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Auf dem Tischchen neben seinem Bett liegt eine kleine Puppe. Sehr klein, ein grünes Kleidchen aus Flitz, das ein wenig angekokelt zu sein scheint und ein vergammeltes Haarbüschel als Frisur. Diese Puppe ist garantiert sehr alt. Es kommt mir vor, sie würde bei einer Berührung von mir zu Staub zerfallen. Ich strecke meine Finger nach ihr aus, doch etwas hält mich zurück ...
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Seitenzahl: 446
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Fasziniert sitze ich da und betrachte diese Frau. Eine Stimme, wie perlendes Wasser, untermalt mit nur einer Gitarre, die sie selbst spielt. Ihre Musik ist vollkommen. Es ist eine ruhige, leise Musik, die uns allen unter die Haut kriecht, die an unseren verkümmerten Nervensträngen kitzelt, die bereits seit viel zu langer Zeit im Verborgenen schlummern.
Die Künstlerin erscheint mir unmöglich alt. Im Geiste ziehe ich die feinen Linien ihres Gesichtes nach. Sie ergeben ein filigranes Muster und verleihen dieser Frau eine solche Anmut und Ausstrahlung, wie ich es noch nie zuvor gesehen habe.
Ich tippe meine Freundin Mona an: „Was glaubst du, wie alt kann die sein?“
Mona zieht ihre Mundwinkel runter und sucht irgendwo schräg oben nach der richtigen Antwort. „Puh! Bestimmt über fünfzig!“, raunt sie.
„Glaubst du wirklich? Meinst du, so etwas ist möglich?“, frage ich erstaunt nach.
Mona zuckt mit den Achseln: „Ich habe keine Ahnung! Aber ende vierzig auf jeden Fall!“
„Sie singt schön, nicht wahr?“ Mona nickt und konzentriert sich wieder auf die Bühne.
Erneut tippe ich sie an: „Kann es diesen Ort wirklich geben, von dem sie singt?“ Mona sieht genervt zu mir rüber. Sie will das Konzert genießen. Gut, dann bin ich eben still!
Gebannt folge ich den Texten dieser faszinierenden Lieder. Die alte Frau singt von Wäldern, Bächen, einem See, in dem man nachts auf dem Grund die Steine zählen kann, in dem lebendige Fische schwimmen. Sie begleitet sich gekonnt mit ihrer Gitarre.
Unter ihren Händen erklingen die Töne kristallklar und scheinen sich bis zum Himmel zu erheben. Die eben noch lärmende Menge ist mucksmäuschenstill. Der ganze Saal hängt an den Lippen dieser Frau.
Den Namen der Künstlerin habe ich mir nicht gemerkt. Ich nehme meine Eintrittskarte zur Hand. Maya Delshay. Nie gehört! Ein seltsamer Name.
Vielleicht gibt es diesen Ort tatsächlich. Sehr, sehr weit weg muss das sein. Das Paradies? Vielleicht. Obwohl ich immer dachte, die Geschichte aus der Bibel sei reine Fiktion. Ein altmodisches Buch aus einer anderen Zeit. Andere Wertvorstellungen, andere Ziele, als heute.
Aber eventuell ist diese Maya Delshay Sängerin und Träumerin zugleich. Sie trägt ihr Haar offen. Es ist so lang, dass die Spitzen auf der Sitzfläche des Stuhles liegen. Einzelne Strähnen erzählen, dass sie einst sehr schwarz waren. Sie ist eine Schönheit, trotz, oder gerade wegen der Falten in ihrem Gesicht.
Wenn ich mich so umschaue, gibt es nur junge, geradezu faltenfreie Gesichter. Eins, wie das andere. Ihre dunklen Augen ruhen auf dem Publikum. Sie wirkt nicht aufgeregter, als würde sie unter der Dusche für sich selbst singen. Ganz lässig sitzt sie vor über tausend Menschen und trägt ihre Lieder vor, aus einer Welt, die sich hier niemand vorstellen kann.
Wieder tippe ich an Monas Schulter: „Danke, dass du mich gefragt hast, ob ich mitkommen möchte.“ Sie lächelt mich kurz an. Dann sind ihre Augen wieder auf die Frau geheftet, deren Stimme so brillant schimmert, wie die Orte, die sie in ihren Liedern beschreibt.
Ich kann mir das nicht vorstellen. Unser normales Klima ist um die dreißig, fünfunddreißig Grad warm. Der Himmel meist Ocker zugezogen und der Wind treibt einem den sandigen Dreck in die Augen. Und sollte die Sonne ausnahmsweise durch die Wolkendecke stoßen, ist es wenig ratsam, vor die Tür zu gehen! Nicht, wenn man so hellhäutig ist, wie ich!
Die Künstlerin steht auf, kommt an die Bühnenkante und verbeugt sich. Alle klatschen wie besessen. Das Publikum tobt, johlt, will sie auf keinen Fall schon gehen lassen.
Maya Delshay setzt sich wieder auf ihren Stuhl und greift nach der Gitarre. Sofort beruhigen wir uns wieder und lauschen ihrer Stimme.
Das Lied erzählt von einem traurigen Mann, der unsere Welt nicht verlassen kann. Pfff. Jeder Pampel kann in den Weltraum fliegen! Doch jeder weiß, da ist es auch nicht besser, denke ich mir. Ich erkenne nicht den Sinn dieses Liedes.
Es ist alles zerstört, irgendwann muss der Mensch richtig fett gelebt haben. Leider auf unsere Kosten, doch das wird die Menschheit in ihren Gräbern kaum stören!
Mein Wavewatch blinkt. Ich berühre die Oberfläche des kleinen wellenförmigen Gerätes an meinem Handgelenk. Es zeigt mir an, dass Maya Delshay sich im Anschluss an das Konzert, Zeit für ihr Publikum nehmen wird. Ich tippe Mona an. Erneut sieht sie genervt zu mir rüber.
Ich halte ihr meinen Wavewatch hin: „Wenn wir uns jetzt durch die Menge zwängen, können wir gleich ganz vorne sein!“
Mona dreht mit den Augen. Ich halte meine Hände trichterförmig an ihr Ohr: „Ich ge he schon mal und ver su che dir ei nen Platz frei zu hal ten.“ Sie nickt mir lächelnd zu. Ich quengele mich durch die Menge.
Wir standen zwar nicht wirklich vorne, aber die Leute haben ziemlich dicht aufgeschlossen. Keiner hat Verständnis dafür, dass jemand kurz vor Ende des Konzertes mal raus muss. Böse Blicke treffen mich. Manch einer schuppst mich sogar!
Bin ich die Einzige, die diese Nachricht bekommen hat? Das ist ja wohl kaum möglich! Endlich stehen die Leute etwas lockerer. Von hier kann man die Musik auch gut hören. Kurz drehe ich mich zur Bühne. Hier kann ich aber überhaupt nichts sehen, obwohl ich nicht gerade klein bin. Gut, dass Mona mich bei Zeiten mit nach vorne gezwungen hat.
Endlich erreiche ich den Ausgang. Den Türsteher frage ich, wo gleich das Gespräch stattfinden wird und ob noch Plätze frei sind. Er deutet mit einem schiefen Grinsen in die Richtung. Als sich die große Tür hinter mir schließt, sehe ich, dass ich nicht fragen brauchte. Sie rechnen mit großem Andrang!
Ein Podium mit Mikrofon ist aufgebaut. Ich setze mich direkt in die erste Reihe, genau in die Mitte. Auf den Platz neben mir lege ich meine Jacke. Ich höre den donnernden Beifall aus dem Konzertsaal. Keiner sitzt hier und wartet, nur ich. Mutterseelenallein. Nun komme ich mir doch ein wenig albern vor. Ich fühle mich angestarrt von dem grellen Neonlicht. Es wird ruhiger im Saal. Erneut höre ich gedämpft die Frauenstimme. Wie viele Zugaben wird die noch geben? Kurz spiele ich mit dem Gedanken, doch wieder reinzugehen, aber das ist ja noch lächerlicher! Also bleibe ich stur sitzen und warte einfach ab.
Plötzlich öffnen sich die großen Flügeltüren und die lärmende Menge schwallt ins Foyer. Begeisterte Mienen, wohin man sieht. Schnell sind die Stühle besetzt, die eben noch den Anschein erweckten, es seien viel zu viele. Dahinter stehen ganze Menschentrauben und drängen sich nach vorn, um auch etwas mitzubekommen.
Mona kommt zu mir: „Du bist die Größte!“ Zufrieden schenkt sie mir ein Lächeln und gibt mir einen Schmatzer auf die Wange. Sie nimmt die Jacke auf und setzt sich zu mir auf den leeren Platz.
Das Gemurmel erstirbt. Maya Delshay betritt in Begleitung von zwei kräftigen Männern das Podium. Ihr schlichter brauner Anzug, bestehend aus einer weiten Hose und einer Tunika erscheint ebenso edel, wie unscheinbar.
Bei diesem Licht und aus nächster Nähe kann ich an den Säumen blätterartige Ranken ausmachen. Sie müssen im Stoff eingewebt sein. Was für eine wunderbare Arbeit! Staune ich im Stillen. Kurz tippt sie an ihr Mikrofon, um zu testen, ob es in Betrieb ist. Dann begrüßt sie erneut die Menge.
Das Publikum stellt Fragen, diese faszinierende Frau antwortet. Ruhig, freundlich, überhaupt nicht zu überdreht, nicht aufgesetzt, affektiert, wie so viele Künstler. Sie strahlt eine anmutige Kraft aus. Die Leute fragen, sie redet und redet. Ich verstehe kein Wort. Etwas nimmt mich gefangen. Die Aura, die von ihr ausgeht, ist so beeindruckend, dass mir der Kopf schwirrt.
Plötzlich spüre ich Monas Ellenbogen in meiner Seite. Ich sehe sie erschreckt an. Mona deutet mit ihrem Kinn auf Maya Delshay. So aufmerksam wie möglich sehe ich zu ihr auf.
„Sie sind die junge Frau, die das Konzert frühzeitig verlassen hat, um an dem Künstlergespräch teilzunehmen, nicht wahr?“, spricht sie mich tatsächlich an. Mich! Ich schlucke.
Hoffentlich muss ich jetzt nichts sagen! Mein Hals ist staubtrocken, ich kann unmöglich sprechen! Vor meinen Augen erscheint ein Mikrofon an einem langen Stab, dass von so einem geleckten Typen durch das Publikum gelenkt wird. Erschreckt starre ich auf das Ding!
Streiche meine nassen Hände an der Latexhose ab. Versuche in meinem Mund Spucke zu sammeln. Vergebens! Staubtrocken, meine Lippen kleben auf den Zähnen. Zum Glück erkennt sie meine Not und gibt dem jungen Mann ein Zeichen. Das Mikrofon schwenkt in eine andere Richtung. Dankbar und erleichtert nicke ich ihr zu.
Sie schenkt mir ein warmes Lächeln. „Einer der jungen Herren wird Sie gleich in meine Garderobe begleiten, dann können wir uns unterhalten. Unter vier Augen.“ Ein Raunen geht durch die Menge. Meint sie wirklich mich? Ihr Gesicht sagt: „Ja Selene, ja, dich möchte ich kennenlernen.“
Erneut spüre ich Monas Ellenbogen. Sie sieht mich aufgeregt an. Ich weiß nicht, wie ich gucken soll. Welcher Gesichtsausdruck ist der Situation angemessen?
Prompt meint sie: „Nun mach doch nicht so ein Gesicht! Maya Delshay möchte mit dir persönlich reden!“ Unsicher zucke ich mit den Schultern. Enttäuscht dreht sich Mona wieder nach vorn und folgt dem Künstlergespräch. Ich sitze da, mir schwirrt der Kopf.
Großes Stühlerücken um mich herum. Einer der beiden jungen Männer tritt an mich heran: „Kommen Sie.“ Ich nicke, rühre mich aber nicht. Behutsam nimmt er meinen Arm und hilft mir auf. Bei ihm untergehakt verlasse ich die Menge.
„Sie müssen keine Scheu haben, Maya beißt nicht“, sagt er leise in mein Ohr. Ich sehe ihn an, ohne etwas zu sagen. Wir sind gleich groß, der Bodyguard und ich. Wir gehen einen langen Flur entlang. Vor einer unscheinbaren, grauen Tür bleiben wir stehen. Der Mann klopft an.
„Kommt rein“, schallt es von drinnen. Mir wird die Tür geöffnet. „Kommen Sie, setzen Sie sich besser“, sagt der junge Mann zu mir und rückt mir einen Stuhl zurecht. „Der jungen Dame scheint es nicht gut zu gehen“, meint er an die anmutige Frau gerichtet.
Frau Delshay wendet sich mir zu: „Hey Kindchen, wir trinken erst mal einen Tee.“ Schon schenkt sie ein bernsteinfarbenes, klares Getränk in feine Gläser mit einer Metallhalterung ein. Die zarten Aussparungen darauf sind so angeordnet, dass ein Rankenmuster, ähnlich, wie das auf der Tunika, hindurch leuchtet.
Vorsichtig nippe ich an dem Getränk. „Du wunderst dich, warum du jetzt hier sitzt, nicht wahr?“, fragt mich diese seltsame Frau. Erneut nippe ich an dem etwas zu heißen Tee und nicke. Sie schenkt mir ein Lächeln.
„Hast du meine Lieder verstanden?“
Ich sehe sie erstaunt an: „Ich denke schon.“
Sie winkt ab: „Das denken viele, aber nur die wenigsten begreifen, wovon ich singe.“
„Eine neue Welt?“
Sie schüttelt den Kopf: „Die alte Welt. Wie sie einmal war und wie sie wieder werden kann.“
Enttäuscht stelle ich das Teeglas weg: „Ich wusste, es ist nur ein Traum, Sie eine Träumerin!“ Frau Delshay lächelt. Kurz ist es still im Raum.
„Es gibt sie, die alte Welt. Ganz sicher bin ich eine Träumerin, aber diesen Traum habe ich nicht erdacht. Möchtest du dorthin?“
Ich versuche gelassen zu bleiben: „Jeder möchte dorthin, wozu diese Frage?“
„Wie sehr?“
Ich sehe sie fragend an.
„Na, wie sehr möchtest du? Willst du wirklich?“
„Ja, aber warum ich?“, wundere ich mich, „und was muss ich dafür tun?“
„Es wird nicht leicht, du wirst einiges zurücklassen.“
„Warum ich?“, wiederhole ich meine Frage.
Sie lächelt gewinnend: „Genau deswegen!“
Ich stehe auf: „Ich habe keine Ahnung, was Sie von mir wollen! Danke für den Tee.“ Ich gehe zur Tür.
„Halt!“, sagt sie sehr bestimmt, ohne die Stimme zu heben. „Setz dich hin“, sie zeigt auf den verwaisten Stuhl, den ich zurückgelassen habe.
Eigentlich ist mir die Lust vergangen. Sie ist eine Spinnerin!
„Du denkst abfällig von mir“, die Frau sitzt mit verschränkten Armen da und taxiert mich, „nun setz dich wieder.“
Langsam gehe ich zum Stuhl zurück, ohne wirklich zu wissen, warum ich das tue. Dahinter bleibe ich stehen und stütze mich auf die Stuhllehne: „Ich bleibe nur, wenn Sie offen mit mir sprechen. Ansonsten wartet draußen meine Freundin.“
Frau Delshay zieht einen Mundwinkel breit und verkneift sich nur mühsam ein Lächeln. Oder etwa ein Lachen? „Was tust du beruflich?“, beginnt sie das Gespräch von Neuem.
„Ich weiß nicht, für wen das interessant sein soll! Ich arbeite in der Müllverwertung. Unser Team versucht, besseren Treibstoff mit weniger Emissionen herzustellen.“
„Und bist du erfolgreich?“
„Zumindest habe ich gute Ideen.“
Sie sieht mich abschätzend an: „Aber die Lorbeeren heimsen andere ein, stimmt`s?“
Wie kann sie das wissen? Sie trifft genau ins Schwarze!
„Du wunderst dich, aber die Antwort ist einfach. Du bist ein Querkopf, ein Freidenker. Du tust, was du für richtig hältst. Und genau deshalb habe ich dich hierher bringen lassen.“
Sie reicht mir mein Glas Tee: „Dieses war mein zwölftes Konzert auf dieser Deutschlandtour. In jeder Vorstellung haben wir vorzeitig die Nachricht für das Künstlergespräch über den Wavewatch geschickt. Du bist die Erste, der das Gespräch so wichtig war, dass sie das Konzert verlassen hat. Die anderen, über den Daumen gepeilt, zwanzigtausend Besucher wollten zwar auch dorthin, wollten aber gleichzeitig erst das Konzert fertig hören. Sie wollten nicht das Risiko eingehen, etwas zu verpassen. Hatten nicht den Schneid, durch die Menge zum Ausgang zu gehen, weil es ihnen wichtig war. Sie wollten alles, aber bitte umsonst! Und um Himmelswillen nicht anecken, nicht auffallen … Ach, ich könnte es endlos weiter ausführen. Du weißt, was es bedeutet. Wenn du es für richtig hältst, schlägst du deinen eigenen Weg ein. Ohne Wenn und Aber. Außerdem geht eine gewisse Spannung von dir aus, Mädchen. Und genau deshalb kann ich dich nicht einfach so gehen lassen.“
Überrascht sehe ich die Frau an: „Sie interpretieren viel zu viel in diese Situation! Ich bin nicht so, wie Sie annehmen.“
„Ach Kindchen, vor dir sitzt eine Frau, die das Leben kennt, glaube mir“, sie hebt ihren Zeigefinger, „wenn du bereit bist, neue Ufer zu betreten, helfe ich dir dabei. Aber es wird wirklich nicht einfach.“
Ein aufgeregtes Prickeln windet sich durch meinen Körper. Frau Delshay sieht es mir an: „Ich deute das als Zusage!“
Ich reiße meine Augen auf: „Ich weiß immer noch nicht, worum es geht und welche Rolle ich spielen soll!“
„Natürlich weißt du das, Kindchen. Es bleibt nichts, wie es ist. Und du wirst dich aktiv daran beteiligen. Wenn es sein muss, mit vollem Einsatz!“
„Mein Leben?“
„Es geht um unsere Welt, die Erde! Stell dir nur einmal vor: Vor vielen Jahren sah sie aus dem All betrachtet aus, wie eine blaue Murmel! Wunderschön. Kein Preis ist zu hoch!“
Sie ist eine Spinnerin! Trotzdem werde ich ihr folgen, was habe ich schon zu verlieren? Ich bin achtundzwanzig, wenn alles gut läuft, habe ich vielleicht noch zehn Jahre. Aber wenn sie nicht rumspinnt, bekomme ich noch zwanzig oder sogar noch mehr … Oder ich verliere ein paar … Was macht´s …
Frau Delshay erhebt sich: „Sehr gut, wollen wir direkt los?“
„Ich sagte doch, meine Freundin wartet draußen!“
Sie hält mir einen Bogen Papier hin: „Schreib ihr eine Nachricht, sie wird sie bekommen.“
„Ich kann ja wohl kurz mit ihr reden! Oder haben Sie solche Angst, ich könnte noch einmal meinen Entschluss überdenken?“
„Dann lauf schnell, wir haben nicht viel Zeit!“
Der junge Mann von eben nimmt meinen Ellenbogen und führt mich zügig zur Tür. Gemeinsam eilen wir den Gang entlang.
„Was hat diese Frau mit mir vor?“, frage ich.
Mit der freien Hand streicht er mir über meinen Unterarm: „Großes, Mädchen, Großes.“
„Danke für die umfangreiche Info.“ Er sieht mich kurz an, seine Augen deuten ein Lächeln an, dann steuern wir auf den Ausgang zu.
Wie erwartet, steht Mona dort. Sie sieht mich fragend an. Dann huscht ihr Blick zu den jungen Mann.
Ich fasse sie am Arm: „Wie soll ich es dir sagen? Ehm, ich komme nicht mit nach Hause. Und im Labor werde ich auch nicht mehr erscheinen. Na, irgendwann vielleicht, ich melde mich bei dir, ja?“
Mona sieht mich perplex an.
„Hast du verstanden? Du musst dich jetzt allein um unseren Tiger kümmern!“
„Selene, was redest du? Natürlich kommst du mit!“
„Nein Mona, ich werde mit Maya Delshay gehen!“ Kurz werfe ich einen Blick auf meinen Begleiter.
„Du bist ja völlig durchgedreht! Hätte ich das gewusst, hätte ich dich niemals mit hierher genommen!“
„Sag bitte in der Firma Bescheid, dass ich bis auf Weiteres nicht mehr erscheinen werde.“
Ihre Augen tackern sich in meinem Gesicht fest: „Du meinst das ernst! Aber das kannst du nicht machen!“
„Natürlich! Ich kann! Denkst du, ich erzähle irgendwelchen Unfug? Ich melde mich bei dir, in ein paar Tagen. Jetzt habe ich leider nicht genug Zeit, um dir alles zu erklären.“
Sie ist völlig geschockt. Ich drücke sie kurz an mich: „Halt die Ohren steif, meine Liebe. Ich melde mich auf jeden Fall bei dir.“ Dann wende ich mich meinem Beschützer oder so, zu: „Wir können, mehr ist im Augenblick nicht drin.“ Er nickt zustimmend.
Gemeinsam eilen wir weiter und lassen die vollkommen verdatterte Mona stehen. Ich wage es nicht, mich zu ihr umzudrehen.
Es geht nicht wieder zurück zur Garderobe, sondern woanders lang. Am Hinterausgang wartet schon das gesamte Team der Maya Delshay. Wir steigen in den Tour Bus und schon geht sie los, meine Reise ins Ungewisse.
Frau Delshay sitzt mir gegenüber. Sie sieht mich ruhig an: „Du darfst dich nicht verunsichern lassen. Der Mann, zu dem ich dich bringe, ist ein alter Griesgram.“ Sie wiegt ihren Kopf hin und her: „Er kann schon mal ein bisschen schwierig sein.“ Ich sehe sie überrascht an: „Bis gerade nahm ich an, ich werde in gewisser Weise erwartet.“
„Das wirst du, Kindchen, aber trotzdem wird er dich prüfen. Eingehend prüfen, bis er dich wirklich aufnimmt. Wie ist eigentlich dein Name, Kindchen?“
„Ich heiße Selene. Selene von Lichtstetten.“
„Schön Selene. Ich heiße Maya Delshay, es ist mein wirklicher Name, kein Künstlername. Ich wurde nach meiner Großmutter benannt. Maya bedeutet, die Strahlende.“
„Der Name passt gut zu Ihnen“, antworte ich nicht nur aus Höflichkeit, sondern, weil es wirklich der Fall ist.
Sie lächelt mich an: „Ich bin heilfroh, dich gefunden zu haben. Denke immer daran, auch, wenn du ihm gerade am liebsten etwas gegen den Kopf schmettern würdest.“
Ich sehe sie erschreckt an: „So schlimm?“
„Nicht unbedingt, aber es ist im Rahmen des Möglichen. Ich kenne ihn schon sehr lange. Ein ganzes Leben lang. Er hat ein wirklich gutes Herz. Das Leben spielte ihm übel mit und die Jahre ließen ihn vorsichtig werden. Er schenkt dir nichts. Doch du kannst gewiss sein, wenn du etwas bekommst, hast du es dir verdient.“
Glorreiche Zeiten werden auf mich zukommen. Ich soll einen alten Sauertopf für mich gewinnen!
„Wir sind so etwas, wie eine Familie. Wie soll ich sagen … Er ist ein guter Freund meines Urgroßvaters, ehm und meines Ururgroßvaters.“
Ich sehe sie irritiert an. Sie spinnt! Und zwar so richtig, nicht nur ein bisschen! „Vielleicht überlege ich es mir doch noch einmal“, sage ich in möglichst belanglosem Ton, um sie nicht aufzuschrecken, „sie können mich einfach bei der nächsten Gelegenheit rauslassen. Ich komme schon wieder nach Hause.“
Wie viel Geld habe ich bei mir? Auf keinen Fall reicht es für die Heimfahrt! Ich kriege das trotzdem hin. Irgendwie.
„Dir wird doch jetzt nicht bange!“, sie beugt sich zu mir vor und nimmt meine Hand. „Gib nicht zu schnell auf, Selene. Nicht bevor es überhaupt begonnen hat! Du musst das Ziel im Auge behalten. Eine schöne Welt, in der es sich leben lässt.“
Ich sehe sie kalt an: „Ich lebe doch, oder? Wie alt soll der Mann denn sein, von dem Sie so viel Gutes zu erzählen haben?“
„Lass mich kurz überlegen, ich weiß es nicht genau … Er müsste jetzt so um die einhundertfünfundvierzig Jahre sein, vielleicht liege ich aber auch ein, zwei Jahre daneben. Am besten, du fragst ihn selbst. Aber sei behutsam! Er ist etwas dünnhäutig, was sein Alter betrifft.“
Sie sieht mich unschuldig an: „Tut mir leid, er ist eben keine zwanzig mehr. Ich bin mir sicher, er war in jüngeren Jahren ein Wahnsinnstyp. Mit der Zeit wird er dir gar nicht mehr so alt erscheinen. Hab keine Angst vor ihm. Es regt ihn auf, wenn die Leute sich vor ihm fürchten und kleinlaut werden.“
„Guter Tipp, danke schön“, sage ich etwas resigniert. „Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass Sie die Richtige ausgewählt haben.“ Mein Herz klopft laut in meiner Brust, obwohl ich nicht einmal angekommen bin. Frau Delshay hält meine Hand ein wenig fester und versucht mich zu beruhigen. Leider erfolglos. Der Bus hält.
„Selene, ab hier müssen wir laufen. Der Bus ist für das Gelände nicht geeignet.“
Gemeinsam steigen wir aus. Wie dumm, dass es dunkel ist, ich kann überhaupt nicht sehen, wo wir langgehen!
„Kommen die zwei Aufpasser nicht mit?“, frage ich verwundert. Frau Delshay knipst eine Taschenlampe an: „Die müssen auch mal Pause machen, hier werden sie nicht gebraucht. Du wirst bald feststellen, wie friedlich es hier ist.“
Der Lichtstrahl tastet den Boden ab. Wir verlassen den Asphalt. Der Boden wird sandig. Nach einigen Metern sehe ich feine Grashalme im Lichtkegel. Ich bücke mich, um mit der Handfläche darüber zu streichen. Wie weich sie sich anfühlen!
„Komm Selene, ich muss schnell zum Bus zurück, wir haben nicht viel Zeit.“
Ich sehe zu, dass ich hinterher komme. Ich halte meine Arme ausgebreitet. Bin mir nicht sicher, doch ich glaube, wir befinden uns in einem Wald! Ab und an berühre ich … Was berühre ich? Ist das die Rinde von Bäumen? Ich weiß nichts, staune einfach nur.
Die Luft ist so klar, dass sie mir fast in der Lunge Schmerzen bereitet. Und kühler ist es außerdem. Es scheint mir, als würden die Bäume hier dichter stehen.
„Bitte Selene trödele nicht! Ich glaube dir, dass du gerne schauen möchtest, aber wir müssen noch an diesem Abend das nächste Ziel erreichen! Ich verdiene so mein Geld. Die ganze Crew verdient so ihr Geld, deshalb beeile dich bitte.“
Mir entfährt ein Stöhnen.
„Er wird dir alles zeigen, vertrau mir. Er wird sich ein wenig quer stellen, aber insgeheim freut er sich über Gesellschaft.“
Ich sehe kurz hinter mich. Alles dunkel, niemand zu sehen. Es fühlt sich an, als würde ich beobachtet. Falsch - eher anvisiert. Etwa so, wie von einem Scharfschützen!
„Frau Delshay, wir hätten wenigstens einen der beiden Aufpasser mitnehmen sollen. Ich bin mir sicher, wir werden verfolgt.“
„Lass dich nicht einschüchtern, er beobachtet uns. Beobachtet dich! Bestimmt ist er neugierig“, lacht sie.
Sie lacht! Ist das wirklich lustig?
„Ist es noch weit?“, frage ich.
„Ein Stückchen schon noch, Selene. Wirst du müde?“
„Nein, ich wundere mich nur.“ Leise flüstern Stimmen um mich herum, oder ist es der Wind? „Nicht er beobachtet mich, wir werden von allen Seiten angestarrt! Es wird über uns geredet, über mich geredet!“, rufe ich hysterisch in den Rücken, der vor mir herläuft.
Meine Begleiterin lacht laut auf. Ich starre auf ihren Nacken und verstehe nicht, was jetzt so komisch ist. Ein leichter Anflug von Panik überfällt mich. Immer wieder diese Stimmen! Das kann nicht der Wind sein. Wind habe ich Zuhause zu genüge, den würde ich leicht erkennen.
„Was?“, werfe ich ihr hinterher. Ihr Lachen macht mich ungehalten.
Sie dreht sich freudestrahlend zu mir um und hält mich bei den Schultern: „Du bist genau die Richtige. Und das wird Frithjof auch schon wissen.“
„Frithjof, heißt so der alte Mann?“
„Oh, lass ihn das nicht hören!“, lacht sie schon wieder auf. „Wir sind gleich da.“
Ich folge dieser kleinen Frau, die für ihr Alter ein ganz ordentliches Tempo vorlegt. Der Trampelpfad hat hier eine Abzweigung. Sie bleibt stehen und hält meinen Oberarm. „Selene, sieh mal nach oben“, fordert sie mich mit einem Lächeln in der Stimme auf.
Mir stockt der Atem! Die Luft ist klar, der Himmel voller Sterne. In vielen Büchern habe ich von so einem Sternenhimmel gelesen. Ich habe es mir nie richtig vorstellen können. Gebannt starre ich himmelwärts. Je länger ich dastehe und schaue, desto mehr Sterne kann ich ausmachen, so erscheint es mir.
Frau Delshay holt mich wieder zurück: „Na, habe ich zu viel versprochen?“ Diese Antwort bleibe ich ihr schuldig. Sie zieht mich weiter. „Komm, wir sind jetzt gleich da.“
Wir treten aus dem Wald heraus. In zwanzig, fünfundzwanzig Metern Entfernung brennt ein Lagerfeuer. Lagerfeuer sind verboten, weil sie so schädlich sind! Es darf nichts wild verbrannt werden, nur in den dafür vorgesehenen Institutionen!
Der Mann versteckt sich wohl, denn ich kann ihn nicht sehen. Die Flammen blenden stark in der Dunkelheit. Plötzlich höre ich ganz nah eine sanfte Männerstimme: „Maya, wie schön, dass du mich besuchst. Ich habe gerade Holz nachgelegt, dann können wir noch ein Weilchen im Warmen sitzen.“
Und jetzt kann ich ihn sehen. Er nimmt Frau Delshay in seine Arme und begrüßt sie herzlich. Ein großer Mann mit wildem Haar. Ich hatte ein kleines, hutzeliges Männlein mit übler Laune erwartet, doch er hat meine Größe, steht aufrecht und verbreitet eine Herzenswärme, die ihres Gleichen sucht. Hundertvierzig oder was? Blödsinn!
„Ich kann leider nicht bleiben, mein Lieber, schade nicht wahr, doch wir müssen weiter. Aber ich habe dir eine Schülerin mitgebracht.“
Ich höre ihn flüstern, kann aber nichts von dem, was er sagt verstehen. Mein Herz klopft wie wild. Was, wenn er mich gar nicht hier haben will? Doch wenn er diese Frau ausschickt, um die Augen aufzuhalten, dann muss er Vertrauen zu ihr haben und sich auf ihr Urteil verlassen.
„Bitte kümmere dich gut um sie. Sie hat alles zurückgelassen!“
Er brummt irgendetwas. Dann lösen sie die Umarmung auf und Frau Delshay macht einen Schritt auf mich zu: „Kindchen, in einem guten Monat haben wir unsere Tour beendet, dann sehen wir uns wieder. Alles Gute.“
„Danke, ich wünsche Ihnen auch alles Gute und immer ein begeistertes Publikum.“
Ich spüre seine dunklen Augen auf mich gerichtet. Ich versuche, nicht zu vorsichtig zurückzuschauen. Frau Delshay bekommt das mit. Sie schuppst ihn an seiner Schulter: „Und du, sei nicht zu streng! Lass sie erst mal ankommen!“ Er nickt, sie verschwindet.
Zu zweit stehen wir in der Dunkelheit. Ein alter Mann und ein vergleichbar sehr junges Mädchen. Nie fühlte ich mich so gehemmt, wie in diesem Augenblick. Der Mann starrt mich an. Plötzlich wird sein Blick weich. Er reicht mir seine Hand.
„Wir sind hier nur zwei lebendige Wesen, ich denke, wir brauchen keine Form zu wahren und können einfach du sagen. Mein Name ist Frithjof.“
„Ich heiße Selene.“ Ich kann trotz der Dunkelheit ausmachen, wie seine immer noch dunklen Augenbrauen erstaunt in die Höhe schnellen. Wir schütteln uns die Hände.
„Komm, wir setzen uns ans Feuer, dort ist es schön warm. Selene. Tragen heutzutage viele Frauen diesen Namen?“
„Nein, er ist eher selten. Eigentlich nennen mich nur die wichtigen Personen so. Also die, die mir nahe stehen, der Rest kürzt auf Lene ab.“
„Darf ich dich Selene nennen? Ich meine, wir kennen uns kaum, aber es gefällt mir besser.“
„Natürlich, Frau Delshay kam auch nicht auf die Idee, meinen Namen abzukürzen.“
„Vielleicht gehöre ich irgendwann zu dem engen Personenkreis. Wer weiß schon, was das Schicksal für uns bereit hält. Weißt du über deinen Namen Bescheid? Ich meine, kennst du seine Bedeutung?“
„Nein, Selene eben. Ich fühle mich wie eine Selene. Ich mochte diesen Namen schon immer.“
„Selene, das ist der Name der griechischen Mondgöttin. Du trägst ihren Namen. Ein großer Name. Machst du ihm Ehre?“
Ratlos sehe ich mein Gegenüber an. „Ich habe stets mein Bestes gegeben.“
„Das ist gut so, etwas anderes erwarte ich hier auch nicht von dir. Dein Bestes könnte gerade so ausreichen“, sagt er mit einem leicht scharfen Unterton und blickt zum Himmel. Ich folge seinem Blick.
Der Mond strahlt hell in einer schmalen Sichel.
„Abnehmend oder zunehmend?“, reißt er mich aus meinen Gedanken.
„Keine Ahnung“, antworte ich wahrheitsgemäß.
„Das solltest du aber, als Mondgöttin“, er schüttelt den Kopf und weist mit dem ausgestreckten Finger in den Himmel. „Siehst du, die Sichel steht nach rechts offen, das bedeutet, wir befinden uns im letzten Viertel. In ein paar Tagen werden wir überhaupt keinen Mond am Himmel erkennen können. Also abnehmend.“
„Das ist irgendwie traurig.“
Er sieht mich abfällig an: „Ich habe eine gute Nachricht für dich.“ Ich sehe erwartungsvoll in sein Gesicht. „Er wird wieder kommen“, erklärt mein Gegenüber höhnisch.
Ich sage nichts dazu. Ich habe auch eine Schule besucht. Bloß sind die Lehren der Astronomie sehr schwer vorstellbar, wenn man kaum mal die Sonne zu Gesicht bekommt, geschweige denn, den Mond und die Sterne. Das Ganze war mir immer sehr abstrakt und so habe ich mich auf anderes konzentriert. Ich spüre wieder seinen Blick auf mir und wende mich ihm zu.
„Sind das Sommersprossen auf deinem Gesicht?“
„Es sind Pigmentflecken, ich bin voll davon.“
Er schürzt seine Lippen: „Also Sommersprossen! Ich werde dir eine Salbe anrühren, die wirst du brauchen. Du bekommst sicher leicht einen Sonnenbrand.“
Erschreckt reiße ich die Augen auf: „Sind wir hier etwa vor der Sonne ungeschützt?“
„Nicht, wenn du dich eincremst.“
Ich reibe mir gestresst die Stirn: „Das wird wohl kaum reichen!“
„Wo ist dein Problem, Mädchen? Es ist kein Drama!“ Ich springe auf und schreie ihn an: „Die Sonne wird mich umbringen! Das ist mein Problem, das weiß doch jedes Kind!“
Er nimmt meine Hand und zieht mich wieder runter. Dann legt er seine Hand auf meine zitternde Schulter. Die Berührung stellt mich ruhig. Seltsam, mit einem Mal fühle ich mich träge und zufrieden. Noch nie hatte ein schlichter Handabdruck eines Fremden, eine solche Wirkung. Eigentlich sollte mir jetzt bange werden, doch ich kann keine Furcht empfinden.
„Geht`s besser?“, fragt er milde. „Dann höre mir mal gut zu. Du bist nicht mehr in eurer verseuchten Giftwüste. Du bist jetzt hier. Hier bei mir! Und wenn du stark genug sein solltest, wirst du mir helfen, diesen Wald kontinuierlich zu vergrößern und zu schützen. Hier wird die Sonne auch brennen, ohne Frage! Aber sie tötet nicht! Ganz im Gegenteil! Sie ist wundervoll. Du wirst sicherlich noch viel mehr Sommersprossen bekommen, sie werden sich wie ein Teppich auf deiner Haut ausbreiten, aber so schlimm ist das nicht. Glaub mir, hier kann man ganz gut leben.“
Stille. Das Feuer knackt. Ich fühle mich müde, dennoch bin ich mir sicher, keinen Schlaf finden zu können. Ein kurzer Blick auf meinen Wavewatch verrät mir, dass wir schon frühen Morgen haben. „Wir sollten schlafen gehen“, meint der Mann an meiner Seite, während er mich kritisch beobachtet. „Wie das? Ich kann bestimmt keine Ruhe finden.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, wie du dich fühlst. Ich wurde noch nie in eine fremde Welt befördert. Aber glaube mir, es ist für dich eine Verbesserung. Also reg dich ab.“ Er nimmt meinen Arm und zieht mich hoch: „Ich habe noch nichts für dich vorbereiten können, du kommst für mich sehr überraschend. In der Werkstatt steht eine Pritsche. Für dich zu kurz, ich habe sie immer gehasst, aber im Augenblick habe ich nichts Besseres.“
Und plötzlich sieht er mich schalkhaft überlegen an: „Das Bett in meiner Hütte ist groß genug für zwei Personen unserer Größe. Aber das willst du sicherlich nicht!“ Und jetzt lacht er mich laut aus! Ich bin hin und her gerissen. Ich mag ihn und gleichzeitig kann ich ihn nicht ausstehen! „Ganz sicher nicht!“, zische ich ihn an. Sein Lachen wird lauter: „Komm, ich zeige dir, wo du schlafen kannst.“ Er schüttelt den Kopf: „Das wird lustig mit uns zweien!“ Und erneut lacht er laut auf.
Der ist nicht ganz richtig! Und ich bin jetzt mit diesem Verrückten allein! Ihm allein ausgesetzt! Abrupt bleibt er stehen und hält mich an den Schultern: „Vorsicht, schreie deine Gedanken nicht heraus. Viele halten mich für verrückt. Doch sie sollten sich besser selbst mal unter die Lupe nehmen!“ Er zeigt mir an, in welcher Richtung die Werkstatt steht, in der ich meine erste Nacht verbringen soll. Einige Hütten stehen hier. Wie nett, dass er sich nicht mal die Mühe macht, mir zu erklären, wo alles ist. Ein wirklich freundlicher und charmanter Gastgeber!
„Ich werde dir alles zeigen, wenn es hell ist. Es macht in der Dunkelheit einfach keinen Sinn!“ Er öffnet die Tür und greift nach einem Teil, das an einem Haken befestigt ist: „Sieh her, dies ist eine Petroleumlampe.“ Mit einem Streichholz zündet er sie an. Ein schummeriges Licht tanzt auf unseren Gesichtern.
„Wenn du den Docht ein wenig herunter drehst, kannst du das Licht dimmen. Ein wenig zu viel, und es ist erloschen. Pass immer auf, wo du sie hinstellst. Hier drin ist alles sehr trocken, es kann leicht brennen!“ „Ich lasse sie besser aus“, sage ich unsicher. „Das musst du nicht. Du gibst einfach ein wenig acht, das war`s. Das da ist die Pritsche“, er zeigt auf ein schmales, kurzes Ding. Dann geht er in eine Ecke und kramt irgendetwas.
In der Dunkelheit kann ich ihn kaum ausmachen. Mit einem Stapel Decken kommt er zurück. „Damit du nicht frierst, ich habe aus dem eben genannten Grund in dieser Hütte keine Feuerstelle.“ Er geht zur Tür hinaus und lässt mich allein. Unentschlossen stehe ich rum.
Dann entscheide ich mich, lieber auf dem Boden zu schlafen. Ein paar Decken breite ich aus. Meine Jacke rolle ich zu einem Kissen zusammen und mit den übrigen Decken halte ich mich warm.
Es klopft. Im selben Augenblick schwingt die Tür auf. Erschreckt zucke ich zusammen. „Warum benimmst du dich so?“, fauche ich ihn an. „Du hast überhaupt keine Manieren!“
„Der ungehobelte alte Sack bringt dir was zum Trinken.“ Still hält er mir ein Glas hin. „Was ist da drin?“ „Milch.“ „Das sehe ich, was ist außerdem noch drin?“ „Trink einfach.“ „Du willst mich vergiften! Irgendetwas ist doch faul hier!“ Ich rieche an der Milch. Kann nichts feststellen.
„Trink einfach“, wiederholt der fremde Mann mit Nachdruck. „Never! Das Zeug kannst du selber trinken!“ Ich stehe auf und stelle das Glas auf ein großes Ding, von dem ich in der Dunkelheit nicht ausmachen kann, was es ist.
Er nimmt die Milch und drückt sie mir wieder in die Hand. „Nun trink schon!“ Er wird lauter. Ich stehe da, in die rechte Hüfte gestützt und betrachte still meinen Gastgeber. „Du musst mir schon vertrauen, ich bin der Einzige hier. Wenn du das nicht kannst, sieht es nicht gut für dich aus, Kindchen“, erklärt er mir herablassend.
Aus der Gesäßtasche meiner Hose hole ich einen kleinen Taschenspiegel und strecke ihm diesen entgegen: „Frithjof, sag doch bitte noch einmal so nett wie gerade eben; nun trink schon! Und bitte siehe dabei in den Spiegel. Überleg dir genau, ob du Vertrauen zu dir hättest.“ Ich halte ihm den Spiegel vor die Nase. „Mach jetzt“, fordere ich ihn auf.
Ich warte. Er regt sich nicht. Es dauert ein bisschen, plötzlich meint er: „Ok, das war gut. Jetzt trink.“ „Du lernst nicht besonders schnell, was?“ Mit diesem Ton komme ich bei ihm garantiert weiter, der will keinen Schmusekurs!
„Doch Kindchen, schneller, als du denkst.“ Er kommt einen Schritt auf mich zu, greift mir fest in den Kiefer, sodass ich meinen Mund öffnen muss! Nun kippt er mir die Milch in den Rachen! Danach verlässt er ohne ein Wort die Hütte.
Ich wische mir die verkleckerten Milchreste vom Gesicht und starre auf die Tür. Gerade will ich mir den Finger tief in den Hals stecken, da werden auch schon meine Knie weich. Ich sehe den Boden auf mich zukommen, versuche mich noch an dem riesen Gestell festzuhalten, doch meine Muskeln sind zu schlaff.
Ich bekomme noch mit, dass ich nicht auf den Boden knalle. Jemand kümmert sich. Ein weiches Kissen schiebt sich unter meinen Kopf. Meine Beine werden aus der engen Latexhose gepellt und mein Körper sorgsam zugedeckt. Das Küsschen auf der Stirn ist das Letzte, was ich wahrnehme.
Geblendet vom Sonnenlicht, das durch die Fenster auf mich fällt, erwache ich. Schnell bedecke ich mit der Hand mein Gesicht und rolle mich zur Seite in den Schatten. Ich stehe auf, sehe mich um. In Glitzertop und String suche ich nach meiner Hose. Kurz überlege ich, was gestern war.
Langsam fällt mir alles wieder ein. Dieses Ungeheuer hat mich gezwungen, seine verseuchte Milch zu trinken. Seltsamerweise bin ich wieder aufgewacht, geht es mir durch den Sinn. Dafür ist die Hose weg! Ich binde mir eine Decke um die Hüfte. Erst jetzt fällt mir das feine Muster auf! Traumhaft schön, so filigran, dass man es kaum zeichnen könnte. Genauso, wie die Hose von Maya Delshay.
Nun suche ich nach meiner Jacke. Ich weiß genau, ich faltete sie zu einem Kissen und legte sie dorthin, wo jetzt das echte Kissen liegt. Ein wenig durcheinander lege ich mir eine weitere Decke über den Kopf und verberge gleichzeitig meine Schultern darunter. Gut geschützt verlasse ich die Hütte.
Ich sehe durch den Schlitz meiner Decke. Der alte Mann kauert über irgendeiner Arbeit an der erloschenen Feuerstelle. Er sieht auf und macht ein belustigtes Gesicht.
„Guten Morgen Selene. Bist du zum islamischen Glauben übergetreten? Oder wofür soll das gut sein.“ Ich pule einen Finger unter der Decke hervor und zeige nach oben. „Ich muss mich vor der Sonne schützen!“
Er schüttelt den Kopf. „So lass doch wenigstens ein paar Strahlen an dein Gesicht, das wird dich hübsch machen“, meint er auffordernd. Vorsichtig lasse ich die Decke auf meine Schultern fallen. Erstaunt sieht er mich an. Irritiert frage ich: „Was ist?“
Er strahlt mich an: „Vor mir steht eine Schönheit. Selene, du bist eine wahre Schönheit.“ Gerade überlege ich, wie ich wohl aussehe. Meine kurzen rotblonden Haare werden nach dem Schlafen sicher in alle Himmelsrichtungen abstehen, zu unterstreichen wäre noch der platt geknetschte Hinterkopf. Dazu mein verpenntes Gesicht! Willkommen in der Wirklichkeit. Für einen Moment dachte ich, er wäre nett! Aber er verkackeiert mich nur!
Ich kneife meine tiefgrünen Augen leicht zusammen: „Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Dieser straffe muskulöse Männerkörper, die fülligen dunklen Locken und die vor Verstand strotzenden, scharfen, dunklen Augen! Wie soll ich mir neben dir nicht klein und farblos vorkommen!“
Sein Lächeln gefriert: „Du verhöhnst mich. All das, was du aufführst, hatte ich mal zu bieten! Woher wusstest du das?“ „Es ist durchaus abzulesen, aus den Resten, die noch vorhanden sind“, erwidere ich kalt.
Er steht schweigend auf und verlässt die Lichtung. Dieser Mann verschwindet einfach im Wald. Etwas verdattert stehe ich da und überlege, was zu tun ist.
Ich werde mich erst mal ein wenig umsehen. Neben der Werkstatt steht eine weitere Hütte. Vorsichtig öffne ich die Tür. Ein wirklich großes Bett für einen Mann, der allein lebt. Na ja, aufgeräumt ist es. Vielleicht hat er lange Zeit beim Militär gedient. Ich öffne ein Paar Schranktüren, überall penible Ordnung.
Auf dem Tischchen neben seinem Bett liegt eine kleine Puppe. Sehr klein, ein grünes Kleidchen aus Flitz, das ein wenig angekokelt zu sein scheint und ein vergammeltes Haarbüschel als Frisur. Diese Puppe ist garantiert sehr alt. Es kommt mir vor, sie würde bei einer Berührung von mir zu Staub zerfallen. Ich strecke meine Finger nach ihr aus, doch etwas hält mich zurück.
Vielleicht ist das eine Voodoopuppe und eine unglückliche Person wird von diesem Mann da draußen regelmäßig drangsaliert! Daher die Brandspuren! Es schüttelt mich. Plötzlich fühle ich seinen Blick in meinem Nacken und bin froh, die Puppe nicht in meinen Händen zu halten.
Langsam drehe ich mich um, doch wider meine Erwartung, ist der Türrahmen leer. Habe ich mir nur eingebildet, dass er mich beobachtet? Ich habe kein schlechtes Gewissen! Genauso gut könnte er mich ja auch herumführen und mir alles zeigen. Doch das hält er scheinbar nicht für nötig. Ob er mir auch ein Haarbüschel gestohlen hat? Ich muss auf der Hut sein!
Langsam verlasse ich die Hütte. Direkt gegenüber befindet sich ein Beet. Wilde Blumen, hochgewachsen und mit Gesträuch vermischt, bilden eine rechteckige Fläche. Ein schmaler Pfad führt zur Mitte, in der Frithjof still mit dem Rücken zu mir sitzt und zum Himmel sieht.
Ich setze mich auf die Bank an der Feuerstelle und beobachte ihn. Es scheint ihn nicht zu stören, er rührt sich nicht. Sitzt nur da und weiter nichts.
Minuten verstreichen. Ich stehe auf und nehme meine Entdeckungstour wieder auf. Die nächste Hütte. Ich öffne die Tür. Ein riesen Bottich steht in der Mitte. Ein Regal mit ordentlich gefalteten Handtüchern. Ein kleiner Hängeschrank. Ich sehe nach, was darin ist. Jede Menge Fläschchen, hübsch ordentlich aufgereiht.
Ich greife mir eins und möchte daran schnuppern. „Halt!“ schreit es hinter mir. Schnell stelle ich das Glas zurück und wirbele herum. Ich bin allein. War er das? Ich bin mir nicht sicher. Wieder strecke ich meine Hand nach den Fläschchen aus. „Ksssss!“, direkt an meinem Ohr! Ich fahre herum. Nichts. Und es war keine Männerstimme!
Zügig schließe ich den Schrank und eile aus der Hütte. Immer noch sitzt er auf der kleinen Wiese. Er scheint sich nicht gerührt zu haben. Ich laufe zu ihm. „Frithjof!“ rufe ich, „Frithjof, da ist irgendwer!“ Der alte Mann schenkt mir keine Beachtung.
„Nun sei doch nicht so, das war eben blöd und gemein von mir, entschuldige. Jetzt hör mir bitte zu, in der Hütte, die wohl ein Bad sein soll, versteckt sich jemand!“ Er bewegt sich keinen Millimeter. Was für eine Memme! „Du bist hier die Memme, wer soll schon in der Badehütte sein, du hast zu viel Fantasie. Außerdem ziehst du die falschen Schlüsse. Und jetzt schnüffele weiter rum und lass mich in Frieden“, sagt er in gelangweiltem Tonfall ohne sich auch nur die Mühe zu machen, mich anzusehen. Ich fühle mich geschlagen. Langsam gehe ich auf die kleine Sitzgruppe zu.
Ich sehe mir an, womit er sich eben beschäftigt hatte, als ich verschlafen aus der Werkstatt kam. Ein kleiner Stoffberg liegt da. Als ich ihn auseinandernehme, erkenne ich, dass es eine Hose werden soll. Vorsichtig suche ich nach der Nadel und stichele da weiter, wo Frithjof aufgehört hat. Die Zeit vergeht, mein Gastgeber sitzt still auf seinem Fleckchen und ich nähe eine Naht nach der anderen.
Mein Nacken schmerzt von der ungewohnten und zugleich steifen Haltung. Trotzdem stichele ich weiter. Ich habe sowieso nichts zu tun. Mein Magen knurrt. Ich ignoriere ihn. Irgendwann wird dieser Frithjof wieder aufstehen. Ich halte das aus.
Jetzt noch unten die Hosenbeine säumen, dann ist dieses Traumstück fertig! Irgendwie macht mich das zufrieden. Ich möchte die Arbeit schnell zu Ende bringen, bevor er aus seinem Koma erwacht. Ein halbes Hosenbein habe ich schon geschafft, da wird mir von hinten ganz sachte die Decke von meinen Schultern gezogen.
Frithjofs kräftige Hände greifen in meine Nackenmuskulatur. Mir liegt ein „Finger weg!“ auf der Zunge, aber ich spreche es nicht aus. „Du bist zu verkrampft, Selene“, sagt er gedämpft. „Das ruhige Sitzen ist ein wenig ungewohnt, aber ich mache das jetzt fertig.“
„Die Hose ist für dich.“ „Für mich?“, ich bin erstaunt, halte sie kurz in die Höhe, „ein bisschen groß, oder?“ „Du lächelst ja.“ „Das hörst du?“ „Natürlich.“ Ich nähe weiter.
Ganz weich fahren seine Hände über meinen Nacken. Es ist sehr angenehm. Ich atme tief ein. Am liebsten würde ich jetzt mein Kinn auf die Brust sacken lassen, aber ich will das hier erst noch fertig schaffen.
„So, nur noch ein Hosenbein, dann hab ich`s“, feuere ich mich selbst an. „Auch, wenn sie etwas groß ist.“ „Ich dachte mir, dann hättest du es bequem.“ „Danke Frithjof.“
Er breitet seine Massage auf meine Arme aus. Ich muss lachen: „Hey, so werde ich niemals fertig! Du wackelst an mir rum! Dann wird alles nur krumm und schief!“ „Macht nichts, Selene. Es wird ja nicht meine Hose.“
Ich sehe zu ihm auf. Er zwinkert mir zu: „Das eine Hosenbein ist doch egal!“ Ich schüttele den Kopf und mache fix weiter. „Was hast du da eben gemacht? Auf der Wiese, meine ich.“ „Hab nachgedacht.“ „Und, irgendwelche Ergebnisse?“ „Nein.“ „Prima, knapp und präzise, das gefällt mir.“
„Lehne deinen Kopf mal zurück, du könntest dich auch selbst einreiben, aber an meinen Händen ist noch genug Öl.“ Ich tue, was er sagt, und lasse meinen Kopf in den Nacken fallen. Frithjof streicht mir übers Gesicht, meinen Hals, mein Dekolleté. Er macht das sehr sanft, es fühlt sich seltsam vertraut an.
„Ich habe das eben ernst gemeint.“ „Hm?“, kurz öffne ich die Augen und sehe ihn an. „Du bist eine Schönheit. Auch wenn dein Styling heute etwas fragwürdig ist.“ Ich spüre, dass er lacht. Ich stimme mit ein: „Tut mir ehrlich leid, ich war sauer, auch du siehst ganz passabel aus, aber das weißt du. Du brauchst niemanden, der dir das erklärt.“ „Dennoch ist es schön zu hören.“
Ich lehne mich an ihn und lasse mich gehen. „Nur damit das klar ist“, meint er in strengem Ton, „ich bin schon vergeben.“ Ich sehe wieder zu ihm auf. Er grinst breit und lässt seine Augenbrauen tanzen. „Schade, wo es doch gerade so schön wird“, flapse ich rum und wende mich wieder meiner Arbeit zu.
„Ha, geschafft“, ich halte das gute Stück in die Höhe, „nicht schlecht fürs erste Mal, nicht wahr?“ „Nun, ich würde sagen, es war gut vorbereitet.“ „Ja klar, du sitzt stundenlang in der Gegend rum, und willst dann die Lorbeeren einheimsen!“ Frithjof hält hinter mir inne.
Langsam setzt er sich hinter der Bank ins Gras. Ich gehe um sie herum und betrachte ihn. Er kauert auf der Wiese. Seine Augen starr in die Ferne gerichtet. Ich hocke mich neben ihn, warte ab, bis er sich etwas gefangen hat.
Langsam richtet er seinen Blick auf mich. Ich will ihm mit meiner Hand über den Arm streichen. Habe das Gefühl, ihn beruhigen, oder sogar trösten zu wollen. Obwohl ich gar nicht weiß, was mich dazu bewegt.
Mit einer kräftigen Armbewegung schuppst er mich von sich weg. „Habe ich etwas Falsches gemacht?“, frage ich aufgebracht. Er antwortet mir nicht. Stur sieht er geradeaus. Irgendetwas zischt er wütend vor sich hin. Plötzlich steht er auf und stapft davon.
Ich sehe ihm verwundert nach. Doch es dauert nicht lange und er dreht sich abrupt wieder um und kommt mit großen Schritten auf mich zu. Ein bisschen Angst macht mir dieser Mann schon!
Er schüttelt den Kopf: „Ich bin ein sonderbarer alter Mann. Ich habe viel gesehen in meinem Leben und dennoch überraschst du mich. Ich bin mir sicher, dass dich so leicht nichts schockt“, er unterzieht mich einer letzten Prüfung, sieht mir tief in die Augen, als könne er so sämtliche Geheimnisse meiner Seele entschlüsseln.
Oh doch, ich bin geschockt. So viele Stimmungsschwankungen in ein paar Sekunden! Dieser Mann ist völlig wirr. Ich muss mich vor ihm schützen! Aber wie? In seinem Blick sehe ich, dass er genau weiß, was ich denke. Schon manches Mal ging mir durch den Sinn, ob dieser Mann Gedanken lesen kann. Je länger ich hier bin, desto sicherer bin ich mir dessen.
„Du bist ihr so ähnlich, der Liebe meines Lebens. Was du eben gesagt hast, das hätte ebenso aus ihrem Mund kommen können“, sagt er mit belegter Stimme. „War sie auch voller Pigmentflecken?“ „Nein, sie hat keine Sommersprossen. Vom Typ ist sie ganz anders. Sie ist ein bisschen klein, hat langes kastanienbraunes Haar und funkelnde türkisfarbene Augen. Und außerdem ein freches Mundwerk. Darin seid ihr euch ungeheuer ähnlich!“
„Du redest in der Gegenwart von ihr, ich hatte schon Angst, sie würde nicht mehr leben.“ „Jetzt kommt der Teil, den ich sonst niemandem erzählen kann. Sie ist seit einhundertundvier Jahren tot.“
Frithjof steht vor mir und schnauft erst mal durch, nebenbei beobachtet er genau meine Reaktion. Ich bemühe mich, gelassen zu bleiben. Er lehnt sich lässig an die Bank.
„Sie ist eine Zauberin. Ein paar Vollidioten hielten sie für eine Hexe, doch sie hat niemandem, aber auch gar niemandem, etwas angetan! Niemals! Sie webt diese Decken.“ Frithjof zeigt mit seinem Finger auf meine Hüften. „Sie ist Weberin von Beruf.“
Ich streiche andächtig über die Decke, die ich wie einen Wickelrock trage. „Ihr Webstuhl steht in der Werkstatt. Ich pflege die Tiere, sie webt ihre Decken und Stoffe noch heute.“
Ich muss schlucken. „Jetzt bist du doch geschockt, nicht wahr?“ „Nein, erzähl weiter“, schwindele ich. „Sie haben Otruns Hütte angezündet, während sie schlief. Ich kam zu spät auf die Lichtung, um sie zu retten. Doch dies ist ein magischer Ort. Außer wenigen Eingeweihten wusste das niemand. Alle ihre Ahnen leben hier auf ewig. Auch Otrun, meine große Liebe. Nun, sie ist verbrannt, doch als ihre Asche über die Lichtung wehte, war sie frei für immer. Ich lebe hier mit ihr und ihren Ahnen und habe ein Auge auf diesen magischen Ort. Wo sollen sie hin, wenn es dieses Waldstück nicht mehr gibt? Das alles ist wie gesagt schon über hundert Jahre her.“
„Bist du auch ein Zauberer?“ Frithjof grinst ein wenig zu breit: „Otrun bezeichnet mich schon immer als Hexer. Und ich bin wirklich gut! Ich habe es geschafft, zwei nichtmagische Menschen in die Ewigkeit zu befördern.“ „Weil sie das wollten?“ „Ja, Selene, weil sie es so wollten. Der Erste war Wondering Bear Dustin Delshay. Er ist jetzt bei seiner großen Liebe in der Ewigkeit. Und sein Sohn Widukid Delshay, er ist bei seinem Vater und bei unserer gemeinsamen Freundin Otrun.“
„Die Maya Delshay, die mich hierher gebracht hat, sie sagte, du seist mit ihren Urgroßvater und ihrem Ururgroßvater befreundet. Sind sie das?“ „Ja, das sind sie. Sie leisten mir Gesellschaft, aber jetzt habe ich ja dich“, grinst er mich etwas seltsam an. „Das alles klingt für mich sehr verwirrend. Du sagst Otrun ist auch die Freundin von diesem …!“ „Wido. Widukid Delshay. Ja wir waren immer ein Dreiergespann.“ Ich sehe mein Gegenüber mit großen Augen an: „Entschuldige, wenn ich noch mal nachfrage. Ihr seid beide mit ihr …?“
Frithjof grinst mich an. Er hat eindeutig Freude an meiner verunsicherten Mine: „Und ich dachte, heutzutage wären alle so frei in der Liebe.“ „Nun, ich nicht! Für mich klingt das alles nach Beziehungswirrwarr!“ „Ein wenig, aber das macht nichts, die meiste Zeit ist Otrun bei mir. Sie hat mir aufgetragen, dir unsere Geschichte zu erzählen und freundlich zu dir zu sein. Ich sage es nur ungern, aber sie wacht über dich. Sie mag dich, obwohl du für sie erschreckend groß bist.“
Frithjof lächelt mich frech an. „Du hast sie schon gestern Nacht gespürt und sogar gehört. Noch nicht verstanden, doch du hast sie deutlich wahrgenommen. Mir war sofort klar, dass Maya die Richtige gefunden hatte.“ „Ich habe eben ein klares „Halt“ gehört.“ „Ja, du warst an meinen Ölfläschchen. Ich werde dir alles zeigen, alles beibringen, wenn du soweit bist. Zu gegebener Zeit. Du musst Vertrauen zu mir haben, auch wenn ich nicht der knuddelige Opa von nebenan bin. Du hast deinen eigenen Kopf, das gefällt mir“, er nickt mir anerkennend zu, „ich aber auch, das wird dir vielleicht nicht immer so sehr gefallen! Aber ich bin sicher, du kannst es schaffen, vorausgesetzt, du willst.“
Frithjof zuckt mit den Schultern: „Habe ich noch was vergessen?“ Ich sehe ihn unschlüssig an. „Frag ruhig, wenn du Fragen hast.“ Ich deute auf die bunte Wiesenfläche: „Stand dort ihre Hütte?“
„Ja, irgendwann konnte ich die Trümmer und Kohlereste nicht mehr ertragen. Ich habe alles beseitigt und das Stück sich selbst überlassen. Wie ist es? Hast du eigentlich keinen Hunger? Und, du könntest dich endlich mal waschen!“ Kurz schlucke ich, dann übergehe ich diese Frechheit ganz einfach. „Du kannst kochen?“ „Ich kann so manches, Selene. Du badest, ich koche. Dann musst du dir heute den Rücken allerdings selber schrubben.“
Nachdem Frithjof mir geholfen hat, das viele Wasser heranzuschaffen, das in diesen Bottich passt, sitze ich nun hier im Holzfass. Bemüht, mich auf seine etwas raue Art zu verwöhnen, hat er mir, ohne mich auch nur zu fragen, ein paar Tropfen Irgendwas ins Wasser gegeben. Es duftet angenehm.
Mein erstes Bad, seit ich ein Baby war. Mama hat mich als Neugeborenes im Waschbecken gebadet. Doch nur ein paar Monate später hat sie mich dann auf ihrem Arm mit unter die Dusche genommen. Ich stelle mir das recht schwierig vor. Doch Mama sagte, ich hätte immer Freude daran gehabt.
Hm. Wannen sind offiziell nicht erlaubt, weil zu viel Wasser verbraucht wird. In dem einen oder anderen alten Haus findet man trotzdem schon mal eine. Mona hatte, bis sie in den Neubau umzog, eine in der Wohnung. Doch sie haben niemals darin gebadet. Also, wenn ich eine Badewanne gehabt hätte, ich hätte sie genutzt. Es gefällt mir sehr, mich hier im Wasser zu entspannen. Vielleicht auch, weil es so neu und ungewöhnlich ist. Es fühlt sich auf jeden Fall sehr luxuriös an!
Ich lächele vor mich hin, während ich mir sachte mit der hohlen Hand das Wasser über meine Schultern schaufele. Von mir geht eine Spannung aus? Und Frithjof meinte, er hätte sofort gemerkt, dass Maya die Richtige mitgebracht hat. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. An diesem Ort wird angenommen, ich hätte magische Kräfte. Wo sollen die denn schlummern? Von wem soll ich sie haben? Von Papa, einem einfachen Arbeiter?
Er wurde auf radioaktiv verseuchtem Grund eingesetzt. Gestorben ist er sehr früh, da war ich in der zweiten Klasse. Er sagte mir immer, ich solle in der Schule gut aufpassen, damit ich mal einen Beruf mit Zukunft erlernen kann. Das habe ich getan. Bis gestern habe ich an einem äußerst wichtigen Projekt gearbeitet. Keine kleine Aufgabe. Aber nichts, im Vergleich zu dem, was sich die Leute hier so denken, vermute ich mal. Also, Papa war auf keinen Fall magisch, sonst hätte er das doch nicht mit sich machen lassen! Oder?