Pandemien - Philipp Kohlhöfer - E-Book

Pandemien E-Book

Philipp Kohlhöfer

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Beschreibung

Anfang 2020 hält die Fachwelt den Atem an – aus Wuhan in China werden schwere Lungenentzündungen gemeldet. Die Virologen sind nervös, was, wenn es wieder ein Virus wie SARS ist? In den nächsten Wochen bewahrheitet sich diese Befürchtung: Eine neue Seuche zieht um die Welt… Vor dem Hintergrund des neuartigen Coronavirus erzählt dieses Buch davon, wie Pandemien entstehen und wieso sogenannte Zoonosen immer öfter auftauchen: Neue Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen und extrem gefährlich werden können. Denn auch, wenn wir gerne denken, dass Covid-19 einzigartig ist: Wir leben in einer Welt der Viren. Seuchen sind keine Naturkatastrophen wie Erdbeben. Sie fallen nicht vom Himmel. Stattdessen genügt ein einziger erfolgreicher Übersprung irgendwo auf der Welt, um eine neue Pandemie auszulösen. Philipp Kohlhöfer, der für das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten an der Virologie der Berliner Charité arbeitet, legt hier ein beunruhigendes, gleichzeitig aber auch hoffnungsvolles Buch vor. Er begleitet führende Forscher wie Christian Drosten bei der Suche nach dem Ursprung von Pandemien, beobachtet sie bei ihrer Arbeit an Viren, wie MERS und Ebola, und dem Versuch, die nächste Seuche zu entdecken, bevor sie ausbricht. Die Reise führt ihn durch die deutschen Lande, aber auch nach Westafrika und Asien. In Labore, Museen und den Regenwald. Dabei erzählt das Buch von der größten Waffe, die die Menschheit im Kampf gegen neuartige Erreger hat: der Wissenschaft. Das Buch entsteht mit wissenschaftlicher Beratung, u. a. von Christian Drosten.

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Seitenzahl: 737

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Philipp Kohlhöfer

Pandemien

Wie Viren die Welt verändern

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wir leben in einer Welt der Viren. Ein einziger erfolgreicher Übersprung irgendwo auf der Welt genügt, um eine neue Pandemie auszulösen. Vor dem Hintergrund des neuartigen Coronavirus erzählt dieses Buch davon, wie Pandemien entstehen und wieso sogenannte Zoonosen immer öfter auftauchen: neue Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen und extrem gefährlich werden können. Philipp Kohlhöfer legt ein beunruhigendes, gleichzeitig aber auch hoffnungsvolles Buch vor. Er begleitet führende Wissenschaftler wie Christian Drosten bei der Suche nach dem Ursprung von Pandemien, beobachtet sie bei ihrer Arbeit an Viren wie MERS und Ebola und dem Versuch, die nächste Seuche zu entdecken, bevor sie ausbricht. Dabei erzählt das Buch von der größten Waffe, die die Menschheit im Kampf gegen neuartige Erreger hat: der Wissenschaft.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Philipp Kohlhöfer arbeitet u.a. für das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Er ist Autor und Kolumnist unter anderem für GEO. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere wohnte er monatelang bei Straßengangs. Bereits 2003 schrieb er eine Reportage über Coronaviren. Protagonist damals: Christian Drosten.  

Inhalt

[Die Lage ist unübersichtlich]

Vorwort von Christian Drosten

Intro

1 SARS-CoV-2. PCR. Schweinegrippe. Kreuzimmunität. Spanische Grippe.

Kapitel eins Ein alter Bekannter

Kapitel zwei Es wird kleinteilig

Kapitel drei Der Flügelschlag eines Schmetterlings

2 Ebola. SARS. R-Wert.

Kapitel vier Das Tor zur Geschichte

Kapitel fünf Potenziell unangemessenes Verhalten

Kapitel sechs Coronaviren? Coronaviren!

3 Masern. Impfen. Herdenimmunität. Cholera. Nipah.

Kapitel sieben Parameter ändern sich

Kapitel acht Laufen lassen

Kapitel neun Ein historischer Fußabdruck

4 HIV. Pocken. Verschwörungen.

Kapitel zehn Alles Zufälle

Kapitel elf Irgendwas kommt immer durch

Kapitel zwölf Verschiedene Wahrheiten

5 Hanta. Hendra. Neue Viren. Die Zukunft.

Kapitel dreizehn Zwischen den Welten

Kapitel vierzehn Muster

Dank

Quellen

Prolog

Intro

1 SARS-CoV-2. PCR. Spanische Grippe. Schweinegrippe. Kreuzimmunität.

2 Ebola. SARS. R-Wert.

3 Masern. Impfen. Herdenimmunität. Cholera. Nipah.

4 HIV. Pocken. Verschwörungen.

5 Hanta. Hendra. Neue Viren. Die Zukunft.

Die Lage ist unübersichtlich, während es wahllos tötet. Einen, und dann noch einen, und dann immer weiter, bis fast keiner mehr übrig ist.

Es beginnt überraschend, und zuerst ist es nur eine Störung im Alltag, nichts Besonderes, kann man kurz erledigen, ist weit weg. Niemand rechnet mit etwas Größerem, und vielleicht ist das nicht besonders schlau, schließlich ist das Gebiet groß und gewaltig und abgelegen, und passieren kann ohnehin immer alles. Außergewöhnlich ist das nicht, im Gegenteil: Es ist vorher passiert, und es wird wieder passieren. Irgendjemand hat sich irgendwann Gedanken darüber gemacht, und so gibt es Quarantänevorschriften und einen Plan, was zu tun ist, wenn dieser Fall eintritt, aber der beste Plan nutzt nichts, wenn ihn niemand beachtet. Und so verändert sich der Parasit im Laufe der Zeit. Er mutiert und wird dabei gefährlicher.

Es hätte bekannt sein können. Es kommt unvorbereitet.

»Ich bewundere die konzeptionelle Re inheit«, sagt Ash, der Androide. Sein Kopf liegt abgetrennt neben seinem Körper, bedeckt mit weißem Schleim. »Geschaffen, um zu überleben. Kein Gewissen beeinflusst es. Es kennt keine Schuld oder Wahnvorstellungen ethischer Art.« Er grinst dabei, er fühlt nichts, er sagt: »Ihr könnt es nicht besiegen.«

Und dann steht Ripley auf, und sie wird das Alien töten. Für dieses Mal.

Vorwort von Christian Drosten

Popliteratur über Pandemie-Themen? Man mag sich wundern, warum ich als Wissenschaftler, der zuvor stets um differenzierte Nüchternheit bemüht war, nun ein Vorwort zu einem Buch beitrage, das eine so ganz andere Sprache benutzt, als man es beispielsweise aus Werken der Populärwissenschaft kennt. 

Die einfache Antwort lautet: Ich kenne den Autor seit langem. Philipp Kohlhöfer und ich wohnten jahrelang in der gleichen Nachbarschaft in Hamburg und wurden Kiezfreunde. Gleichzeitig war Philipp immer schon von Wissenschaftsthemen fasziniert und schrieb darüber auf seine ganz eigene Weise – in der direkten Sprache des norddeutschen Hipsters, aus der beobachtenden Distanz eines Gebildeten, aber eben nicht Ausgebildeten. Zu SARS-Zeiten interviewte er mich dann einmal für den »Stern«. Lang ist es her. Ich ging meinen Weg weiter nach Bonn und Berlin. Die Kontakte wurden zwar seltener, rissen aber auch nie vollkommen ab. Bei Fragen rund um wissenschaftliche Themen rief er immer mal an. Über die Zeit entwickelten wir ein gutes Gefühl für die Sicht- und Sprechweise des anderen. 

Sein nun vorliegendes Projekt berührt das wahrscheinlich größte Wissenschaftsthema dieses Jahrzehnts. Das Buch handelt nicht nur allein von der Covid-19-Pandemie, sondern auch von deren biologischen Hintergründen und jenen Personen, die als Wissenschaftler aktuell an einigen der relevantesten Themen für die Menschheit arbeiten. Wie auch mit den anderen Kolleginnen und Kollegen, die in diesem Buch vorkommen, hat Philipp daher auch mit mir längere Gespräche geführt und diese dann in seine Erzählung eingearbeitet. Immer in seinem ganz eigenen Stil, aber stets wahrheitsgemäß, vollständig und wissenschaftlich.

Das Buch ist kein COVID-19-Buch. Es berührt zwar den Beginn der Pandemie in Deutschland, holt aber weiter aus und biegt in einer Phase ab, in der es in Deutschland dann kontrovers wurde und die Balance in der öffentlichen Diskussion zu wackeln anfing. Gut so, denn diese Kontroverse ist kein rein wissenschaftlicher Gegenstand mehr, und Philipps Vorsatz war stets, ausschließlich Wissenschaftsthemen zu beschreiben.

Muss der dabei oft etwas ungewohnte Ton sein? Ich denke, es gibt durchaus eine Berechtigung dafür. Vor allem sehe ich eine wichtige Lücke, die bisher noch von kaum einem deutschsprachigen Beitrag besetzt ist. Während ganze Schülerjahrgänge nun anscheinend Virologen werden wollen, ist der Zugang zu einer wissenschaftlichen Vorstellungswelt mühsam, wenn nicht sogar ganz verschlossen. Das gilt insbesondere für die Jüngeren und diejenigen, deren Alltagserfahrung sich vielleicht in ganz anderen Lebenswelten abspielt. Zugang zu vermeintlich sperrigen Themen erhält man mitunter über Personen. Genau darin liegt neben der wissenschaftlichen Beratung mein bescheidener Beitrag zu diesem Buch. Wissenschaft ist auch nichts kalt Technisches, sondern wird von Menschen betrieben. Eine Konzentration auf die menschlichen Aspekte führt zwar nicht in die Tiefe der Forschungsstrategie und vermittelt auch keine Einblicke in die Zelle. Aber sie spannt eine wichtige Verbindung vom Alltag in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm.

Hoffentlich entsteht dabei der Eindruck, dass dieser Turm so hoch und unerreichbar nun auch wieder nicht ist. Und hoffentlich entsteht durch die vorliegende Lektüre Neugier und Mut, sich der Wissenschaft zu nähern. Das ist mir ein persönliches Anliegen, denn auch ich habe die wissenschaftliche Karriere nicht mit der Muttermilch eingesogen. Auch ein Zugang zur Universität ist noch längst nicht ausreichend für die Ausübung eines Berufs oder auch die Verwirklichung eines Traums. Das nötige Selbstbewusstsein und eine gewisse Vorstellungskraft, die auch mit Emotionen einhergehen, gehören dazu. Dieses Buch leistet einen Beitrag zur Ausprägung einer solchen Vorstellungswelt.

Eine andere Funktion von Popliteratur möchte ich noch ansprechen. Man hat in diesen Tagen das Gefühl, dass die Töne in den Medien zwar schärfer werden, die Sachthemen dahinter aber immer mehr verschwimmen. Die Komplexität der Sachfragen geht im Markt der Aufmerksamkeit mitunter verloren. Auch in der Wissenschaft kommt es zu einer verstärkten Personalisierung und scheinbarer Lagerbildung, wie man sie bislang nur aus der Politik kennt.

Dem steht das Erleben eines Wissenschaftlers vollkommen entgegen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben nicht das Ziel, eine bestimmte Meinung zu untermauern oder eine andere zu diskreditieren. Wenn sich Erkenntnisse ändern, können Wissenschaftler ihre Aussagen anpassen, ohne dass Kollegen einem das nachtragen oder dies gar als Gesichtsverlust empfinden. Nur im Zerrspiegel der Medien entstehen diese Vorstellungen.

Für Wissenschaftler ist die Kommunikation mit Öffentlichkeit und Medien ohnehin alles andere als attraktiv. Schon rein aus Gründen der Zeitökonomie können sie es sich gar nicht leisten, die Öffentlichkeit dauernd am eigenen Erleben teilhaben zu lassen. Hinzu kommt: Sie haben aus der ständigen Präsenz in der Öffentlichkeit keinen Vorteil, da über wissenschaftliche Erkenntnisse eben nicht in der öffentlichen Debatte entschieden wird.

Das vorliegende Buch verschafft vielleicht gerade durch seinen Blick auf Akzente eine Vorstellung davon, wie sich das Leben als Wissenschaftler anfühlt und dass dies ganz anders ist, als es Ihnen vielleicht einige Medien glauben machen wollen. Begeisterung für Inhalte ist eine der ganz starken Triebfedern dafür, dass man gern Wissenschaftler ist und in dieser Rolle auch bleibt. Ich hoffe sehr, dass der vorliegende Text diese Akzente transportiert, ohne eine Erfassung des abstrakten Ganzen oder ein Vordringen in die Tiefe der Details voraussetzen zu müssen. 

 

Christian Drosten

Berlin, im Mai 2021

Intro

Wir kommen in Frankfurt an, und das Land macht zu.

Wir sind in Paris in der Woche zuvor, Hamburg hat Schulferien, und ich habe meiner Tochter versprochen, zum Eiffelturm zu fahren. In Italien gibt es bereits einen Ausbruch, und ich bin unsicher, ob wir wirklich fahren sollten. Einerseits: Wenn man etwas verspricht, hält man sich gefälligst daran. Andererseits gibt es längst überall erste Fälle, in Frankreich auch, Desinfektionsmittel wird geklaut und Klopapier gebunkert. Alles fühlt sich nach Endzeit an. Ist es nicht besser, ein Versprechen zu brechen, wenn man weiß, dass das Kind dann in Sicherheit ist?

Ich überlege, wäge ab, bin in der einen Minute dieser Meinung und in der anderen jener. Und dann mache ich das, was das ganze Land tut: Ich frage jemanden, der sich auskennt.

Ich rufe Christian an.

Und dann fahren wir.

Als wir wiederkommen, ist der Plan: nochmal kurz Opa und Oma »Hallo« sagen, ein Wochenende bleiben und dann zurück in den Norden. Aber an dem Wochenende wird das ganze Land heruntergefahren. Und drei Tage später transportiert die Armee in Bergamo Särge ab. Eine der besten Freundinnen meiner Tochter wohnt im Ort, in Hamburg vermisst mich keiner, ich habe nichts vor: Wir bleiben.

Und man merkt gar nichts.

Es fühlt sich bedrückend an, weil Ungewissheit immer bedrückend ist, aber es ist alles wie immer. Was nicht heißt, dass außerhalb meiner Dorfblase nichts ist: Menschen beginnen zu sterben, Grenzen werden geschlossen, Veranstaltungen verboten. Aber Landleben hat Vorteile. Man merkt so wenig, dass ich mich irgendwann frage, ob das wohl immer so ist, und als ich im örtlichen Kirchenbuch nachsehe, das seit ein paar Jahrhunderten geführt wird, steht dort am Ende des Ersten Weltkriegs: »Dann kam die Revolution, von der man in unserer Gemeinde übrigens nichts merkte, denn alles ging in Ruhe seiner Arbeit nach.«

Weil ich Zeit habe und außerdem relativ regelmäßig mit Christian telefoniere, lese ich mich ein, man will ja mitreden können. Und dann kommen ein paar Dinge zusammen: Irgendwann im April erzählt er mir von den Mails, die er mittlerweile bekommt, der Lack der Zivilisation ist dünn und blättert schnell ab, wenn die Witterung umschlägt. Das Nichtstun wird außerdem langsam langweilig, und ich treffe beim Spazierengehen einen Bekannten von früher, es gibt noch keine Idee davon, dass es kein Jahr später eine Impfung geben könnte, aber dennoch kommt das Gespräch darauf.

WALD. SONNIG. AUSSEN.

 

ER

»Ob Impfungen wirklich nützlich sind, weiß man ja auch nicht.«

 

ICH

»Na ja, du hast als Kind weder Polio noch Diphterie bekommen, bist später nicht an Tetanus gestorben und bei bester Gesundheit – und auch schon über 40.«

 

ER

»Aber was ist denn mit den Langzeitfolgen?«

 

ICH

»Jahrzehnte glücklich und gesund zu leben scheint mir eine akzeptable Langzeitfolge zu sein.«

 

ER

»Du nimmst mich nicht ernst, du Depp.«

 

ABGANG. MECKERND.

Und ich merke, dass Zynismus vielleicht nicht das Richtige ist. Vielleicht muss man einfach besser erklären, denke ich, also lese ich noch mehr. Es gibt noch keinen Plan für ein Buch.

Was ich auch tue: Ich vertreibe mir die Zeit mit Tinder. Mittlerweile habe ich seit Wochen nichts anderes gemacht als Paper gelesen, die Titel haben wie »Longitudinal surveillance of SAR-like coronaviruses in bats by quantitative real-time PCR«. Ich habe mich mit Büchern beschäftigt über Pockenausbrüche in Westafrika in den 1960ern. Und dann matcht es. Mittdreißigerin, engagiert sich gegen alles, was mit -ismus endet: Rassismus, Faschismus, Sexismus, und findet Angela Davies gut, die amerikanische Bürgerrechtlerin. Wir machen smallen Smalltalk, und recht flott kommt die Sprache auf die Pandemie.

»Findest du nicht die ganze Sache etwas merkwürdig?«

Ich verneine. Kommt mir nicht merkwürdig vor. Sollte es? Und was genau? Die Antwort kommt sofort: Da gibt es ja diesen Virologen in Berlin. Sie macht drei Punkte in ihre Textnachricht … und das sieht so aus, als hätte sie sich schon sehr beherrscht, weil sie auch ein Emoji mitschickt, das die Augen verdreht. Der sei sehr panikorientiert. »Ach«, sage ich. »Warum denn das?« Ich bin sehr gespannt. Ich tue zumindest so, denn leider kann ich mir denken, was kommt. Und es kommt auch genau das.

Die Schweinegrippe war doch gar nicht gefährlich, blabla, man darf seine Meinung nicht sagen, sonst gilt man gleich als Verschwörungstheoretiker, blabla, das sieht alles gesteuert aus, blabla. Vor allem: Das Virus wurde nicht ganzheitlich betrachtet. Das sagt sie wirklich: Man könne ein Virus nicht abstrakt behandeln, sondern müsse ja immer seine Wirkung auf den menschlichen Körper mit einbeziehen. Ach was.

Sie sagt, dass sie Gesundheitswesen studiert, auf Erfahrungen und Gefühle hört und sich deswegen auskennt, und bei dieser Begründung kann ich dann auch nichts sagen. Ich versuche es trotzdem kurz, werde aber sofort ausgebremst mit einem forschen »Hey, kein Ding, du kommst auch noch dahinter.« Mit Ausrufezeichen, damit ich das auch wirklich mal verstehe. Sie sagt, ich muss aufwachen, aber sie will mich auch nicht zum offenen Denken motivieren. Und dann sagt die Kämpferin gegen den Faschismus zum Abschied leider das, was, nun ja, sprechen wir es halt mal aus, viele Faschisten sagen, die von rechts und die von links: Die Mainstreammedien haben mich manipuliert. Das System ist schuld und muss weg.

Ich finde das nicht, woraufhin sie findet, dass ich dann eben weg muss, und dann löscht sie mich – was so übersichtlich schlimm ist.

Ich glaube an die Aufklärung. Ich glaube, dass Information gut ist und helfen kann. Ich weiß aber, dass »Glauben« wissenschaftlich betrachtet keine besonders tragfähige Kategorie ist. Denn würden das alle so sehen, gäbe es keinen Grund, Wissenschaft abzuwerten. Letztlich zeigt sich in den Angriffen auf Wissenschaftler, wie ernst man Wissenschaft nimmt. Sonst wären die Angriffe nicht nötig.

Und weil das alles zusammenkommt und Christian sich in seinem Podcast ums Erklären bemüht, sprechen wir in einem unserer nächsten Telefonate, Frühsommer 2020, darüber, ein Buch zusammen zu schreiben. Mal alles in einen größeren Bezug setzen. Aus einer Reihe von Gründen wird daraus nichts, vor allem dem: Seriosität ist zeitaufwendig, und Zeit ist das, was in den Pandemiejahren 2020 und 2021 einer von uns beiden nicht hat. Spoiler: Ich bin es nicht.

Und dann mache ich es alleine. Er würde es bestimmt anders machen. Was nicht besser ist oder schlechter, sondern einfach anders. Er ist Wissenschaftler, und zwar ein sehr guter, ich nicht.

Dieses Buch ist daher Pop-Wissenschaft und kein Paper. Es zeichnet sprachliche Bilder, um Wissenschaft zu erklären und zu vereinfachen. Wenn die versehentlich etwas schiefer sind als beabsichtigt: Ich war’s. Eventuelle Verkürzungen: Von mir. Alle möglichen Songzitate und Filmanspielungen sind auf meinem Mist gewachsen, und wenn der Text manchmal eine Cowboyattitüde hat, die breitbeinig durch die Gegend latscht, big gun, AC/DC, der ganze Kram: Das ist Absicht.

Christian hat ein Vorwort geschrieben, in der Tat. Das macht es allerdings nicht zu seinem Buch, und er bürgt auch nicht dafür, er weiß das, ich weiß es, und eigentlich weiß das jeder, denn das ist normaler Standard. Aber die Zeiten sind politisiert, weswegen ich das ausdrücklich erwähne. Und noch was: Ja, ich bin voreingenommen. Ich bin pro Wissenschaft. Dazu noch mal im ganzen Satz: Christian Drosten ist ein sehr netter und sehr angenehmer Typ. Das war vor zwanzig Jahren schon so, und das hat sich nie geändert.

Weil Wissenschaft das oberste Gebot dieses Buchs ist, auch wenn sie sehr populär daherkommt, handelt dieses Buch nicht von Quatsch wie »Das Virus ist ja nie isoliert worden«. (Doch, ist es.) Objektiv bedeutet nicht, beide Seiten wiederzugeben, wenn eine Seite schon lange widerlegten Unsinn erzählt. Objektiv zu sein ist was anderes als neutral zu sein. Man muss nicht so tun, als könne man keine definitiven Aussagen treffen. Doch, kann man. Muss man sogar. Es gibt einen Grund, warum wir nicht ernsthaft darüber reden, ob die Erde flach ist, Rauchen gesund oder man Virusinfektionen mit Liebe besiegen kann. Das ist nämlich falsch. Und damit ist die Debatte darüber zu Ende. Deswegen geht es in diesem Buch auch nicht um die Falsch-Positiv-Rate von PCR-Tests (okay, ganz kurz doch), das ist ungefähr hunderttausendmal seriös erklärt, und es geht auch nicht darum, ob Christian Drosten Pandemien erfindet oder sich daran bereichert, aber nur fürs Protokoll: Nein, tut er nicht.

Er bekommt kein Geld für den PCR-Test, ist an keinem Labor beteiligt, verdient nirgends mit, macht seinen Podcast for free, und für das Vorwort habe ich ihm nichts bezahlt und der Verlag auch nicht.

Die PCR wird dennoch erklärt. Erklärt wird auch Superspreading und Impfen, Evolution von Viren und der Reproduktionsfaktor, Herdenimmunität und Mutationen. Zur Sprache kommt das alles, weil es kein SARS-CoV-2-spezifisches Phänomen ist. In diesem Buch geht es nicht um eine Pandemie, sondern um viele (potenzielle). Das ist schlicht bei anderen Pandemien auch alles wichtig. Bei denen, die waren, und bei denen, die noch kommen, denn das wird wieder passieren – wenn wir unsere Art zu leben nicht ändern und Natur weiter so betrachten wie einen Joghurt mit Himbeergeschmack oder ein paar neue Sneakers: als Konsumprodukt.

Vor dem Hintergrund von SARS-CoV-2 soll das Buch erklären, warum und wie Pandemien entstehen. Und wieso Zoonosen immer öfter auftauchen. Denn seit Menschen jeden erdenklichen Winkel der Erde erschließen, steigt die Gefahr, dass Viren von Tieren überspringen. Einerseits. Andererseits sind Viren schon immer da. Wir sind von ihnen umgeben. Als vor etwa 700 bis 800 Millionen Jahren tierisches Leben entsteht, haben sie schon mindestens drei Milliarden Jahre der Evolution hinter sich – zusammen mit den Bakterien. Sie sind überall, in der Atmosphäre, in heißen Quellen und alkalischen Seen, im ewigen Eis und tief im Meeresboden.

Unser Planet besteht aus schätzungsweise 1033 Viren. Eine völlig unvorstellbare Zahl. Ständig werden neue Arten entdeckt oder bekannte verändern sich. Ihr Generationszyklus ist so schnell, dass Viren Evolution zum Zusehen sind. Und weil wir uns nicht getrennt von ihnen entwickelt haben, führt ihre Erforschung nicht nur zu einem besseren Verständnis von Naturgeschichte, sondern zu einem besseren Verständnis unserer selbst – denn rund neun Prozent unserer Erbsubstanz stammt direkt von Viren ab.

Darunter sind Hunderte Genschnipsel, die irgendwann eingebaut wurden, ursprünglich eine andere Funktion hatten, aber jetzt friedlich mit uns koexistieren. Weil zudem jede Zelle Abschnitte des Erbgutes enthält, die keine erkennbare Funktion besitzen, und weil davon wiederum ein großer Teil von Viren stammt, gehen rund vierzig Prozent des menschlichen Erbguts auf Viren zurück. Was nichts anderes heißt als: Wir haben nur ganz knapp die Mehrheit in unserem eigenen Körper. Viren leben auf uns und in uns, und vermutlich kontrollieren sie das Mikrobiom in unserem Darm. Und wenn wir auf die Toilette gehen, werden wir nicht nur Lebensmittelreste von vor ein paar Tagen los, sondern auch bis zu einer Milliarde Viren und hundert Millionen Bakterien, in einem Gramm wohlgemerkt. Letztlich sind wir Holobionten, so nennt sich das, mehrteilige ökologische Einheiten, die in einer Symbiose mit ihren Bakterien und Viren zusammenleben. Auch wenn wir Viren meist nur bei Ausbrüchen einer Krankheit wahrnehmen: Ein »Wir« gegen »Die« gab es noch nie. Sie sind ein Teil von uns. Und wir streng genommen nur Gäste in ihrer Welt.

Obwohl es vor allem am Anfang so aussehen wird, ist dieses Buch keine Chronik des SARS-CoV-2 Ausbruchs, das ist schon gemacht worden, und alles noch mal zu wiederholen, ist nur mittelspannend.

Dieses Buch handelt vielmehr vom Fahrradfahren zum Kanzleramt, Modern Talking in Rumänien und von Darth Vader. Es geht um Ebola und Aerosole, die Avengers und Tony Stark, den Unterschied zwischen DNA und RNA, um die Masern, Mike Tyson und HIV, die Foo Fighters und die Schweinegrippe, und es geht irgendwie auch darum, was eine Schlupfwespe mit Alien zu tun hat und welche Rolle Viren dabei spielen. Es geht um Influenza und um SARS, und um den Unterschied zwischen Rechthaben und Rechthaberei geht es auch.

Weil aber Pandemien nicht nur ein medizinisches Problem sind, sondern Erreger immer auf eine Gesellschaft treffen, die sich darüber dann selber sehr erregt, wird es auch darum gehen. Vielleicht ist die Pandemie vorbei, wenn dieses Buch erscheint, das kann sein (ist aber unwahrscheinlich), aber zu spät ist es dann trotzdem nicht, weil es nie ein Buch werden sollte, das sich um Tagespolitik dreht, sondern um Muster, die immer wieder auftreten. Seuchen sind keine Naturkatastrophen wie ein Erdbeben. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern folgen auf Entscheidungen – und das muss auch keiner erfinden. Zoonosen tauchen aus dem Nichts auf, weil sie in ihren tierischen Wirten überleben können. Mindestens vierzig Viren haben Pandemie-Potenzial, zumindest sind das diejenigen, von denen das bekannt ist. Wie viele unbekannte Viren es darüber hinaus gibt, die dazu imstande sind, die ganze Welt zu infizieren, weiß niemand.

Die Geschichte von Seuchen ist immer groß und immer gleichzeitig auch persönlich, denn selbst die größte Krankheitswelle fängt klein an: mit dem Übersprung des Erregers vom Tier auf einen Menschen. Und auch wenn sich fast alle dieser Infektionen totlaufen, denn das tun sie in der Regel, dann passiert das eben doch nicht immer. Ein einziger erfolgreicher Übersprung zur richtigen Zeit genügt. Irgendwer ist immer Patient 0.

Dieses Buch erzählt von der größten Waffe, die die Menschheit im Kampf gegen Seuchen hat: Es ist eine Geschichte über Wissenschaft.

 

Philipp Kohlhöfer, Hamburg

April 2020 – Mai 2021

1SARS-CoV-2. PCR. Schweinegrippe. Kreuzimmunität. Spanische Grippe.

Kapitel einsEin alter Bekannter

Die Besteigung eines Berges ist anstrengend, aber mit einem guten Team geht alles. Nicht jeden Bekannten will man wiedersehen. Oasis haben recht, ein Russe war allerdings der Erste. Die Beschimpfung von Studenten reicht als Alleinstellungsmerkmal vermutlich nicht aus, selbermachen kann aber nicht schaden.

 

Der Sound einer Snare Drum ist genauso gut wie kurze Wege, weiter weg als Brandenburg wäre trotzdem besser. Dracula und Stalin haben sich nie getroffen. In der Antarktis gibt es keine Fledermäuse, aber einen Bezug zum Tollwutvirus. Wir sind ein Dorfteich. Alleine sein kann man auch unter lauter Menschen.

 

Und wenn Geschichte nur aus alten Steinen besteht, dann sollte man die Berufswahl überdenken.

Als Christian Drosten zum ersten Mal von einem neuen Virus hört, sind es noch 72 Tage bis zur ersten Morddrohung.

Er hat gerade Silvester hinter sich gebracht. Er hat schlecht geschlafen und zu kurz. Es ist der erste Januar, er steht auf seinem Balkon und freut sich über die frische Luft. Berlin liegt zu seinen Füßen und sieht erschöpft aus. Er hat das Handy in der Hand. Gerade hat ein Kollege eine Mail geschrieben, in der es um eine Häufung von schweren Lungenentzündungen geht, virale Pneumonie in Zentralchina, in Wuhan.

Hm, denkt Drosten, mal sehen. »Angeblich gibt es pos. CoV-Nachweise (SARS-CoV)«, steht in der Mail.

Da ist das Wort. SARS. Er hat daran gedacht bei »viraler Pneumonie«, geht ja nicht anders, Lungenentzündung, viral, an was soll er sonst denken, es ist seine Krankheit, irgendwie. Es ist außerdem: ein lange nicht mehr gesehener Bekannter, auf den man keine Lust hat und von dem man dachte, dass er die Stadt vor langer Zeit verlassen hat. Und dann plötzlich sieht man ihn wieder, aus der Entfernung, nur kurz, wie er über die Straße huscht, aber er könnte es sein. Man hat ihn nicht vermisst. Hoffentlich kommt er nicht vorbei. Das geht gerade rum, schreibt der Kollege, verfolgt er seit gestern, hast du davon was gehört? Hat er nicht.

Das letzte Jahr war anstrengend. Drosten hat mit dem Institut für Virologie an der Berliner Charité ein deutschlandweites Netzwerk für Krankheiten aufgebaut, die von Tieren auf Menschen überspringen. Es gab viel zu organisieren, viele Reisen, viele Kongresse, viele Forschungsprojekte. Er hat an MERS geforscht, einem Coronavirus, das vor allem auf der arabischen Halbinsel vorkommt, in Dromedaren, und von dort immer mal wieder auf Menschen übergeht, unmittelbar vor Weihnachten erst kommt er zurück aus Saudi-Arabien. Er hat sich in den letzten Monaten zudem mit Viren in Insekten beschäftigt und alle möglichen Projekte koordiniert, Diagnostik, Virusökologie. Das neue Jahr sollte eigentlich etwas ruhiger werden. Er war länger nicht im Urlaub, und eigentlich war das der Plan, weit weg fahren mit der Familie, längere Ferien, ein paar Wochen bleiben, und Seuchen und Ausbrüche, Viren und Verdachtsfälle einfach in Berlin lassen.

Andererseits: Es ist ja noch nichts passiert. Solche Meldungen gibt es ständig, eine neue Krankheit hier, ein Ausbruch dort. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist das nicht wichtig, ein Hoax, eine Falschmeldung. Jemand hat ein Krankheitsbild verwechselt, das Virus gibt es schon, ein Missverständnis, ist doch keine Infektion, ein lokales Phänomen, eine Anekdote, die sich nicht verifizieren lässt. Kommt vor. Die normalen Erklärungen überwiegen. In der Mail steht: »Vielleicht aber auch alles nur falscher Alarm.«

Passieren kann ein Ausbruch allerdings immer. Seuchen gibt es nun mal, Infektionskrankheiten kommen vor, neue Krankheiten ebenfalls. Und so selten ist das auch wieder nicht. Ein ernsthafter Grund, warum gerade jetzt im Moment nicht irgendwo eine Krankheit von einem Tier auf einen Menschen überspringen sollte, fällt ihm nicht ein. Ausbrüche bleiben meistens klein oder laufen sich tot. Zwei oder drei Menschen können eine neue Krankheit haben, ausgelöst von einem Virus, das noch keiner kennt und das das Potenzial hat, zu einer globalen Katastrophe zu werden, aber wenn diese zwei oder drei Kranken nicht auffallen, überregional, und niemand die Fälle miteinander verbindet, weil die Cluster fehlen, dann erkennt keiner ein Muster, und die Welt wird entweder nie davon erfahren oder sehr viel später. So gesehen ist es nicht gut, von einem Ausbruch zu hören, was auch immer es ist, der sich in achttausend Kilometern Entfernung ereignet hat.

Drosten geht in die Küche. Er macht sich einen Kaffee und schwankt zwischen Wird schon nichts sein und Was, wenn es stimmt? Hoffentlich ist es nichts, denkt er. Der Kaffee läuft durch. Die Maschine brummt, und er atmet tief ein, es ist wie Luftholen vorm Tauchen. Hoffentlich stimmt es nicht. Er geht zurück auf den Balkon. Er sieht zum Fernsehturm, dann aufs Handy.

Er beginnt zu suchen. Bei ProMed, dem Program for Monitoring Emerging Diseases, Claim: »We report human, animal & plant infectious diseases«. Ein Nachrichtendienst für Infektionskrankheiten, nichts für die Popkultur, der Kreis der Interessierten ist überschaubar. 22000 Follower bei Twitter, 80000 Abonnenten des Newsletters. Es geht dort um Affenpocken und das West-Nil-Virus, um die Verbreitung eines Virus namens Chikungunya in Asien und die St.-Louis-Enzephalitis in den USA, eine Entzündung des Gehirns, die in irgendeinem County in sonstwo glücklicherweise doch nicht aufgetreten ist. War nur ein Missverständnis. Es ist das Klein-Klein der Infektionskrankheiten. Liest man eher nicht zum Spaß, sieht aus wie ein alter ftp-Service aus der Urzeit des Internet. Ist aber trotzdem eine wichtige Informationsquelle. 2003 hat Drosten über ProMed mitgeteilt, dass er das SARS-Coronavirus entdeckt und auch schon einen Test dafür hat, mit einer kurzen Anleitung.

Er scrollt ein bisschen auf der Seite herum, und es dauert nicht lange, bis er die Lungenentzündungen findet. Mist, denkt er. Und dann: Mal nicht zu hoch hängen. ProMed ist zwar vom Fach, aber eben auch nur eine Redaktion, keine Wissenschaftsbehörde, nichts Offizielles. Manchmal tauchen dort News auf, die abgeschrieben sind aus sozialen Netzwerken, Neuigkeiten zwar, aber Gerüchte, weder überprüft noch bestätigt. Kann alles stimmen, muss aber nicht. Er bleibt skeptisch und ist noch nicht wirklich überzeugt. Und vielleicht ist in dem Moment der Wunsch Vater des Gedankens.

Drosten läuft ein paar Schritte auf dem Balkon, hin und her, vor und zurück. Er spielt mit dem Handy in seiner Hand. Er überlegt, den Kollegen anzurufen, der ihm die Nachrichten geschickt hat, lässt es aber bleiben, denn der war Silvester noch bis spät abends im Labor. Verdacht auf MERS, eine Patientin, deren Probe sofort untersucht werden musste. Die Virologie der Charité ist sogenanntes Konsiliarlabor für Coronaviren, besondere Aufgaben für den öffentlichen Gesundheitsschutz, Spezialdiagnostik, kann nicht jeder. Was dazu führt, dass ständig irgendwelche Viren aus ganz Deutschland auf den Labortischen der Berliner landen. Die irgendeiner bearbeiten muss, auch an Silvester, mitten in der Nacht.

Ob aus einem neuen Erreger eine Pandemie wird oder eine Epidemie oder am Ende nur eine Handvoll Menschen irgendwo in Asien betroffen sind, spielt erst mal keine Rolle für diejenigen, die sich damit beschäftigen. Selbst wenn ein Ausbruch weit weg scheint, ziehen sich die Forschungsarbeiten bei einem neuen Virus mindestens über Monate hin, manchmal über Jahre oder gar Jahrzehnte. Analysieren, sequenzieren, die Zusammenarbeit mit der WHO und anderen Behörden, die Quelle des Virus finden. Und das alles eine Stufe hektischer, wenn SARS wirklich wieder da ist. Oder es zumindest ein SARS-ähnliches Virus ist.

Seit knapp zwanzig Jahren beschäftigt sich Christian Drosten mit Coronaviren. Er ist einer der führenden Experten weltweit, knapp 400 Studien hat er bisher zum Thema veröffentlicht. Darunter diejenige, die ihn in der Forscherwelt auf einen Schlag bekannt machte: 2003 entdeckt er den SARS-Erreger, gerade mal 29 Jahre alt ist er da – zeitgleich mit Kollegen der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC und einem Labor an der Universität Hongkong. Ein Coronavirus, das ist damals für alle überraschend, er weiß noch, wie er sich wundert und den Test mehrmals wiederholt, schließlich lösen die zwei damals bekannten Coronaviren allenfalls Erkältungen aus. Aber dieses Virus ist anders. Es ist weniger ansteckend. Aber viel tödlicher.

Schwere Lungenentzündungen können allerdings durch alles Mögliche ausgelöst werden. Aus China gibt es offiziell nichts, nicht an diesem Tag und an den folgenden auch nicht. Nur: Lungenentzündungen. Vielleicht SARS. Ein Markt für lebende Tiere wird erwähnt. Und angeblich ist Zhengli Shi, Virologin des Wuhan Institute of Virology, des einzigen Hochsicherheitslabors in ganz China, überstürzt von einer Konferenz in Shanghai abgereist. Gerüchte aus sozialen Medien.

Drosten denkt, dass Ausbrüche in Zentralchina ungewöhnlich sind. Normalerweise passiert so was eher im Süden des Landes, bisher war das oft so. Es gibt große Märkte und eine mächtige Tradition für den Verkauf und Konsum lebender Tiere. Dort ist der Übersprung zwischen Menschen und Tieren wahrscheinlicher. Er klopft mit den Fingern auf den Holztisch, der vor ihm steht. Es beginnt zu nieseln.

Wuhan ist schlecht, denkt er, die Stadt liegt im Zentrum des Landes, sie verbindet alle großen Ballungszentren und ist verkehrstechnisch so gut angebunden, dass ein Virus sich leicht in ganz China verteilen könnte. Das Institut dort ist bekannt für gute Forschung, die Kollegen sind rührig und interessiert. Drosten kennt Zhengli Shi seit Jahren, von Konferenzen. Sie wollten sich im Herbst 2017 in Wuhan treffen, wieder eine Konferenz. Die Termine waren abgesprochen und der Flug gebucht, aber dann kam irgendwas dazwischen, und Drosten blieb zu Hause.

Der Regen wird etwas stärker. Es ist windig und viel zu warm für die Jahreszeit. Drosten geht wieder in die Küche. Noch einen Kaffee, noch einmal durchatmen. Das neue Jahr ruhig anfangen klappt wohl eher nicht. Er wird sich morgen mit den Kollegen besprechen, und sie werden beschließen, einen Test zu bauen. In einem gesicherten Gefrierlager im Institut liegen alle möglichen Viren, SARS auch. Und wenn das wirklich ein Virus sein sollte, das SARS ähnelt, dann kann das ja zumindest nicht schaden. Technisch ist das kein Problem für das Team, ein großes Risiko besteht nicht. Wenn sich herausstellt, dass die Gerüchte genau das bleiben, nicht haltbares globales Geschwätz in sozialen Medien, dann ist die Arbeit von ein paar Tagen eben umsonst. Aber mehr ist dann eben auch nicht passiert.

An eine Pandemie glaubt Drosten zu diesem Zeitpunkt nicht, warum auch. Aber er weiß, dass es, wenn es nur annähernd so groß wird, wie es SARS 2002 und 2003 war, ein Riesending wird. Er steht in der Küche, lehnt an der Anrichte, aus dem Fenster beobachtet er die Wolken, die in dem grauen Berliner Himmel hängen, und er sieht sich nach China fliegen. Laborbegehungen machen, mit Mitarbeitern sprechen, Offizielle treffen. Sachen tun, die bei einem kleinen lokalen Ausbruch, einer Epidemie, normal sind. Er ist lange genug dabei, die Euphorie der Anfangstage ist weg. Er weiß, dass neue Viren, die einen Ausbruch auslösen, der etwas größer wird, lokal, an etwas anderes denkt er nicht, ein spannendes wissenschaftliches Projekt sind. Für alle aber, die zufällig keine Virologen sind oder Epidemiologien oder Immunologen und Soziologen, nerviger Mist, der Alltag zerstört und Gewohnheiten zertrümmert und manchmal noch Schlimmeres. Dass man sich nicht beliebt macht. Das war bei SARS schon so, und das liegt in der Natur der Sache.

»Das ist wie eine Mount-Everest-Besteigung«, wird er später sagen, »Teamarbeit. Alle müssen allen helfen, sonst klappt das nicht.« Er wird morgen ins Institut fahren. Er wird hoffen, dass die Arbeit der kommenden Tage umsonst ist. Dass es ein Gerücht bleibt.

Es ist Mittwoch. Es ist Neujahr.

Draußen sieht es aus wie ein normaler Tag. Er ist es nicht.

In ersten Tageszeitungen taucht der Ausbruch in den nächsten Tagen auf, immer klein, am Rand, und wenn man nicht sucht und sich nicht auskennt, übersieht man das, aber es ist prominent genug, dass Drosten abfotografierte Meldungen und Mails von allen möglichen Kollegen bekommt. Sie fragen, ob er eine Ahnung hat, was da gerade in China passiert. Einer schreibt: »Weißt du irgendwas Genaues über Wulan?« Der Name der Stadt ist in diesem Moment noch nicht besonders geläufig. Ein anderer leitet eine Nachricht weiter, geschrieben eigentlich an eine Kollegin, die vor 17 Jahren an SARS arbeitete. Es ist nicht viel Text. Nur eine Frage. Sie lautet: »Ist dein Baby wieder da?«

Er kommt mit dem Fahrrad, wie er das meistens macht, schließlich ist der Campus groß. DDR-Architektur wechselt sich ab mit Gründerzeitstruktur und neuen Gebäuden. Auf Teilen des Geländes hat man das Gefühl, in einem Park zu sein, wenige Menschen, viele Bäume, anderswo gilt das Gegenteil.

Die Charité ist, laut dem amerikanischen Magazin Newsweek, das fünftbeste Krankenhaus der Welt und das mit Abstand beste in Europa. Und garantiert eins mit der interessantesten Geschichte. Über 300 Jahre alt, 1710 als Pesthaus gegründet, und als die Seuche ausbleibt und das Haus nun schon mal da ist, zur Ausbildung von Militärärzten genutzt, immer mit einer Mischung zwischen Aufklärung und Militarismus. Eine Konstante in der sonst wenig konstanten deutschen Geschichte: Vorzeigeeinrichtung Preußens, des Deutschen Reiches, der DDR und der Bundesrepublik. Mehr als die Hälfte der deutschen Nobelpreisträger in Physiologie und Medizin hat hier gearbeitet, Robert Koch, Emil Behring, Paul Ehrlich, alles sehr imposant. Der Ort ist einer der forschungsintensivsten Einrichtungen der Welt, neben der Zusammenarbeit mit den beiden Berliner Universitäten besteht auch eine mit der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, der Universität in Oxford und der London School of Hygiene and Tropical Medicine, die wiederum von dem Belgier Peter Piot geleitet wird, dem Mitentdecker von Ebola. Christian Drosten grüßt, als er durch den Haupteingang fährt, man kennt sich.

Das Institut für Virologie sitzt in einem Nebengebäude, unauffällig duckt es sich weg zwischen den anderen Gebäuden, grau in grau, und natürlich ist das keine Absicht, aber Virologie im Januar 2020 ist fast genauso: unbemerkt und solide. Interessiert sich keiner für. Warum auch? Außen sieht das Institut aus wie ein Stück DDR, aber gebaut wurde es in den 1920er Jahren, die Renovierung ist bereits bei den Nebengebäuden angekommen. Innen beherbergt es eines der modernsten Labore des Landes. Christian Drosten schließt sein Fahrrad an einem Treppengeländer an. Als ob er in eine Vorlesung muss.

Eine Wand mit Büchern steht in seinem Büro, großer Schreibtisch, Tisch für Besprechungen, rund, Zimmerpflanze. Alles protestantisch zurückgenommen, wie das so ist in Berlin. Vom Arbeiten ablenken kann wenig.

Drosten setzt sich. Einmal kurz die Mails checken, bevor das Team zusammentritt. Über hundert sind es seit gestern, ungefähr so wie immer und weit weniger als das, was noch kommen wird. An die tausend werden es dann pro Tag im Schnitt sein, Beschimpfungen, Presseanfragen, Fans, Hobbyvirologen und Ministerien, aber bisher sind es meistens Kollegen, Wissenschaftler von überall, Deutschland, Europa, Asien, Amerikaner sind dabei, und der Ausbruch in China wird in manchen Mails erwähnt, aber er dominiert noch nicht. Das meiste ist wissenschaftlicher Alltagskram, Veröffentlichungen, Kongresse, Besprechungen.

Das Institut für Virologie ist relativ groß, etwa achtzig Mitarbeiter sind es. Ohnehin findet jeden Tag ein Meeting statt mit den verschiedenen Arbeitsgruppenleitern. Später wird einmal in der Woche ein großes Labor-Meeting für die experimentellen Arbeiten zum Coronavirus dazu kommen – die wiederum in mehreren Gruppen laufen. Daran nehmen an manchen Tagen zwanzig Leute teil, manchmal aber auch nur fünf. Die Laborarbeiten sind streng getaktet, oft ist keine Zeit.

Auf dem Tisch stehen Kaffeetassen von irgendwelchen Ausrüstern von Labordiagnostik, wenn von Messen was übrig bleibt, manche auch aussortiert, das, was zu Hause keiner mehr will. Niemand ist richtig nervös, aber alle haben das Gefühl, dass das größer werden kann und nicht so schnell verschwindet. Schließlich ist das Raunen auf Social Media lauter geworden, obwohl die Indizienlage sich nicht verändert hat. SARS.

»Wissen wir was Neues?« Allgemeines Kopfschütteln. Bestätigt ist immer noch nichts, aber auffällig ist, dass kein einziges der Gerüchte Influenza erwähnt, dabei wäre das eigentlich naheliegend. Schließlich ist Saison, das Virus zirkuliert. Sie diskutieren ein bisschen, was meint ihr, ist das wahrscheinlich, ein Coronavirus? Aber letztlich ist das Kaffeesatzleserei. Und so wird es schnell konkret: Wenn jemand eine Probe anliefert, mit Verdacht auf dieses Virus, was können wir tun? Schließlich sind sie das Referenzlabor in Deutschland für Coronaviren. Diejenigen, die sich auskennen und eine Idee haben müssen. Wenn die Gerüchte stimmen und SARS zurück ist, dann sollten sie vorbereitet sein.

Und tatsächlich hat Victor Corman, spezialisiert unter anderem auf Virusdiagnostik und klinische Virologie, aber eben auch auf die Evolution zoonotischer Viren, der Kollege, der Drosten in der Mail auf den Ausbruch in Wuhan aufmerksam gemacht hat, sich noch an Neujahr an den Rechner gesetzt und überlegt: Wenn wirklich ein neues SARS-Virus kommt, wie könnte das aussehen? Er kennt die Sequenzen aus den bekannten und in den letzten Jahren im Tierreich gesammelten Viren, alle tun das hier, und wenn man die aneinanderlegt, dann kann man sehen, welche Abschnitte gleich sind, immer. Und sehr wahrscheinlich wäre das auch bei einem neuen SARS-Coronavirus der Fall, spekuliert er. Es ist eine Vorhersage und eine Wette, gegründet auf Wissen, und sie wird sich später als richtig erweisen. Corman beginnt in der Folge damit, verschiedene Primer zu bauen, die passen könnten. Und als die Sequenz von SARS-CoV-2 später von den chinesischen Kollegen bekanntgegeben wird, kann das Team in Berlin schnell vergleichen.

Ob das zu dem Zeitpunkt wirklich notwendig ist, steht in den Sternen. Vielleicht ist die ganze Arbeit umsonst, Primer bauen sich ja nicht von selber, vielleicht, denkt Drosten, starten wir eine Maschine, die ins Leere läuft.

»Sollen wir?« Nicken

»Irgendjemand Einwände?« Keiner.

Drosten beugt sich nach vorne. Er nimmt einen Zettel und schreibt darauf Viren, die der Test später auf keinen Fall nachweisen darf. Er macht das, damit es mal gemacht ist, mehr für sich als für die anderen, schließlich weiß jeder Bescheid, aber doppelt hält besser. Er zieht einen Kreis um die Zahlen.

OC43

NL63

229E

HKU1

Dazu MERS und SARS-CoV-1. Coronaviren allesamt, schließlich sind die eigentlich nichts Besonderes, 1937 erstmals entdeckt, in einem Schwein. Mitte der 1960er als eigenständige Familie beschrieben. Grundlage des Tests muss dennoch erst mal SARS sein, von 2003. Etwas anderes ist schließlich nicht da.

Dabei gilt: SARS1 kann nicht zurückkommen, exakt in dieser genetischen Ausprägung ist das nicht möglich. Viren verändern sich – auch in ihrem natürlichen Reservoir, dem Tier. Würde ein Virus mit dem exakt gleichen Genom auftauchen, wäre klar, dass es aus einem Labor käme. Die Gruppe geht von einem verwandten Virus aus, sehr nahe verwandt vielleicht. »SARS ist zurück« bedeutet für sie »evolutionsbiologisch betrachtet, könnte ein Virus derselben Spezies wieder aufgetaucht sein«. Drosten sagt später: »Da kann man dann zum Beispiel davon ausgehen, dass die Protein-Funktion aller Abschnitte dieses Virus dieselben sind.« Und einen Test schon mal so anlegen. Die Arbeitshypothese lautet: Ist es aus derselben Spezies, wird es sich ähnlich verhalten. Und so ähnlich aussehen.

»Morgen um die gleiche Zeit?«

Morgen um die gleiche Zeit.

Es ist Sommer 2020, in Deutschland wird gegen Corona demonstriert und für den Kaiser, gegen Bill Gates und für einen Friedensvertrag, gegen 5G und für die Liebe, und knapp 1500 Kilometer entfernt erstickt der Mann in Zimmer 27, Station 4, Erdgeschoss, 68 Jahre alt, soweit bekannt keine Vorerkrankungen, an dem zähen Schleim, der seine Lunge verklebt hat.

Thushira Weerawarna steht unter der Dusche eines provisorischen Desinfektionszentrums, aufgebaut im Hinterhof des Krankenhauses in Braşov, Kronstadt, Land der Siebenbürger Sachsen, Rumänien, und kann nicht mehr. Die Sonne knallt vom Himmel. Im Hintergrund sozialistischer Charme, der ja überhaupt nichts Charmantes hat, Plattenbauten, Schlaglöcher, Betonwüste. Vorne eine Baustelle und ein Kiosk, Zwiebeln und Zitronen im Angebot, die gegen Entzündungen helfen und, so sagen das manche hier, bei Lungenentzündungen ist das bestimmt auch so.

Weerawarna sieht den Patienten am Tag zuvor noch. Er schiebt den Schlauch des Lungenspiegelgeräts über den Mund in die Luftröhre und von da weiter in die Lunge. Die Kamera überträgt die Bilder direkt an den angeschlossenen Monitor, so, wie es sein soll. Die Lunge sieht aus wie ein Schneesturm. Wie eine Welle, die bricht, dann, wenn die kleinen weißen Schaumkronen übernehmen. So, wie es nicht sein soll. Die Station ist bis auf den letzten Platz belegt, und das Zimmer ist voll. Ärzte und Pfleger stehen um das Bett herum. Der Mann ist nicht ansprechbar, schon seit Tagen nicht. Er weiß nichts von seinem Zimmergenossen, der eine Gesichtsmaske trägt, die ihm ein Sauerstoffgemisch in die Lungen presst, und der sich irgendwo zwischen Wachzustand und Delirium befindet, und er bekommt die Pfleger nicht mit, die ihn immer wieder wenden und manchmal das Fenster öffnen, stoßlüften, um die Viruslast zu senken. Er sieht die blaue Folie nicht, mit der das Bett beklebt ist, leicht zu reinigen nach dem Tod, und er bemerkt auch nicht, dass ein Dutzend Augenpaare immer wieder zwischen Schlauch und Monitor wechseln, um zu lernen. »Vorsichtig jetzt«, sagt Weerawarna, und alle nicken. Manche im Raum haben das schon mal gesehen, andere noch nie, gemacht hat es noch keiner von ihnen.

Weerawarna zieht einen Schleimpfropfen mit der Sonde aus der Lunge. Er arbeitet konzentriert und erklärt jeden Schritt. Blut kommt nach oben, zäh und schmierig und dunkel wie altes Motoröl. Läuft es schlecht, verwandelt die Entzündung die Lunge in einen Topf voller Sekret, und man kann darin fischen wie in einem See. Manchmal, sagt Weerawarna, bildet er sich ein, dass man am Geräusch erkennen kann, was gleich zum Vorschein kommt. Schleim schmatzt, Blut ploppt.

Die Zuschauer nicken anerkennend.

Die meisten tragen FFP2-Masken, mindestens 94 Prozent Schadstofffilterung aus der Luft, manche FFP3, 99 Prozent, verwendbar gegen radioaktive Partikel und das, was sich »luftgetragene biologische Arbeitsstoffe der Risikogruppe 2+3« nennt, Viren, Bakterien und Pilzsporen. Dazu zwei Paar Handschuhe, manchmal drei. Skibrille, Überschuhe, weißer Schutzanzug, Protective Clothing Category III, entwickelt gegen Risiken, die »zu schwerwiegenden Folgen wie Tod oder irreversiblen Gesundheitsschäden führen können«, Packungstext. Amerikanischer Hersteller, Made in Vietnam, Do not re-use. Alles miteinander verklebt.

Hm, machen sie, denn mit dem Hören haben sie Erfahrung in Braşov. Bisher gehen sie so vor, wie Ärzte seit Jahrhunderten vorgehen: klopfen mit den Fingern auf den Brustkorb und hoffen auf Resonanz. Klingt die Brust wie die Snare Drum eines Schlagzeugs, die kleine Trommel, gut, aber wird das Geräusch tonlos und dumpf, dann ist die Lunge befallen, dann breitet sich eine Entzündung aus, und dann wird, je nach Erfahrung des Arztes, beatmet. Ohne die Lunge einmal gesehen zu haben. Ohne genau zu wissen, mit welchem Druck man am besten arbeitet.

Und als einer der Ärzte von Weerawarna übernimmt, um zu üben, röchelt der Patient und zuckt auf dem Bett, und sein Kopf krampft Richtung Nacken. Er streckt den Hals und irgendeine Flüssigkeit würgt sich aus seinem Mund, dann als Explosion, wie bei der Eruption eines Vulkans. Sie verteilt sich als Nebel über die Umstehenden, auf Masken und Gesichter, und wabert durch das Zimmer.

Scheiße, sagt der Arzt.

Ja, sagt Weerawarna.

Jemand holt Alkohol, Desinfektion, der über Brillen und Gesichter verteilt wird, und dann öffnet ein anderer das Fenster.

Und so steht Thushira Weerawarna, Chefarzt Innere Medizin 3, Schwerpunkt Pneumologie, Siloah St. Trudpert Klinikum Pforzheim, interdisziplinäres Lungenzentrum, und nebenbei engagiert im Berufsverband der Pneumologen in Baden-Würtemberg e.V., schwitzend und mit sehr gemischten Gefühlen im Desinfektionsnebel der Dusche. Er hat die erste Lungenspiegelung überhaupt durchgeführt in der Geschichte von Braşov. Um Kollegen anzulernen, dafür ist er hier, damit weniger Menschen sterben.

Und der Patient ist tot.

Wir sind keine Zuschauer, wir sind Teil der Show. Wir sind umgeben von Viren und Bakterien, Parasiten, Pilzen und Prionen, und das ist vollkommen normal.

Sie fliegen uns buchstäblich ins Gesicht, als Ergebnis eines globalen atmosphärischen Virenstroms, der über dem Wettersystem, aber unterhalb der Höhe der üblichen Flugreisen zirkuliert und Viren über den Planeten verteilt. 800 Millionen von ihnen werden täglich aus der Erdatmosphäre auf jedem Quadratmeter der Planetenoberfläche abgelagert, das schätzt man zumindest. In unserem Zahnbelag finden sich mindestens 10000 Arten von Mikroben. Auf unseren Zähnen wohnen Lebewesen, die so spezialisiert sind, dass sie nur hinten links, zweiter Zahn, Innenseite, klarkommen, und beim Schneidezahn vorn sterben würden (abgesehen davon ist der Platz auch schon von jemand anderem besetzt). Und auch wenn das klingt, als wäre das dicht besiedelt: ist es nicht. Auf der menschlichen Haut finden sich rund eine Billion Bakterien, da kann man sich waschen, wie man will – und die sind nicht mal überall gleich verteilt, manche Plätze sind beliebter als andere. Die Stirn zum Beispiel ist nicht besonders populär, zu fettig. Dort finden sich nur ein paar Millionen Bakterien pro Quadratzentimeter. In warmen und feuchten Regionen steht man sich dagegen auf den Füßen. Unter unseren Achseln leben mehr Bakterien, als es Menschen auf der Erde gibt – und ernähren sich dort unter anderem von den rund zehn Milliarden Hautschuppen, die wir täglich abgeben. Und auch das ist wenig im Vergleich zum Hauptgewinn, den das Leben ziehen kann: Mikrobe in unserem Darm. Schön warm dort, man hat meistens seine Ruhe, und die Nahrung regnet auf einen herab. Das Paradies auf Erden ist nämlich nicht irgendeine Südseeinsel, das ist ein Missverständnis, das Paradies trägt jeder mit sich herum. Und weil das dort so nett ist, kuschelig, einfach angenehm, ist es dementsprechend dicht besiedelt: Mehr Leben als in unserem Dickdarm gibt es nirgends auf dem Planeten. Würde man alles wiegen, was in und auf uns wohnt, rund 100 Billionen Mikroben sind es, vor allem Viren und Bakterien, es würde etwa anderthalb Kilo auf die Waage bringen.

Letztlich, so schnöde das ist, sind wir auch nichts anderes als ein mittelhessischer Dorfteich: ein Ökosystem, das von Ökosystemen beeinflusst wird. Und dabei ist es mit Viren und Bakterien am Ende wie in jeder durchschnittlichen Nachbarschaft: Man kommt nicht mit allen gut klar.

Denn umgeben sind wir nicht nur von Viren und Bakterien, die uns wohlgesinnt sind oder egal (das sind die meisten), sondern auch von Infektionskrankheiten. Dabei ist selbst das völlig normal – nur sind es eben die Bedingungen nicht immer, sie können es gar nicht sein. Umstände ändern sich, Gelegenheiten ergeben sich, Notwendigkeiten entstehen. Evolution hat kein Ziel, sondern ist ein stetes Ausprobieren. Und Viren sind Evolution mit Vollgas. Sie tauschen munter Gene und mutieren etwa tausendmal schneller als Bakterien, die wiederum rund tausendmal schneller mutieren als wir. Sie können sich dadurch bestens an ihre Lebensräume anpassen – und sich neue erschließen.

Wir sind nicht wirklich was Besonderes, Säugetiere, unser Erbgut ist fast deckungsgleich mit dem von Schimpansen und Mäusen, und selbst mit dem Pferd sind wir zu 50 Prozent identisch und mit der Banane auch. Wir sind Teil der Natur, die uns umgibt. Und deswegen auch anfällig, wenn sich die Umstände ändern.

Wenn eine Infektionskrankheit von einem Tier auf einen Menschen überspringt, den sogenannten Spillover vollzieht, und sich in ihrem neuen Wirt, uns, etablieren kann, spricht man von einer Zoonose.

Vermutlich hat kaum ein Begriff in letzter Zeit eine solche Karriere gemacht. Dabei zeigt schon das Wort selber, wie unspektakulär der ganze Vorgang eigentlich ist: zoon, Lebewesen, nosos, Krankheit, die griechischen Worte stehen für das Gewöhnliche. Lebewesen werden krank, und das ist nicht nur erwartbar, sondern auch nicht besonders selten. Nahezu zwei Drittel aller bekannten humanpathogenen Erreger, also solche, die beim Menschen eine Krankheit auslösen können, sind Zoonosen. Sie werden übertragen durch direkten Kontakt, manche über Lebensmittel (oder das, was wir für Lebensmittel halten), andere über sogenannte Vektoren, das sind Zecken und Mücken. Manche Zoonosen sind uralt, wie etwa die Tollwut, klassische Zoonose, gibt es seit mindestens 4300 Jahren, zumindest findet sich da die erste Aufzeichnung: Ein babylonischer Gesetzestext legt fest, dass der Besitzer eines tollwütigen Hundes der Familie eines Bissopfers 40 Schekel in Silber zahlen muss, was einerseits ganz schön teuer ist, anderseits ja den Tod kompensieren muss, denn der tritt immer ein, das hat sich in Jahrtausenden nicht geändert. (Der Wert von Leben allerdings schon. Unterschiede werden aber schon immer gemacht: Sklaven sind billiger, die kosten nur 15 Schekel.)

Aber selbst wenn eine Zoonose neu auftritt, SARS-CoV-2 etwa, dann gilt das zwar für die daraus resultierende Krankheit, für den Spillover als solchen oft aber nicht, der ist erwartbar, schließlich gibt es Muster. Im Oktober 2007 veröffentlicht eine Fachzeitschrift namens Clinical Microbiology Reviews, kein Heft, das man nebenbei leicht wegliest, auf Seite 660, Jahrgang 20, Ausgabe 4, eine Studie eines Teams des Labors für neu auftretende Infektionskrankheiten, Abteilung für Mikrobiologie, Forschungszentrum für Infektionen und Immunologie, Universität Hongkong. Das Paper ist 34 Seiten lang, ganz hinten, fast am Ende, steht ein Satz, der damals irgendwie untergeht, in der Öffentlichkeit zumindest. »The presence of a large reservoir of SARS-CoV-like viruses in horseshoe bats«, steht da, »together with the culture of eating exotic mammals in southern China, is a time bomb.« Das Vorhandensein eines großen Reservoirs von SARS-CoV-ähnlichen Viren bei Hufeisenfledermäusen, zusammen mit der Kultur des Verzehrs exotischer Säugetiere in Südchina, ist eine Zeitbombe.

Die Lunge gleicht einem Schwamm, vollgesogen mit Sekret, und letztlich stirbt der Mann in Braşov, weil seine Organe versagen, eins nach dem anderen. Durch den Sauerstoffmangel schalten sie ab. Das dauert ein wenig, Organ für Organ, Zelle für Zelle, wie in einem Maschinenraum, in dem ein Gerät nach dem anderen ausgeschaltet wird. Ob das schmerzt oder nicht, kann niemand sagen, aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es das nicht tut.

»Audio off« steht auf dem Monitor, und so piept das Gerät nicht, und kein Alarm geht los, und am Ende fallen drei Linien ab, eine gelb, eine grün, eine blau, und der Tod ist so technisch und einsam und gleichzeitig unspektakulär, wie der Tod im Krankenhaus meistens ist.

Das Schicksal der Intensivmedizin, sagt Thushira Weerawarna, ist ein Hochgefühl, das sich mit schlechter Laune abwechselt. Manchmal, sagt er, fühlt man sich unglaublich alleine, obwohl man doch ständig Menschen um sich hat. Man sieht Krankheiten vor allen andern und steht im Sturm, auch wenn rundherum noch die Sonne scheint. Er spreizt die Arme vom Körper und dreht sich in einem Nebel aus Desinfektionsmittel. Seine Füße stehen in einer entsprechenden Lösung. Zwei Meter weiter eine Assistentin, ebenfalls im Schutzanzug. Sie muss beim Ausziehen helfen, denn das geht nicht alleine. Viele Infektionen im Krankenhaus entstehen, wenn der Anzug ausgezogen wird.

Die Assistentin nimmt ihm die Brille ab. Sie wird desinfiziert. Die Handschuhe werden entsorgt, die Masken ebenfalls. Normale Duschen schließen sich an. Rote Duschvorhänge, abgeplatzte weiße Kacheln. In der Ecke, ganz hinten, steht ein Eimer, mit Wischmop darin. Für alle Fälle, falls sich einer übergibt. Zwischen Krankenhauskitteln und Straßenklamotten hängen Kreuze und Marienbilder an der Wand, und das kennt Weerawarna von zu Hause. Das Klinikum, in dem er arbeitet, ist ein evangelisches, und egal ob rumänisch-orthodox oder protestantisch: Gottes Hilfe kann ja zumindest nicht schaden.

Wenn wir an eine Pandemie denken, dann denken wir an etwas, das blitzartig um die Welt zieht und millionenfach tötet. An Leichensäcke und an entvölkerte Reihenhäuser. An etwas wie die Spanische Grippe. An die Pest. An irgendwas, das die Atemwege betrifft und durch die Luft übertragbar ist. Aller Voraussicht nach wird solch eine Krankheit immer eine Zoonose sein – weil das Potenzial dort am größten ist. Und wir es trotz aller Bemühungen bisher nicht annähernd geschafft haben, auch nur eine einzige zoonotische Krankheit auszurotten oder wenigstens zu kontrollieren. Denn eine Zoonose hat einen Wirt, unabhängig vom Menschen. Zoonotische Erreger können sich verstecken. Sie haben ein sogenanntes Reservoir – ein Tier, das selber kaum oder überhaupt nicht krank wird. Die Krankheit kann plötzlich auftauchen, töten, und ebenso schnell wieder für Jahre in einem Tier verschwinden.

Der erste Nachweis einer Zoonose überhaupt ist 10000 Jahre alt und findet sich in den Beckenknochen eines Mannes aus Zypern, der an Brucellose leidet, einer bakteriellen Infektion, die unter anderem durch nicht pasteurisierte Milch übertragen wird, in diesem Fall vermutlich durch Ziegenmilch. Die Brucellose kann Entzündungen und Fieber auslösen, was manchmal zu Deformierungen von Knochen und Wirbeln führen kann. Für die CDC ist der Erreger eine Biowaffe in der Kategorie B, das ist die zweitschlimmste, er war Teil des Waffenprogramms der amerikanischen Armee, und das Robert Koch-Institut schätzt ihn ein als »bioterroristisch relevant«.

Das Auftreten des Erregers fällt in etwa zusammen mit dem Beginn der Landwirtschaft. Was Sinn ergibt, denn Zoonosen können nur dort auftreten, wo Menschen und Tiere in engem Kontakt zusammenleben – und Populationen, egal ob von Menschen oder Kühen, groß genug sind, damit ein Erreger sich verbreiten kann.

Vielleicht haben gewöhnliche Erkältungs-Coronaviren ebenfalls als Pandemie begonnen. Im Jahr 2005 untersuchen belgische Wissenschaftler Mutationen im Coronavirus OC43 und verfolgen sie zurück bis ins späte 19. Jahrhundert. Damals tötet eine hochinfektiöse Atemwegserkrankung Kühe, und nur kurze Zeit später, 1889, beginnt eine Pandemie. Sie tötet rund eine Million Menschen, in erster Linie Kinder und Ältere, und geht als »Russische Grippe« in die Geschichte ein – aufgrund der Antikörper, die bei den Überlebenden ein halbes Jahrhundert später gefunden werden, wird sie mit der Grippe in Verbindung gebracht.

Möglicherweise ist der Erreger aber kein Influenzavirus, sondern OC43, das kurz vor 1889 von Rindern auf Menschen überspringt. Allerdings ist »möglicherweise« das entscheidende Wort. Die Belgier sind sich nicht sicher, es ist eine These, mehr nicht, weil die Ursache nie endgültig anhand von Gewebeproben nachgewiesen wird. »Wäre möglich« schreiben sie dann auch und »könnte sein«. Klären lassen wird sich das vermutlich nie, aber allein die Überlegung, dass es so sein könnte, zeigt unabhängig vom aktuellen Beispiel: Coronaviren haben das Potenzial zum Übersprung. Es ist in der Vergangenheit passiert. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das in Zukunft nicht wieder passieren könnte.

Zoonosen sind keine Einbahnstraße: Eine Zoonose ist es auch, wenn eine Krankheit von Menschen auf Tiere übergeht. Wir stecken unsere Hunde und Katzen mit Tuberkulose an und mit Grippe, Touristen bringen Darmparasiten in Nationalparks, Menschenaffen leiden an Krätze und sterben an Masern und Polio.

Nicht alle Zoonosen sind die Killer aus unseren Albträumen. Bandwürmer gehören auch dazu und Lamblien, Giardia intestinalis, ein einzelliger Parasit, von dem garantiert die wenigsten je gehört haben und den man sich über kontaminierte Lebensmittel einfangen kann – und der einen dann wochenlang mit Durchfall plagt, stirbt man nicht von, braucht man trotzdem nicht.

Aber alle Killer aus unseren Albträumen sind Zoonosen. Ebola. Grippe. HIV. MERS. Dengue. Gelbfieber. Borna. Affenpocken. West-Nil. Marburg. Hanta. Lassa. Die SARS-Familie. Tollwut. Tuberkulose. Rinderwahnsinn. Milzbrand. Die Pest. Bis auf die letzten vier sind das alles Viren.

Und alle zusammen der Starschnitt der Apokalypse.

Die Posterboys.

Am 6. Januar finden in Beverly Hills die Golden Globes statt, morgens um zwei mitteleuropäischer Zeit, der sehr fantastische Film Once upon a time in Hollywood gewinnt den Preis für das beste Drehbuch, und knapp sechs Stunden später will Christian Drosten jetzt endlich mal wissen, was los ist. Das Team kommt gut voran mit dem Test, und die Frage ist: SARS oder nicht? Nichts Genaues weiß man nicht, und außerhalb einer sehr kleinen Fachrichtung in der Wissenschaft interessiert sich kein Mensch für Chinesen mit Lungenentzündung.

Drosten setzt sich an seinen Rechner. Er öffnet das Mailprogramm, drückt auf »Neue Mail erstellen« und überlegt kurz. Und dann schreibt er Zhengli Shi. Die beiden schätzen sich. Zusammengearbeitet haben sie noch nie, hat sich nicht ergeben, aber er war mehrmals Gutachter ihrer Paper – was bedeutet, dass wissenschaftliche Einreichungen auf Bitten der großen Wissenschaftsmagazine Nature und Science von den besten Wissenschaftlern des Fachgebietes gegengelesen und geprüft werden: Kann das so sein? Macht das alles Sinn? Haben die Autoren etwas übersehen? Gutachter raten, kritisieren, machen Vorschläge. Und sind beim nächsten Mal dann selber Autoren, die Vorschläge bekommen, kritisiert werden und Ratschläge erhalten. Von denen, die sie begutachtet haben. Alle müssen da durch, weswegen Wissenschaft ein Prozess ist, Erkenntnisgewinn dauert, Paper sind keine Sache von Tagen.

Vor Jahren nannte das Magazin Scientific American Shi Bat Woman. Hauptsächlich in Südchina sucht sie in Fledermäusen nach neuen Coronaviren, neuen Mitgliedern der Familie. 2017 legte eine ihrer Studien nahe, dass eine Vorform von SARS1 vermutlich aus einer Hufeisennase stammt, einer Fledermausart, die fast weltweit vorkommt, aber in dem Fall in einer Höhle in Yunnan wohnte, Südchina.

Die Mail, die er schreibt, ist kurz. Ich hoffe, es geht dir gut. Was machen die Fledermäuse? Was genau ist bei euch los? Kannst du mir sagen, was gerade passiert? Die Antwort kommt innerhalb weniger Stunden. Verklausuliert und eindeutig, beides gleichzeitig.

Am Anfang, in der Frühphase, sei sie in die Untersuchung eingebunden gewesen, schreibt Zhengli Shi. Was nichts anderes heißt als: Jetzt ist sie es nicht mehr. Aber die Situation sei nicht genau wie die vor Jahren. Sie schreibt, dass es vielleicht bald wieder weg ist, und Drosten ist beruhigt. Wohl doch was Lokales, denkt er, keine Pandemie in Sicht. Er liest weiter. Was das Virus selbst betrifft: Bitte lies unsere Paper. Sie schickt ihm zwei Referenzen, er kennt sie schon. Das eine heißt »Longitudinal surveillance of SAR-like coronaviruses in bats by quantitative real-time PCR«. Das andere: »Serological Evidence of Bat SARS-Related Coronavirus Infection in Humans, China«. In den Veröffentlichungen beschreibt Zhengli Shi ihre Untersuchungen an Fledermäusen und Menschen. Es gibt in einer der Studien Hinweise darauf, dass Fledermausviren auf den Menschen übertragen wurden. Die Viren, um die es geht, sind SARS-Viren, ganz nah verwandt mit dem Virus von 2003. Es stimmt also doch. Sie erzählt es ihm, ohne es ihm zu erzählen. SARS ist nicht gut, aber er hofft, dass sie recht behält und es kontrollierbar bleibt. Jedenfalls, das weiß er jetzt, wird der Test nicht umsonst sein.

Später wird Zhengli Shi sehr persönlichen Angriffen in den chinesischen sozialen Netzwerken ausgesetzt sein. Obwohl sie unzählige Paper über SARS-Viren veröffentlicht und möglicherweise vor Jahren sogar einen sehr nahen Verwandten von SARS-CoV-2 entdeckt hat – RaTG13 heißt das Virus, die beiden haben sich vermutlich vor zwanzig bis siebzig Jahren voneinander getrennt –, wird sie sich von Menschen, die sich noch nie in ihrem Leben mit Viren beschäftigt haben, anhören müssen, dass sie keine Ahnung habe. Sie wird als Panikmacherin gelten. Menschen werden sich berufen fühlen, sie zu bedrohen und zu beleidigen. Sie wird »ihr Leben wetten«, dass das Virus nicht aus ihrem Labor kommt, aber an den Beschimpfungen und Klugscheißereien wird das gar nichts ändern. Das alles wird in China stattfinden, weit weg von deutscher Öffentlichkeit. Und Christian Drosten wird das alles sehr bekannt vorkommen.

Er steht auf. Er geht den Flur hinunter, in die Küche, und holt sich einen Kaffee. In der kurzen Zeit, in der er nicht im Büro ist, bekommt er Dutzende Mails. Er scrollt durch, er liest gegen.

Und sieht eine Nachricht von Maria van Kerkhove, amerikanische Epidemiologin. Sie arbeitet in Genf, für die WHO. An Coronaviren. Sie schlägt ein Treffen vor. Kleiner Kreis, die besten Labore der Welt, erst mal per Videokonferenz. Es wird ein Vorgriff sein auf die Meetingkultur der nächsten Monate.

»Klar«, tippt Drosten in seinen Rechner. »Wann soll das denn stattfinden?«

Die Antwort: Sofort.

Weerawarna steht im Innenhof des Krankenhauses. Hinter ihm Hügel, alles bewaldet. Schloss Bran, das von Dracula, ist gerade mal dreißig Kilometer entfernt. Und obwohl Vlad III., historisches Vorbild der Romanfigur, Mitte des 15. Jahrhunderts Herrscher der Walachei und angeblich großer Fan von Pfählungen, das Gebäude vermutlich nie betreten oder besessen hat, ist er allgegenwärtig in der Gegend, und das passt, denn auch die Fledermäuse sind das.

Fledertiere eigentlich. Gesellig, kommunikativ, sehr mobil, nie alleine, kein anderes Säugetier ist dem Menschen in dieser Hinsicht ähnlicher.