Pablo Picasso - Wilfried Wiegand - E-Book

Pablo Picasso E-Book

Wilfried Wiegand

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Pablo Picasso (1881-1973) war ein schöpferisches Genie, das die Formensprache der modernen Kunst maßgeblich erneuert und geprägt hat. «Jedes neue Werk von Picasso entsetzt das Publikum, bis das Erstaunen sich in Bewunderung verwandelt», schrieb ein Kunsthändler schon 1936. Dieses Buch geht dem Mythos Picasso nach, erläutert exemplarisch seine Arbeitsweise und beschreibt anschaulich seine wichtigsten Lebens- und Werkphasen. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 170

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wilfried Wiegand

Pablo Picasso

 

 

 

Über dieses Buch

Pablo Picasso (1881–1973) war ein schöpferisches Genie, das die Formensprache der modernen Kunst maßgeblich erneuert und geprägt hat. «Jedes neue Werk von Picasso entsetzt das Publikum, bis das Erstaunen sich in Bewunderung verwandelt», schrieb ein Kunsthändler schon 1936. Dieses Buch geht dem Mythos Picasso nach, erläutert exemplarisch seine Arbeitsweise und beschreibt anschaulich seine wichtigsten Lebens- und Werkphasen.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Wilfried Wiegand, Dr. phil., Dr. phil. h.c., wurde 1937 in Berlin geboren. Er war Journalist und Kunsthistoriker mit den Forschungsschwerpunkten Kunstgeschichte der Fotografie und Theorie und Praxis der Kunstkritik. Er arbeitete als Redakteur für die «Die Welt», den «SPIEGEL» und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», deren Feuilletonredaktion er von 1986 bis 1996 leitete. Seit 2003 Lehrauftrag am Institut für Kunst- und Musikwissenschaft, seit 2008 Professor für Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Dresden. Der Autor starb 2020 in Berlin.

Veröffentlichungen zur Ästhetik Andy Warhols (1972, mit Rainer Crone) und zur Geschichte der Fotografie.

 

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2020

Copyright © 1973 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für das E-Book wurde der gesamte Text vom Autor überarbeitet und aktualisiert

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

 

Covergestaltung Werner Rebhuhn

Coverabbildung © Man Ray 2015 Trust/VG Bild-Kunst, Bonn 2020 – Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_d027778 (Pablo Picasso. Foto von Man Ray, 1932/33. Köln, Museum Ludwig)

ISBN 978-3-644-00800-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Spanien

«Vielleicht ist es unbillig, von einem Spanier etwas anderes zu erwarten als das Außerordentliche …»

José Ortega y Gasset[1]

Pablo Picasso wurde am 25. Oktober 1881 in Málaga (Andalusien) im Haus Plaza de la Merced Nr. 36 (heute: Nr. 15) geboren. Beide Eltern stammten aus Málaga. Dass die Mutter, María Picasso de Ruiz, von einem Genueser Porträtmaler namens Matteo Picasso abstammen soll, wurde von Picasso geleugnet und auch von den meisten Kunsthistorikern bezweifelt: «Der Name Picazo findet sich schon in den Chroniken über die Wiedereroberung Spaniens im 14. Jahrhundert», bemerkt dazu der spanische Forscher Lafuente Ferrari, «um 1850 malt ein Juan Picazo bereits Bilder in der Provinz Málaga […]. Man braucht also zur Erklärung des Namens Picasso nicht bis nach Genua zu gehen.»[2] Die Vorfahren väterlicherseits lassen sich bis auf den niederen Adel der Provinz León (15. Jahrhundert) zurückverfolgen; unter ihnen befanden sich mehrere Geistliche: einer von ihnen wurde im 17. Jahrhundert Bischof von Lima, und ein Onkel Picassos war Domherr von Málaga. Ein anderer Verwandter war Mönch und lebte noch im 19. Jahrhundert als Einsiedler in den Bergen bei Córdoba; er galt der Familie als Vorbild asketischer Lebensführung. Picassos Vater malte eine Blumengirlande um das Porträt des Einsiedlers, und Picasso konnte sich noch später an die Erzählungen erinnern, die er im Elternhaus gehört hatte: Der Onkel Perico aus der Familie meiner Mutter war ein Einsiedler.[3]

Der Vater Picassos, José Ruiz Blasco, war «Maler und Lehrer an der Kunstschule, außerdem Konservator eines sogenannten Museums, das mehr einem Lagerschuppen glich»[4]. Die Ausbildung an dieser «Escuela de San Telmo», der Provinz-Kunstgewerbeschule, war den akademischen Methoden des 19. Jahrhunderts verpflichtet: Der Studiensaal war vollgestellt mit Gipsabgüssen antiker Skulpturen, und auch in der Wohnung des Vaters wurden derartige Gipsstatuen aufbewahrt. Die künstlerischen Fähigkeiten des Vaters waren beschränkt: Mein Vater malte Bilder für Eßzimmer; Rebhühner oder Tauben, Tauben und Kaninchen: Fell und Federn waren darauf zu sehen. Vögel und Blumen waren seine Spezialität. Vor allem Tauben und Flieder.[5] Die wenigen erhaltenen Werke des Vaters bestätigen dies nüchterne Urteil: Es sind anekdotisch aufgefasste Tierbilder, keine Prunkstücke für Salon oder Museum, sondern bescheidener Schmuck für die Speisezimmer des Provinz-Bürgertums.

Durch seinen Vater erlernte Pablo schon als Kind das Handwerk der Malerei: Er «war ein Frühentwickler und die Freunde des Vaters erkannten schnell die außergewöhnliche Begabung des Knaben, der nach einiger Zeit die Technik des Aquarells und der Ölmalerei beherrschte»[6]. In der Geschichte der Malerei ist Picasso eines der ganz seltenen Wunderkinder. Und wie im Leben fast aller Wunderkinder wurde die Erziehung auch hier von der Furcht geleitet, ohne Drill könne der durch die Begabung vielleicht mögliche soziale Aufstieg nicht zustande kommen. So wurde Picasso vom Vater nicht nur zum Nachzeichnen der Gipsfiguren angehalten, sondern auch für das «Natur»-Studium zwang er dem Kind eine unschöpferische Methode auf: Mein Vater schnitt einer Taube die Füße ab, nagelte sie in der Stellung, die ihm richtig schien, an einem Brett an, und dann zeichnete ich sie ganz genau nach, bis er zufrieden war.[7] Schon bald hat der Vater sich die Arbeit mit dem Sohn geteilt. «Pablo erzählte mir», schreibt noch Jahrzehnte später ein Freund, «wie sein Vater, der als Maler oft Tauben zeichnete, ihn die Füße fertigzeichnen ließ – der Vater hatte genug von Taubenfüßen.»[8]

Immerhin hat der Vater seinem Sohn mit solchen Verfahren nicht nur technische Fertigkeiten vermittelt, sondern ihn auch auf einige Bildmotive aufmerksam gemacht, die in dessen späterem Werk eine leitmotivische Bedeutung bekommen wie die Taube und den Stierkampf, zu dem der Vater den Knaben jetzt häufig mitnahm. Picasso hat dem Vater trotz des Drills, der ihn um die kreative Freiheit der Kinderjahre betrog, lebenslang ein Gefühl der Dankbarkeit bewahrt. Als er 1943 gefragt wurde, warum so viele Männer auf seinen Zeichnungen bärtig seien, antwortete er: Ja, alle haben einen Bart … Und wissen Sie, warum? Jedesmal, wenn ich einen Mann zeichne, denke ich unwillkürlich an meinen Vater … Ein Mann, das ist für mich immer «Don José», und das wird mein Leben lang so bleiben … Er trug einen Bart … In allen Männern, die ich zeichne, sehe ich mehr oder weniger meinen Vater …[9]

Andererseits offenbart Picassos künstlerisches Lebenswerk, wie gespalten das Verhältnis zum Vater war. Nicht der Respekt vor dessen akademischen Kunstidealen, sondern das Aufbegehren dagegen bleibt der Motor seines Schaffens.

Zu den ältesten Werken, die sich von Picasso erhalten haben, gehören einige Bleistiftzeichnungen aus dem Jahre 1890. Die Blätter des Neunjährigen zeigen Tauben, Stierkampfszenen und eine antike Herkulesstatue. Aus dem folgenden Jahr gibt es die Zeichnung mit dem Kopf einer Katze. Er ist von vorn aufgenommen, und trotz der noch etwas unsicheren Linienführung verrät sich in einigen genau beobachteten Einzelheiten wie den schlitzförmigen Pupillen ein erstaunliches Bemühen um selbständige Naturbeobachtung. Der Matador (oder: Der kleine Picador), ein wohl schon 1889 entstandenes kleines Bild, zeigt einen Stierkämpfer und ist unverkennbar das Werk eines Kindes, wenn man von der Technik absieht, denn das Bild ist in Öl gemalt. Picassos Äußerung Etwas Merkwürdiges ist, daß ich nie Kinderzeichnungen gemacht habe, niemals, auch nicht, als ich noch ganz klein war[10] ist also nicht richtig, sofern man den Stil meint; sie ist zutreffend, sobald man sie auf die Technik bezieht. Seit 1893 haben sich zahlreiche skizzenhafte Ölbilder Picassos erhalten.

Mitte September 1891, als Picasso knapp zehn Jahre alt war, verließ die Familie, zu der noch zwei Schwestern gehörten, die Stadt Málaga und zog nach La Coruña in der Provinz Galicien. Der Vater hatte in La Coruña eine Stelle als Zeichenlehrer am «Instituto de Guarda» bekommen. Für das Familienleben jedoch bedeutete dieser Umzug eine Verschlechterung. Das regnerische Atlantik-Klima wirkte auf den Vater deprimierend; außerdem vermisste er den Umgang mit seinen Malerfreunden in Málaga: In La Coruña verließ mein Vater nie das Haus, außer um in die Kunstgewerbeschule zu gehen. Kam er dann heim, so malte er. Doch mehr tat er nicht. Die übrige Zeit saß er am Fenster und sah zu, wie es regnete …[11]

Picassos Geschmack folgte dem des Vaters. Ein Ölbild aus dem Jahre 1891, das ein sitzendes altes Paar zeigt, bleibt noch steif in der Anordnung der Figuren, ahmt in der Malweise jedoch jene altmeisterliche Genremalerei nach, die auch das Vorbild des Vaters war. Anerkennungen blieben nicht aus. So wurde Picasso als Elfjähriger in die Kunstschule von La Coruña aufgenommen. Ob die Anekdote, er habe damals im Eingang eines Schirmmacher-Geschäfts seine erste Kunstausstellung veranstaltet, auf Wahrheit beruht, bleibt ungewiss. Nach Picassos Schilderung hat der Vater ihm damals feierlich seine Malutensilien übergeben und von nun an selber aufs Malen verzichtet: Da gab er mir seine Farben und seine Pinsel und hat nie mehr gemalt.[12] Im Jahre 1895 verbrachte die Familie den Sommer bei Verwandten in Málaga; Picasso begegnete dabei seiner Kindheitsliebe, der Cousine Carmen Blasco. Im folgenden Jahr wechselte die Familie dann zum letzten Mal den Wohnort: Der Vater wurde Lehrer an der Provinzial-Kunstschule «La Lonja» in Barcelona.

Doch auch in der Großstadt blieb der Vater außerstande, die auf ihm seit dem Fortgang aus Málaga lastende Melancholie zu überwinden. Picassos späterer Freund Jaime Sabartés hat das trübselige Leben des Vaters nach Erzählungen von Picasso geschildert: «Einmal täglich geht er in die Schule, die drei Schritte von seiner Wohnung entfernt ist, und kommt dann wieder nach Hause. Darin besteht sein ganzer Tageslauf. Die nahe Entfernung steigert nur die Eintönigkeit dieses Daseins. […] In Barcelona malt Don José nicht mehr.»[13] Von seinem einstigen Leben war ihm nichts geblieben: Weder Málaga noch Stiere noch Freunde noch irgendwas sonst.[14]

In Picassos seit 1895 – zum Teil also noch in La Coruña – entstandenen Werken wurde jetzt das Vorbild spanischer Maler des 17. Jahrhunderts deutlich. Durch Besuche im Prado während einer kurzen Madrid-Reise im Juli 1895 wurde dieser Einfluss noch verstärkt. Picassos neue Bilder zeigen eine Auseinandersetzung mit der Hell-Dunkel-Malerei Francisco de Zurbaráns, Jusepe de Riberas und des frühen Diego Velázquez. Durch die Beschäftigung mit diesen Vorbildern hat Picasso sich trotz seiner immer noch etwas starren Bildkompositionen einen neuen Ausdrucksgehalt erarbeitet. Auf seinen Bildern wird jetzt oft eine einzelne Figur in die Mitte gerückt und erscheint dadurch in ihrer Wichtigkeit betont; durch den möglichst kargen Hintergrund wirkt die Figur wie von ihrer Umwelt isoliert, und auch die stumpfen, erdigen Farben, die Picasso in diesen Bildern verwendet, verstärken noch den Eindruck einer melancholischen Stimmung. Das 1895 entstandene Mädchen mit nackten Füßen, wahrscheinlich ein Porträt der älteren Schwester Lola, bildet das beste Beispiel für diesen neuen Stil, der zum ersten Mal in Picassos Schaffen einen persönlichen Ausdruck zeigt. Zwar stehen die Stuhlbeine perspektivisch nicht korrekt, aber die Ausdrucksgewalt des vierzehnjährigen Künstlers ist verblüffend. Jene in Spanien jahrhundertelang kultivierte und in unzähligen Dichtungen geschilderte Einsamkeitsstimmung der «soledad» – die für Picasso ja keineswegs nur durch Literatur vermittelt war, sondern die er nur zu gut aus dem Alltag seiner Familie kannte – erscheint damit zum ersten Mal in seinem Werk.[15] Später, besonders in der Blauen Periode (deren wichtigste Bilder er bezeichnenderweise nicht in Paris, sondern in Spanien malen wird), beherrscht dieses Lebensgefühl dann jahrelang seine Kunst.

Schon wenige Monate nach Ankunft in Barcelona konnte Picasso einen weiteren Erfolg verbuchen: Als Fünfzehnjähriger bestand er die Aufnahmeprüfung an der Kunstschule «La Lonja». Der Wunsch nach einer unabhängigeren Lebensführung wurde von Picassos Vater respektiert. Er richtete dem Sohn 1896 ein eigenes Atelier ein, freilich in unmittelbarer Nähe der elterlichen Wohnung. Dort ist das Ölgemälde Wissenschaft und Nächstenliebe entstanden, das einen Arzt und eine Schwester an einem Krankenbett zeigt. Der Entwurf des Bildes stammt von Picassos Vater, der auch für die Gestalt des Arztes Modell saß. Der Vater kannte den Geschmack seiner Kollegen, und so wurde diese realistisch gemalte Allegorie auf die Gleichwertigkeit von religiöser Tugend und wissenschaftlicher Erkenntnis auf der Nationalausstellung der Schönen Künste in Madrid prompt mit einer «ehrenvollen Erwähnung» bedacht. In der Heimatstadt Málaga hatte der Vater bessere Beziehungen. Als das Bild anschließend auf der dortigen Provinz-Kunstausstellung gezeigt wurde, erhielt es eine Goldmedaille.

Noch im Jahre 1897 fuhr Picasso nach Madrid, wo er vor allem die Unabhängigkeit vom Elternhaus gesucht zu haben scheint, wenngleich diese vorerst eine innere bleiben musste. Denn auch dieser Madrid-Aufenthalt war nur durch eine finanzielle Zuwendung seiner Familie möglich. In Madrid wurde Picasso in die «Schule von San Fernando» aufgenommen. Abgesehen von diesem erneuten Erfolg dürfte das Leben, das Picasso in Madrid geführt hat, jedoch kaum den Wünschen des Vaters entsprochen haben, der eine akademische Laufbahn und zumindest ein Stipendium für den Sohn erhoffte. Picasso besuchte zwar den Prado, zog es im Übrigen aber vor, die Straßen der Hauptstadt zu durchstreifen und private Kontakte mit jungen Künstlern anzuknüpfen. Die Kurse der Akademie, deren Schüler er offiziell war, hat er kein einziges Mal besucht: Warum sollte ich denn hingehen? Warum denn?[16]

Nachdem Picasso an Scharlach erkrankt war, reiste er, noch geschwächt, unmittelbar nach der Genesung zurück nach Barcelona. Um die Jahreswende 1897/98 traf er wieder bei den Eltern ein. Nach kurzem Aufenthalt folgte er dem Rat seines Freundes Manuel Pallarés und erholte sich in dem katalanischen Dorf Horta, in dem die Familie Pallarés ein Haus besaß. Picasso musste sich dort der überaus einfachen Lebensweise der Bauern anpassen, und er scheint sich damit sehr identifiziert zu haben. Er unternahm zahlreiche Streifzüge durch die umgebende Landschaft, wobei er auch gezeichnet hat; das Erlebnis der von Höhlen zerklüfteten, menschenarmen Gebirgslandschaft hat ihm einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Picasso scheint zum ersten Mal die Natur als etwas Urtümliches erlebt zu haben. Und damit ist ihm wohl zum ersten Mal der Grundgedanke romantischer Kunsttheorie klargeworden: dass nämlich die eigentliche Schönheit etwas Ursprüngliches sei, das durch akademische Kunstregeln nur verborgen werde und sich vielmehr in der Natur oder in den einfachen Bräuchen des Volkes offenbare. Diese Erkenntnis bedeutete den Bruch mit der akademischen Denkweise des Vaters. Von diesem Moment an hat Picasso bis an sein Lebensende den Künstler als einen geistigen Abenteurer verstanden, der nicht die vermeintliche Sicherheit des Akademischen, sondern das ästhetische Risiko suchen solle.

Im Kubismus hat Picasso diese Denkweise später in ein malerisches System gebracht. Und es ist kein Zufall, dass er, als die Möglichkeiten dieses neuen Stils sich in seinem Werk abzeichneten, ausgerechnet nach Horta fuhr und dort einige Bilder malte, die den Kubismus entscheidend mitbestimmten. Der Gedanke, das künstlerische Schaffen sei der Durchstoß zu einer ursprünglichen Wahrheit, wie er sich beim Aufenthalt des Sechzehnjährigen in Horta herausgebildet hatte, wurde bestimmend für Picassos geistige Entwicklung. Nur so wird sein späteres Bekenntnis verständlich: Alles, was ich weiß, habe ich in Pallarés’ Dorf gelernt.[17]

Nicht nur Picasso entwickelte im Jahre 1898 ein neues Selbstverständnis – das Jahr sollte das wichtigste der neueren spanischen Geschichte werden. Die USA hatten zahlreiche kubanische Erhebungen gegen die spanische Kolonialmacht als willkommenen Vorwand benutzt, um ihren außenpolitischen Einfluss in der Karibik auszudehnen. Sie nahmen eine Beschützerrolle in Anspruch, und als die Spanier diese Einmischung ablehnten und im April 1898 im Hafen von Havanna ein amerikanisches Kriegsschiff versenkten, zerstörten die USA kurzerhand die spanische Flotte; der Spanisch-Amerikanische Krieg war zu Ende. Im Frieden von Paris wurde Spanien am 10. Dezember 1898 zur Abtretung von Kuba gezwungen; die Insel wurde formell Republik, stand nun tatsächlich jedoch unter Oberhoheit der USA. Der Zusammenbruch des Kolonialreichs bedeutete das Ende der Illusion, Spanien sei noch immer jene Weltmacht, die es einst gewesen war.

Die Erschütterung, die der Spanisch-Amerikanische Krieg im liberalen Bürgertum auslöste, äußerte sich in einer geistigen Erneuerungsbewegung. Die führenden Schriftsteller des Landes begannen, ein neues spanisches Selbstverständnis zu fordern, das die Autoren dieser sogenannten «Generation von 1898» entweder, wie Miguel de Unamuno, in einer Rückbesinnung auf die große Vergangenheit oder, wie Joaquín Costa und später auch José Ortega y Gasset, in einer «Europäisierung» des Landes sahen.[18] Beide Forderungen – die nach Europäisierung und die nach einem neuen Nationalstolz – fanden auch in der Kunst einen Niederschlag. Picasso sollte es in Barcelona schon bald erfahren.

Die Nachricht vom Ausgang des Spanisch-Amerikanischen Krieges hatte Picasso in Horta erreicht, und Anfang 1899 kehrte er nach Barcelona zurück. Dort begann er nun in Atelierwohnungen zu leben und sich zur Lebensweise eines Bohemiens zu bekennen. Der junge Schriftsteller Jaime Sabartés hörte durch einen Freund im Jahre 1899 von einem «[…] jungen Andalusier […], der malt, zeichnet und noch alles mögliche sonst treibt», womit Picasso gemeint war. Sabartés wurde neugierig, erlebte jedoch in seiner Umgebung das Vorurteil der «modernen» Katalanen gegenüber dem «rückständigen» Andalusien, das außer seinen folkloristischen Traditionen nichts zu bieten habe. «Für einen Bürger Barcelonas», erinnert sich Sabartés, «[…] klingt das Wort ‹Andalusier› wie eine Schelle, welche Neugier weckt, denn bei uns pflegt man es nicht ohne eine widerwillige Grimasse auszusprechen. In der Vorstellung meiner Landsleute ist ‹Andalusier› gleichbedeutend mit Torero, Zigeuner […], und für einen Katalonier aus Barcelona, der dem Mittelstand angehört, sind das fremdländische Dinge, die mit unseren Sitten und Gebräuchen nichts gemein haben. Ein Andalusier? Das bedeutet eine auf Taille geschnittene Hose, eine kurze Weste, einen cordovanischen Sombrero, Brot und Stierkämpfe. Uff …»[19] Sabartés allerdings war frei von solchen Vorurteilen, und nicht nur ihn, sondern auch viele andere junge Künstler und Literaten gewann Picasso jetzt in Barcelona zu Freunden.

Picassos andalusische Herkunft wird sich in seinem späteren Werk äußern. Denn Picassos lebenslanger Widerspruch, seine ganze Kunst zwar zu einer großen Selbstbiographie zu machen, sich darin jedoch nach Möglichkeit nur in Masken, Rollen und Symbolen auszusprechen, lässt sich vielleicht auch ableiten aus jener Neigung der Andalusier, «sich darzustellen und Schauspieler ihrer selbst zu sein […]. Sich selber nachahmen kann nur, wer fähig ist, Zuschauer seiner eigenen Person zu sein; und dazu ist nur fähig, wer die Gewohnheit besitzt, sich selbst zu sehen und zu beobachten und sich am eigenen Bild und Wesen zu ergötzen», sodass die Andalusier oft «gewissermaßen zweimal sie selbst sind».[20]

Der Künstlerkreis, in dem Picasso jetzt verkehrte, war die Avantgarde Barcelonas. Ihr Treffpunkt war das Restaurant «Els 4 Gats», das 1897 von dem Maler Pere Romeu als Nachahmung von Aristide Bruants Pariser Künstlercafé «Le Chat noir» gegründet worden war. Der Architekt und Kunsthistoriker Josep Puig i Cadafalch hatte das Restaurant auf Wunsch von Romeus Frau, einer Engländerin, im Stil englischer Gotik eingerichtet. In dem Restaurant lagen regelmäßig ausländische Zeitschriften aus, und drei kurzlebige spanische Kunstzeitschriften wurden von Mitgliedern dieses Kreises herausgegeben. Eine dieser Zeitschriften hieß «Joventut» [Jugend] und gab so schon durch ihren Namen ihr Vorbild zu erkennen: jenen internationalen Stil, der nach der Münchner Zeitschrift «Jugend» in Deutschland schon bald Jugendstil genannt wurde. «Joventut» war voll von Abbildungen moderner deutscher, englischer und französischer Kunst. Im Kreis der «4 Gats» beschäftigte man sich jedoch auch mit der internationalen Dichtung des Symbolismus; es wurde deutsche und französische Lyrik gelesen, man studierte den Romantiker Novalis und begeisterte sich für die Musik Richard Wagners. Schon bald wurden in den Zeitschriften «Joventut» und «Pèl y Ploma» auch Werke Picassos abgebildet, der mittlerweile selber ein Künstler des Jugendstils geworden war.

Picasso war im Kreise der «4 Gats» mit den wichtigsten künstlerischen Strömungen des Auslands bekannt geworden. Er kannte die Linienkunst des deutschen Jugendstils ebenso wie die Sozialkritik der französischen Graphiker Henri de Toulouse-Lautrec und Théophile Steinlen, die gefühlvolle Spätromantik der englischen Präraffaeliten und die raffinierte Flächendekoration der Wiener Kunst. Daneben wurde Picasso von seinen Freunden mit einer ihm bislang unbekannten spanischen Kunsttradition bekannt gemacht. Während er bisher die Klassiker wie Velázquez und Francisco de Goya studiert hatte, zeigten seine Freunde ihm jetzt die vereinfachte Erzählweise der katalanischen Wandmalerei des Mittelalters. Der in den «4 Gats» verkehrende Maler und Kunstkritiker Miguel Utrillo trat für die Anerkennung des damals von der offiziellen Kritik noch abgelehnten Malers El Greco ein[21]; und selbst die bizarren Jugendstil-Bauten, die Antonio Gaudí in Barcelona errichtete, waren gemeint als Rückkehr zum spanischen Mittelalter.[22] Picasso hat sich damals redlich bemüht, die Begeisterung seiner Freunde für die Idee einer selbständigen katalanischen Kultur mitzuvollziehen; wichtiger wurde für den geborenen Andalusier jedoch die umfassendere Vorstellung des Mittelmeers als einer Wiege europäischer Kunst. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Picasso nach Südfrankreich zieht, wird er sich dieses stolzen Glaubensbekenntnisses erinnern und es in seinem Spätwerk zur Anschauung bringen.