass das tatsächliche Wissen von den Prußen doch sehr gering blieb. Sie verfügten über kein einheitliches Staatswesen, sondern lebten in relativ autarken Gauen und Familienverbänden. Diese uneinheitliche Struktur erleichterte dem Orden nach 1226 deren Unterwerfung. Man zählte sie zu den baltischen Stämmen, deren Sprache mit dem Litauischen, Kurischen und Lettischen verwandt war. Das Prußische besaß bis ins 16. Jahrhundert keine eigene Schrift. Diese fand erst nach der Reformation durch drei Übersetzungen des lutherischen Katechismus unter Herzog Albrecht von Preußen Form und Gestalt, was aber den Untergang der prußischen Sprache im 17. Jahrhundert nicht aufhalten konnte.

Auf der romanischen Bronzetür des Gnesener Doms ist in achtzehn Bildern das Leben des heiligen Adalbert dargestellt. Der Missionar der Prußen fand 997 auf einer seiner Missionsreisen im Nordosten Europas den Märtyrertod. Er gilt als einer der wichtigsten Heiligen der Slawen und symbolisiert wie kein Zweiter den Ursprung der polnischen Staatwerdung. Bis heute ist Gnesen das Zentrum der polnischen Kirchenprovinz, und der polnische Primas ist automatisch Erzbischof des ältesten polnischen Bistums.

© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Die preußischen Landschaften um 1300. Die Karte zeigt die prußischen Gaue und deren preußische Nachbarregionen. Masuren erstreckte sich damals über die historischen Landschaften Sassen, Galinden und Sudauen.

Unmittelbar vor der Eroberung Preußens durch den Orden gliederte sich die Region in elf historische Landschaften, die Peter von Dusburg in seiner »Chronik des Preußenlandes« im 14. Jahrhundert beschreibt: Pomesanien, Warmien, Natangen, Samland, Kulmer Land, Löbau, Pogesanien, Nadrauen, Schalauen, Sudauen, Galinden und Barten. Diese Landschaften wurden von Völkern (nationes) bewohnt, was den autarken Charakter der einzelnen Regionen zum Ausdruck bringt. Nach Schätzungen Boockmanns lebten auf dem Gebiet Preußens mit dem Kulmer Land vor der Eroberung durch den Orden etwa 220000 Menschen.

Die in Sassen, Galinden und Sudauen – dem späteren Masuren – siedelnden prußischen Stämme tauschten sich über die Grenze im Südosten mit den slawischen und baltischen Völkern aus. Lange gelang es den Galindern und Sudauern, sich äußerer Feinde zu erwehren, da ihnen die natürlichen Gegebenheiten Masurens mit den undurchlässigen Wäldern und Seen Schutz boten. Sie richteten ihren Abwehrkampf vornehmlich gen Osten, doch es zeigte sich, dass ihre verwundbare Stelle letztlich im Westen lag: Von hier aus drang der Deutsche Orden mit aller Härte gegen diese letzten Inseln prußischer Eigenständigkeit vor, um sie endgültig seinem Herrschaftsbereich zu unterwerfen.

Der Deutsche Orden in Preußen

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts verstärkte die Kurie ihre Missionierungsversuche in Ostmitteleuropa. Sowohl der Gnesener Erzbischof als auch der Abt von Lekno, der 1215 in Rom zum Missionsbischof geweiht wurde, sollten das Christentum nach Preußen bringen, und im Jahre 1217 rief Papst Honorius III. zum Kreuzzug gegen die Prußen auf. Aber alle diese Bemühungen blieben vergebens. Als schließlich ein weiterer militärischer Versuch masowischer Fürsten misslang, die Region zu unterwerfen, entschloss sich Konrad von Masowien 1226, den Deutschen Orden zu Hilfe zu rufen. Dieser sollte den nördlichen Nachbarn nach westlich-christlichem Verständnis befrieden und christianisieren. Die Ordensritter folgten dem Aufruf Konrads, und es gelang ihnen auch, das Land der Prußen zu erobern. Aber nun mussten die masowischen Teilfürsten und der polnische König erkennen, dass sie mit diesem Verbündeten keinen verlässlichen Partner, sondern einen Konkurrenten um die Vorherrschaft im nordöstlichen Ostseeraum gerufen hatten.

Der Deutsche Orden wurde während des Dritten Kreuzzugs 1198 als »Ordo militium hospitalis S. Mariae Teutonicorum Hierosolymitani« im Heiligen Land gegründet. 1211 rief ihn der ungarische König Andreas II. zum Kampf gegen die Kumanen nach Siebenbürgen. Als der Orden jedoch Anstalten machte, dort ein eigenes Staatswesen zu gründen, verwies Andreas ihn 1225 des Landes. So war der Hochmeister Hermann von Salza 1226 nur allzu gern bereit, das Angebot des masowischen Herzogs Konrad zu akzeptieren, das die Schenkung des Kulmer Landes vorsah. Bevor der Orden seine Aufgaben in Preußen übernahm, suchte er sich – nach den schlechten Erfahrungen mit dem ungarischen König – rechtlich abzusichern. Der erste Schritt auf diesem Weg war die Bestätigung der zukünftigen Aufgaben des Ordens in Preußen in der Goldenen Bulle von Rimini 1226. Kaiser Friedrich II. sicherte dem Orden darin alle Eroberungen in Preußen zu und hob ihn in den Stand eines Reichsfürsten. 1230 besiegelte der Vertrag von Kruschwitz (dessen Authentizität wissenschaftlich umstritten ist) die Übertragung des Kulmer Landes durch den Masowierfürsten Konrad an den Deutschen Orden. Vier Jahre später, am 3. August 1234, bestätigte Papst Gregor IX. im Vertrag von Rieti den Landbesitz des Ordens und erklärte das Gebiet zum Eigentum des Patrimonium Petri.

Da der Orden am Vierten Kreuzzug teilnahm, konnte er erst 1230 mit der ersten Burg in Thorn das Kulmer Land in Besitz nehmen. An der Weichsel und halbkreisförmig weiter an der Ostseeküste entlang umschloss er nun das noch zu erobernde Preußen von Westen und Norden. 1233 erfolgte die Gründung der Städte Kulm und Thorn. Nach der so genannten Kulmer Handfeste erfolgten fast alle späteren Stadtgründungen in Preußen. Die Handfeste geht auf einen Akt zurück, bei dem durch Handauflegen ein Vertrag gültig gemacht wird (manu firmata).2 Für die Prußen, die ursprünglichen Bewohner Preußens, war diese Entwicklung kein Segen. Zwar setzte die Kurie im Vertrag von Christburg 1249 durch, dass die Prußen – bekehrt oder noch dem alten Glauben verhaftet – nicht zu unterdrücken seien, und den zum Christentum bekehrten Prußen sicherte der Vertrag sogar umfangreiche Freiheitsrechte zu. Die Praxis sah jedoch anders aus. Fast immer nahmen die Prußen untergeordnete Stellungen ein, und fast überall ging ihr sozialer und wirtschaftlicher Ausgrenzungsprozess mit der vom Orden geförderten Ansetzung deutschsprachiger Siedler in den neu gegründeten Siedlungen einher.

Der Deutsche Orden kam im Osten durchaus nicht in eine »Große Wildnis«, sondern stieß auf eine prußische Kultur, die etwa in den so genannten Baben überliefert ist, altpreußischen Steinfiguren, deren Bedeutung noch immer im Dunkeln liegt.

Kazimierz Brakoniecki und Konrad Nawrocki, Die Atlantis des Nordens. Das ehemalige Ostpreußen in der Fotografie, Olsztyn 1993 (Foto Carl Wünsch)

Von Anfang an beabsichtigte der Orden, sich ein eigenes Hoheitsgebiet zu schaffen und seine Abhängigkeiten von Polen und dem Reich auf ein Mindestmaß zu beschränken. Die preußischen Bistümer unterstanden deshalb nicht dem Erzbistum Gnesen, sondern dem Metropolitanbistum Riga. Dem Orden gelang es auch – und das war weit wichtiger als dieser eher formale Aspekt –, in drei der vier 1243 auf seinem Territorium gegründeten Bistümer Kulm, Pomesanien, Ermland und Samland die Domkapitel mit eigenen Mitbrüdern zu besetzen und damit eine kuriale Einmischung von außen zu verhindern. Im Innern hatte er sich vorerst der aufständischen Prußen zu erwehren. Diese erhoben sich 1260 gegen die Fremdherrschaft des Ordens, der erst nach vierzehn Jahren blutiger Kämpfe fast ganz Preußen in Besitz nehmen konnte. Bis 1283 gelangte das von den Prußen besiedelte Land vollständig in die Hand des Ordens.

Nach der Eroberung Pommerellens 1308 verlegte der Orden im darauf folgenden Jahr seinen Hochmeistersitz von Venedig in die Marienburg. Unmissverständlich bekundete er damit seinen Anspruch auf die uneingeschränkte säkulare Herrschaft über Preußen, die er nun zu festigen trachtete. Unter Hochmeister Winrich von Kniprode (1351–1382), der als Diplomat und Verwalter die Interessen des Ordens geschickt zu vertreten verstand, erreichte der Orden den Höhepunkt seiner Macht.

Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Nachbarn Polen, der in der steigenden Macht des Ordens nicht zu Unrecht eine gefährliche Bedrohung sah. Spätestens mit der Taufe des litauischen Großfürsten Jagiełło (Jogaila) 1386 hatte der Orden seine Aufgabe erfüllt, denn es gab in Ostmitteleuropa keine heidnischen Territorien mehr, die befriedet werden mussten. Wollte der Orden sich in Preußen behaupten, musste er sich als weltliche Macht etablieren. Darauf richtete er von nun an alle Kraft. Zugleich setzte er seine machtpolitisch motivierten Unternehmungen fort und wurde dadurch für seine Nachbarn zu einem unberechenbaren Risikofaktor.

Einer dieser Nachbarn war der Großfürst Jagiełło, der den Grundstein für das polnisch-litauische Großreich legte und als Begründer der Jagiellonendynastie als Władysław II. Jagiełło den polnischen Königsthron bestieg. Im Mai 1409 kam es zum offenen Kampf Polen-Litauens mit dem Orden. Unter Hochmeister Ulrich von Jungingen führten die Ordensritter mit der Besetzung der Burg Driesen an der Netze den ersten Schlag. Daraufhin antwortete im Sommer 1410 das polnisch-litauische Heer, verstärkt durch masowische Truppen, mit der Besetzung großer Teile des Ordensstaates. In der berühmten Schlacht von Tannenberg – auf masurischem Boden – erfuhr der Orden am 15. Juli 1410 eine vernichtende Niederlage. Auf dem Schlachtfeld fiel auch Hochmeister Ulrich von Jungingen. Der siegreiche Władysław II. Jagiełło konnte große Teile Preußens besetzen, die er jedoch fast alle wieder aufgab.

Die Deutschen verbinden die Niederlage des Ordens mit dem Dorf Tannenberg, die Polen ihren Sieg mit »Grunwald«, dem nahe gelegenen Ort Grünfelde. Mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus maßen beide Seiten dem Jahr 1410, in dem die erste deutsch-polnische Auseinandersetzung stattfand, hohe Bedeutung zu, denn nun folgte nach nationaler Lesart ein ständiges Ringen zwischen Slawen und Germanen um die Vorherrschaft in Ostmitteleuropa. Für die polnische Seite wurde spätestens seit Henryk Sienkiewiczs 1902 erschienenem Roman »Die Kreuzritter« (Krzyżacy) der Deutsche Orden zum Synonym für eine Zwangsgermanisierung mit Feuer und Schwert, für eine permanente Bedrohung der Slawen bis ins 20. Jahrhundert. Der polnisch-litauische Sieg von Grunwald war für sie eine moralische Genugtuung, während er in der deutschen Nationalgeschichtsschreibung eine traumatische Demütigung darstellte. Im Kontext der wilhelminischen Ostmarkenpolitik sah der Johannisburger Superintendent Paul Hensel 1910 in Masuren – symbolisiert durch das Schlachtfeld von 1410 – einen kontinuierlichen Kampf um die »Ostmark« und ein Beispiel für »das gewaltige Ringen zwischen Slawen und Germanen, welches vor 500 Jahren auf dem Schlachtfelde von Tannenberg im masurischen Kreis Osterode am 15. Juli 1410 zu einem blutigen Zusammenstoß führte«.3

Unter dem neuen Hochmeister Heinrich von Plauen gelang damals ein moderater Friedensschluss, der Erste Thorner Frieden von 1411. Bis auf kleinere Gebietsverluste und ein Strafgeld behielt der Orden sein Territorium. Polens materielle Beute war gering, aber es konnte einen gewaltigen Prestigegewinn verbuchen, während der Orden politisch und moralisch nachhaltig geschwächt wurde.

Der Friede hielt nicht lange vor. Schon bald brach ein neuer Konflikt zwischen Polen-Litauen und dem Ordensstaat aus, in dessen Zentrum der Anspruch beider Seiten auf Sudauen stand und damit auch auf das spätere östliche Masuren. Nach erbitterten Kämpfen endete diese Auseinandersetzung am 27. September 1422 mit dem Frieden vom Melnosee. Der Orden verzichtete auf die von ihm besetzten litauischen Gebiete und stimmte einer Teilung Sudauens zu. Die Grenzziehung wurde noch einmal 1435 im Frieden von Brest (Brześć) bestätigt. Die in den beiden Friedensschlüssen beschriebenen Grenzverläufe zwischen Masuren und Polen-Litauen – die polnisch-ostpreußische Südgrenze – erfuhren ihre Bestätigung und behielten ihre Gültigkeit bis 1939.

Der ethnisch überwiegend deutsche Adel sowie die Städte im Ordensgebiet, die zunehmend an Einfluss gewannen, vertraten seit Beginn des 15. Jahrhunderts ihre Interessen mit wachsendem Nachdruck gegenüber dem selbstherrlichen Orden. 1440 schlossen sie sich im Preußischen Bund zusammen und stellten damit für den Orden eine innenpolitische Bedrohung dar. 1454 eskalierte der Konflikt. Die im Preußischen Bund zusammengeschlossenen Stände boten dem polnischen König Kazimierz IV. die Oberherrschaft über Preußen an. Dieser inkorporierte 1454 formal das gesamte Ordensgebiet, wobei er Adel und Städten die ihnen zugesicherten Rechte bestätigte.

Der Orden sah seinen Einfluss schwinden und empfand die innenpolitischen Tumulte als Provokation. Beharrlich weigerte er sich, der Option der preußischen Stände für die polnisch-litauische Union nachzugeben, die unter der Ordensherrschaft ihre Freiheit massiv beschnitten sahen. Der Kampf um die Vorherrschaft in Preußen gipfelte im Dreizehnjährigen Krieg zwischen Polen und dem Orden, der mit einem polnischen Sieg und dem Zweiten Thorner Frieden von 1466 endete. Diesmal musste der Ordensstaat einschneidende territoriale Veränderungen hinnehmen. Pommerellen mit Danzig, das Kulmer Land, Elbing, Marienwerder und das Ermland wurden Polen zugesprochen, wodurch das ostmitteleuropäische Großreich Polen-Litauen einen Zugang zur Ostsee erhielt. Die neugeschaffenen Wojewodschaften Pommerellen, Kulm und Marienburg wurden als »Preußen Königlich Polnischen Anteils« jedoch nicht direkt der Krone Polens unterstellt, sondern erhielten einen auf weitgehenden Freiheiten basierenden Sonderstatus, der den Hansestädten der Region eine ungeahnte Blütezeit bescherte. Das Jahr 1466 bezeichnete den Anfang vom Ende des Ordensstaates.

1511 wählte das Ordenskapitel seinen letzten Hochmeister Albrecht von Brandenburg aus der jüngeren Linie Hohenzollern-Ansbach. Der neue Hochmeister übernahm einen Orden, der unter Nachwuchsmangel litt und politisch am Ende war. Der aus Franken stammende Albrecht, dessen Mutter eine Jagiellonin war, galt als Mann von Talent. Er korrespondierte mit Osiander und später auch mit Luther, der ihm 1523 riet, den Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum umzuwandeln und der Krone Polens zu unterstellen. Die Säkularisierung gelang: Am 10. April 1525 huldigte Albrecht feierlich seinem Onkel, dem polnischen König Zygmunt I. Stary, und wurde offiziell mit dem Herzogtum Preußen belehnt. Damit war der Ordensstaat in ein weltliches Herzogtum übergegangen.

Prußen, Polen und Deutsche im südlichen Ordensstaat

Masuren blieb bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts von den Unternehmungen des Ordens verschont. In dieser »Großen Wildnis« waren noch immer ganze Landstriche unbesiedelt. Erst nachdem der Orden sich im Westen und Nordwesten Preußens dauerhaft festgesetzt hatte, richtete er sein Augenmerk auch auf diese vernachlässigten Regionen im Süden und Osten. Als er sie schließlich in Besitz nahm, bediente er sich des bereits erprobten Verwaltungssystems der Komtureien.

Das Zentrum einer Komturei bildete stets eine größere Burg, die als Sitz eines Komturs und eines Ordenskonvents diente. Dem Komtur oblag die Verwaltung des Bezirks, welche Finanzen, Gerichtsbarkeit, Polizei- und Kriegswesen sowie die Beaufsichtigung der landesherrlichen Vorwerke und deren Besiedlung umfasste. Auf Grund ihrer großen Ausdehnung wurden die Komtureien in kleinere Verwaltungseinheiten, die Kammerämter, unterteilt. Diese dezentrale Struktur erhöhte die Effizienz der Verwaltung. An der Spitze der Kammerämter standen Pfleger, Vögte, Hauskomture sowie Wald- oder Fischmeister. Mit dem engmaschigen Netz von Komtureien und Kammerämtern gelang es dem Orden, sein Gewaltmonopol in allen Landesteilen zu jeder Zeit und an jedem Ort auszuüben.

Die Einnahme und Besiedlung Masurens erfolgte vom westlichen Stützpunkt des Ordens im Kulmer Land und in Pomesanien in Richtung Osten. Das benachbarte preußische Land Sassen – das spätere westliche Masuren mit den Kreisen Osterode und Neidenburg – wurde dem Orden bereits 1257 durch eine Schenkung der Herzöge von Kujawien und Masowien zugesprochen. Seit dieser Zeit gehörte der westliche Teil Masurens formal zum Ordensgebiet. Allerdings konnte von einer systematischen Inbesitznahme anfänglich nicht die Rede sein, da der Orden hier erst mehr als ein halbes Jahrhundert später erste ständige Niederlassungen gründete. Zwar fiel es dem Orden nicht schwer, die fast menschenleeren Gebiete Sassens und Galindens in Besitz zu nehmen, doch die Urwälder, Sümpfe und Seen erschwerten die Errichtung einer funktionierenden Infrastruktur. Auf größeren Widerstand stieß der Orden nur bei der Unterwerfung des östlichen Sudauen, das auch Jadwingerland genannt wurde und weit nach Polen-Litauen hineinragte. Immer wieder unternahmen die Sudauer Feldzüge in das Ordensgebiet und nach Polen, wo sie 1260 Płock zerstörten. Erst in den Kämpfen zwischen 1277 und 1283 unterlagen die Sudauer unter ihrem Fürsten Skomand als letzter einheimischer Stamm Preußens dem Orden. Damit geriet das gesamte Gebiet des späteren Masuren unter die Herrschaft der Ordensritter.

Die erste Erwähnung eines Ordensstützpunktes in Masuren findet sich in Gilgenburg 1314/1316. Der spätere Hochmeister Luther von Braunschweig verfügte noch als Christburger Komtur 1326 die Verschreibung der Stadt Gilgenburg. Damit dehnte der Orden seine Herrschaft auf den westlichsten Zipfel Masurens, den alten preußischen Gau Sassen, aus. Um einer weiteren geordneten Ansiedlung den nötigen Schutz zu gewähren, errichtete er so genannte Häuser, das waren befestigte Anlagen an strategisch wichtigen Punkten. Dem ersten Haus in Gilgenburg von 1314 oder 1316 folgten um 1323 die Gründungen der Burgen in Osterode, 1344 in Soldau sowie 1350 in Hohenstein und Neidenburg. 1350 wird auch ein festes Haus in Ortelsburg erwähnt. Etwa zehn Jahre später erfolgte die Inbetriebnahme des südlichen Vorpostens Willenberg.

Abbildung stammt aus dem Besitz von Andreas Kossert

Anfang des 14. Jahrhunderts gelangte der Deutsche Orden in den westlichen Teil Masurens, wo er die Neidenburg gründete, zu deren Füßen die gleichnamige Stadt entstand. Dort wuchs zu Beginn des 19. Jahrhunderts Ferdinand Gregorovius auf, der 1865 seiner in Florenz lebenden und dort erkrankten ostpreußischen Freundin Pauline Hillmann ein elf Strophen langes Gedicht mit dem Titel »Schloß Neidenburg« sandte:

»Die alte Burg der Neide,Der Heimat Stolz und Freude, Sie will ich preisen hoch.Ich bin aus ihrem Turme Ein Falk, der sich im Sturme Ins weite Land verflog.

Die Türme, die da ragen Aus alten RittertagenSo fest und trutziglich.Sie waren meine Meister, Die deutschen Heldengeister, Die einst erzogen mich.

Ein ahnend Weltbesinnen War’s, das von jenen Zinnen Mir in die Seele floß;Was ich gesagt, gesungen, Hat sich hervorgeschwungen Aus dir, du Vaterschloß.

Ich werd’ dich nimmer sehen, Auf grünem Berg nicht stehen Am dunklen Eichenbaum; Nicht sehn die Wolken reisen, Die Schwalben dich umkreisen Wie sonst im Kindheitstraum.«

Als der Vormarsch der Ordensritter im Bereich von Ortelsburg und Willenberg abgeschlossen war, gingen sie daran, zum Schutz gegen die von Osten eindringenden Litauer von Norden her eine Burgenkette über Angerburg (1335) und Lötzen (1337) zu errichten. 1345 entstand das Haus Johannisburg (castrum sancti Johannis) am Pissek, das, vollkommen ungeschützt in der Wildnis liegend, den wichtigen Flussübergang sichern sollte. 1360/61 entstand achtzehn Kilometer nördlich von Johannisburg das Haus Eckersberg. Auf einer strategisch wichtigen Anhöhe zwischen dem großen Spirdingsee und dem Tirklosee postiert, diente es der Verteidigung des westlich und nördlich gelegenen Altsiedelgebiets und erwies sich zugleich als Schutzbastion für die weit in sudauisches Gebiet vorgeschobene Johannisburg. 1377 wird erstmals die Burg Rhein erwähnt, und 1398 folgt als vorgeschobener Posten im äußersten Südosten schließlich die Burg Lyck.

Damit war ein grobmaschiges Befestigungsnetz geschaffen, das zumindest notdürftig das eroberte südöstliche Preußen sicherte. Um die befestigten Anlagen der Pfleger und Vögte entstanden kleinere Siedlungen, aus denen sich später die ersten masurischen Städte entwickelten. 1326 wird die Stadt Gilgenburg, zwischen 1324 und 1333 Osterode, 1349 Soldau, 1359 Hohenstein und 1381 schließlich die Stadt Neidenburg erwähnt.

Die eroberten Gebiete wurden zunächst den bestehenden Komtureien angegliedert, was eine engere Anbindung an das Zentrum des Ordensstaates bedeutete. So zählten die Kreise Osterode, Neidenburg und Ortelsburg zeitweise zur Komturei Elbing, die Kreise Sensburg, Johannisburg sowie der Südteil des Kreises Lyck zur Komturei Balga. Zur Komturei Brandenburg gehörten die Kreise Lötzen, Oletzko und der nördliche Kreis Lyck. Erst seit 1341 gab es auf dem Gebiet Masurens mit Osterode eine eigenständige Komturei, der die Ämter Neidenburg, Soldau, Hohenstein, Gilgenburg, Osterode und Deutsch Eylau zugeordnet waren.

Die planmäßige Besiedlung Masurens kam erst verhältnismäßig spät in Gang. Zum Teil hat die deutsche Forschung angenommen, dass der Orden die Wildnis als natürlichen Schutzkordon gegen Feinde aus dem Süden und Osten nutzte. Natürlich konnten Urwälder, Sümpfe und Seen ein undurchdringliches Bollwerk bilden, aber das warf keinen Gewinn ab, und den strebte der Orden an. Er wollte die natürlichen Ressourcen des Landes gewinnbringend ausbeuten, und deshalb forcierte er mit aller Kraft dessen Erschließung und Besiedlung. Der Schutzwall einer undurchdringlichen Wildnis war ihm daher höchst ungelegen, denn er erschwerte die Anwerbung von Siedlern, die bereit waren, sich den extremen Unbilden der Natur auszusetzen.

In Lyck, im äußersten Südosten Masurens, errichtete der Deutsche Orden 1398 einen Vorposten gegen die Sudauer, die dem hegemonialen Streben des Ordens bis dahin erbitterten Widerstand geleistet hatten. Lyck nahm eine Vorreiterrolle unter den Städten Masurens ein. 1910 zählte die Gemeinde gut 13000 Einwohner und war mit Abstand die größte der Region. Vom Kirchturm aus schweift der Blick über die mehrgeschossigen Häuser des Zentrums auf den Lycksee.

Ostpreußen nebst dem Memelgebiet und der Freien Stadt Danzig, hrsg. von Fritz Mielert, Bielefeld/Leipzig 1926

Von Westen her schritt nun langsam die Siedlungsgründung in der Umgebung der befestigten Stützpunkte des Ordens voran. Der Orden und später dann die von ihm delegierten Gutsherren machten oft Stadtbürger, die ein gewisses Vermögen vorweisen konnten, zu Lokatoren, worunter man sich so etwas wie einen Dorfgründungsunternehmer vorzustellen hat. Die Lokatoren übernahmen in den Dörfern in der Regel das Schulzenamt und wuchsen allmählich in die ländliche Oberschicht hinein. Die schriftlich fixierte Handfeste, der Gründungsakt einer Siedlung, legte Lage und Größe der Dorfschaft fest sowie die Rechte und Pflichten der zukünftigen Bewohner. Durchschnittlich erhielten die Siedler Parzellen von anderthalb bis zwei Hufen, das sind maximal 33 Hektar. Dem Schulzenhof fielen vier bis sechs Hufen, manchmal ein Zehntel des Dorfgrundes, zu. Erfolgte die Dorfgründung nach kölmischem Recht, also dem Recht der Stadt Kulm, blieben die Bauern scharwerkfrei. Ihr Beitrag an den Fiskus bestand lediglich aus einer festgelegten Steuer, während Siedler nach Magdeburger Recht zur Leistung von Spanndiensten und zusätzlichen Steuerzahlungen verpflichtet waren. Kölmische Bauern konnten ihr Land selbstständig bewirtschaften und verkaufen, und sie rangierten, da sie von Frondiensten befreit waren, in der sozialen Hierarchie der Dörfer ganz oben.

Unter den Bauern nach Kulmer und Magdeburger Recht standen die prußischen unfreien Hakenbauern, denen aber die Möglichkeit geboten war, sich freizukaufen. Daneben gab es kleinere Gutsbesitzer, die Kleinen und Großen Freien. Kleine Freie erhielten ein Kleingut und zahlten geringe Abgaben. Im Kriegsfall bestand ihre besondere Verpflichtung gegenüber dem Landesherrn im Reiterdienst mit leichten Waffen. Die Kleinen Freien waren fast ausschließlich Prußen, die sich im Gegensatz zu den prußischen unfreien Hakenbauern freiwillig dem Orden unterworfen hatten und nun mit diesem Freiheitsprivileg belohnt wurden. Große Freie erhielten größere Güter zugesprochen und zahlten ebenso wie Kleine Freie nur geringe Abgaben. Ihnen oblag der Reiterdienst mit schweren Waffen. Große Freie übten die grundherrlichen Aufgaben über unfreie Hufenzinsbauern oder Hakenbauern aus, wobei ihnen auch die Gerichtsbarkeit über die von ihnen abhängigen Bauern zustand. Aus dieser Schicht entwickelte sich der eigentliche Landadel, der aber nur begrenzte Herrschaftsrechte besaß, da die Freien nicht wie Adlige anderer Länder ihr Land als Lehen empfingen. Im Ordensstaat blieb der Orden bis 1525 alleiniger Eigentümer des gesamten Landes.

Um den Dorfgründungen eine gedeihliche Entwicklung zu gewähren, befreite man sie in den ersten Jahren von der Steuer. Wovon hätten die Siedler diese auch zahlen sollen, da sie das Land doch erst der Wildnis abringen mussten? In reinen Waldregionen war das gar nicht möglich, so dass man zur Gründung von Beutnerdörfern überging. Beutner (Biener) arbeiteten als Imker und zahlten ihre Abgaben in Naturalien (Honig und Wachs). Sie lebten im Dorfverband mit den Bauern, zogen jedoch im Sommer in die Wälder. Dort sammelten sie in hohlen Baumstämmen gelagerte Bienenstöcke (Beuten). Der Wildhonig erfreute sich großer Beliebtheit, solange es noch keinen Zucker gab. Erst mit dem Zuckerrübenanbau seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verlor der Honig seine wirtschaftliche Bedeutung. Neben der Land- und Bienenwirtschaft bildeten Holzhandel und -verarbeitung die ökonomische Basis der masurischen Kammerämter. Holz diente als Brennstoff sowie als Baumaterial für Zäune, Wehranlagen und Haushaltwaren. Eng mit der Holzwirtschaft verbunden war die Gewinnung von Pech, Teer, Kienöl und Rinde.

Ein Beispiel für die Gründung eines festen Hauses und einer Ansiedlung im Burgbereich ist Ortelsburg. Bereits um 1350 entstand inmitten der Wildnis die Etappenstation Ortulfsburg, benannt nach dem Elbinger Komtur Ortulf von Trier (1349–1371). Die später zur Burg ausgebaute Befestigung lag strategisch günstig, denn sie beherrschte von einer geschützten Anhöhe aus die Landenge zwischen dem Großen und dem Kleinen Haussee. Schon bald entstand für die Siedlung um diesen Außenposten, auf dem ein Pfleger saß, der polnische Name Szczytno, was Schild, Giebel, Spitze und Anhöhe bedeutet und daher die geografische Lage der Burg treffend beschreibt. Eine später Beutnerdorf genannte Siedlung um die Ortulfsburg wird 1360 von Ortulf von Trier am nördlichen Rand des Kleinen Haussees gegründet und mit polnischen Beutnern (Biener) besetzt. Dies ist eine der ältesten urkundlichen Erwähnungen ethnisch polnischer Siedlungen in Masuren. In der Handfeste von 1360 finden die ersten polnischen Siedler sogar namentlich Erwähnung (nach einer Abschrift aus dem 16. Jahrhundert): »Wyr bruder Ortolff von Tryre spitteler des ordens sente Marie des deu[t]schen haußes des spitales von Jerusalem und kumptur zcum Elbynge thun wyssenthlich und offenbar allen den, dy dysßen bryff anseen ader horen leßen, daz wyr myth wyßen, rathe und volworth [Zustimmung] unßer bruder doselbyst dy Polen haben enthfangen und sy unß gesychert und gelobeth haben, daz sy bey unß bleyben wollen und unß getraue wellen seyn, der namen hyrnach geschryben stehen Querke, Mikusch von Pivade, Swanteslaff, Sweanczey, Anderzey, Gnenur, Pauel Schzeme, Gretthyn, Domang, Vasezinicz, Reydan. Jacob Manik, Piothwey, Mykuss, Mertzin, Tforsian, Waczach, Pyortrey.«4

Eines der ältesten Zinsdörfer des Kreises Sensburg ist das Beutnerdorf Aweyden. Johann von Schönfeld, Komtur zu Rhein, verlieh am Gründonnerstag (»in cena domini«) 1397 zu Rastenburg dem Dorf seine Handfeste »zu eynen ewigen gedechtnis«.

© Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

Beutnerdorf verlor seinen Status als eigenständiges Dorf erst Anfang des 20. Jahrhunderts, als es dem Stadtgebiet Ortelsburg eingemeindet wurde. Der polnische Name für Beutnerdorf, Bartna Strona, findet sich bis heute als Straßenname in Ortelsburg und erinnert wie der in Masuren weit verbreitete Familienname Bartnik (Beutner, Imker) an die mittelalterliche Imkertradition. Die Siedlung um die Ortelsburg erhielt jedoch nicht – wie gemeinhin üblich – das Stadtrecht. Vielmehr fiel dieses Recht 1386 an das etwa fünfzehn Kilometer westlich gelegene Passenheim, das bereits 1381 als Kirchdorf Heinrichswalde erwähnt wird. Damit ist Passenheim die älteste Stadt des mittleren und östlichen Masuren. Die Einwohnerzahlen blieben allerdings sehr bescheiden: Passenheim zählte in der späten Ordenszeit um 1500 etwa 557 Seelen, das gesamte Hauptamt Ortelsburg allerhöchstens fünftausend Einwohner.

Bis auf den östlichen Kreis Neidenburg und den südlichen Kreis Ortelsburg, die auf Grund der schlechten Bodenqualität entlang der Grenze weitgehend unbesiedelt blieben, war der masurische Westen bis zum Hauptamt Ortelsburg um die Mitte des 15. Jahrhunderts erschlossen. Von Norden her drang die planmäßige Besiedlung im Gebiet der Großen Masurischen Seen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vor, also in der zweiten Phase der Kolonisation durch den Orden. Im Pflegeamt Seehesten entstanden das Beutnerdorf Aweyden (1397), Seehesten (1401) und Peitschendorf (1448), die ihren Zins in Honig zahlen mussten. Als Stadt entstand Sensburg zwischen 1393 und 1407. Im Amt Rhein ist das zwischen 1392 und 1396 gegründete Eichmedien das älteste bekannte Zinsdorf, gefolgt von Arys (1443) und Gutten (1450) an der Ostseite des Spirdingsees. Mitte des 15. Jahrhunderts wies das Gebiet um die 1378 zerstörte Burg Eckersberg feste Siedlungsstrukturen auf.

Passenheim nach einem Stich aus Caspar Hennenbergers »Erclerung der Preussischen grösseren Landtaffel oder Mappen«, Königsberg 1595. Im Vergleich zu den Städten anderer europäischer Regionen war Passenheim eher ein befestigtes Dorf. Dicht an der Stadtmauer stand die 1391 als massiver Bau errichtete Stadtkirche. Diese älteste Kirche Masurens mit ihrem wuchtigen, markanten Turm ist heute das Gotteshaus der kleinen evangelischen Gemeinde der Stadt. Sie beherbergt eine der wertvollsten Orgeln Masurens, die 1998 restauriert wurde und seither wieder im Zentrum sommerlicher Kirchenkonzerte steht.

Christoph Hartknoch, Alt- und Neues Preussen und Preussischer Historien zwey Theile …, Frankfurt am Main/Leipzig 1684

Heinrich Walpot von Bassenheim aus Bassenheim bei Koblenz war erster Hochmeister des Deutschen Ordens. Unter Zeugenschaft seines Anverwandten, Siegfried Walpot von Bassenheim, erhielt das Kirchdorf Heinrichswalde am 4. August 1386 das Stadtrecht und den neuen Namen Bassenheim. So kündet die Stadt am Kalbensee wie andere auch von den Herkunftsregionen der Ordensritter. Zur Feier des 610. Jahrestages der Stadtgründung lud die polnische Gemeinde Pasym (Passenheim) 1986 ehemalige Passenheimer aus Deutschland und Vertreter der rheinland-pfälzischen Stadt Bassenheim ein, eine Geste, die aus den Kontakten über viele Jahre erwuchs.

Der Kreis Ortelsburg im Bild, zusammengestellt von Max Brenk, Leer 1981

Im Gegensatz zu den Zinsdörfern, die dem Orden gehörten, entstanden die Freidörfer bereits früher. Im späteren Hauptamt Lötzen beispielsweise wurde 1387 das Freidorf Groß Stürlack nach Kulmer Recht angelegt. Der Historiker Grzegorz Białuński stellte fest, dass die Erstsiedler Prußen und Polen waren, aber keine Deutschen.5 Im Amt Johannisburg, das erstmals in einer Handfeste von 1367 erwähnt wird, lockte der Orden Siedler mit freier Fischerei und Jagd bis zu dem Land der Litauer, »so weit die Furcht vor diesen ihnen das Jagen gestattet«.6 Dennoch setzte in der Johannisburger Gegend außerhalb des festen Hauses erst im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts eine nennenswerte Besiedlung ein. 1428 wurden unter anderen die Dörfer Lissaken, Sokollen und Kowalewen gegründet. 1438 folgte Drygallen (damals Drigelsdorf) nach einem Martin Drigal, sieben Jahre später die Dörfer Gehsen, Adlig Kessel und Gentken.

Im Vergleich zu den westlichen und nördlichen Regionen Masurens war das östliche Sudauen noch verhältnismäßig dünn besiedelt. Der Landstrich wirkte auf Grund seiner schlechten Böden und der sumpfigen und sandigen Waldgebiete auf Neusiedler wenig anziehend. Zudem fielen die benachbarten Litauer häufig in das unwegsame Grenzgebiet ein. So gelang im späteren Kreis Lyck, dem äußersten südöstlichen Vorposten des Ordens, erst 1398 die Errichtung eines Hauses, und erst 1409 wird im Lycker Haus ein eigener Pfleger erwähnt. Um diese Zeit dürfte eine Siedlung am Nordufer des Lycksees entstanden sein. Eine planmäßige Besiedlung der Region begann jedoch erst nach dem Frieden von Melnosee im Jahre 1422.

Sämtliche Dorfgründungen im Lycker Raum lagen zunächst in so genannten Damerauen, einem bis 1945 erhalten gebliebenen ostpreußischen Ausdruck für Senken, die in der waldigen Wildnis die einzigen Freiflächen für Wiesen boten. Dort war die Rodung leichter und Viehzucht möglich. Hier entstanden die Freigüter Chelchen (1431), Ploczicznen (1438), Krzywen am Raygrodsee (1439) sowie Gollubien als östlichster Vorposten (1440). Im Jahre 1439 folgte das Zinsdorf Neuendorf. Als erstes Zinsdorf hatte jedoch Lyck eine Handfeste erhalten. Lokator des Dorfes bei der gleichnamigen Burg war der Pole Bartusch Bratomil. Die Entwicklung verlief zögerlich. Noch 1483 und 1516 wird der Ort in Urkunden als Dorf bezeichnet.

Kaum waren jedoch die ersten Erfolge der Besiedlung erkennbar, brach der Dreizehnjährige Krieg aus und machte alle Bemühungen zunichte. Der Zweite Thorner Frieden verfügte den Verbleib Masurens beim Ordensstaat. Nach dem Friedensschluss von 1466 trat die Kolonisation Masurens in eine neue Phase, denn nun wanderten in verstärktem Maße polnische Bauern und Adlige aus dem benachbarten Masowien ein, und zugleich vollzog sich eine Binnenkolonisation aus den westlichen Gebieten Masurens. Der prußische Bevölkerungsanteil blieb verhältnismäßig stark, wenn er auch nicht mehr dominant war.7

Die Neusiedler fanden weitaus ungünstigere Bedingungen vor als die Bauern der frühen Siedlungsperiode. Die neue Landesordnung billigte ihnen nur wenige Freiheiten zu, so dass die bäuerliche Abhängigkeit dramatisch zunahm. Dies war eine unmittelbare Folge des Dreizehnjährigen Krieges, für den der Orden Söldnerführer aus dem Reich angeheuert hatte, die er jedoch nicht bar zu entlohnen im Stande war. Als Gegenleistung für ihre Dienste erhielten sie nun große Besitzungen im Ordensstaat zugesprochen. Durch diese Landübernahme etablierte sich die später für Ostpreußen charakteristische Guts- und Landadelsschicht. Sie benötigte für ihre Güter zunehmend abhängige Bauern, wodurch die Frondienste deutlich anstiegen. Während die Rechte der kölmischen Bauern erhalten blieben, entstand zwischen den Bauern anderen Rechts und der neuen Adelsschicht ein Abhängigkeitsverhältnis, das für die nächsten Jahrhunderte prägend sein sollte.

Was aber geschah mit der einheimischen Bevölkerung, den Prußen? Während die polnische Seite die brutale Ausrottung der Prußen durch den Orden beklagte, sprach die deutsche Seite von Assimilierung und friedlicher Integration der Prußen. Es ist wohl beides zu einem gewissen Teil wahr. Viele Prußen starben während der Eroberungszüge des Ordens oder während der blutigen Niederschlagung der Prußenaufstände im 13. Jahrhundert. Dennoch bildeten sie noch lange Zeit die Bevölkerungsmehrheit im Ordensstaat. Boockmann schätzt, dass um 1400 im Ordensstaat 140000 Prußen, 103000 Deutsche und 27000 Polen lebten.8 Später wirkte die Integrationskraft des deutsch- oder polnisch-sprachigen Milieus so stark, dass sich die Prußen im Norden und Westen des späteren Ostpreußen dem deutschen, in Masuren mehrheitlich dem polnischen Kulturkreis assimilierten.

Um 1870 entbrannte ein heftiger Streit über die ethnische Struktur Masurens. Deutsche und polnische Historiker übertrugen ohne wissenschaftliche Bedenken moderne nationalstaatliche Denkmuster auf das Mittelalter. Jeglicher Forschungsansatz stand dadurch unter dem Primat politischer Legitimation. Ausgelöst wurde die Diskussion durch die kühnen Thesen des polnischen Historikers Wojciech Kętrzyński, der dem polnischen Element das größte Gewicht bei der Besiedlung Masurens zuschrieb. Daraufhin sahen sich deutsche Forscher genötigt, einen gegenteiligen Beweis zu erbringen. Der ehemalige Direktor des Königsberger Museums, Fritz Gause, untersuchte beispielsweise den Anteil polnischer Einwanderung in der Komturei Osterode. Grundlage seiner Forschungen war das zwischen 1384 und 1519 angelegte »Gilgenburg-Hohensteiner Landschöffenbuch«, das den Besitzwechsel von Gütern festhält. Mit einer sehr fragwürdigen Analyse der Namen kam er zu dem Schluss, dass vor 1466 das deutsche Element im Westen Masurens eindeutig dominierte. Nach seiner Meinung befanden sich vor 1411 kaum Polen unter den Siedlern. Erst nach 1466 »verdrängten« polnische Siedler aus Masowien und Pommerellen Prußen und Deutsche.

Gauses Argumentation von 1924 liegen das hegemoniale Denken des Nationalstaats und die Überzeugung von einer höheren deutschen Kultur zu Grunde. Demnach konnten, als der Orden »kraftvoll« die Besiedlung Preußens vorantrieb und seine Blüte erlebte, nur wehrhafte Deutsche dieses Land urbar gemacht haben. Nach der Niederlage von Tannenberg 1410 und noch einmal 1466 strömten dann Polen ins Land, nutzten die missliche Situation des Ordens aus und setzten sich billig »ins gemachte Nest«. Gauses Ausführungen münden in dem fragwürdigen Fazit: »Wie so oft im deutschen Osten, so erscheinen auch hier die Polen als Erben deutscher Arbeit und deutscher Kultur … Der deutsche Ritter, der deutsche Bürger und der deutsche Bauer haben hier Werte geschaffen, deren Nutznießer der polnische Einwanderer wurde – damals wie heute.«9

Insgesamt neigte die deutsche Seite dazu, die Kolonisationstätigkeit des Ordens zu überhöhen und ihm eine zivilisatorische christlich-westeuropäische Kultursendung zuzuschreiben. Der nichtdeutsche Anteil an der Geschichte Preußens erfuhr dagegen nur eine unzureichende Würdigung. Ein Beispiel dafür ist die Dissertation Arthur Döhrings aus dem Jahr 1910, der die Herkunft der Masuren untersuchte und seine Studie als direkte Antwort auf die polnischen Forschungen Wojciech Kętrzyńskis verstand. Döhring führte aus: »Aus fast allen Gauen Deutschlands eilten sie, die Ritter, Bürger und Bauern, auf den Ruf des siegreichen Deutschordens herbei. Mit starkem Arm und zäher Ausdauer gingen sie daran, den Urwald zu roden und das verwüstete Land für die deutsche Kultur zu gewinnen.«

Das idealisierte Bild des Zivilisation stiftenden Ordens ist allerdings weit entfernt von jeder mittelalterlichen Wirklichkeit, was im Folgenden bei Döhring noch deutlicher wird: »Wo früher in dichtem Gestrüpp wildes Getier gehaust, wo Sumpf und Moor den Schritt gehemmt, wo in kleinen Waldlichtungen armselige Hütten Menschen beherbergt, die durch Jagd, Fischfang und primitiven Ackerbau ein kärglich Dasein fristeten, dort erhoben sich nun im Schutze starker Ordensfesten von Wall und Graben umgürtete Städte, in denen der Bürger friedlich seinen Geschäften nachging, dort grüßten freundlich anmutende Dörfer, deren Bauern fleißig die planvoll angelegten Fluren bestellten … Verschwunden waren die heiligen Haine und Opferstätten: über Kurcho und die heidnischen Mächte in Wald und Feld hatte der Christengott triumphiert. Ihm zu Ehren erhoben sich nun in Städten und Dörfern zahlreiche Kirchen und Kapellen, dort lauschten die Gläubigen der reinen Lehre. Und wem gebührt der Dank dafür, daß die christliche Kultur mit ihren friedlichen Segnungen in den einst so unwirtlichen Gegenden so schnelle und sieghafte Verbreitung fand? In erster Linie dem Deutschen Ritterorden.«10

Auf polnischer Seite vertrat Wojciech Kętrzyński in seiner ersten programmatischen Schrift »O Mazurach«, die allerdings nicht als wissenschaftliche Studie angelegt war, 1872 noch die national überhitzte These, Masuren sei uraltes polnisches Siedlungsgebiet, und die dort lebenden Polen bildeten die Urbevölkerung Masurens. Nach umfangreichen Quellenrecherchen im Königsberger Staatsarchiv folgte zehn Jahre später seine wissenschaftliche Studie zur polnischen Besiedlung Masurens, in der er die frühere Auffassung revidierte und den Höhepunkt der polnischen Einwanderung nach Preußen um das Jahr 1600 festsetzte, wobei er betonte, dass schon der Orden mehrheitlich Polen angesiedelt habe.11

Beide Nationalgeschichten hatten eines gemeinsam: Ihnen fehlte die beziehungsgeschichtliche Sichtweise mittelalterlicher Siedlungsprozesse. Noch schwerer wog vielleicht, dass sie eine Kontinuität der ostmitteleuropäischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart herstellten. Beide Auffassungen übertrugen moderne Nationenstereotype auf den mittelalterlichen Landesausbau. Dabei spielten ethnische Kriterien für den Orden noch gar keine Rolle, vielmehr lag ihm daran, die Effizienz seiner Verwaltung zu erhöhen und seine Einkünfte zu steigern.

Die Ostsiedlung war, anders, als deutsche Historiker bis in die jüngste Gegenwart betonten, keine einzigartige deutsche Kulturleistung, sondern eine ganz Europa von West nach Ost überziehende Entwicklung.12 Trotz aller Bemühungen des Ordens blieb das Interesse potenzieller Siedler an Masuren äußerst gering. Der Hauptstrom deutschsprachiger Siedler ergoss sich vielmehr in die Ordenszentren im Kulmer Land, nach Pomesanien und in die nördlichen Gebiete bis Königsberg. Aber auch dort herrschte Mangel an Siedlern aus dem Reich, so dass der Orden schon frühzeitig polnische Siedler aus Masowien benötigte. Neben den einheimischen Sassen, Galindern und Sudauern bildeten die Polen schon bald die tragende Säule der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte Masurens.

Die polnischsprachigen Siedler, die 1360 in der Urkunde des Ortulf von Trier erwähnt werden, bildeten wohl keine Ausnahme. 1450 huldigten bereits polnische Freie aus dem Bezirk Johannisburg und den Ämtern Seehesten, Ortelsburg sowie dem Gebiet um Malga dem Hochmeister Ludwig von Erlichshausen: »Die polnischen Freien um Johannisburg gesessen, alle groß und klein, huldigten zu Peczschendorf (Peitschendorf) am Tage Assumptionis Mariae (14. August 1450).«13 Lotar Weber erwähnte sogar Überlieferungen von 1343, wonach bereits einige Polen im Bereich von Malga ansässig waren.14 1480 und 1481 werden laut Investitur des Bistums Ermland die Kirchen in Lötzen, Lissewen, Bialla, Milken und Drygallen mit polnischen Pfarrern aus der Diözese Płock besetzt.15