Pakt des Blutes - Ariel Tachna - E-Book

Pakt des Blutes E-Book

Ariel Tachna

0,0

Beschreibung

Fortsetzung zu Allianz des Blutes Buch 2 in der Serie - Blutspartnerschaft Magier und Vampire haben eine Allianz geschmiedet, die auf Partnerschaften des Blutes und der Magie gründet. Sie hoffen, damit dem Krieg gegen die dunklen Magier eine entscheidende Wendung geben zu können. Einige Partnerschaften sind ebenso erfolgreich, wie die zwischen Alain Magnier und Orlando St. Clair. Auf andere trifft das nicht zu. Es kommt zu Streit, Vorwürfen und sogar offener Feindschaft zwischen den Partnern, obwohl sie durch ein gemeinsames Ziel verbunden sind. Thierry Dumont ist entschlossen, dem Beispiel seines besten Freundes Alain zu folgen. Er ist mit dem Vampir Sebastien Noyer eine Partnerschaft eingegangen. Obwohl er sich, so kurz nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau, in der Nähe des Vampirs – eines Mannes – unbehaglich fühlt. Aber sie stellen fest, dass ihre gemeinsame Verzweiflung die beste Voraussetzung ist, um einen Bund zu schließen. Thierry und Sebastien stellen den Schutz ihres Partners über alles und unterstützen sich vorbehaltlos. Durch die Erfolge der Allianz bestärkt, beschließen das Oberhaupt der Magier und der Chef de la Cour der Vampire, ihr neues Bündnis der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Sie erhoffen sich dadurch zusätzliche Unterstützung in ihrem Kampf gegen die dunklen Magier, die das Leben auf der Erde in seiner bisherigen Form zu vernichten drohen. Aber die Allianz erleidet auch Rückschläge, denn die Partnerschaften bringen nicht nur Vorteile mit sich, sondern gefährden auch das magische Gleichgewicht der Erde. Und diese Gefahr könnte sich als größer erweisen, als der Krieg selbst.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 857

Veröffentlichungsjahr: 2015

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Zusammenfassung

Widmung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

Personenverzeichnis

Mehr Bücher von Ariel Tachna

Biographie

Von Ariel Tachna

Besuchen Sie Dreamspinner Press

Copyright

Covenant in Blood

 

 

Von Ariel Tachna

Buch 2 in der Serie – Blutspartnerschaft

 

Magier und Vampire haben eine Allianz geschmiedet, die auf Partnerschaften des Blutes und der Magie gründet. Sie hoffen, damit dem Krieg gegen die dunklen Magier eine entscheidende Wendung geben zu können. Einige Partnerschaften sind ebenso erfolgreich, wie die zwischen Alain Magnier und Orlando St. Clair. Auf andere trifft das nicht zu. Es kommt zu Streit, Vorwürfen und sogar offener Feindschaft zwischen den Partnern, obwohl sie durch ein gemeinsames Ziel verbunden sind. 

Thierry Dumont ist entschlossen, dem Beispiel seines besten Freundes Alain zu folgen. Er ist mit dem Vampir Sebastien Noyer eine Partnerschaft eingegangen. Obwohl er sich, so kurz nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau, in der Nähe des Vampirs – eines Mannes – unbehaglich fühlt. Aber sie stellen fest, dass ihre gemeinsame Verzweiflung die beste Voraussetzung ist, um einen Bund zu schließen. Thierry und Sebastien stellen den Schutz ihres Partners über alles und unterstützen sich vorbehaltlos. 

Durch die Erfolge der Allianz bestärkt, beschließen das Oberhaupt der Magier und der Chef de la Cour der Vampire, ihr neues Bündnis der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Sie erhoffen sich dadurch zusätzliche Unterstützung in ihrem Kampf gegen die dunklen Magier, die das Leben auf der Erde in seiner bisherigen Form zu vernichten drohen. Aber die Allianz erleidet auch Rückschläge, denn die Partnerschaften bringen nicht nur Vorteile mit sich, sondern gefährden auch das magische Gleichgewicht der Erde. Und diese Gefahr könnte sich als größer erweisen, als der Krieg selbst.

Für meine Adoptivschwestern Nancy, Holly, Connie, Cat, Carol, Madeleine, Gwen und Julianne, die den Text wieder und wieder gelesen und Verbesserungsvorschläge gemacht haben. Ohne euch wäre dieser Traum nicht wahrgeworden.

1

 

 

DER SONNENAUFGANG kündete den Beginn einer neuen Ära an. Marcel Chavinier, der General der Milice de Sorcellerie und Kommandeur ihrer Truppen im Krieg gegen die rebellierenden dunklen Magier, war zufrieden und fühlte sich in seiner Entschlossenheit bestärkt, die junge Allianz mit den Vampiren zum Erfolg zu führen. Er und seine Magier standen der Gefahr endlich nicht mehr allein gegenüber. Er sah sich in dem abgelegenen kleinen Wartesaal des Gare de Lyon um und stellte fest, dass jeder seiner zwanzig Magier, die an dem soeben siegreich beendeten Kampf teilgenommen hatten, jetzt von einem Vampir begleitet wurde, mit dem er die Kraft seiner Magie teilte. Es war die Frucht der Allianz, die er mit Jean Bellaiche, dem Chef de la Cour der Pariser Vampire, vor sechs Tagen geschlossen hatte. Das Bündnis hatte seinen ersten Test bestanden. Vampire und Magier hatten Seite an Seite gegen Serriers Schergen gekämpft, zwanzig Paare gegen zwanzig dunkle Magier. Sie hatten fünfzehn Gefangene gemacht, die anderen fünf dunklen Magier waren getötet worden. Aber sie selbst hatten keine Verluste zu beklagen, und das war ein großer Erfolg, vor allem wenn man bedachte, wie überraschend schnell der Kampf zu Ende gewesen war.

Natürlich mussten die praktischen Details der Allianz noch ausgearbeitet werden. Marcels Blick fiel auf einen seiner führenden Offiziere, Alain Magnier, und dessen Partner, Orlando St. Clair. Die beiden gaben ihm Hoffnung, dass alles gut gehen würde. Marcel konnte kaum glauben, wie schnell die beiden Männer zueinander gefunden hatten. Schon wenige Tage nach ihrem ersten Treffen war Alain mit Orlando freiwillig den tiefsten Bund eingegangen, den es für einen Vampir gab. Aber Alain schien darüber glücklich zu sein, und der alte Patriarch, der sich unter Marcels militärischer Fassade der letzten Jahre verborgen hielt, war darüber sehr zufrieden. Viele der jungen Magier, die er in den Kampf schickte und die vielleicht fallen würden, waren für ihn wie die eigenen Kinder, die er nie gehabt hatte. Das galt insbesondere für Raymond Payet, der sich von Serrier losgesagt und in dem Chef de la Cour höchstpersönlich seinen Partner gefunden hatte. Marcel hatte seine Zweifel, ob diese Partnerschaft erfolgreich sein würde. Raymond war ein sehr misstrauischer Mensch; dass er jetzt gezwungen war, sein Blut regelmäßig mit einem Vampir zu teilen, war nicht gerade dazu angetan, ihm dieses Misstrauen zu nehmen. Marcel hatte Raymond und den anderen Magiern versprochen, dass sie nur so viel Blut geben mussten, wie die Vampire brauchten, um auch bei Tageslicht kämpfen oder auf Patrouille gehen zu können. Dieses Versprechen wollte er halten. Die neue Entwicklung kam ihm wie ein schlechter Scherz vor. Wer hätte gedacht, dass das Blut des richtigen Magiers es einem Vampir erlauben könnte, die tödlichen Sonnenstrahlen zu überleben? Er selbst hätte es nicht im Traum für möglich gehalten, aber Alain und sein zweiter Leutnant, Thierry Dumont, hatten ihn eines Besseren belehrt.

Marcel sah Thierry und dessen Partner an. Sebastien Noyer war das schwarze Schaf der Pariser Vampire, wenn man Bellaiches schockierter Reaktion auf Noyers Erscheinen heute Nacht glauben durfte. Marcel hielt die Partnerschaft zwischen Thierry und Noyer für durchaus passend, denn Thierry war auch nicht gerade dafür bekannt, sich an die Regeln zu halten. Er hoffte nur, dass Bellaiche – Jean! – seine Vorbehalte gegen Noyer zurückstellen konnte, wenn es darauf ankam, und sei es nur für das Gelingen der Allianz.

Siebzehn weitere Partnerschaften, die sich heute gefunden hatten, standen im Raum verstreut und bewachten die dunklen Magier, die sie gefangen genommen hatten. Gemeinsam, Vampir und Magier, flankierten sie die Gefangenen und verhinderten jeden Fluchtversuch. Marcel beobachtete die Gefangenen und sah die Blicke, mit denen die jüngeren von ihnen bei ihren erfahreneren Gefährten Trost suchten. Er kannte einige von ihnen persönlich, andere hatte er noch nie gesehen. Es bereitete ihm Sorgen, dass Serrier offensichtlich auch außerhalb von Paris Gefolgsleute rekrutierte. Aber im Moment konnte er nichts dagegen unternehmen. Dazu brauchte er mehr Hintergrundinformationen. Vielleicht war es möglich, von den Gefangenen mehr zu erfahren.

Mit einer Handbewegung sorgte er dafür, dass die dunklen Magier nicht mehr sehen und hören konnten, was um sie herum geschah. „Jetzt können sie uns nicht mehr belauschen“, verkündete er. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bevor Serrier Suchtrupps aussendet; aber bis dahin sollten wir von hier verschwunden sein. Wir müssen sie ins Hauptquartier bringen, wo wir sie in Ruhe verhören können.“

Die Worte des Generals lösten eine gewisse Unruhe aus und die Vampire zogen sich in den Schutz der hintersten Wand zurück. „Was …?“ Thierry wunderte sich über die Reaktion seines Partners und der anderen Vampire. Dann dämmerte es ihm. Die Sonne ging schon auf und keiner von ihnen, mit Ausnahme von Orlando, hatte genug Blut getrunken, um ihre Strahlen zu überleben. Thierry sah sich im Wartesaal um. In seinem gegenwärtigen Zustand war der Raum nicht geeignet, um die Intimität zu bieten, die dafür nötig war. Er wusste aus Bellaiches früheren Erklärungen, dass die Vampire niemals in einem so öffentlichen Rahmen trinken würden.

Orlando fühlte das übliche Unwohlsein, als der Tag anbrach. Aber er widerstand dem Impuls, an der Wand Sicherheit zu suchen. Die großen Fenster waren an der Nordseite. Es würde noch Stunden dauern, bevor die Sonne direkt in den Raum schien. Und selbst wenn das geschah, wusste er, dass er ihre Strahlen nicht fürchten musste. Es konnte immer noch Alains Magie in seinen Adern fühlen, die ihn mit ihrem schützenden Mantel umgab. Orlando wandte sich den anderen Vampiren zu. „Seht her“, sagte er und ging, im Vertrauen auf die Wirkung von Alains Magie, zur Tür.

Alain musste sich zusammenreißen, um ihn nicht von der Tür wegzuziehen. Seit Orlandos letztem Biss waren Stunden vergangen und sie wussten immer noch nicht, wie lange die Wirkung genau anhielt. Aber Orlando würde seine Einmischung nicht sehr schätzen, dazu war er zu unabhängig und eigenwillig. Außerdem vertraute Alain darauf, dass Orlando nicht unbedacht handeln würde. Wenn Orlando sich noch sicher fühlte, konnte Alain das akzeptieren und seine eigenen Ängste zurückstellen. Trotzdem fühlte er sich unwohl, als Orlando durch die Tür auf den Bahnsteig trat, direkt in das strahlende Sonnenlicht. Dort blieb er einige Minuten grinsend stehen. Er hob den Kopf und genoss es sichtlich, sich von der wärmenden Herbstsonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Orlando hatte den ganzen Tag im Freien verbracht, aber das Erlebnis war noch so neu für ihn, dass er es immer noch in vollen Zügen genießen konnte. Nach einigen Minuten kam er in den Wartesaal zurück. Er hatte den anderen Vampiren nur zeigen wollen, dass sie keine Angst vor der Sonne haben mussten, wenn sie nur genug Magierblut von ihren Partnern getrunken hatten.

Alain kam ihm entgegen und suchte in Orlandos Gesicht und an seinen Händen nach Spuren der aschgrauen Farbe, die das erste Anzeichen der Verbrennungen war, die Orlando sich zugezogen hatte, als er sich das letzte Mal zu lange ungeschützt der Sonne ausgesetzt hatte. Alain wollte ihn an sich ziehen und ihm verbieten, solche unbedachten Risiken einzugehen. Doch das wäre vor den anderen Vampiren die falsche Botschaft gewesen. Auch für ihre Partnerschaft wäre es nicht gut gewesen. Orlando war nach seiner Umwandlung zu lange misshandelt, beherrscht und gedemütigt worden. Deshalb musste Alain sich zurückhalten, so sehr er seinen Vampir auch beschützen wollte.

Die anderen Vampire, auch Jean, der am Vortag selbst in der Sonne gestanden hatte, beobachteten Orlando mit der gleichen Aufmerksamkeit. Aber sie hatten einen anderen Grund als Alain. „Und das wird für uns alle so sein?“, fragte Jude. „Bist du sicher, dass es nicht nur am Aveu de Sang liegt?“

„Bei mir hat es auch gewirkt“, erwiderte Jean. „Und ich habe keinen Avoué.“ Er sah Sebastien bedeutungsvoll an. Sebastien ließ sich durch die wortlose Anschuldigung nicht aus der Ruhe bringen, wich Jeans Blick aber auch nicht aus.

Thierry fiel auf, was zwischen den beiden Vampiren vor sich ging, doch er hatte keine Erklärung für die offensichtliche Spannung, die zwischen ihnen herrschte. Er nahm sich vor, Sebastien später danach zu fragen. Sie konnten sich solche Konflikte nicht leisten, sondern mussten sich aufeinander verlassen können, nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen ihren Partnerschaften.

Nachdem Alain sich davon überzeugt hatte, dass Orlando durch seinen Ausflug in die Sonne keinen Schaden genommen hatte, wandte er sich wieder dem Wartesaal zu. Seine eigene Erfahrung war noch frisch genug, um ihm das Problem sofort klar zu machen, das der offene Raum für die Vampire darstellte.

Er ging zu Marcel. „Wir können das hier nicht machen. Das Trinken ist zu intim und der Raum zu wenig abgeschirmt“, flüsterte er ihm zu.

„Aber sie können ihn nicht verlassen“, flüsterte Marcel zurück. Er hätte die Vampire mit einer einfachen Bewegung seines Stabes an einen sicheren Ort transportieren können. Doch das hätte weder dem Zusammenhalt zwischen den Partnern gedient, noch den Vampiren die Vorteile ihrer Allianz vor Augen geführt. Marcel sah sich in dem Wartesaal um. Sie konnten die Stühle benutzen, um einen Teil des Raumes abzutrennen. Mit einer einfachen Beschwörung, die alle Geräusche unterdrückte, wäre so zumindest ein Anschein von Intimität gesichert.

„Ich kümmere mich darum“, meinte Marcel. „Versuch in der Zwischenzeit, mit Thierry zusammen herauszufinden, wer von den Gefangenen uns Informationen geben kann. Es wird länger dauern, bis alle getrunken haben, und Serrier wird uns nicht den ganzen Tag Zeit lassen.“

Alain nickte und ging zu Thierry. „Marcel will, dass wir schon mit den Verhören beginnen, während die Vampire trinken. Mit Pacotte brauchen wir es vermutlich erst gar nicht zu versuchen. Er ist zwar ihr Anführer, aber er wird uns nichts sagen.“

Sebastien hüstelte leise, als Alain so nebensächlich über das Trinken sprach. Er sah sich in dem großen Saal um, der keinerlei Intimität bot, und wollte gerade Protest einlegen, als die Stühle sich plötzlich bewegten und zu einer mannshohen Trennwand zusammenschoben.

Thierry sah auf und folgte Sebastiens Blick. „Intimität“, sagte er lächelnd. „Nicht ganz das, was ihr euch gewünscht habt; aber wir sind auch keine kompletten Ignoranten.“

Sebastien lachte leise. „Nicht jeder kennt sich mit unseren Befindlichkeiten aus, und wenn man bedenkt, wie wir uns kennengelernt haben …“

„Wir lernen dazu“, versicherte ihm Alain. „So schnell wir können. Aber du kannst uns jederzeit ansprechen, wenn es etwas gibt, das wir wissen müssen. Wie Thierry gesagt hat … Es ist nicht perfekt. Es wird jedoch wie ein abgeschlossener, kleiner Raum sein, wenn Marcel mit seiner Beschwörung erst die Geräusche unterdrückt hat. Wir werden zwar wissen, was hinter der Wand vor sich geht, aber wir werden nichts davon sehen oder hören.“ Er riskierte einen Blick zu Orlando und erkannte den Hunger in dessen Augen. Alain spürte den gleichen Hunger. Orlando musste zwar nicht trinken, aber die Erinnerung an ihren letzten Biss stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ihnen stand ein langer und ereignisreicher Tag bevor. Alain hoffte inständig, einige Minuten allein mit Orlando verbringen zu können, sei es auch nur für einen kurzen Kuss oder eine Umarmung.

Jean wusste Marcels Geste zu schätzen. Sie zeigte den Respekt des Magiers für die Bräuche der Vampire und war damit ein weiterer Grund für Jean, den General ebenfalls zu respektieren. In drei Ecken des Wartesaals waren kleine Kabinen abgetrennt, in denen die Vampire von ihren Partnern trinken konnten, ohne neugierigen Blicken ausgesetzt zu sein. Jetzt lag es an ihnen, diese Möglichkeit zu nutzen. Nach Orlandos Demonstration war klar, dass er nicht von Alain trinken musste. Die beiden konnten also nicht den Anfang machen. Damit war es Jeans Aufgabe, den anderen mit gutem Beispiel voranzugehen. Er zog eine Grimasse, als er an den Geschmack nach Furcht dachte, der in Raymonds Blut lag. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Die Sonne war schon aufgegangen und sie konnten nicht den ganzen Tag hier im Wartesaal verbringen. Serrier hatte irgendwie von ihrer Versammlung erfahren und wartete wahrscheinlich schon auf seine Leute; wenn sie nicht zurückkamen, würde er nach ihnen suchen. Sie mussten von hier verschwinden, also musste er Raymond beißen. Jean ging zu seinem Partner, der immer noch bei einem dunklen Magier stand und ihn bewachte. „Komm“, forderte er Raymond auf und ging auf eine der Kabinen zu.

Raymond warf Jean einen bösen Blick nach und folgte widerstrebend. Es blieb ihm keine andere Wahl, denn jede Weigerung würde als Verrat angesehen werden. Mit diesem Trumpf in der Hand konnte der Vampir nahezu alles von Raymond verlangen.

„Wollen wir?“, sagte Sebastien und sah Thierry fragend an.

„Ja“, erwiderte Thierry. „Ich bin gleich zurück, Alain. Wir können uns danach mit den Gefangenen beschäftigen.“ Alain nickte zustimmend und sah den beiden nach, die auf die zweite Kabine zugingen.

„Ich bin ziemlich nervös“, gab Thierry zu, als sie sich der Kabine näherten. „Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommt.“

„Ich werde dich schonend behandeln“, scherzte Sebastien, wurde aber sofort wieder ernst. „Ich habe dir da draußen auf dem Bahnsteig vertraut und du hast mich beschützt. Jetzt musst du mir vertrauen. Ich werde mich um alles kümmern.“

„Das kann ich tun“, erwiderte Thierry und meinte es ehrlich. Er und Sebastien hatten hervorragend zusammengearbeitet und sich ergänzt. Thierry konnte sich Sebastien auch bei dieser neuen Erfahrung anvertrauen.

Sie verschwanden hinter der Wand aus Stühlen. Eine plötzliche Stille umgab sie und der Rest der Welt schien nicht mehr zu existieren. Thierry konnte das Verlangen der Vampire nach Intimität verstehen. Er hob den Arm, um Sebastien sein Handgelenk zum Biss anzubieten. Es war ein spannungsgeladener und emotionaler Moment, der ihn an seinen ersten Kuss mit Aleth, seiner verstorbenen Frau, erinnerte. Schnell verdrängte er den Vergleich. Er hatte mit dieser Allianz seinen Frieden gemacht, hatte sich mit Aleth’ Tod abgefunden, als er sie vor zwei Tagen im Krematorium den Flammen übergab; und mit seinem neuen Partner war er mehr als zufrieden. Bisher hatte er nur mit Alain so gut zusammenarbeiten können. Thierry hatte keine Angst vor dieser Partnerschaft. Er hatte auch keine Angst vor dem Biss. Er war in dieser Nacht auf der Suche nach dem richtigen Partner schon oft genug gebissen worden, sodass er keine Probleme mehr damit hatte. Es war vielmehr die Intimität des Vorgangs, die ihm ein gewisses Unbehagen bereitete. Er fürchtete sich vor einer spontanen Verbindung, wie sie zwischen Alain und Orlando so offensichtlich geworden war. Verdammt, seine Frau war erst seit zwei Tagen tot! Er konnte sie nicht so schnell vergessen und einfach mit der erstbesten Person, die ihm über den Weg lief, eine neue Beziehung eingehen. Auch wenn Thierrys Ehe mit Aleth nur noch ein Scherbenhaufen gewesen war, ihr plötzlicher und grausamer Tod war ein Grund zur Trauer. Er konnte ihr Andenken nicht dadurch entehren, indem er sie schon nach zwei Tagen durch Sebastien ersetzte.

Sebastien nahm Thierrys Hand, drehte sie um und sah auf seinen Puls. „Es wird schmerzen, wenn ich dich da beiße“, sagte er und zeigte auf die Haut, die durch zahlreiche Bissspuren perforiert war.

„Es ist nur ein kurzer Schmerz“, erwiderte Thierry ruhig. Sie passten so gut zusammen. Sebastien hätte es als ausgesprochen anstrengend empfunden, mit einem Partner zusammenarbeiten zu müssen, der sich über jede Kleinigkeit beschwerte.

„Mag sein“, stimmte er Thierry zu. „Aber deshalb muss ich es nicht noch schlimmer machen. Darf ich?“ Er zeigte auf Thierrys Ärmel.

Thierry gab ihm keine Antwort, sondern schob nur den Ärmel seines Pullovers nach oben, weil er das nicht Sebastien überlassen wollte. Als er Sebastiens weiche Lippen und Zunge auf seiner Haut fühlte, schloss er die Augen. Der Vampir machte sich nicht die Mühe, seinen Berührungen eine besonders erotische Note zu verleihen, aber das änderte nichts an Thierrys Reaktion, als er die Lippen und Zähne Sebastiens wie die Liebkosung eines Geliebten am Arm spürte.

Sebastien konnte Thierrys Anspannung fühlen und wollte seinen Biss deshalb nicht länger hinauszögern. Er fuhr mit den Zähnen über die Haut und biss zu. Warmes Blut füllte seinen Mund. Er hatte Thierry zwar schon zuvor geschmeckt, aber erst jetzt konnte er den Geschmack, der so viel über diesen Mann verriet, richtig genießen.

Wieder spürte er die Stärke und Entschlossenheit Thierrys, die den Magier zu einem zuverlässigen und treuen Partner ihrer Allianz machte. Er schmeckte die überwältigende Trauer, die alle anderen Gefühle zu überlagern drohte. Sebastien saugte stärker an Thierrys Arm und ließ sich von dem Blut stärken, dessen Magie sich in ihm ausbreitete und ihn schützend umhüllte. Mit jedem Schluck wuchs auch Sebastiens Entschlossenheit. Jean mochte ihn hier nicht sehen wollen, wünschte ihn wahrscheinlich ins tiefste Höllenfeuer. Aber Sebastien wollte an Thierrys Seite stehen und mit ihm gemeinsam kämpfen, bis der letzte dunkle Magier besiegt war. Für einen kurzen Augenblick fühlte er eine Seelengemeinschaft mit Thierry, wie er sie seit dem Tod seines Avoué vor vierhundert Jahren für keinen Menschen mehr empfunden hatte.

Nachdem Sebastien genug getrunken hatte, hob er den Kopf und streckte die Hand aus. Thierry griff zu und sie besiegelten ihren Vertrag mit einem festen Händedruck. „Vielen Dank, mein Freund“, sagte Sebastien.

Freund. Damit konnte Thierry leben. „Jederzeit“, erwiderte er und wollte sich umdrehen, um die Kabine für das nächste Paar zu räumen.

„Warte“, hielt Sebastien ihn zurück. „Wen hast du verloren, um so tief zu trauern?“

„Meine Frau ist vor zwei Tagen im Kampf gefallen“, antwortete Thierry ausdruckslos.

Sebastien zuckte zusammen. Kein Wunder, dass Thierrys Trauer so überwältigend war. „Das tut mir leid. Ich weiß wie es ist, einen geliebten Menschen zu verlieren.“

Thierry nickte nur. Er konnte die tiefe Betroffenheit in Sebastiens Stimme hören, aber er wollte noch nicht mit ihm über seine eigenen Gefühle reden. Sebastien folgte ihm aus der Kabine und respektierte seine Zurückhaltung. Er wollte Thierry seine Freundschaft anbieten. Aber nicht mehr. Alles andere wäre unfair, denn Thierry würde es nicht akzeptieren können.

Alain beobachtete, wie die ersten Paare wieder aus den Kabinen kamen. Raymond und Jean waren die ersten. Raymond wirkte blass und schwach. Er verließ sofort Jeans Seite und ließ sich in einer Ecke auf einen Stuhl sinken. Alain runzelte die Stirn. Das war nicht die Reaktion, die er nach seiner eigenen Erfahrung mit Orlando erwartet hätte. Er fragte sich, was wohl mit Raymond los war und ob er durch den Aveu de Sang, der ihn und Orlando für den Rest seines eigenen Lebens verband, zu viel von den anderen Partnerschaften erwartete. Kurz darauf kam auch Thierry aus seiner Kabine. Er wirkte ernst, aber entschlossen. Vermutlich war das Problem doch bei Raymond zu suchen. Dann tauchte auch Adèle wieder auf. Ihr strahlendes Gesicht erinnerte Alain an seine eigene Reaktion auf Orlandos Biss am vergangenen Morgen. Er entspannte sich wieder. Solange Raymond der einzige war, auf den der Biss keine vorteilhafte Wirkung hatte, konnte Alain damit leben. Thierry kam mit Sebastien auf ihn und Orlando zu.

Sie sahen sich die Gefangenen an und Alain zeigte auf den jungen Mann, den Orlando außer Gefecht gesetzt hatte. „Der dort, denke ich“, sagte er zu Thierry. „Er ist jung und wusste offensichtlich nicht, was er getan hat. Wenn einer von ihnen bricht, dann er. Es ist traurig, einen so jungen Mann voller Hass zu erleben. Wenn wir erfahren, was ihn zu Serrier getrieben hat, können wir ihn vielleicht wieder zurückholen.“

„Das wird davon abhängen, wie stark seine persönliche Überzeugung ist“, meinte Thierry. „Wenn er Zweifel hat, können wir die vielleicht ausnutzen und zu unserem Vorteil nutzen.“

„Und wenn nicht, haben wir uns zu früh in die Karten sehen lassen“, gab Alain zurück. „Ich wünschte, wir könnten uns sicher sein.“

Jean kam auf sie zu und hörte das Ende ihres Gesprächs. „Es gibt Möglichkeiten, sicher zu sein. Habt ihr vergessen, wer eure Verbündeten sind?“

2

 

 

„WENN EINER von uns ihn beißt, wissen wir sofort, ob er reumütig ist“, erinnerte Jean sie.

„Das habe ich nicht vergessen“, meinte Alain. „Aber ich wollte, nach dem Fehler, den ich mir das letzte Mal damit erlaubt habe, nicht fragen.“ Er schauderte bei dem Gedanken daran, wie sehr er Orlando beleidigt hatte, als er ihn bat, Payets Blut zu trinken, um herauszufinden, ob dessen Loyalität zur Allianz ehrlich gemeint war. Alain legte die Hand auf das Brandmal an seinem Hals. Es war das sichtbare Zeichen für den Aveu de Sang, den er danach mit Orlando eingegangen war und der verhindern sollte, dass solche Missverständnisse zwischen ihnen jemals wieder vorkamen.

„Du hast mich nicht darum gebeten. Ich habe es dir angeboten“, erklärte Jean. „Das ist ein großer Unterschied.“

„Sollen wir ihn wieder freigeben, bevor du ihn beißt?“, fragte Thierry.

„Noch nicht“, erwiderte Jean. „Was habt ihr eigentlich mit ihnen gemacht?“

„Sie können uns weder hören noch sehen“, sagte Alain. „Sie sind bei Bewusstsein, aber sie nehmen nur sich selbst wahr.“

„Wird er den Biss spüren?“, wollte Jean wissen.

„Das kann ich nicht sagen“, erwiderte Alain achselzuckend. „Ich habe diese Beschwörung noch nie am eigenen Leib erfahren. Aber es kommt mir unfair vor, ihm nicht vorher die Chance zu geben, sich zu äußern.“

„Aber wenn er meinen Biss wahrnimmt, werde ich seine Gefühle darüber in seinem Blut schmecken. Das könnte die Informationen überlagern, die wir herausfinden möchten. Wenn er nicht weiß, was ich mit ihm tue, ist seine Reaktion ehrlicher und direkter“, erklärte Jean.

„Dann müssen wir erst herausfinden, ob er den Biss spürt. Je genauer du uns seine Gefühle beschreiben kannst, umso effektiver können wir ihn verhören“, stimmte Thierry zu.

„Das ist leicht festzustellen“, sagte Alain. „Du belegst mich mit dem gleichen Spruch, den Marcel bei den dunklen Magiern angewendet hat. Danach beißt mich Orlando. Wenn du mich wieder freigibst, kann ich euch sagen, was ich gespürt habe.“ Alain zögerte keinen Moment mit seinem Angebot. Er hatte Thierry schon so oft mit seinem Leben vertraut, dass er es gar nicht mehr zählen konnte. Die harmlose kleine Beschwörung war nichts im Vergleich zu dem, was sie in der Vergangenheit schon zusammen erlebt hatten.

Orlando verfolgte den Meinungsaustausch der beiden Magier und als er hörte, dass Alain sich Thierrys Zauberspruch aussetzen wollte, stellten sich ihm sämtliche Haare zu Berge. Nicht deshalb, weil er seinen Geliebten nicht beißen wollte. Aber es machte ihn nervös, dass jemand – wer auch immer – seinen Stab auf Alain richten und ihn beschwören wollte. Was war, wenn es schief ging? Wenn Thierry die Beschwörung nicht zurücknehmen konnte? Orlando konnte sich nicht vorstellen, nie wieder das Verlangen und die Zärtlichkeit in Alains blauen Augen erblicken zu können. Es würde ihn so sicher vernichten, als müsste er ohne Alains Schutz ins Licht der Sonne treten.

Bevor Orlando dagegen protestieren konnte, waren Alain und Thierry schon auf dem Weg in eine der Kabinen, die Marcel errichtet hatte. Er folgte ihnen schnell, und bevor sie hinter der Wand verschwanden, hielt er Thierry zurück. “Kannst du uns eine Minute allein lassen?“, fragte er und deutete auf die Kabine.

Thierry nickte und sah den beiden nach, als sie die magisch abgeschirmte Kabine betraten. Kurz bevor er sie aus den Augen verlor, sah er noch, wie Orlando nach Alains Hand griff. Es war eine einfache und unkomplizierte Geste, die jede Distanz zwischen den beiden Männern überbrückte und die in Thierrys Seele widerhallte. Sie erinnerte ihn an seine Gefühle bei Sebastiens Biss. Auch der hatte eine scheinbar unüberbrückbare Distanz überwunden. Thierry fragte sich, was Sebastien in seinem Blut, außer der Trauer, auf die er ihn angesprochen hatte, noch geschmeckt haben konnte. Er hob den Kopf und sah den Mann, über den er gerade nachgedacht hatte, auf sich zukommen.

„Hast du Alain schon besprochen?“, fragte Sebastien.

„Noch nicht“, erwiderte Thierry. „Orlando und er wollten erst für einen Augenblick allein sein.“

„Ist dir bewusst, wie sehr Orlando dir vertraut, um das zu erlauben?“, wollte Sebastien wissen.

„Wie meinst du das?“, fragte Thierry zurück.

„Wenn ein Vampir den Aveu de Sang ablegt – so wie Orlando das getan hat –, kennen sein Beschützerinstinkt und seine Besitzergreifung keine Grenzen mehr. Dass er dir erlaubt, sich auf diese Art Alains zu bemächtigen – und sei es auch noch so harmlos gemeint –, ist ein unglaublicher Vertrauensbeweis. Wir Vampire sind normalerweise nicht dafür bekannt, sehr vertrauensselig zu sein.“

Thierry schwieg und sah nachdenklich zu der Kabine hin. Er fragte sich, ob wohl alle Vampire so gut über den Aveu de Sang informiert waren oder ob Sebastien aus eigener Erfahrung sprach. Bei dem Gedanken durchfuhr ihn eine Welle der Eifersucht, die ihn selbst erschreckte. Es ging ihn nichts an. Er konnte keine Ansprüche auf Sebastien erheben. Schon gar nicht auf dessen Vergangenheit. Thierry wusste nicht, seit wann Sebastien schon als Vampir lebte; aber er wusste sehr wohl, dass es naiv wäre, davon auszugehen, der erste Mensch zu sein, der ihm etwas bedeutet hatte. Und wenn Thierry etwas nicht war, dann naiv. Dachte er. Er sah den Vampir verstohlen von der Seite an und nahm ihn zum ersten Mal richtig wahr. Sebastiens dunkle Haare fielen ihm bis auf die Schultern und betonten sein ausgeprägtes Kinn. Thierry erkannte Sturheit, wenn er sie sah. Dieser Charakterzug war ihm selbst schon zu oft vorgeworfen worden, als dass er ihn nicht in anderen Menschen erkennen könnte. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil, er respektierte es sogar. Er respektierte die Selbstsicherheit und Entschlossenheit, die darin zum Ausdruck kam. Er respektierte, wenn jemand zu seiner Meinung stand, egal, was andere darüber denken mochten. Sebastien war ein attraktiver Mann, das musste Thierry zugeben. Und es war ihm unangenehm, weil es Schuldgefühle auslöste. Aleth war erst seit zwei Tagen tot. Thierry hatte nicht das Recht, jetzt schon an einen anderen Menschen zu denken, auch wenn ihre Ehe schon lange in die Brüche gegangen war. Sie hatten sich auf Aleth’ Betreiben hin getrennt, aber in Thierrys Augen und in seinem Herzen waren sie immer noch ein Paar gewesen. Er hatte nie aufgehört, sie zu lieben, auch wenn sie beide eine schwierige Zeit durchgemacht hatten. Er hatte Aleth gerade erst verloren, und schon interessierte er sich für einen anderen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, was das über seinen eigenen Charakter aussagte.

Sobald Orlando und Alain in der Kabine waren, zog Orlando den Magier in seine Arme. „Ist es wirklich sicher?“, fragte er leise.

Alain nahm Orlandos Gesicht zwischen die Hände und sah ihm tief in die kaffeebraunen Augen, die so viel von seiner Seele preisgaben. „Natürlich ist es sicher“, beruhigte er seinen Geliebten. „Ich habe diese Beschwörung selbst schon oft genug bei anderen Menschen angewendet. Sie hat sich immer wieder aufheben lassen und nie zu irgendwelchen Nebenwirkungen geführt. Sie betäubt nur für kurze Zeit alle Sinne. Es ist, als würde man einen Menschen an einen Stuhl fesseln und ihm Ohrstöpsel und eine Augenbinde verpassen. Es geht nur etwas schneller, weil es Magie ist.“

„Aber in der Zwischenzeit kann alles Mögliche mit dir passieren“, protestierte Orlando.

„Was soll schon passieren?“, fragte Alain. „Du bist doch bei mir, und so lange das der Fall ist, bin ich nicht allein. Außerdem wird Thierry dafür sorgen, dass sich niemand von außen einmischen kann.“

„Vertraust du mir wirklich so sehr?“, fragte Orlando erstaunt.

Alain beugte den Kopf und küsste ihn zärtlich. „Ja, ich vertraue dir so sehr. Kann Thierry jetzt kommen? Ich möchte anfangen.“

Orlando war für einige Sekunden sprachlos, weil er erst realisieren musste, welches Ausmaß an Vertrauen Alain ihm entgegenbrachte. Er war in seinen Beziehungen zu anderen Menschen immer der jüngere gewesen, der unschuldige und unerfahrene. Als sein Schöpfer ihn aus seinem Regiment gelockt hatte, war er noch ein junger Rekrut gewesen. Danach wurde er gegen seinen Willen unterworfen und zu einem machtlosen Sklaven degradiert. Auch Jean sah in ihm nur den jüngeren Bruder und für die anderen Vampire war er einfach ‚der Junge‘. Niemand hatte ihm je vertraut, sich auf ihn verlassen oder um seinen Rat gebeten. Alain war anders. Zum einen war er jünger als Orlando, obwohl man es ihm nicht ansah. Aber vor allem respektierte Alain ihn, und das war Orlando das Wichtigste. Alain wollte keinen jüngeren Bruder oder gehorsamen Sklaven, er wollte einen gleichberechtigten Partner. Und – was noch besser war – er erwartete sogar einen gleichberechtigten Partner. „Ja, du kannst Thierry jetzt rufen.“

Alain ging wieder nach draußen in den Wartesaal. Orlando blieb für einen Augenblick allein in der magischen Stille zurück, mit der Marcel die kleinen Kabinen belegt hatte. Er wusste, dass die anderen nur wenige Meter von ihm entfernt waren und er mit wenigen Schritten wieder bei ihnen sein konnte. Trotzdem fühlte er sich isoliert und vom Rest der Welt abgeschirmt. Er fragte sich, ob Alain unter Thierrys Beschwörung wohl das Gleiche empfinden würde. Wenn ja, dann war Alains Vertrauen noch bemerkenswerter, denn aus der Beschwörung konnte er sich nicht durch wenige Schritte befreien. Alain musste darauf warten, dass Thierry ihn wieder freigab, und in der Zwischenzeit konnte Orlando alles mit ihm tun, was er wollte. Doch Alain schien sich darauf zu verlassen, dass Orlando das in ihn gesetzte Vertrauen nicht missbrauchte.

Orlando sagte nichts, als die beiden Magier in die Kabine zurückkamen. Dann beobachtete er angespannt, wie Thierry seinen Stab zückte und Alain mit dem Spruch belegte. „Wirkt es schon?“, fragte er, als Thierry den Stab wieder senkte.

„Ja“, erwiderte Thierry.

„Dann kann ich es dir jetzt sagen. Ich weiß, dass du Alain niemals absichtlich verletzen würdest. Aber wenn mit der Beschwörung auch nur das Geringste schief geht, wenn er nicht zu mir zurückkommt, dann … dann solltest du sicherheitshalber nie wieder in meine Nähe kommen.“

Thierry reagierte irritiert auf die Drohung und wollte Orlando gerade beleidigt zurechtweisen, als er wieder an Sebastiens Worte denken musste. Es war keine leere Drohung. Orlando wollte nur den Menschen beschützen, der ihm am meisten bedeutete. Thierry konnte es Orlando nachempfinden. Er hatte sich vor sechs Tagen genauso gefühlt, als er erfahren hatte, dass Alain von einem Vampir gebissen worden war. Wie viel hatte sich seit diesem Tag verändert!

„Er ist mir genauso wichtig wie dir, wenn auch auf eine andere Weise“, sagte er zu Orlando. „Du hast von mir nichts zu befürchten.“ Er ging vor die Kabine, um die beiden allein zu lassen.

Orlando sah seinen bewegungslos im Raum stehenden Geliebten an. An Thierrys Stelle hätte er nicht die Kraft gehabt, Alain in diesem Zustand einfach allein zu lassen. Es war nicht so, wie Alain beim Schlafen zu beobachten. Dann waren Alains Gesichtszüge entspannt, er hatte die Augen geschlossen und sein Körper ruhte, war aber nicht so vollkommen bewegungslos, wie in diesem Zustand. Jetzt waren sein Gesicht und sein Körper angespannt, die Augen offen und in die Ferne gerichtet, ohne etwas wahrzunehmen. Orlando wedelte mit der Hand vor Alains Gesicht hin und her, konnte aber keinerlei Reaktion feststellen. Er wurde von einem Gefühl der absoluten Macht überrollt, als er den hilflosen Magier vor sich stehen sah. Trotzdem wollte Orlando dieses Experiment so schnell wie möglich hinter sich bringen, damit Thierry ihm seinen Geliebten zurückgeben konnte. Als Orlando sein Zeichen in Alains Hals gebrannt hatte, war der Magier davon ausgegangen, dass Orlando ihn als Sklaven in seinen Besitz nehmen wollte. Eine Vermutung, die Orlando spontan abgestritten hatte. Wenn er sich Alain jetzt ansah, so ausgeliefert und hilflos, dann wusste er, damals die Wahrheit gesagt zu haben. Er wollte keinen Sklaven und Hörigen. Er wollte Alain so, wie er war – mit seinem eigenen Verstand und Willen, als gleichberechtigten Partner. Er hob Alains Handgelenk an die Lippen und biss vorsichtig zu, gerade genug, um einige Tropfen Blut zu schmecken. Es bestätigte ihm, was er bereits über Alain wusste: seine Stärke, seine Loyalität und sein Begehren. Der Geschmack war Orlando schon vertraut, und doch schmeckte er dieses Mal auch etwas Neues, das ihm bisher entgangen war: Alains bedingungsloses Vertrauen in ihre Partnerschaft.

Orlando versiegelte die Wunde, ließ Alains Arm wieder los und rief nach Thierry. „Gib ihn frei“, bat er ihn eindringlich.

Thierry beeilte sich, Orlandos Bitte zu erfüllen und Alain wieder freizugeben. Kaum war Alain wieder bei Bewusstsein, warf Orlando sich in seine Arme. Der Anblick machte Thierry verlegen und er ging nach draußen, um die beiden allein zu lassen. Er konnte Alain auch einige Minuten später noch nach der Wirkung der Beschwörung fragen.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, wollte Orlando wissen und fuhr Alain mit den Händen über den Körper, als müsste er sich von dessen Unversehrtheit überzeugen.

„Es geht mir gut“, versicherte ihm Alain, hob Orlandos Hände an seinen Mund und küsste sie. „Es geht mir gut“, wiederholte er dann sicherheitshalber.

„Tu mir das nie wieder an“, verlangte Orlando. „Geh nie wieder weg und lass mich so allein zurück. Du warst anwesend, und doch so weit weg von mir.“

„Orlando, es war doch nur eine Beschwörung. Jetzt ist es vorbei und ich bin wieder bei dir.“ Alain legte die Arme um Orlandos bebenden Körper und zog ihn tröstend an sich.

Orlando hatte Alains Worte zwar gehört, aber sie waren noch nicht bis in seinen Verstand vorgedrungen. Er hob den Kopf und küsste Alain tiefer und leidenschaftlicher als jemals zuvor. Alain erwiderte den Kuss mit der gleichen Hingabe, öffnete den Mund und überließ sich Orlandos fordernder Zunge. Wenn er geahnt hätte, dass Orlando durch ihr Experiment so sehr aus dem Gleichgewicht geraten würde, hätte er es niemals vorgeschlagen.

Nach einigen Minuten hob Alain den Kopf. „Wir sollten jetzt zu den anderen zurückgehen“, sagte er leise. „Sie werden wissen wollen, ob ich deinen Biss gefühlt habe. Und dann müssen wir den dunklen Magier befragen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Hand in Hand verließen sie die Kabine. Alain wusste, dass ihr Verhalten Kommentare auslösen, vielleicht sogar Missbilligung verursachen würde, aber das war ihm egal. Die Vampire hatten das Zeichen des Aveu de Sang an seinem Hals gesehen und konnten sich ihren Teil denken. Die Magier würden es auch bald erkennen und sich daran gewöhnen müssen. Orlando brauchte die Geborgenheit, die ihm ihre Berührung gab, und nur das war Alain wichtig.

„Nun?“, fragte Thierry ungeduldig. „Was hast du gefühlt?“

„Nichts“, erwiderte Alain. „Erst als ich wieder zu mir kam, habe ich gefühlt, wo Orlando mich gebissen hatte. Aber den Biss selbst habe ich nicht gespürt, obwohl ich darauf vorbereitet war.“

Das war eine gute Nachricht. Es bedeutete, dass Jean den jungen Magier beißen konnte, um herauszufinden, was in ihm vorging. Trotzdem fühlte Orlando sich niedergeschlagen. Er hatte diesen intimen Moment mit Alain geteilt, ohne dass der sich daran erinnern konnte.

„Dann funktioniert es“, sagte Jean grinsend. „Bestens. Lasst uns anfangen.“

Alain war etwas beunruhigt durch Jeans begeisterte Reaktion, stellte sie aber nicht in Frage. Er folgte mit Orlando, Thierry und Sebastien dem Chef de la Cour zu dem jungen Magier, den sie verhören wollten. Im Vorbeigehen warf er Raymond einen kurzen Blick zu und fragte sich, was der Mann wohl davon hielt, dass Jean sich freiwillig für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt hatte. Für Orlando wäre das nicht mehr möglich gewesen. Außerdem hätte Alain dagegen Einspruch erhoben. Es war schon schlimm genug gewesen, als Orlando Thierry gebissen hatte, obwohl sie damals den Aveu de Sang noch nicht eingegangen waren und sich noch keine Treue versprochen hatten. Wenn Alain jetzt zusehen müsste, wie Orlando einen dunklen Magier biss … Es war unvorstellbar. Er könnte es nicht ertragen. Raymond hingegen schien das alles unberührt zu lassen. Alain zuckte mit den Schultern. Wenigstens mischte Raymond sich dann nicht ein.

Raymond war in der Tat mit seinen eigenen, trostlosen Gedanken beschäftigt. Doch er war nicht so unbeteiligt, wie Alain angenommen hatte. Er hatte die Männer bei den dunklen Magiern stehen sehen und beobachtet, wie Jean nach der Hand des unbekannten jungen Magiers griff. Eine irrationale Eifersucht hatte ihn erfasst, aber er hatte sich nicht getraut, dagegen Protest einzulegen. Raymond fürchtete, dass Jean es gegen ihn verwenden könnte. Wenn Jean ihn zum Verräter erklärte, würde es keine Rolle mehr spielen, dass Raymond heute und den größten Teil der letzten beiden Jahre auf der Seite der Milice gekämpft hatte. Sie würden dem Vampir glauben, wenn der behauptete, eine Lüge in Raymonds Blut schmecken zu können. Sie würden das Wort eines Vampirs über das eines ihrer Männer stellen, und sei es nur, um ihre wertvolle Allianz nicht zu gefährden. Raymond hatte die Hilfe des Vampirs nicht gebraucht, um seinen Gegner zu besiegen. Er hatte es sehr gut allein geschafft, und es war nicht seine Schuld, wenn die anderen das nicht auch konnten. Er sah widerwillig zu, wie Jean den Magier biss. Es war ein Bild, das er sich einprägen wollte, um immer daran erinnert zu werden, dass man einem Vampir niemals trauen durfte. Der Chef de la Cour würde Raymond für seine eigenen Bedürfnisse ausnutzen, ohne ihm etwas dafür zurückzugeben. Die anderen mochten das noch nicht so sehen, aber das würde sich bald ändern. Vielleicht wäre es bis dahin zu spät, aber sie würden es erkennen. Trotz seiner düsteren Gedanken ging Raymond zu den anderen. Vielleicht ergab sich ja doch eine Gelegenheit für ihn, seinen Befürchtungen Ausdruck zu verleihen, ohne dass es gegen ihn verwendet werden konnte.

Jean hob kurz den Blick vom Handgelenk des dunklen Magiers, als Raymond sich zu ihnen gesellte, hielt sich aber stur an ihren abgesprochenen Plan. Raymond mochte verhindert haben, dass Jean aktiv am Kampf teilnahm, aber diesen Beitrag konnte er ihm nicht verwehren. Jean biss kräftig in das Handgelenk des Jungen – und mehr als ein Junge war der Magier nicht –, dann ließ er dessen Blut in seinen Mund strömen und wieder herauslaufen. Als er den Kopf hob, waren seine Lippen und Zähne blutverschmiert. Er konnte sehen, dass Raymond leicht zusammenzuckte, doch das blieb die einzige Reaktion des Magiers auf den Biss. Jean konzentrierte sich auf das Blut auf seiner Zunge. Er konnte sofort die dunkle Magie spüren, die den Geschmack des Blutes verdarb und viel stärker überlagerte als die kleinen Reste, die noch in Raymonds Blut vorhanden waren. Es war so schlimm, dass Jean einen Brechreiz unterdrücken musste, bevor er sich den anderen Aspekten des Blutes zuwenden konnte. Er schmeckte Wut und sogar Hass; als er sich jedoch den feineren Nuancen widmete, konnte er auch Zweifel und Furcht erkennen. Jean spuckte den Rest des Blutes aus und sah seine Verbündeten an. „Unter der Wut liegen Zweifel und Furcht verborgen. Wenn ihr die Ursache dafür herausfindet, habt ihr vielleicht Erfolg und könnt ihn wieder rehabilitieren. Er hat schlimme Dinge getan, aber ich glaube nicht, dass er durch und durch böse ist.“

„Wie sollen wir vorgehen?“, fragte Alain.

„So wie immer“, antwortete Thierry. „Aber dieses Mal haben wir Unterstützung, wenn wir sie brauchen. Falls unsere neuen Verbündeten nichts dagegen haben, etwas Furcht und Schrecken zu verbreiten.“ Er sah Sebastien, Jean und Orlando grinsend an.

Jean und Sebastien grinsten zurück und ließen ihre Eckzähne aufblitzen, warfen sich aber böse Blicke zu, als sie erkannten, wie ähnlich sie reagiert hatten.

Orlando hingegen stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. „Es ist ganz einfach“, erklärte Alain. „Ich bin nett zu dem Jungen, und Thierry flucht und droht. Dann wird er mit mir reden wollen, nur um Thierry loszuwerden. Thierry wird ihm noch androhen, dass einer von euch ihn beißen wird. Aber dazu wird es nicht mehr kommen. Er wird zusammenbrechen, bevor wir in die Verlegenheit kommen, unsere Drohung wahr zu machen. Und wenn nicht, werde ich eingreifen und ihn zu den anderen ins Gefängnis werfen lassen.“

„Falls es euch hilft, bin ich gerne bereit, ihn das nächste Mal zu beißen“, bot Sebastien an. „Wenn wir diese Drohung wahr machen, wird er den Rest ernster nehmen.“

„Das wird nicht nötig sein“, meinte Jean. „Ich kann es selbst erledigen. Ich kenne seinen Geschmack schon. Ich merke sofort, ob wir Eindruck auf ihn gemacht haben.“

Thierry sah den Streit kommen und mischte sich vorsorglich ein. „Darüber machen wir uns Gedanken, wenn es soweit kommen sollte. Lasst uns erst abwarten, was er uns zu erzählen hat.“ Mit einer Handbewegung löste er einen Teil der Beschwörung, ließ den jungen Magier aber an Händen und Füßen gebunden und seine magischen Fähigkeiten neutralisiert. Sobald die Wirkung von Marcels Magie nachließ, holte Thierry aus, um ihm mit der Hand ins Gesicht zu schlagen. Alain griff zu und hielt Thierrys Hand im letzten Moment zurück.

„Lass ihn doch erst reden“, sagte Alain beruhigend. „Vielleicht ist er kooperationsbereit.“ Er drehte sich zu dem jungen Mann um. „Wie ist dein Name?“, fragte er.

„Was geht euch das an?“, fuhr der Magier ihn an.

Thierry ging wieder auf ihn zu und Alain hielt ihn erneut zurück. „Es geht mich etwas an, weil wir dich dabei erwischt haben, als du dunkle Magie einsetzen wolltest, um andere anzugreifen“, erklärte Alain. „Wenn du mit uns kooperierst, kann ich dir vielleicht helfen. Wenn nicht, bist du der Gnade dieser Herren ausgeliefert, die nicht ganz so viel Geduld mit dir haben werden wie ich.“

Der junge Mann sah sich erschrocken um. Thierry zog eine böse Grimasse, Jean grinste hungrig, Raymond wirkte absolut ungerührt, Sebastiens Augen funkelten wütend und Orlando presste die Lippen zusammen. Sie waren kein sehr ermutigendes Publikum.

„Wer bist du, dass du mir meine Magie vorschreiben willst! Niemand sollte sich dieses Recht anmaßen!“

Alain hatte etwas in dieser Art erwartet. Das Argument gehörte zu Serriers Standardarsenal, um Anhänger zu gewinnen. Es beunruhigte Alain immer wieder. „Glaubst du das wirklich?“, fragte er. „Glaubst du wirklich, dass Magie die Antwort auf alle Probleme ist und Magier sie nach Gutdünken einsetzen sollten, ohne die Konsequenzen ihres Handelns auf andere Menschen zu berücksichtigen?“

„Magier sollten sich vor nichtmagischen Menschen nicht verantworten müssen. Was wissen die schon davon, wie wir unsere Magie einsetzen?“, forderte der junge Magier ihn heraus.

„Er hört dir nicht zu“, knurrte Thierry. „Gib mir nur fünf Minuten und das wird sich ändern.“

Alain sah dem jungen Magier in die Augen. „Soll ich das tun? Oder willst du doch lieber mit mir reden?“

„Er kann auch nicht schlimmer sein als Serrier, wenn der erfährt, dass ich mit euch geredet habe“, erwiderte der Magier.

„Warum bleibst du dann bei ihm?“, mischte sich Orlando ein. Der Kopf des Magiers fuhr herum und sein Blick landete auf dem jungen Vampir. „Wenn du ihn so sehr fürchtest, warum bleibst du dann bei ihm?“, wiederholte Orlando.

„Und wohin sollte ich gehen?“, fragte der junge Mann und sah ihn konsterniert an. „Wenn ich ihn verlasse und kein Versteck oder anderen Schutz finde, bringt er mich um. Und wenn ich mich stelle, lande ich für das, was ich getan habe, im Gefängnis.“

Alain sah Thierry an, der ihm kaum wahrnehmbar zunickte. „Aber wenn du uns davon überzeugen kannst, dass es dir ernst ist, bei Serrier auszusteigen, und du uns nützliche Informationen geben kannst … dann finden wir vielleicht eine Lösung“, schlug Alain vor.

„Wie … wie meinst du das?“, wollte der junge Magier wissen.

„Lass uns von vorne anfangen. Wie heißt du?“

„Dominique Cornet“, kam die Antwort.

„Also gut, Dominique“, fuhr Alain fort. „Wie lange bist du schon bei Serrier?“

„Erst seit drei Monaten“, erwiderte der Junge.

„Und warum bist du heute hierher geschickt worden?“

„Serrier wollte wissen, warum die Vampire sich hier getroffen haben. Er hat gesagt, dass es nicht zu ihnen passt, sich zu versammeln, besonders nicht an einem so öffentlichen Ort. Er hat uns geschickt, um sie auszuspionieren. Aber der Wartesaal war abgeschirmt und wir konnten nichts hören. Dann habt ihr uns angegriffen. Mehr weiß ich nicht“, gestand Dominique.

„Konnte Pacotte während des Einsatzes mit Serrier in Kontakt treten oder wollte er ihm erst danach Bericht erstatten?“, unterbrach Thierry.

Dominique sah den blonden Magier mit dem bedrohlichen Blick an. „Das weiß ich nicht“, stammelte er. „Ich habe keine Ahnung von seinen Plänen. Er sagt mir nur, wohin ich wann gehen soll. Bitte, das musst du mir glauben.“ Der Hoffnungsschimmer, den Alain ihm geboten hatte, ließ Dominique mit allen Mitteln nach einer Möglichkeit suchen, seine potentiellen Retter von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.

„Wie bist du überhaupt an Serrier geraten?“, fragte Raymond. Es waren seine ersten Worte, seit er zu ihnen gekommen war. „Du bist nicht der Typ dafür.“

„Was weißt du schon davon, wer Serriers Typ ist?“, wollte Dominique wissen und sein altes Bravado blitzte wieder auf.

„Ich bin selbst bei ihm ausgestiegen“, erwiderte Raymond gelassen. „Und jetzt beantworte meine Frage.“

Dominique senkte den Blick. Diese Information musste er erst verdauen. Einer der Magier, die ihn verhörten, war ebenfalls Serriers Klauen entkommen. Das hieß, dass er vor Serrier und seiner Rache beschützt wurde. In Dominique keimte wieder Hoffnung auf. Vielleicht würden sie für ihn das Gleiche tun. „Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen“, versuchte er sich zu erklären. „Und vor allem bin ich in einer Umgebung aufgewachsen, in der Magie mit Misstrauen begegnet und alles Magische abgelehnt wird. Als sich meine Fähigkeiten entwickelten, wurde ich dafür bestraft. Sie wollten den Teufel aus mir austreiben. Ich hatte keine Ausbildung und konnte meine Magie nicht kontrollieren. Ich konnte sie auch nicht unterdrücken. Sie haben mich jedes Mal verprügelt. Vor sechs Monaten hat Hector mich gefunden und verhindert, dass sie mich totschlagen. Er hat mir meine Magie erklärt und mir beigebracht, wie ich sie kontrollieren kann. Und er hat mir von einer Gruppe Magier erzählt, die gegen diese Ungerechtigkeit, der ich ausgeliefert war, kämpfen würden. Die dafür kämpften, dass Magier die Wahl haben, wann und wo sie ihre Magie einsetzen. Was sollte ich davon halten? Für mich war es, als hätte mir jemand das Paradies versprochen. Nach einiger Zeit hat er mich zu Serrier gebracht, und der hatte Verständnis für meine Erfahrungen. Es tat ihm so leid und er hat sich dafür entschuldigt, dass er mich nicht früher gefunden hat. Es hat einige Zeit gedauert, bis mir klar wurde, dass ich zwar meine magischen Fähigkeiten nicht unterdrücken wollte, aber mit Serriers Methoden nicht einverstanden war. Und mit seiner Grausamkeit. Aber als es soweit war, habe ich schon keinen Ausweg mehr gesehen.“

„Das passiert jedem Magier, wenn sich seine Fähigkeiten manifestieren“, erklärte Alain verständnisvoll. „Selbst erfahrene Magier verlieren manchmal die Kontrolle, wenn ihre Emotionen zu stark sind. Aber es stimmt, dass wir unserer Magie Grenzen setzen, auch außerhalb deiner kleinen Stadt. Doch Magie an sich wird nicht als etwas Schlechtes angesehen. Wir töten nicht mit Magie, es sei denn, es handelt sich um Selbstverteidigung. Wir benutzen sie nicht, um andere um ihre Freiheit oder ihr Eigentum zu bringen. Aber das hält uns nicht davon ab, dass wir mit Magie unseren Alltag erleichtern. Serrier will eine Diktatur errichten, in der Magier die alleinigen Herrscher sind und allen anderen Menschen deren Leben vorschreiben. Sie könnten nicht mehr an der Regierung teilhaben oder ihr Leben selbst bestimmen. Was immer dir Serrier auch gesagt hat, wir sind nicht gegen Magie. Wir sind keine Faschisten, die Magiern ihre Rechte nehmen wollen. Im Gegenteil. Die alleinige Macht, die Serrier den Magiern einräumen will, stiehlt er von allen anderen Menschen.“

„Du hast jetzt zwei Möglichkeiten“, sagte Thierry zu Dominique. „Du kannst weglaufen und dich verstecken, in der Hoffnung, dass wir Serrier zu Fall bringen. Oder du kannst uns dabei helfen, das zu erreichen.“

„Ich bin kein großer Magier“, meinte Dominique. „Ich weiß nicht, ob ich euch wirklich helfen könnte.“

„Zu einem Krieg gehört mehr, als nur zu kämpfen“, widersprach Alain. „Informationen sind der Schlüssel zum Sieg. Serrier vertraut dir. Jedenfalls nicht mehr oder weniger, als er anderen vertraut. Wenn du zu ihm zurückkehrst, kannst du uns mit Informationen versorgen, die diesen Krieg schneller beenden und uns zum Sieg verhelfen.“

„Ihr wollt, dass ich für euch spioniere?“, fragte Dominique ungläubig.

„So könnte man es ausdrücken“, erwiderte Thierry grinsend.

„Warum solltet ihr mir vertrauen? Ich meine … Woher wisst ihr, dass ich euch nichts vormache und Serrier alles erzähle?“

„Das wissen wir noch nicht“, meinte Thierry. „Aber wir werden es bald erfahren. Serrier hat euch vermutlich verschwiegen, dass wir nicht die Einzigen sind, die magische Fähigkeiten haben.“

„Was? Wer?“, wollte Dominique wissen.

„Zum einen sind da die Vampire“, antwortete Alain. „Ein Vampir erkennt an deinem Blut, was in deinem Herzen vor sich geht. Wenn du einem unserer Freunde dein Handgelenk anbietest, kann er uns sagen, ob du es ehrlich meinst.“

„Darf ich mir aussuchen, von wem ich mich beißen lasse?“

„Einer von diesen beiden hier“, meinte Orlando und zeigte auf Jean und Sebastien. „Ich bin an einen Magier gebunden und werde mein Versprechen nicht brechen.“

Dominique sah zwischen Jean und Sebastien hin und her. Er konnte keinen entscheidenden Unterschied zwischen ihnen feststellen. „Wen würdest du nehmen?“, fragte er Orlando, zu dem er wegen seiner offensichtlichen Jugend eine gewisse Verbundenheit empfand.

„Jean ist schon sehr lange mein Freund. Ich vertraue ihm vorbehaltlos. Sebastien habe ich erst kennengelernt“, erwiderte Orlando.

„Dann Jean“, entschied sich Dominique, Orlandos Rat anzunehmen. Jean grinste Sebastien triumphierend zu und griff nach Dominiques Hand.

„Kannst du die Bisswunden wieder heilen?“, fragte Jean unvermittelt. „Wenn Serrier sie sieht, wird er dir Fragen stellen, die du ihm nur schwer beantworten kannst.“

„Das ist kein Problem“, versicherte ihm Thierry. „Finde heraus, was wir wissen müssen.“

Das zweite Mal konnte Raymond den Biss nicht mit ansehen. Bitter drehte er Jean den Rücken zu. Dem fiel die Reaktion seines Partners zwar auf, doch er hatte jetzt nicht die Zeit, sich mit dessen Problemen zu befassen. Er fragte sich allerdings, ob sie nicht demnächst ein ernstes Gespräch führen sollten. Aber erst musste er sich mit dem Sumpf von Dominiques Gefühlen befassen. Jean biss zu und ließ das Blut in seinen Mund laufen. Natürlich war die dunkle Magie immer noch zu schmecken. Auch die Wut hatte kaum nachgelassen. Aber der Hass war zurückgedrängt worden, und Zweifel und Furcht waren einer neuen Entschlossenheit gewichen. „Er meint es ernst“, sagte Jean und hob den Kopf. Er konnte zwar Dominiques zukünftiges Verhalten nicht voraussagen, aber im Herzen war der junge Magier jetzt auf ihrer Seite.

Dominique seufzte erleichtert auf, als er Jeans Urteil hörte. Die anderen schienen den Worten des Vampirs ebenfalls Glauben zu schenken und deshalb hoffte er, jetzt wieder freigelassen zu werden.

„Marcel“, rief Thierry und winkte den älteren Magier heran.

Diesen Namen kannte Dominique. Er hatte oft genug gehört, wie der General in den Schmutz gezogen wurde. Vielleicht war es nicht derselbe Marcel, aber Dominique wünschte sich, es wäre Chavinier. Er war neugierig darauf, den Mann kennenzulernen, der Serrier so erfolgreich Widerstand leistete. Dominique wusste, wie mächtig und erbarmungslos Serrier sein konnte. Dass Chavinier sich nicht geschlagen gab, ließ den jungen Magier hoffen, unter dem Schutz des Generals ebenfalls überleben zu können. Der Mann war alt genug, um Dominiques Großvater sein zu können. Sein freundliches Gesicht wurde von dichten, weißen Haaren umrahmt und er lächelte sanftmütig, als er auf sie zukam. Der Anführer der Rebellen hinterließ einen anderen Eindruck. Er war immer missgelaunt und eiskalt, vor allem denjenigen gegenüber, die seine Erwartungen enttäuscht hatten. Außerdem war Serrier jünger, ungefähr im gleichen Alter wie die Magier, die Dominique verhört hatten. Als der General der Milice auf ihn zukam, war er in Dominiques Augen das Licht zu Serriers Dunkelheit. Der Kontrast war unübersehbar und beschäftigte ihn immer noch, während er bereits Chaviniers Lächeln erwiderte. Auf Serriers Offizier hatte Dominique nie so reagiert. Aber diesem Mann konnte er vertrauen.

„Und wen haben wir hier?“, fragte Marcel.

„Das ist Dominique“, stellte Alain den jungen Magier vor. „Er hat festgestellt, dass er von Serrier in die Irre geführt worden ist. Er wird in Zukunft für uns Informationen sammeln. Je mehr wir wissen, umso besser können wir uns auf die Gefechte mit Serrier einstellen.“

Nun, das wusste auch Marcel. Er hatte bereits seine eigenen Informationsquellen, aber eine zusätzliche konnte nicht schaden. „Und wie wollt ihr das bewerkstelligen? Ich nehme doch an, dass ihr einen Plan habt.“

„So ähnlich“, erwiderte Thierry. „Folgendes haben wir uns vorgestellt …“

3

 

 

MARCEL SAH auf ihren neuen Spion herab, der bewusstlos zu seinen Füßen lag. Falls Serrier nach Spuren von Magie suchte, würde er nur Marcels letzte Beschwörung feststellen können. Die Handschrift des Generals war unverkennbar und verdeckte alle Spuren von Alains Magie, sodass Dominiques Geschichte von seiner ‚Flucht‘ sich glaubwürdiger anhörte. Jedenfalls hofft Marcel das, denn andernfalls würde er den jungen Magier in den sicheren Tod schicken.

„Lass uns gehen“, sagte Alain. „Wir haben für ihn getan, was wir konnten. Den Rest müssen wir ihm selbst überlassen. Jetzt sollten wir uns in Sicherheit bringen, bevor Serrier hier auftaucht.“

Marcel nickte. Mit einer kurzen Beschwörung transportierte er die anderen Gefangenen in die Zellen im Hauptquartier der Milice. Nur die Vampire mit ihren Partnern blieben im Wartesaal zurück. „Ich muss mich jetzt um sie kümmern. Kannst du dafür sorgen, dass unsere neuen Verbündeten sicher zurückkommen?“

„Natürlich“, versicherte ihm Alain. Auf dem Weg zur Tür blieb er kurz bei Jean stehen. „Wir nehmen die U-Bahn und bleiben so lange wie möglich im Untergrund. Wenn wir ins Freie müssen, brauchen die anderen Vampire deine und Orlandos Hilfe bei ihrem ersten Kontakt mit dem Sonnenlicht. Wir haben verwundete Magier, die nicht magisch transportiert werden können. Ich muss sie so schnell wie möglich ins Hauptquartier bringen. Sobald sie in Sicherheit sind, komme ich zurück und zeige euch den Weg.“

„Gut“, erwiderte Jean. „Wir warten an der letzten Haltestelle auf dich. Dann gehen wir gemeinsam nach oben.“

Alain nickte. „Dann los“, befahl er. An der Tür wartete er auf Orlando. Sie wollten als Vorhut vorausgehen. Thierry übernahm, wie immer, die Nachhut. Die anderen Paare nahmen die Verwundeten, Caroline und Mathieu, in ihre Mitte. Alain war erfreut, als er sah, wie besorgt sich Mireille und Fabienne, die beiden Vampire, um ihre Partner kümmerten und sie beschützten.

Alain führte die Gruppe auf dem schnellsten Weg zur U-Bahn. Der Stab in seiner Hand und seine merkwürdige Gefolgschaft sorgten dafür, dass sie ungehindert passieren konnten. Sie bestiegen eine Bahn und er beobachtete amüsiert, wie die anderen Fahrgäste sofort das Abteil räumten und es ihnen überließen.

Die Fahrt verlief zu Alains Erleichterung ereignislos. Sie kamen an ihrer Haltestelle an und er übernahm wieder die Führung, als sie über die Treppen nach oben gingen. Ein Vampir nach dem anderen blieb zurück, nur Orlando folgte ihm bis zum Schluss. Er wich keinen Zentimeter von Alains Seite, als sie ins Freie traten. „Ich gehe mit dir zurück, um die anderen zu ermutigen“, murmelte er Alain ins Ohr. „Aber dass ich nicht gezögert habe, war wahrscheinlich überzeugender als jedes Argument.“

„Du weißt selbst am besten, was du aushalten kannst“, erwiderte Alain. „Aber pass trotzdem auf dich auf. Ich will dich nicht verlieren.“

„Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich. Ich möchte nur meine neue Freiheit auskosten.“

„Das sollst du auch. Lass uns jetzt die Verwundeten ins Hauptquartier bringen.“

Alain machte sich auf den Weg durch Gässchen und Hinterhöfe, von einem Gebäude zum nächsten, ohne auch nur einmal auf die Straße zurückzukommen.

„Das werde ich nie wiederfinden“, sagte Orlando lachend.

„Es gibt einen Haupteingang, den wir benutzen, wenn wie allein oder nur zu zweit sind. Als Gruppe sind wir zu auffällig. Wir müssen darauf achten, keinen Verdacht zu erwecken, um unsere Position nicht preiszugeben.“

Als sie am Hintereingang des Hauptquartiers ankamen, wartete Alain, bis Thierry sie eingeholt hatte. „Orlando und ich gehen zu den anderen zurück.“

„Ich kümmere mich um die Verwundeten und helfe Marcel“, erwiderte Thierry.

Alain führte Orlando auf einem direkteren Weg zurück. Sie kamen nur einen Block von der Haltestelle entfernt wieder auf die Straße.

„Was für ein Labyrinth!“

„Das ist es. Aber dieser Zugang verrät nichts über den wahren Standort des Hauptquartiers. Falls uns trotzdem jemand folgt, wird ein Alarm ausgelöst. Das macht es ziemlich sicher.“

„Kommt mir auch so vor“, stimmte Orlando beeindruckt zu. Die Magier waren weit mehr, als eine bunt zusammengewürfelte Gruppe. Sie waren eine gut organisierte Armee. Als sie wieder zum Eingang der Haltestelle kamen, standen die Vampire schon oben auf der Straße und warteten auf sie. „Sie haben meine Hilfe wohl doch nicht gebraucht“, kommentierte Orlando lächelnd.

Alain grinste ihn an. „Dann können wir uns jetzt auf den Rückweg machen. Wir haben im Hauptquartier einen Innenhof, wo sie nach Herzenslust die Sonne genießen können. Aber wir sollten hier nicht länger rumstehen, das wäre zu auffällig.“

„Jean, Sebastien, Mireille“, rief Orlando nach den Vampiren, die er am besten kannte. „Wir brechen auf!“

Sofort setzte sich die Gruppe in Bewegung. Alain nahm wieder den kürzeren Weg, da die Straße menschenleer war und niemand sie eintreten sehen würde. Angélique Bouaddi, die Eigentümerin des Sang Froid, eines Etablissements, in dem Vampire willige Opfer finden konnten, folgte ihnen mit großen Augen. Ihr waren von der Erfahrung und Raffinesse, die sie sonst ausstrahlte, nichts mehr anzumerken – nur noch ungläubiges Erstaunen über eine Welt, die in gleißendes Sonnenlicht gebadet war. Mit der Einführung der Elektrizität hatte sie nicht mehr im Dunkeln leben müssen, Film und Fernsehen hatten ihr gezeigt, wie die Welt bei Tageslicht aussah. Aber sie hätte nie geglaubt, es jemals selbst zu erleben. Sie wusste von dem Geschmack in Davids Blut, dass ihr Partner sie aufgrund ihres Äußeren und ihres Berufes für eine oberflächliche Frau mit lockeren Moralvorstellungen hielt. Aber sie würde ihm das Gegenteil beweisen. In der Zwischenzeit war sie dankbar dafür, dass sein Blut ihr dieses Erlebnis geschenkt hatte.

Sebastien gelang es besser, sein Erstaunen zu verbergen, obwohl er genauso überwältigt war wie die anderen. Er wusste, dass er ein Außenseiter war. Die anderen waren sich ihrer Position sicher und konnten sich erlauben, Emotionen zu zeigen. Für Sebastien konnte das geringste Anzeichen von Verletzlichkeit tödlich enden. Seine Rolle als Außenseiter beim Jeu des Cours führte dazu, dass er genau beobachtet und überwacht wurde, besonders von Jean. Deshalb konnte er kein Risiko eingehen. Nachdem Orlando und die anderen gegangen waren, war Sebastien Jean als erster ins Freie gefolgt. Jean hatte sie herausgefordert, hatte sie daran erinnert, dass sie Orlando für einen kleinen Jungen hielten. Und trotzdem war dieser Junge ohne zu zögern in die Sonne getreten. Wollten sie da hinter ihm zurückstehen? Sicher nicht. Sie hatten zwar widersprochen und den Aveu de Sang erwähnt, aber Jean hatte ihnen vor Augen geführt, dass er selbst es auch konnte, obwohl ihn kein Aveu de Sang schützte. Sebastien kannte Orlando nicht, aber das, was er bisher von dem jungen Vampir gesehen hatte – inklusive des Aveu de Sang – hatte seinen Respekt verdient. Jeans Begründung für seine Herausforderung kam Sebastien daher reichlich merkwürdig vor, aber er nahm sie trotzdem an. Er nahm sie nicht an, weil er den Vergleich mit Orlando scheute, sondern weil er sich mit Jean messen wollte. Die anderen waren mehr oder weniger schnell gefolgt. Sebastien war beeindruckt von Jeans Führungsqualitäten. Er wünschte sich nur, dass die Dinge zwischen ihnen besser stünden, so, wie in der Zeit vor … Er wollte nicht daran denken. Es schmerzte ihn immer noch, selbst nach all den Jahren. Sebastien riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf den Weg, um ihn ohne Hilfe wiederfinden zu können, wenn es nötig werden sollte.