Otrun - Andrea Minutillo - E-Book

Otrun E-Book

Andrea Minutillo

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Beschreibung

Nach einem üblen Zwischenfall wird Otrun in den Sommerferien von ihren Eltern zur Oma gebracht, von deren Existenz sie bisher keine Ahnung hatte. Sie findet sich auf einer malerischen Lichtung, inmitten eines Waldes, wieder. An diesem ruhigen Ort lernt sie ihre Oma Siegrun, ihren Freund Dustin, seinen Sohn Wido, und vor allem sich selbst kennen. Ein magisches Buch über die Liebe zu den Menschen und zu ihrem eigenen ICH.

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Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Dieses Buch ist an all diejenigen gerichtet,

die sich gerne durch die Fantasie entführen lassen.

Sich entführen lassen in eine andere Welt.

In die Welt der Otrun.

Was ist Leben?

Es ist das Aufleuchten eines Glühwurms in der Nacht,

es ist der Hauch eines Büffels im Winter.

Es ist der kleine Schatten, der übers Gras huscht

Und sich im Sonnenuntergang verliert.

Dies sind die letzten Worte des Häuptlings Crowfoot.

Ich bin’s – einfach Otrun, ich habe keine Ahnung, was sich meine Eltern Manfred und Mathilde dabei dachten, mir diesen Namen zu geben. Auf jeden Fall werde ich deswegen seit meinem ersten Kindergartentag gemieden oder geärgert. Es ist nicht einfach anders zu heißen, als alle anderen sonst. Ich gehe jetzt in die neunte Klasse, doch diese Dinge ändern sich einfach nie! Heute war es wieder einmal soweit...

Ich komme aus der Schule, schleiche ganz leise in die Wohnung, an der Küche vorbei ins Bad. Ein schneller Blick verrät mir: Mama ist nicht da. Sie arbeitet sicher noch in ihrem kleinen Laden im Hof. Sie ist Konditorin und ALLE stehen auf ihre Torten. Erst mal duschen und frische Klamotten anziehen. Ich bin völlig durch den Wind, zittere am ganzen Körper. So ein Mist, die Hose ist gerissen. Hinten, mitte Oberschenkel, da brennt es ganz schön an meinen Beinen und blaue Flecke leuchten an den Oberarmen. Na die könnten ja auch vom Sport sein, Möhrenziehen oder so. Sonst geht`s – an meiner rechten Hand klebt Blut, mein Rücken ist empfindlich, das muss die Kante vom Mülleimer gewesen sein. Zuerst einmal duschen, dann Bestandsaufnahme. Das heiße Wasser tut gut. Ich schäume mich zweimal ein, bis ich mich einigermaßen beruhigt habe. Benutze mein Ginkgo-Teebaumöl Shampoo. Der Geruch macht die Gedanken frei und der Schaum meine Haare schön. Sie hängen an mir herunter, fast bis zum Po. Kastanienbraun, glatt und glänzend. An sich so das Beste an mir. Ich bin 15 Jahre alt und habe “Problemhaut“. In der Schule nennen sie mich gerne Pizza-Fresse. Ich halte diesen Ausdruck nicht für sonderlich originell. Ich glaube ich habe auch schöne Augen, sie sind hellblau, fast schon Türkis. Aber alle starren nur auf meine Pickel. Ich bin mittelgroß und über meine Figur kann ich nicht wirklich meckern. Es gibt eine Menge dickere Mädchen als mich, auch wenn meine Hüften vielleicht ein bisschen zu rund sind. Doch wenn du einmal in den Fokus bestimmter Klassenkameraden gerätst und dann noch Otrun heißt, bist du verloren!

Ich nehme mir ein frisches Handtuch vom Stapel und rubbele mich trocken. Hier und da ganz vorsichtig. Meine Hand ist doch nicht verletzt, stelle ich erstaunt fest. Das Blut ließ sich einfach abwaschen. Dann hat wenigstens einer von denen was abbekommen. Hoffentlich Nils, der hat‘s richtig verdient. Die gerissene Jeans bringt mir bestimmt Ärger ein! Oh je, meine Wange wird blau! Einfach toll das gibt ein großes Palaver am Abendtisch. Ich lege mich aufs Bett, höre Musik und lasse alles noch mal Revue passieren. Kevin meinte, ich hätte mir das selbst zuzuschreiben. Tsss, so ein Blödsinn! Neulich haben sie mir den Stuhl weggezogen und sich kräftig belacht, weil mein dicker Hintern jetzt endlich am Boden genug Platz hätte. Ich habe sie beschimpft – auf meine Weise. Ich habe ihnen dicke, fette Eiter-Pickel auf die Nase gewünscht. Tja, und zwei Tage später war etwas seltsam. Kevin kam zum Unterricht mit einem Pflaster auf dem Nasenrücken. Alle dachten, er hätte sich geprügelt. In der Pause beobachtete ich, wie er Nils und Mark zeigte, was wirklich los war. Er hatte ein Ding auf der Nase von der Größe eines Fingernagels. Ich habe mich schnell verdrückt, um nicht in die Schusslinie zu geraten. Naja, heute war es dann soweit aber ein Grinsen konnte ich mir dennoch nicht verkneifen.

Während des Nachmittags hat sich auf meiner Wange ein Bluterguss gebildet und ist kräftig angeschwollen. Mama klopft an meine Tür: Zeit zum Essen. Als ich in die Küche komme, steht Mama noch an den Töpfen. Papa schaut mich mit schreckgeweiteten Augen an: „Otrun, um Himmels willen, was ist passiert?“ Mama, erschreckt vom Ausruf meines Vaters, dreht sich zu mir und hält sich die Hand vor den Mund. Sie muss erst mal tief durchatmen. Sie steht einfach da und knetet ihre Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger. Nach ein paar Augenblicken fragt Papa erneut: „Was ist passiert, mein Kind?“ Ich setze mich erst mal auf meinen Platz, lehne mich vorsichtig zurück. „So schlimm ist es nicht“, sage ich, darauf bedacht die Ruhe zu bewahren. „Ein paar Jungs aus der Klasse fanden es lustig, mich in einen Mülleimer zu stopfen. Mama, dabei ist meine Jeans gerissen.“ Keine Reaktion. Mama knetet noch immer ihre Unterlippe. „Hat dir denn niemand geholfen?“, fragt Papa. „Nein, ich denke, viele haben einfach zugesehen. Aber ich weiß es nicht so genau. Als die abgehauen sind, kam Hanna und hat mir rausgeholfen.“ „Na immerhin. Tut dir sonst noch was weh, Schatz?“, sorgt sich Papa. „Mein Rücken und die Beine.“ „Zeigen!“ Papas Stimme wird kalt und sachlich. Ich ziehe T-Shirt und Jogginghose aus und drehe ihm meine Rückseite zu. „Das gibt’s doch nicht! Wir werden Anzeige erstatten!“ Betreten ziehe ich mich wieder an. „Kevin meint ich sei selbst schuld weil … Naja, sie hatten mir vor einiger Zeit den Stuhl weggezogen und mich verhöhnt. Und ich… ehm, also ich finde es sehr geistlos mit Arsch oder Blödmann zu schimpfen und, also, das war mir einfach so rausgerutscht.“ Papa runzelt bei meinem Gestammel die Stirn, normalerweise spreche ich in ganzen Sätzen, „ich habe ihnen Eiter-Pickel gewünscht. Ständig werde ich wegen meinen Pickeln gehänselt! Na und dann, zwei Tage später, kommt Kevin mit einem Pflaster über der Nase zum Unterricht!“ Mama fängt an zu grinsen. „Und in der Pause sehe ich wie Kevin vor seinen Freunden das Geheimnis lüftet. Ein Monsterpickel größer als ein Daumennagel! Aber damit hab ich doch nichts zu tun, so was geht nicht!“ Am Ende meines Monologes schreie ich. Ich sitze da, zittere und bin völlig perplex. Mama kichert. Papa schaut ratlos. Womit habe ich diesen Stimmungsumschwung erreicht?

„Manfred, sie muss zu Siegrun!“ Papa seufzt: „Hatten wir das nicht anders besprochen? Sie kennt ihre Großmutter gar nicht! Und so wie die da lebt, da willst du doch Otrun nicht hinschicken!“ „Ich war letzte Woche noch bei ihr, Siegrun ist fit und hell im Kopf, sie hat sich außerdem nach Otrun erkundigt.“ „Mathilde, jetzt mal im Ernst, kannst du dir deine Tochter in diesem verwitterten Häuschen vorstellen? Wie Rotkäppchen?!“ Was geht hier vor? Jetzt wird von mir nur noch in der dritten Person geredet, über mich und nicht mit mir und wer hat sich all diese bescheuerten Namen ausgedacht? Mathilde, Otrun und zur Krönung Siegrun! „Könntet ihr wohl bitte mit mir reden?“ „Otrun, es ist hier in der Schule nicht leicht für dich. Mal ehrlich, du hast kaum jemanden zum Reden, ich bin die meiste Zeit im Laden und Manfred ist ständig beruflich unterwegs.“ „Aber Papa und ich, wir schreiben uns doch E-Mails!“ „Otrun, du willst uns doch nicht ernsthaft weiß machen, du hättest Papa geschrieben, dass du Probleme mit deinen Mitschülern hast!“, kontert Mathilde. Pfff, jetzt fühlt es sich an als wäre ich an allem schuld. „Mathilde, wir sind nicht angewiesen auf das Geld, du könntest ganz bei Otrun bleiben, oder im Laden ein bisschen kürzertreten.“ „Aber Manfred, du weißt genau wie ich, dass es nichts mit uns zu tun hat – Otrun muss zu Siegrun. Es sind ja bald Ferien, da passt es doch wunderbar!“ „Wieso kenne ich meine Großmutter eigentlich nicht, was ist mit ihr?“ „Tja, mein Kind, deine Großmutter ist ein ganz besonderer Mensch – und nicht immer ganz einfach …“, meint Mama, „sie lebt etwas … zurückgezogen.“ Manfred ist außer sich: „Sie lebt in einer Holzhütte, so groß wie dein Zimmer, mitten in der Pampa!“ „Jetzt übertreibst du aber! Bei Siegrun ist es sehr gemütlich, ich bin gerne bei ihr“, ereifert sich Mathilde, „übrigens, ich bin auch dort groß geworden, erinnerst du dich?“, zornig sieht sie zu Papa rüber. Ich sitze am Tisch, völlig durcheinander und bemerke nur: „Wollten wir nicht was essen?“ Zur Untermalung knurrt mein Magen. Die Stimmung entspannt sich zum Glück schnell. „Das Gemüse ist jetzt Matsch, ich hätte die Platte ausschalten sollen. Morgen fahre ich zu Siegrun und rede mit ihr.“ „Doch erst mal rufen wir den Pizza-Service an. Otrun, erledigst du das?“, fragt Manfred. „Klar“, meine ich, „ich kann danach ja auch Oma anrufen und mich mit ihr verabreden.“ „Das geht nicht, Siegrun hat kein Telefon“, sagt Mama in aller Ruhe, beobachtet aber mit wachem Auge meine Reaktion. Papa schüttelt nur stumm den Kopf.

Es war ja klar, Mama hatte die Sache bereits beschlossen. Und was Mama sagt, wird gemacht, das war schon immer so. Die Ferien haben begonnen. Jetzt sind wir unterwegs. Im Auto eine große Reisetasche mit dem Wichtigsten. Klamotten, Bücher, Handy, PSP und mein einohriger Hase, den ich als Baby bekommen habe. Wir haben jetzt Ferien, ich soll erst mal für vier Wochen zu Siegrun und dann sehen wir weiter. Mama sagt, wenn es mir bei meiner Großmutter nicht gut gehen sollte, holt sie mich sofort wieder ab. Aber ihre Augen sagen deutlich, dass sie sich ihrer Sache sehr sicher ist: Dies ist der einzige richtige Weg. Die Fahrt dauert nicht ganz anderthalb Stunden. Ich bin also nicht aus der Welt, obwohl es sich so anfühlt. Die letzten Kilometer geht es nur durch Wald und über Felder, irgendwo biegen wir rechts auf einen schmalen Weg ab – hier ist keine Straße mehr zu sehen! Noch ein paar Wiesen und etwas Wald und dann sind wir tatsächlich angekommen. Die Rotkäppchen-Bemerkung von Manfred war ziemlich treffend. Aber hier wird mich keiner mobben können, hier ist keine Menschenseele – nur Oma! Und die strahlt übers ganze Gesicht. Sie ist richtig klein, geht mir nicht mal bis zur Schulter, sie hat ein liebes Gesicht mit klugen, türkisfarbenen Augen. Ihre Haut sieht aus, wie altes Leder. So viele Runzeln auf so wenig Fläche habe ich noch nie gesehen. Ich habe mir überhaupt keine Gedanken gemacht, wie alt Oma wohl ist. Sie trägt ihre weißen Haare kurz und sieht damit aus, wie ein wuscheliges Küken. „Du bist also Otrun“, sagt Siegrun mit fester Stimme und breitet die Arme aus. „Mein liebes Kind, endlich sind deine Eltern zur Vernunft gekommen“, mit einem schalkhaften Lächeln funkelt sie in Mamas Richtung. Mama zuckt nur entschuldigend mit den Schultern. „Wir haben dir hinterm Haus ein kleines Zelt aufgebaut. Meine Bleibe ist recht eng und wir dachten uns, dass es so einfacher für dich ist. Das eigene Nestchen und so … Du weißt schon.“ Ich weiß nichts und schaue fragend zu Mama. „Sieh mich nicht an, daran bin ich nicht beteiligt“, sagt sie mir mit einem breiten Lächeln im Gesicht. „Solltest du dich entscheiden zu bleiben, bauen wir dir gemeinsam ein kleines Häuschen“, Oma grinst mich breit an. Wenn einer hier in dieser Runde glücklich ist, dann Siegrun. „Oma?“ „Oh, das hört sich wunderbar an, sag bitte noch mal Oma zu mir“, sie hat so ein zufriedenes Lächeln, dass ich mich daran nur erfreuen kann. „Oma, wer ist wir?“ Siegrun lacht: „Mathilde, ich denke, es ist alles in bester Ordnung. Mach dir keine Sorgen. Vielleicht kommst du uns übermorgen besuchen, aber jetzt möchte ich mich um meine Enkelin kümmern. Ist das in Ordnung?“ „Ja, ja“, sagt Mama verdutzt, „ehm… ich bringe Kuchen mit, ja?“ Und wieder Omas Lächeln, daran kann ich mich gewöhnen. „Das wäre wunderbar, mein Kind“, sagt sie und drückt Mathilde zum Abschied. Mama nimmt meine Reisetasche aus dem Kofferraum und stellt sie auf den schmalen, verwilderten Weg. Mama nimmt mich in den Arm, küsst mich auf die Stirn, hält mich noch einen Augenblick an den Schultern und schaut mir prüfend in die Augen, um sicherzugehen, dass es mir gut geht. „Ich bin nur einen Steinwurf weit entfernt, wenn irgendwas ist, ruf mich an, ja?“ Und damit setzt sie sich ins Auto und fährt los, ohne noch mal in den Rückspiegel zu sehen. Oma schnalzt mit der Zunge: „Das war nicht leicht für deine Mutter. Aber jetzt komm erst mal an. Du meine Güte, was ist denn alles in der Tasche?“ „Ach lass, die trage ich schon selber.“ „Komm, gemeinsam wird es leichter gehen. Einen Griff nimmst du und den anderen ich“, Oma grinst, „als Erstes bringen wir deine Tasche ins Zelt und dann zeige ich dir mein kleines Paradies.“ Wir gehen schweigend um das kleine Haus, vorbei an einem Kräutergarten. Auf der Rückseite des Hauses ist eine Wiese und wie ein kleines Mini-Dorf sind kreisförmig ein paar Hütten aufgestellt. „Ich dachte du wärst hier allein?“, bemerke ich. „Ja, so ist das auch“, antwortet Oma, „aber so ganz allein bin ich nun doch nicht. Das ist der Stall, dort wohnen eine Ziege, zwei Schafe und eine Kuh. Daneben ist meine Toilette.“ Ich werde blass, schließe meine Augen für einen Moment. Ein Plumpsklo! Papa hatte doch recht! Oma tut so, als bemerke sie es nicht. „Und das etwas Größere daneben ist mein Bad. Aber im Sommer bade ich lieber draußen in dem Holzfass da vorne.“ Sie zeigt lachend mit dem Finger auf etwas das aussieht wie eine übergroße Viehtränke. Ein kleines Stück zurückgesetzt unter Tannen steht ein himmelblaues Zelt. „Und das ist dein Reich fürs Erste.“ „Ganz nah beim Badezimmer – fein“, ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich doch einigermaßen irritiert bin. Das Zelt ist in etwa so groß, dass meine Tasche und ich reinpassen. Ich öffne den Reißverschluss und krabbele auf allen Vieren, die schwere Tasche voraus, hinein. Mir steht vor Überraschung der Mund offen. Gut, dass Oma mich jetzt nicht sehen kann. Es ist überhaupt nicht muffig, wie in jedem anderen Zelt. Hinten an der Wand steht ein Glas mit einer wohlduftenden Flüssigkeit. Es riecht nach Zitrone, Blüten und ein ganz klein wenig Vanille. Eine mit Blümchenstoff bezogene Matratze, die das ganze Zelt ausfüllt und ein Schlafsack, ebenfalls mit Blümchenmuster. Alles hier drin ist himmelblau und … schön! Von der oberen Zeltstange hängt ein Büschel Kräuter. Als ich daran schnuppere vermute ich Minze und Zitronenmelisse. Rückwärts klettere ich wieder raus ans Tageslicht. „Und gefällt es dir?“ Ich schaue sie nur an und schon weiß sie Bescheid und wieder macht sich dieses Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Ein Lächeln, das viel mehr sagt, als meine geschwätzigen Mitschülerinnen. Ein Lächeln aus Zufriedenheit, Ausgelassenheit und Zuversicht. Ein Lächeln, das ich schon nach der ersten halben Stunde nicht mehr missen möchte. „Oma“, frage ich, „ist das dein Zelt? Wofür benutzt du es normalerweise? Es ist wunderschön!“ „Gut, dass du es magst. Es ist von einem guten Freund, meinem Nachbar.“ Ich sehe mich um: „Aber kein direkter Nachbar.“ „So weit ist es gar nicht. Etwa zehn Minuten für eine alte Frau wie mich, aber meistens kommt er zu mir, denn er ist etwas besser zu Fuß. Und er ist sehr nett“, ein mädchenhaftes Lächeln umspielt ihre Lippen, „und sein Sohn ist auch sehr nett. Du wirst die beiden sicher bald kennenlernen.“ „Und was ist in der Hütte dort drüben?“ Ich zeige auf das letzte Häuschen auf Omas Lichtung. „Das, mein Kind, ist meine Werkstatt und das Warenlager.“ „Darf ich es sehen?“ „Komm nur und schau es dir an.“ Oma öffnet schon die Tür. Ein betörender Duft schwallt mir entgegen. Dank einiger Seitenfenster ist es ausgesprochen hell. Das Holz ist von innen weiß lasiert, was den Raum auch größer erscheinen lässt. In der Ecke hinten rechts steht ein großes Holzgestell, vollgehängt mit Kräutern. Daneben ein Regal mit bunten Stoffen, eine schwere dunkle Holztruhe und ein großer Tisch, übersät mit Fläschchen, Farben, Federn, Perlen, Knochen?, Nadeln, Garn und das alles in einem großen Durcheinander. Ich schaue Oma fragend an. „Was geschieht in dieser Werkstatt?“ Oma durchdringt mich mit ihren hellen Augen. Für einen Moment fühle ich mich klein und dumm. Die Utensilien auf dem Tisch, die Kräuter, die Stoffe … sie ergeben für mich wenig Sinn. Omas Blick wird weich, sie sagt: „Komm, ich mache uns einen Tee und zeige dir dabei mein Haus.“ Dort ist es ähnlich hell wie in der Werkstatt, nur ist der Holzlasur ein klein wenig Rosenholz beigemischt. Ein schlichtes einfaches Holzbett steht an der Wand. Gegenüber ist so etwas wie eine Küchenzeile – alles aus dem lasierten Holz geschreinert. Der Herd ist auch die Heizung. Hier wird auf dem Feuer gekocht. „Sieh her, Otrun, das ist das Größte in meiner Küche.“ Sie öffnet eine Box und elektrisches Licht scheint uns entgegen. Ich glaube es kaum, so etwas wie ein Kühlschrank! „Ich dachte schon du hättest hier gar keinen Strom“, bemerke ich. Oma strahlt. „Hab ich auch nicht. Das ist ja das Tolle!“ Sie nimmt mich bei der Hand und hastet zur Tür hinaus, um das Haus und zeigt aufs Dach. „Eine Solaranlage, die schafft es meine Lebensmittel frisch zu halten!“ Ich staune nicht schlecht „So etwas ist doch sicher sehr kostspielig.“ „Ich brauche nicht viel und Dustin hat mir beim Einbau geholfen. Er hat mir vorausgesagt, dass ich danach nie wieder ohne Kühlung leben möchte. Tja, er hatte recht, gekühlt schmeckt die Milch gleich doppelt so gut!“ Aha, der nette Nachbar heißt also Dustin. In der abkühlenden Glut steckt ein schmaler Topf. Siegrun gießt etwas daraus in eine Tonkanne und hängt ein undefinierbares Kräuterbündel hinein. Dann reicht sie mir zwei urige Tontassen und meint: „Heute ist so ein schöner Tag, lass uns lieber draußen unseren Tee trinken.“ Oma voran gehen wir zur kleinen Sitzgruppe, die um eine Feuerstelle angelegt ist. Zwei Baumstümpfe dienen als kleine Tische. „Dustin meint wir sollten einen richtigen Esstisch und Bänke hier auf die Lichtung stellen, aber ich finde es abends am Feuer sehr bequem, was meinst du dazu?“ „Isst du häufig hier draußen? Ich meine dann kann man vielleicht besser an einem Tisch gemeinsam zusammensitzen und hat nicht den Teller auf dem Schoß.“ Ich zucke die Achseln, ich kenne doch noch keine ihrer Gewohnheiten! „Wieviel Uhr haben wir, Otrun? Dustin hat versprochen, gegen 18:00 Uhr mit dem Abendessen zu erscheinen. Er hat sich das als Willkommensgeschenk ausgedacht“, erklärt Oma, während sie mir Tee einschenkt. Ich nippe vorsichtig an dem heißen Getränk. „Hmm… Oma, kannst du zaubern? Der Tee ist köstlich! Was ist da drin? Nein, lass mich raten.“ Ich nehme noch einen Schluck und behalte ihn ein wenig im Mund. „Etwas Minze, Zitrone und auch süßes, ehm… vielleicht Anis?“, frage ich, während ich noch einmal davon koste. „Du hast einen guten Geschmackssinn, Minze ist richtig, das Zitronenaroma kommt von Zitronenmelisse und die liebliche Note wird dem Tee vom Süßkraut verliehen. Anis und Fenchelkraut runden das Ganze ab. Rund, mild, gesund und belebend. So sollte ein Tee für den Nachmittag sein.“ „Oma, wir haben kurz nach fünf. Wollen wir zur Probe den Tisch aus deinem Haus holen und hübsch decken? Vielleicht hat dieser Dustin Freude daran.“ „Wir könnten es versuchen“, meint Oma, „aber der ist ganz schön schwer.“ Siegrun scheint der Gedanke zu gefallen. Sie stürmt mit jugendlichem Eifer zur Hütte. Die Tür ist zu schmal, wir müssen das schwere Ding kippen. Ein bisschen bereue ich meinen Enthusiasmus, es ist eine ganz schöne Plackerei, bis wir den Tisch nach draußen befördert haben. Aber dann sieht es doch gelungen aus. „Otrun, sieh mal nach, ob meine Tiere dort hinter den Bäumen noch ein paar Blumen übrig gelassen haben. Frische Blüten werden sicher hübsch aussehen.“ Sie zeigt auf einen schmalen Pfad zwischen Toilette und Badezimmer.

Ich folge dem Weg durch ein paar hohe Tannen und finde mich schon bald auf einer Weide wieder, die nur durch dichten Bewuchs vom übrigen Wald getrennt ist. Hier grasen ganz zufrieden die Kuh, die Ziege und die zwei Schafe. Alle vier schauen auf und beäugen mich neugierig. Ich stand noch nie einer Kuh ohne Zaun gegenüber und erst jetzt fällt mir auf, wie groß diese Tiere wirklich sind. Die Kuh ist ockerbraun, hat dunkle Nüstern und eine weiße Blässe. Die Schafe sind normale weiße Schafe, die wahrscheinlich bald einen neuen Haarschnitt bekommen werden. Die Ziege jagt mir etwas Angst ein, sie ist pechschwarz und richtet ihre Hörner in meine Richtung. Die Kuh trottet langsam auf mich zu, die Schafe kauen und beobachten, halten inne und kauen wieder weiter. Die kleine Giftziege setzt an, ihr Nackenfell gesträubt und die Hörner geradewegs auf mich gerichtet. Ich mache ein paar Schritte rückwärts. Auch die Kuh kommt jetzt in meine Richtung, sieht dabei aber nicht besonders bedrohlich aus. Die Ziege rennt los, im Galopp auf mich zu. Noch einen Moment, dann … Ein Pfiff, ein Schrei – nicht von mir – und die Ziege stoppt. Sie steht genau vor mir und schaut mich zornig an, oder an mir vorbei? Hinter mir ertönt ein erleichtertes Lachen: „Das war knapp, du bist sicher Otrun.“ Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Ich bin früh dran, Vater sagt, ich soll schon mal das Feuer anzünden, damit wir gleich was kochen können.“ Er hat ein nettes und offenes Lächeln, sehr schwarzes, glattes Haar zu einem einfachen Zopf gebunden. Ein kantiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, weiche, reine Haut und sehr weiße Zähne. Er überragt mich um etwa anderthalb Köpfe. Klein und picklig stehe ich da. Er ist wirklich sehr nett, den Arm voll mit Reisig, wahrscheinlich zum Feuer anzünden, und einen großen Rucksack auf seinem Rücken. „Du bist Dustin?“, frage und wundere ich mich. „Oh nein“, in Brusthöhe schüttelt er beide Hände vor mir, wobei ihm fast sein Reisig herunter fällt, „ich bin sein Sohn.“ „Ehm… Ich wollte ein paar Blumen pflücken, aber so weit war ich noch nicht gekommen.“ Betreten blicke ich auf die Tiere, die wieder grasen und dösen als wären wir nicht da. Er lächelt mich an: „Ich heiße Wido. Ich warte kurz auf dich, ok?“ „Danke Wido, ich glaube dieser schwarze Teufel mag mich nicht besonders.“ „Ach, die ist nur ängstlich. Das ist wie bei Menschen. Diejenigen, mit den meisten Ängsten sind am giftigsten“, antwortet Wido und sieht mich ruhig mit seinen dunklen Augen an. Während ich ein paar bläuliche und weiße Blumen pflücke, muss ich an Nils und Konsorten denken. Gemeinsam gehen wir zurück zu unserem Essplatz. Oma hat schon mit Tellern und Gläsern gedeckt. In der Mitte des Tisches steht ein Windlicht und rechts und links davon je eine kleine schon mit Wasser gefüllte Vase. Darin arrangiere ich die kleinen Blümchen. „Hey Wido, du bist ja auch schon da!“, ruft Oma aus dem Haus. „Hey Siegrun, ich zünde schon mal das Feuer an“, antwortet er in einem lockeren, vertrauten Ton, als wäre das das gewöhnliche Abendritual. „Dustin kommt auch jetzt jeden Moment.“ Ich setze mich auf den abgeflachten Baumstamm, der eine Bank ersetzt, und sehe Wido zu, wie er das Feuer zum Lodernbringt. „Siegrun hat mir schon viel von dir erzählt“, beginnt er ganz unvermittelt. „Ach ja, was denn?“ Ich habe Oma doch gerade erst kennengelernt, was will sie denn schon über mich wissen? „Na, zum Beispiel, dass du in der Schule von deinen Mitschülern geärgert wirst.“ „Klasse, ihr kennt mich gar nicht. Aber zum Glück wisst ihr schon mal, dass man mich leicht fertigmachen kann! Ich bin begeistert“, schnaufe ich, verschränke meine Arme und starre motzig ins Feuer. Wido setzt sich zu mir. „Ich werde das nicht tun“, sagt er in ruhigem Ton, „vielleicht liegt es auch ein wenig an dir?“ „So, glaubst du. Ich denke eher, dass Nils, Kevin und wie sie alle heißen, ein klein wenig beschränkt sind und sich auf meine Kosten vor den anderen profilieren wollen.“ „Selbst Wildruth versucht dich auf ihre Hörner zu nehmen“, setzt Wido noch einmal nach. „Oh nein, selbst die Tiere haben an diesem Ort so blöde Namen! Dieses teuflische Ziegenweib heißt also Wildruth. Und die anderen Viecher?“ Wir wollten doch schön zusammensitzen, uns etwas kennenlernen und dieser Junge bringt meine gute Laune um! Er sieht mir meinen Zorn an und lächelt entwaffnend: „Die anderen Viecher, von denen Siegrun übrigens in gewisser Weise abhängig ist, haben auch bedeutungsvolle Namen. Die schöne Kuh heißt Alwine. Das bedeutet: die edle Freundin. Sie gibt jeden Morgen und jeden Abend ihre Milch her. Die Schafe sind Salome und Linda, beide Namen sprechen ein sanftes Gemüt aus. Sie geben die Wolle für Siegruns Künste. Und den Käse aus Wildruths Milch musst du unbedingt probieren. Es ist mein absoluter Lieblingskäse! Siegrun behandelt ihre Tiere wie Freunde, weil sie ohne sie hier nicht existieren könnte. Ab und zu lässt sie eins der Schafe decken, dann schenken sie ihr sogar ein Lämmchen.“ Er blickt mir tief in die Augen als wolle er den Grund meiner Seele erforschen. Für einen Moment sind wir beide ganz still. „Wie Siegrun“, flüstert Wido. Ob zu sich oder zu mir weiß ich nicht. Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und blicke ihn fragend an. „Ihr habt die gleichen Augen, auch das etwas spitze Kinn, das herzförmige Gesicht, die schmale kleine Nase – ok die Haare sind anders und ich muss zugeben, deine Haut ist nicht ganz so runzelig.“ Er lächelt mich an und lässt dabei seine Zähne aufblitzen. „Aber dein Lächeln hast du mir noch nicht richtig gezeigt.“ Abschätzend wartet er meine Reaktion ab, ich schaue eher verkniffen biestig zurück.

„Hey, wie ich sehe, versteht ihr euch prima!“ Oma kommt lachend aus dem Haus und hält eine kleine Holzschale und zwei Gabeln in der Hand. „Ich habe einen Salat zum Fleisch zubereitet. Hier könnt ihr euch schon mal Appetit holen.“ Sie reicht Wido die Schüssel und jedem von uns eine Gabel. Ich sehe ihn skeptisch an. Er grinst. Oma ist schon wieder unterwegs ins Haus. In der Schüssel sind vermutlich Äpfel, Birnen, etwas Schinken, Trauben, kleine Blättchen, grob gestoßene Pfefferkörner und etwas Undefinierbares, das mir irgendwie wurmartig scheint, in einer gelben Soße. „Du zuerst.“ Wido grinst mich an. Ich zögere. „Nimm ruhig. Deine Oma ist eine Zauberin. Bei ihr kannst du alles genießen.“ Ich picke ein wenig in der Schüssel herum. „So macht man das!“, meint Wido, schaufelt seine Gabel voll und schiebt mir alles zielgerichtet in den Mund. Ich kann den Mund nicht geschlossen halten, denn sonst hätte Wido mir sicher die Zinken in die Haut gerammt! Der Salat schmeckt wirklich gut. Senfig, minzig, deftig und fruchtig. „Ok, was du kannst, kann ich auch“, gebe ich zurück, während auch ich Salat auf meine Gabel türme und ihm diese ebenfalls in den Mund stopfe. Wir müssen beide lachen. „Hey, hier wird gelacht, hier bleibe ich!“, ruft eine tiefe Stimme mit einem unglaublich gerollten rrr hinter uns. „Hey Dustin, gut, dass du kommst. Du bist doch Dustin, oder? Wir haben Hunger!“, antworte ich. Selbst überrascht halte ich mir die Hand vor den Mund und muss schon wieder anfangen zu lachen. Ich kenne diesen Mann doch gar nicht, habe ihn nicht einmal gesehen! „Oh, du musst Otrun sein, herzlich willkommen. Habt ihr beide den Tisch hier raus getragen? Eine gute Idee!“, meint Dustin. Er spricht einen starken amerikanischen Akzent, der sehr locker und sympathisch rüber kommt. „Nein, als ich auf die Lichtung kam, war schon alles fertig“, äußert sich Wido. Für einen Augenblick schaut Dustin düster drein und schüttelt leicht den Kopf: „Auf Siegrun müssen wir aufpassen. Diese Frau mutet sich ständig zu viel zu. Na immerhin hat sie jetzt ein wenig Hilfe.“ Sein Blick fällt auf mich und er zwinkert mir zu. Siegrun hat einen guten Geschmack, was Männer angeht, so scheint es mir. Er ist etwas kleiner als sein Sohn, aber trotzdem groß gewachsen, hat einen dunkleren Teint und ist insgesamt muskulöser. Trotzdem sind sie sich sehr ähnlich, Wido hat ein feiner geschnittenes Gesicht, aber beide haben dieselbe offene Art. „Na, dann möchte ich keine Zeit verschwenden“, sagt Dustin und leert als Erstes seinen Rucksack. Er streicht sich seine sehr schwarzen Haare aus dem Gesicht, die etwas über seine Schulter fallen, und fasst sie mit einem Gummi zu einem Zopf zusammen. Kurz ruht sein Blick nochmals auf mir, dann wendet er seine Aufmerksamkeit auf die Zubereitung unseres Abendessens.

Im Handumdrehen verflechtet er die vorbereiteten Fleisch- und Schinkenstreifen, die in einer roten Marinade eingelegt sind. „Steht rot für scharf?“, frage ich vorsichtig. „Yes Honey, das kann man so sagen! Ist es dir leicht ein bisschen zu scharf, Otrun?“ „Ich weiß nicht, wir lassen es einfach darauf ankommen, ja? Ich möchte auf keinen Fall eine Sonderbehandlung!“ „Wido, hol bitte schon mal frisches Quellwasser“, fordert sein Vater ihn auf. „Ich komme mit, dann weiß ich auch, wo es hier die gekühlten Getränke gibt“, sage ich schnell, bevor Wido ohne mich verschwindet. Bis zur Quelle ist es nicht weit. Aus dem Berg fließt ein kleines Rinnsal und sammelt sich zu einer Pfütze in einem kleinen steinigen Becken. „Was hat dein Vater mit dem Wasser vor?“, frage ich unbedacht. Wido sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, lässt einen Moment verstreichen und meint dann: „Trinken, Wasser ist ein Getränk. Was trinkt man denn als Stadtmensch so?“ „Ehm, Wasser aus Flaschen vom Getränkehändler“, antworte ich, „ist das denn sauber?“ „Wahrscheinlich sauberer als alles, was du bisher getrunken hast, nehme ich an. Komm lass uns zurückgehen. Drei Kannen sollten genügen.“

Als wir wieder zur Lichtung kommen, sitzen Dustin und Siegrun mit ernsten Mienen beieinander und unterhalten sich. „Die beiden sehen besorgt aus“, bemerkt Wido. „…Manchmal schlimmer als ganze verdammte Armeen von Borkenkäfern“, hören wir Dustin kopfschüttelnd sagen, als wir näher herankommen. Oma legt ihm die Hand auf seine Schulter: „Ich gehe gleich kurz in die Werkstatt. Ich werde einen Weg finden“, und sieht ihn mit einem warmen Lächeln an. Er löst seinen Blick vom Feuer und sieht zu ihr. „Das musst du nicht, meine süße Freundin, ich werde sie allein in Schach halten.“ Siegrun schließt kurz die Augen und lächelt in sich hinein, dann blickt sie ihn mit ihren hellen, türkisen Augen ruhig an. Diese Mimik kenne ich gut von meiner Mutter. Was immer die beiden beredet haben, Siegrun hat schon längst beschlossen, was zu tun ist. Und da wird sich auch ein Dustin nicht gegen behaupten können. „Wido und Otrun kommen, dann können wir ja jetzt beginnen. Setzt euch bitte an den Tisch. Wido, gieße das Wasser in die Karaffe zu den Gurkenstreifen, und ich verteile den Eintopf“, verkündet Siegrun. Über dem Feuer steht ein Gestell aus drei Eisenstangen, die in der Mitte spitz zusammenlaufen. Daran hängt ein großer, runder Kupfertopf. Oma rührt mit einer großen Kelle darin und gibt jedem eine Portion auf den Teller. Ich habe keine Ahnung was wir hier essen aber es schmeckt prima. Es ist still, während wir unseren Eintopf löffeln. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Dustin grübelt sicher über seinem Problem, ich denke an Wildruth, diese kleine schwarze Teufelin, Oma ist in Gedanken bestimmt in ihrer Werkstatt, was auch immer da geschehen mag und bei Wido weiß ich nicht so recht. Ich sehe zu ihm. Auch er blickt mich an. Unsere Blicke verknoten sich und keiner von uns will als Erster wegsehen. „Otrun. Solltest du bleiben, bauen wir dir eine kleine Hütte in deinem Stil hier auf die Lichtung“, sagt Dustin, während er die geflochtenen Fleischspieße um das Feuer herum in die Erde steckt. Siegrun ist nicht mehr am Tisch. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass Oma weggegangen ist“, wundere ich mich. „Das wiederum haben wir sehr deutlich mitbekommen“, antwortet Dustin mit einem verschmitzten Lächeln, „Siegrun holt aus ihrer Hütte einen Salat, den sie zum Fleisch vorbereitet hat.“ „Oh ja, den haben wir schon probiert“, sage ich und werfe einen Blick auf Wido, der mich jetzt frech angrinst, „der schmeckt wirklich köstlich.“ „Kannst du den Salat jetzt allein essen?“, lacht er. „Ich denke schon.“ Ich hasse es, wenn man sich über mich lustig macht, aber hier fühlt es sich nicht ganz so schlimm an wie sonst.

Bei jedem Bissen freue ich mich über das Quellwasser, das durch die Gurkenschleifen sehr erfrischend schmeckt. Auch Siegruns Salat nimmt den Fleischspießen die Schärfe. Mir wird ganz schön warm und leider ist das auch für die anderen sichtbar. „Wido und ich, wir essen gern feurig. My Dear, du siehst aus, als könntest du einen kühlen Lappen fürs Gesicht gebrauchen“, sagt Dustin und verkneift sich mit Mühe und Not das Lachen. „Nein, nein, das ist total lecker“, antworte ich möglichst gelassen. Doch blöderweise verschlucke ich mich nur wenige Augenblicke später. Die beiden Männer müssen jetzt doch lachen, während ich gegen den Reiz im Hals kämpfe. Siegrun steht kopfschüttelnd auf, kommt um den Tisch herum und stellt sich hinter mich. Schwer legt sie ihre Hände auf meine Schultern. Sofort hat sich meine Kehle wieder beruhigt. Ich sehe sie verblüfft an, aber mir fehlen die Worte. Dustin, der neben mir sitzt, stupst mich leicht an: „Erzähl doch bitte etwas von dir, was machst du zu Hause so, hast du viele Freunde? Wir möchten dich gern kennenlernen.“ „Ich weiß nicht, so viel gibt es da eigentlich nicht zu erzählen. Mein Vater ist viel unterwegs. Er baut Maschinen in aller Welt auf. Und Mama führt eine gut laufende Konditorei. Also kümmere ich mich um das nötigste im Haus. Klar, für die Schule muss auch mal was erledigt werden und ansonsten habe ich via Internet eine Freundin in Süddeutschland. Mit Susanna kann man richtig schönen Unsinn schreiben. Irgendwann wollen wir uns mal besuchen. Wir haben das jetzt erst mal verschoben. Eigentlich hatte ich das für diese Sommerferien eingeplant, aber Susanna scheint wegen der Planänderung gar nicht traurig zu sein … Hm. Sie hat eine Tante in Südamerika, da gibt es immer viel zu erzählen.“ „Ich bin Nordamerikaner.“ Er nickt zu Wido rüber. „Aber mein Sohn ist hier geboren. Er hat eine deutsche Mutter. Eine wunderbare Frau“, schließt Dustin mit verklärtem Blick. Ich frage an ihn gewandt: „Wie kommt es, dass sie nicht mit hier am Tisch sitzt?“ „Irina hat sich entschieden ihr Leben mit einem anderen Mann zu verbringen“, antwortet er mit ernster Miene. „Ihr war der Alltag im Forsthaus zu eintönig“, vervollständigt Wido. „Oh Entschuldigung, jetzt bin ich wohl in einen Fettnapf geraten, was?“, frage ich mit betretener Miene. „Ach was, das ist jetzt schon anderthalb Jahre her und wir haben uns ganz gut arrangiert. Es fehlt uns an gar nichts“, sagt Dustin mit einem dankbaren Blick auf Siegrun. Sie nimmt seine Hand in ihre viel kleineren Hände und funkelt geradezu zurück. So etwas würde ich auch gerne können, denke ich mir im Stillen. „Dustin“, ich sehe ihn fragend an, „du bist doch ein Indianer, oder?“ Er nickt mir ernst zu: „Ich bin ein Lakota.“ „Entschuldige bitte, aber wie kommst du dann an den Namen Dustin? Ist das nicht eher irisch?“ Er schenkt mir ein Lächeln: „Gut aufgepasst, Honey! Als ich geboren wurde, war dieser Name in Mode. Er hat bei uns zu Hause auch keine große Bedeutung. Es ist Brauch, den richtigen Namen erst zu bekommen, wenn man eine eigene Persönlichkeit entwickelt hat. Das ist meistens kurz vor dem erwachsenen Alter. Ich bekam meinen Namen mit fünfzehn Jahren, weil ich stets mit offenen Augen durch die Welt gehe, mich auch an Kleinigkeiten erfreuen kann, und weil sich langsam abzeichnete, dass ich nicht klein und schmächtig sein werde. Die Stammesältesten gaben mir den Namen Wondering Bear.“ „Wow, das ist cool! Wir sollten dich hier auch so nennen. Was meinst du, Oma?“ „Ja, das wäre gut, wir haben uns bloß schon alle so sehr an Dustin gewöhnt.“ „Hier nennen mich eigentlich alle Dustin, ich selbst fühle mich hier wie ein Dustin“, er zuckt mit den Schultern und zwinkert mir zu, „Wondering Bear ist, glaube ich, hier in Deutschland schon sehr exotisch.“ „Komm Otrun, lass uns abräumen“, nickt Wido mir zu und fängt an, das Geschirr in eine rote Plastikwanne zu stapeln. „Wir holen uns erst mal das Wasser vom Bach. Deine Oma hat hier keine Abwasserleitung, deshalb spülen wir in einer Schüssel und schütten das Schmutzwasser dann in die Abwassergrube. Wir müssen da hinten lang.“ Wido zeigt auf einen schmalen Pfad zwischen dem Stall und Omas Haus. Mit dem Geschirr und einer weiteren Schüssel ziehen wir los. „Früher wurde alles direkt im Bach gewaschen, aber das darf man zum Glück heute nicht mehr.“ Er taucht die leere Schüssel in den Bach. Das Wasser ist sehr klar. Dann beginnt er, die Teller abzuspülen, ich nehme das Handtuch, das in seinem Hosenbund steckt. „Vater vermisst seine Heimat und meine Mutter sehr. Nur bei Siegrun scheint er das alles vergessen zu können. Ich weiß wirklich nicht, ob es ihm gut tut, wenn wir ihn bei seinem indianischen Namen nennen. Seiner Familie geht es nicht sonderlich gut. Meine Großeltern seinerseits sind schon gestorben. Seinen Schwestern schickt er regelmäßig Geld für das Nötigste. Weißt du, wo mein Vater herkommt, herrschen katastrophale Zustände. Nur sehr wenig von den alten Mythen sind den Menschen dort geblieben. Manchmal ist es nicht einfach, mit all den Wunden umzugehen.“ Entschuldigend sieht er mich an. „Gar nichts ist einfach“, beende ich das Gespräch und starre einfach nur vor mich hin.

„Ich weiß gar nicht was ich die ganzen Ferien über hier machen soll. Es ist sehr schön hier bei Siegrun, völlig anders als zu Hause. Aber was soll ich hier?“ Fragend sehe ich Wido an und mutmaße: „Sicherlich habe ich hier nicht mal Internetempfang, um mit Susanna zu chatten.“ „Da könntest du recht haben, hier hast du nicht mal Funkverbindung mit dem Handy“, lachtWido, „schon seit ich diesen Ort kenne“, er macht eine große raumgreifende Armbewegung, „ein einziges riesiges Funkloch. Aber mal ehrlich, wer braucht das schon wirklich? Schreib ihr doch einen Brief auf schönem Papier oder du kannst mich besuchen. Ich habe einen Internetanschluss.“ „Das ist wirklich nett, Wido“, freue ich mich und trockne weiter die Teller ab. Skeptisch sieht er zu mir rüber: „Wenn es dir so wichtig ist …“ „Jetzt fang du nicht auch noch an! Mama ist schon immer dran: Musst du immer on sein? Gibt es nichts anderes, was dir Spaß macht? Geh doch mal mit deinen Freunden weg! Das kann einen schon ganz schön aufregen!“ Verbissen poliere ich vor mich hin. „Ich glaube dieser Teller ist gleich durch. Du solltest ihn etwas schonen.“ Er muss sich zusammennehmen, um nicht loszukichern. „Für mich ist das nicht so lustig. Außer Susanna habe ich gar keine Freunde und das kommt nur wegen meinem bescheuerten Namen. Sobald ich mich irgendwo vorstelle, bin ich schon unten durch.“ „Was ist denn so schlecht an Otrun?“ Wido sieht mich fragend an. „Hörst du es nicht? Spürst du es nicht beim Aussprechen?“, verzweifelt starre ich ihn an, „es ist nicht normal, wenn jemand Otrun heißt. Wieso konnten sie mich nicht Hanna oder Marie nennen?“ „Weil es nicht zu dir gepasst hätte!“, antwortet er unbeeindruckt, „du bist etwas ganz Besonderes und das wirst du bestimmt bald selbst herausfinden. Außerdem, du glaubst doch nicht im Ernst, es ist dein Name, auf den deine Kumpels reagieren.“ „Meine Kumpels? Ich habe keine Kumpels!“ Ich schüttele nur den Kopf. „Nun, ist ja auch egal. Fakt ist: Du bist jemand ganz Besonderes.“ „Ach, und du hast das sofort bemerkt. Du glaubst also mehr über mich zu wissen als ich selbst.“ „Ja, das kann man so sagen. Die anderen spüren das auch, können es aber nicht zuordnen. Deswegen haben sie Angst vor dir.“ „Oh ja, und aus lauter Angst sperren sie mich in den Klassenschrank oder quetschen mich in einen Mülleimer!“ Noch ein bisschen und ich fange an zu heulen! Ich atme tief durch, um gegen die Tränen anzukämpfen. „Ja genau!“, sagt Wido und drückt mich an seine Brust. Er streichelt mir übers Haar und jetzt gibt es kein Halten mehr. Ich lasse die Tränen laufen und Wido hält mich fest. Ich kann mich nicht erinnern, mich bei einem Fremden jemals so geborgen gefühlt zu haben. Langsam beruhige ich mich und bemerke, dass es schon dämmert. „Danke“, flüstere ich und löse mich von ihm. „Es ist in Ordnung, um dich selbst kennenzulernen, musst du deine Gefühle zulassen. Es gibt nur diesen einen Weg“, sagt er, während er mir tief in die Augen sieht. „Komm, wir gehen zurück. Die beiden vermissen uns bestimmt schon!“ Er nimmt die rote Wanne, mit dem jetzt sauberen Geschirr, vom Waldboden auf. „Warte kurz, ich möchte mir noch mein Gesicht erfrischen“, merke ich an und beuge mich über das Flüsschen. Das Wasser ist wirklich kalt, was in diesem Augenblick genau richtig ist. Immer wieder schaufele ich mir das kühle Nass ins Gesicht, bis es sich taub anfühlt. „Du siehst gespenstisch aus“, schaudert Wido, „du hast ganz rote Haut und das türkis deiner Iris sticht so stark hervor. Das sieht ziemlich krass aus!“ „Na danke auch. Ich hoffe du kannst heute Nacht trotzdem schlafen“, lache ich. Wido reicht mir die Wanne mit dem Geschirr und nimmt selbst die große Schüssel mit dem Schmutzwasser.

Bis wir die Lichtung erreicht haben, ist es beinahe dunkel. Siegrun und Dustin sitzen am Feuer und unterhalten sich leise. Dustin dreht sich zu uns: „Ihr müsst wirklich sehr gewissenhaft gespült haben“, und wendet sich wieder gutgelaunt den Flammen zu. Wir setzen uns schweigend dazu. Beim Blick in das helle Feuer verschwindet alles um mich herum. Die Hütten und die Bäume werden eins mit der Dunkelheit. Ab und zu knackt es laut und Funken stieben in die Höhe wie kleine Silvesterraketen. Ansonsten herrscht Stille. Ich werde ganz ruhig und fühle mich frei und entspannt. Ganz leise fordert mich Oma auf: „Otrun, was genau ist in der Schule passiert? Bitte erzähle uns deine Geschichte.“ „Nun“, beginne ich, „einige Mitschüler und Mitschülerinnen haben große Freude daran, mich zu schikanieren oder mir wehzutun. Dieses Mal waren Nils, Kevin und Mario daran beteiligt. Es fing damit an, dass sie mich in der großen Pause in unseren Klassenschrank gesperrt haben. Sie meinten, ich solle mich bloß nicht rühren, als der Lehrer erschien. Trotzdem habe ich ein paar Minuten später von innen an die Schrankwände gepocht. Verwundert öffnete Herr Schlüter, unser Lehrer den Schrank. Er befahl der Klasse ruhig zu bleiben und brachte mich zum Rektor. Der wollte natürlich genau wissen, wie sich alles ereignet hat, aber ich habe nichts erzählt. Ich habe gesagt, dass es ein Scherz war und wir einfach nur auf Herrn Schlüters Gesicht neugierig gewesen wären. Der Rektor war nicht sehr angetan von unserem Streich und wollte meine Eltern benachrichtigen. Dann wurde ich zurück in den Klassenraum geschickt. Als ich den Raum betrat, trafen mich mindestens zwanzig bohrende Augenpaare. Mindestens fünf davon waren überzeugt, dass ich ihre Namen verraten habe. Später an diesem Schultag wurde mir der Stuhl weggezogen und ich habe ihnen in Schmerz und Wut dicke, fette Eiterpickel mitten auf die Nase gewünscht. Zwei Tage später kommt Kevin mit einem Pflaster über der Nase zum Unterricht. Später stellte sich heraus, dass er wirklich einen unglaublichen, furunkelartigen Pickel auf dem Nasenrücken hatte. Natürlich haben sie mir die Schuld daran zugeschoben. Aber Oma, was kann ich dafür, wenn Kevin einen Pickel bekommt? Ich gebe auch niemandem die Schuld an meiner unreinen Haut.“ „Das solltest du aber, mein Kind“, sagt Oma ganz ruhig und ist weiter still. Wir blicken ins Feuer. Die Ruhe nimmt uns wieder in die Arme. Dustin sagt mit rauer Stimme: „Honey, du hast es gewollt und hast es bewirkt.“ „Ja“, sagt Siegrun, „und Zorn ist eines der stärksten Gefühle und da können schon mal solche Dinge passieren. Es war das erste Mal, oder?“, fragt Oma an mich gerichtet. Ich sehe sie mit hochgezogenen Brauen an. „Otrun, deine Mutter und ich, wir wussten es von deiner Geburt an. Du hast gewisse Kräfte, kannst Dinge bewirken. Das ist eine große Gabe und sie muss mit Bedacht angewandt werden. Ich werde dich ausbilden, damit du dich finden kannst. Auch Dustin und Widukid werden dich auf deinem Weg begleiten.“ Vorsichtig sehe ich mich um. Erleichtert stelle ich fest, dass alle ins, schon weit heruntergebrannte Feuer schauen. Hier starrt mich keiner an. Ich fühle mich wohl. Trotz der Verwirrung, die in meinem Kopf herrscht. Ich soll wirklich besondere Fähigkeiten haben? Und was wird Oma mit mir anstellen? Ein Hauch von Unmut überkommt mich: „Was, wenn ich versage? Wenn ich nicht das tun kann, was ihr von mir verlangt? Wenn ich völlig unfähig bin?“ „Mach dir darüber keine Sorgen. Lass einfach alles auf dich zukommen“, erklärt Oma und reicht mir ein kleines Püppchen aus Stoff, „dieser Engel wird dir helfen, diese erste Nacht im Wald ruhig zu schlafen. Und er wird dir auch helfen offen und mutig die Dinge zu erwarten, die auf dich zukommen.“ Sie blickt in die Runde. „Und jetzt, denke ich, ist es Zeit schlafen zu gehen.“ Wido wühlt in seinem Rucksack und zieht etwas Kleines heraus. „Ich habe dir eine Taschenlampe mitgebracht. Die kannst du sicher gut gebrauchen.“ Er hält sie mir lächelnd hin. „Danke, an eine Taschen-lampe habe ich beim Koffer-packen nicht gedacht“, antworte ich und nehme dankbar die kleine Lichtquelle entgegen.

Im Zelt ist es stockdunkel. In meinem Schlafsack steckt ein zusammengefaltetes Schaffell. Ich nehme es auseinander und mache es mir bequem. Warm und weich liege ich in diesem Zelt. Von draußen dringen Geräusche an mein Ohr. Irgendwo huscht etwas über den Waldboden. Eine Eule ruft. Leichter Wind bringt die Tannen zum Schwingen. So hört sich also Ruhe an, denke ich mir und stelle erstaunt fest, dass mir diese ungewohnten Geräusche nichts ausmachen. Ich hole meinen Engel hervor und betrachte ihn jetzt ganz genau im Schein von Widos Taschenlampe. Es ist kein besonders schönes Püppchen, doch sieht es charismatisch und liebenswert aus. Ein Kleid aus leuchtend grünem Filz. Die Gliedmaßen sind weiß und fest. Erst als ich genauer hinsehe, bemerke ich kleine Knochen, die ein Stück weit mit Stoff überspannt sind. Die Augen scheinen aus Edelsteinen zu bestehen. Sie schimmern ein wenig im Lampenlicht. Es könnten blaue Katzenaugen sein. Der Mund, mit einem angedeuteten Lächeln, ist aufgestickt. Am Rücken sind sehr kleine Flügel angebracht die mit braunen, weichen Federn bestückt sind. In feinem Goldgarn ist eine Kette aufgestickt, die auf Herzhöhe in einem kleinen, roten Tropfen endet. Solche Dinge stellt Oma also in ihrer Werkstatt her.

Von einem leisen Summen erwache ich. Es ist helllichter Tag. Mich umgibt ein blaues Licht und ich muss Ort und Geschehnisse erst mal sortieren. Ich liege kuschelig warm in meinem Schlafsack und genieße noch einen Augenblick das Für-mich-sein. In meiner Hand halte ich noch immer den Schutzengel fest. Die Farben sind völlig verändert. Das liegt bestimmt an der blauen Zeltwand. Von der Puppe in meiner Hand geht ein intensiver Duft aus, den ich nicht einordnen kann. Es riecht undefinierbar. Ich habe keine Ahnung wonach. Ich höre es vor dem Zelt plätschern. Neugierig verabschiede ich mich von der muckeligen Wärme und öffne den Reißverschluss. Kühle, klare Luft empfängt mich. Ich staune, als ich Oma, vor sich hin summend, in der Badewanne sitzen sehe. Sichtlich vergnügt ruft sie: „Ein wunderschöner Morgen. Komm doch zu mir Otrun.“ Ich setze mich auf die Kante der Holzwanne. „Guten Morgen Oma. Soll ich dir den Rücken schrubben?“, frage ich. „Oh ja, gern“, freut sie sich, „ich hätte nicht zu fragen gewagt. Möchtest du auch gleich ein Bad nehmen?“ Ich tauche einen Schwamm ins Wasser und stelle mit Entsetzen fest, dass das Wasser ungeheizt ist. So wird meine Morgentoilette aussehen? Vermutlich sterbe ich an einer Lungenentzündung! „Ziemlich kalt dein Badewasser“, bemerke ich in einem möglichst gleichmütigen Tonfall. „Mein Kind, das hält das Gewebe straff“, antwortet sie mit erhobenem Zeigefinger. „Bei dir hat es aber nicht viel geholfen“, wage ich mich vor. Während ich ihren Rücken wasche, betrachte ich ihren faltigen Körper. Sie lacht laut auf: „Jetzt hast du mich erwischt! Ich nehme auch gerne mal ein heißes Bad aber bei diesem herrlichen Sonnenschein dachte ich mir, kann ich das Wasser ungeheizt genießen. Und es ist wunderbar hier drin.“ Neben der Wanne stehen ein paar Putzeimer. „Hole ich mit den Eimern das Wasser für meine Badewanne aus dem Fluss?“, frage ich skeptisch. „Ja, genau“, antwortet sie, „du kannst das Wasser schon mal holen gehen. Ein paarmal wirst du laufen müssen, bis die Wanne voll ist.“ Ich sehe, dass immer zwei Eimer mit einem Gurt verbunden sind. Über die Schulter gehängt können so vier Eimer auf einmal herangeschafft werden. „Ich ziehe dann mal los“, sage ich und schlendere zum Fluss. Mit vier Wassereimern durch den Wald zu gehen ist gar nicht mal so einfach. Bei der zweiten Fuhre befülle ich sie nur noch zu drei Vierteln. So ist es nicht ganz so schwer und ich verschütte auch weniger Wasser auf dem Weg zur Lichtung. Beim Tragen ist mir ganz schön warm geworden und denke, ich probiere Omas erfrischende Variante. Als sie aus dem Wasser steigt, ist ihr Körper ganz rot und ihre Augen und Haare leuchten auf der durchbluteten Haut. Endlich habe ich genügend Wasser herangeschafft. Ich entkleide mich und setze mich auf den Wannenrand. Vorsichtig stecke ich die Fußspitzen ins kühle Nass, als ein lautes „Hey!“ über die Lichtung schallt. Im Schreck lasse ich mich komplett ins Wasser plumpsen. Den lauten Aufschrei hätte ich mir gern verkniffen, aber das Wasser ist noch kälter als erwartet. Amüsiert kommt Wido am Stall vorbei zu mir. „Überlebenstraining?“, fragt er grinsend. „Ja, so etwas in der Art.“, schnaube ich, „außerdem könntest du dir wenigstens ein bisschen Mühe geben, mich nicht anzustarren!“ „Oh, ich gebe mir sehr wohl Mühe, aber es will mir einfach nicht gelingen.“ Er setzt sich mir gegenüber auf den Rand und schaut mich unverschämt an. „Die Hände bleiben auf dem Wannenrand!“, ruft Siegrun von ihrer Hütte rüber. Wido dreht sich zu ihr um und antwortet: „Ich wollte gerade fragen, ob ich ihr den Rücken schrubben soll.“ „Das mache ich schon“, ruft sie zurück und ist schon auf dem Weg, „du machst das Teewasser warm, los jetzt.“ Unwillig geht er in Richtung Feuerstelle. Immer wieder wirft er einen Blick in unsere Richtung doch Oma stellt sich ihm genau in den Weg. „So kenne ich Wido gar nicht. Normalerweise beehrt er mich auch nicht um diese Zeit.“ Sie bemüht sich verärgert zu klingen, doch ist die Belustigung in ihrer Stimme kaum zu überhören. Damit ich aus dem Wasser steigen kann, hält sie mir ein Handtuch hin. Darin eingewickelt verschwinde ich in meinem Zelt und ziehe mir etwas über. Die Sonne hat in der letzten Stunde stark an Kraft gewonnen und es ist richtig warm jetzt. In Shorts und Top gehe ich auf die Sitzgruppe am Feuer zu. Wido strahlt mich an: „Ich habe großes Glück, dass Siegrun mich mag, sonst wäre ich jetzt wohl übel dran.“ Er versucht, reumütig zu gucken. „Du solltest dich etwas vor der Sonne schützen, deine Haut ist total weiß“, merkt er an. Ich beeile mich die Sonnenmilch zu holen, weil Oma schon mit einem Tablett aus ihrer Hütte kommt. „Was gibt’s zum Frühstück, Siegrun?“, ruft Wido aus. „Es gibt Cerealien und Obst. Wenn ich gewusst hätte, dass wir einen Gast erwarten, wäre ich natürlich besser vorbereitet.“ „Müsli ist prima“, freut sich Wido und grinst frech. Einige Schälchen mit Nüssen, geschnittenen Äpfeln, Haferflocken, sowie Minzblättern und ein Krug Milch stehen auf dem Tablett. Jedem von uns reicht sie eine Schüssel und wir stellen uns unsere Mahlzeit zusammen. Dazu trinken wir Pfefferminztee. Hier draußen und in netter Gesellschaft schmeckt das alles wunderbar. Wir schwatzen und bemerken gar nicht, wie es langsam Mittag wird. Mit ernster Miene sagt Siegrun: „Ich muss noch in die Werkstatt. Was habt ihr vor?“ Wido sieht mich an: „Magst du mit mir schwimmen gehen? Es gibt da eine schöne Stelle, die ich dir zeigen kann.“ Er sieht so erwartungsvoll aus, dass ich mich kaum traue, ihn zu enttäuschen: „Ich habe gar keine Badesachen eingepackt.“ „Hier im Wald benutzt niemand Badeanzüge.“ Wido grinst mich frech an und lässt dabei seine Augenbrauen tanzen. „Geh ruhig mit ihm“, beruhigt mich Siegrun, „Wido wird sich gut benehmen. Er weiß, dass das sonst Konsequenzen hat.“ Dabei sieht sie ihn streng an. Ich werde mir ein langes T-Shirt anziehen, denke ich und nicke Wido zu. „Ich muss noch mal kurz in mein Zelt, dann können wir los“, sage ich im Aufstehen. Ich ziehe mir das T-Shirt über und dann gehen wir.