Paradies am Teich - Jörn Holtz - E-Book

Paradies am Teich E-Book

Jörn Holtz

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Beschreibung

Wenn man seiner traumatischen Vergangenheit schon nicht davonlaufen kann, weil sie einen auf Schritt und Tritt begleitet, und man sie in den mitleidsvollen Blicken der anderen wiedererkennt, hat man dennoch die Wahl, wie und wo man weiter dahin vegetiert, erkennt Martin eines Tages und tauscht sein Zuhause gegen eine Eremitage in einer Höhle am Strand auf La Gomera. Dort trifft er zum ersten Mal auf Menschen, die ihn so akzeptieren wie er ist, seit ihm diese unvorstellbare Gewalt angetan worden war. Bis ihn ein weiterer 'Unfall' dazu zwingt seine selbstgewählte Eremitage gegen ein Krankenbett in einer utopischen Gemeinschaft von deutschen Alt-Hippies einzutauschen. Doch findet Martin dort auch eine Möglichkeit seine Traumata zu überwinden?

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Seitenzahl: 435

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Jörn Holtz

Paradies am Teich

Metamour Teil 2

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Prolog

Rendezvous

Gelebte Utopie

Dubios

Der karnivore Geliebte

Apologie

Beltane

Hereinbrechende Gestirne

Bizarrer Habitus

Provokative Reunion

Himmel, Erde und Anderswelt

Pavor

Die Erkenntnis

Das Ende des Festes

Morgendämmerung

Kompensierende Fairness

Drangsal

Zurück in Saint Tropez

Succubus

Chère grand-mère

Die neuen Sommergäste

Ein kleines Universum, in einer großen Petrischale

Jähe Entfaltung

Zwielicht

Futuristik

Zäsur

Offenbarung

Palingenese

EPILOG

Impressum neobooks

Vorwort

«Der schlimmste Feind ist nicht um uns herum, er ist in uns und meldet sich immer dann, wenn es still um uns wird.Ihn kannst du nicht bekämpfen, du kannst ihn nur verstehen lernen und ihn lieben. Du musst wieder lieben lernen, um weiterleben zu können!»

Prolog

Wieso, fragte er sich gerade noch, als er mit einen Mal hellwach war. Danach war er nicht mehr fähig, auch nur einen Gedanken zu fassen, weil ein im doppelten Sinne wahnsinniger Schmerz, von seinem rechten Bein aus, seinen Körper hinaufjagte. Wie von Sinnen wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, den rechten Oberschenkel fest umklammert. Doch das Gefühl, als hätte man ihm ein glühendes Stück Eisen in die Wade gerammt, wollte nicht nachlassen.

Wieso, fragte er sich erneut, als er nach einer gefühlten Ewigkeit erschöpft, verschwitzt und außer Atem auf den Atlantik starrte. Doch die Frage nach dem Warum hatte er sich schon lange nicht mehr gestellt. Denn er hatte schmerzlich lernen müssen, dass man aufpassen musste, wie die Antwort ausfiel, wenn man zu hartnäckig danach fragte.

Außerdem wollte er nicht mehr trauern oder sich selbst bemitleiden. Vor allem aber wollte er kein Mitleid mehr in den Blicken der anderen entdecken, wenn sie ihn anschauten. Denn jeder dieser Blicke brannte sich in seine Seele und verfolgte ihn nachts in seinen Träumen. Und auch wenn er für jeden dieser Blicke nur einen Euro bekommen hätte, und er jetzt wahrscheinlich ein reicher Mann wäre, könnte er sich dennoch nicht das kaufen, was er sich am meisten wünschte, neben all den anderen Dingen, die er damals in nur einer Nacht verloren hatte. Er hatte zwar gelernt, mit den Folgen zu leben, dennoch spürte er seinen Verlust auf Schritt und Tritt.

Daraus und aus der Summe der vielen anderen kleineren Befindlichkeiten war in ihm die Erkenntnis gewachsen, dass wenn sich die Dinge schon nicht mehr ändern lassen, man immer noch die Wahl hat, wie und wo man weiter vegetiert. Und so war er über diverse Umwege hier gelandet.

Hier, das ist die Playa de las Arenas, ein Traumstrand vieler Aussteiger, die hier wie er nach dem Sinn des Lebens oder sonst etwas suchten. Doch bis auf die Erkenntnis, dass dieser Traumstrand nicht weiß, sondern schwarz war, war seine Suche bisher erfolglos geblieben, was sich aber in seine Gesamtsituation wunderbar einfügte.

Dennoch liebte er seine Einsiedelei am Wasser. Denn nur im Wasser fühlte er sich wirklich frei und unbeschwert, da er nur dort alles vergessen konnte, was ihn im Alltag behindert. Außerdem hatte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, ein paar Delphine zu treffen, auch wenn ihm alles andere zumeist hoffnungslos erschien.

Rendezvous

‚Mist, das hatten wir doch alles schon!‘, schreckte Martin aus einem seiner seit Jahren immer wiederkehrenden Alpträume auf, als er von draußen eine unbekannte Stimme hörte, was in ihm weiteren Unmut erregte.

Zwar wusste er, dass er an diesem Strandabschnitt nicht allein war. Nur hatte er mittlerweile genug von diesen gemeinen Touristen, die direkt vor seiner Behausung immer die gleichen Geschichten aus irgendwelchen billigen Reiseführern vorlasen. ‚Ja, ja, das hier ist die legendäre Schweinebucht mit dem noch gut erhaltenen Kackfelsen, bla, bla, bla...‘, als ob eine öffentliche Latrine eine Touristenattraktion sein könnte!

Und tatsächlich hörte er wieder jemanden diese Geschichte erzählen. Nur war dieses Mal die Geschichte sehr viel lebendiger, als hätte die Erzählerin diese längst vergangene Zeit selbst miterlebt. ‚Aber nein, das konnte nicht sein!‘, denn dazu hörte sich diese Stimme, viel zu jung an. Neugierig stand er auf und schleppte sich zum Ausgang, um zum Strand hinunterzuspähen.

Von der tief stehenden Sonne geblendet, kniff er blinzelnd die Augen zusammen und betrachtete die Gestalt der drahtigen, mittelalten Blondine im Gegenlicht, die gerade zwei anderen Personen, die ebenfalls nicht genau zu erkennen waren, sehr anschaulich die Geschichte erzählte. Dabei erkannte er, dass die Sonne bald untergehen würde, was ihn noch mehr ärgerte. Denn der Sonnenuntergang war eines der schönsten Dinge, die diese Bucht zu bieten hatte.

Aber das schienen die Fremden auch zu wissen, denn sie rollten gerade ihre mitgebrachten Strandmatten aus. Als die Blonde dann auch noch eine Gitarre vom Rücken nahm und die anderen begannen, das mitgebrachte Holz zu einem kleinen Lagerfeuer aufzustapeln, wurde er noch wütender, denn damit war sein Plan für den Abend völlig über den Haufen geworfen. So blieb ihn nichts anderes übrig, als im Schatten seiner Behausung zu verharren, wobei er die schmächtige Blondine des Trios weiter beobachtete.

Sie schien anders zu sein als ihre beiden Begleiter, und das lag nicht nur an ihrem Äußeren. Denn sie trug eine braune Culotte, ein dazu passendes violettes, nabelfreies Top, ein gleichfarbiges Tuch, das ihr Haar zusammenhielt, und eine lange Holzkette aus mittelgroßen Kugeln, an deren Ende ein Amulett aus Bernstein prangte. Was in etwa seiner Vorstellung von den Freaks entsprach, die hier irgendwann einmal gehaust hatten.

Nach längerem Beobachten war er endgültig davon überzeugt, dass sie von dieser Insel stammen musste, auch wenn sie fast akzentfrei Deutsch sprach. Ihre beiden Begleiter hingegen waren eindeutig deutsche Touristen.

Als die Sonne im Meer versunken war, legte die zierliche Blondine ihre Gitarre beiseite, ging zum Wasser und starrte eine Weile regungslos aufs Meer hinaus. Dann kehrte sie zu ihren Freunden zurück, bevor er erstarrte. Denn plötzlich entkleidete sie sich vollständig, und dass kaum zwanzig Meter von ihm entfernt.

Durch das Lagerfeuer gut beleuchtet, konnte er deutlich ihren sehnigen Körper erkennen, den sie ihren Begleitern völlig ungeniert präsentierte.

Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen, als die athletische Brünette sich erhob und ihr Kleid einfach in den schwarzen Sand gleiten ließ, was ihm endgültig den Atem raubte. Denn unter dem weiten Sommerkleid kamen ein für eine Frau ungewöhnlich muskulöser Rücken und Po zum Vorschein, welche nur durch jahrelanges exzessives Training entstanden sein konnte.

«Oh Mann!», stöhnte er leise und blickte neidisch auf ihren Begleiter. Doch der machte keine Anstalten, sich ebenfalls seiner Kleider zu entledigen. Deshalb schüttelte Martin verwundert den Kopf. Denn an seiner Stelle hätte er sich nicht zweimal bitten lassen.

Aber er war nicht an seiner Stelle und würde es wohl auch nie sein, glitt sein Blick an seinem keineswegs makellosen Körper hinab. Missmutig haderte er erneut mit seinem Schicksal und wollte sich gerade von dem romantischen Schauspiel unten am Strand abwenden, als die Brünette sich ihm plötzlich im Profil zuwandte und damit erneut seine volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Denn nun konnte er deutlich die Silhouette ihrer überaus attraktiven Brüste erkennen, die sich über einem wider Erwarten nicht ganz flachen Bauch erhoben.

‚Nanu, das ist ja merkwürdig?‘, stutzte er und kniff seine Augen noch mehr zusammen. Dabei machte sich seine rechte Hand selbstständig, weil er sich seinen lang unterdrückten Gelüsten ergab, wobei sein Blick weiter auf die athletische Brünette gerichtet war. Kurz darauf drehte sich die Brünette zu ihm um und kam direkt auf ihn zu. Zuerst blieb sein Blick noch an den sich geschmeidig hin und her wiegenden Brüsten der jungen Frau hängen, dann wurde er sich mit einem Mal seiner Situation bewusst.

Hastig duckte er sich in den Schatten des Felsens neben dem Eingang, wo er sich vorsichtig bemühte, seine Hose hochzuziehen, während er angestrengt auf die Geräusche um sich herum lauschte. So konnte er deutlich hören, wie sich die hübsche Unbekannte erst schnell näherte und dann in seiner unmittelbaren Nähe stehen blieb.

‚Verdammt Martin, du bist ein Spanner und ein echt schlechter noch dazu!‘, ohrfeigte er sich gerade selbst innerlich, als er auf einmal deutliche Würgelaute aus ihrer Richtung hörte. ‚Nanu?‘, zog er sich neugierig wieder ein Stück den Felsen hinauf, wobei der noch offene Hosenbund ein vernehmlich kratzendes Geräusch erzeugte. ‚Mist!‘, fluchte er leise und verzog verärgert das Gesicht, während er wieder den Felsen hinunterrutschte. Angespannt lauschte er erneut und erbleichte, als das wenig schicksame Geräusch plötzlich verstummte und eine bedrückende Stille folgte.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit siegte die Neugier über seine schamhafte Angst, entdeckt worden zu sein, und er wagte es erneut, über den Felsen hinweg, die gegenwärtige Situation in Augenschein zu nehmen. Dieses Mal achtete er darauf, keine verräterischen Geräusche zu machen, während er sich am Felsen hochzog.

Als er schließlich über den Felsen hinweg nach links blickte, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass die Aphrodite vor ihm, viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um ihn zu bemerken. Dennoch erstarrte er im nächsten Moment, als er einen kurzen Blick auf ihr noch leicht rötlich verzerrtes Gesicht erhaschte. Er wusste, dass die Welt ein Dorf sein konnte, aber ausgerechnet sie hatte er hier nicht erwartet.

Denn neben ihm im schwarzen Sand kniete seine heimliche Jugendliebe, die er damals fanatisch angehimmelt hatte, ohne auf Gegenliebe zu hoffen. Und nun, gut zehn Jahre später und rund dreieinhalbtausend Kilometer von zu Hause entfernt, streckte sie ihm unverhofft ihren nackten Hintern entgegen.

Langsam versank die Sonne ganz im Meer und mit ihr die letzten Akkorde von Cat Stevens: Morning has Broken, die Lotta auf der alten Westerngitarre ihres kürzlich verstorbenen Vaters gespielt hatte. Nach einem traurigen Seufzer hob sie langsam den Kopf und sah ihre Metamours mit leicht verquollenen Augen an. «Nun, habe ich euch zu viel versprochen?», fragte sie mit leiser, belegter Stimme.

«Nein, es war wirklich schön!», sah Anne sie mitfühlend an und strich ihrer Geliebten sanft über den linken Unterarm. «Und irgendwie spürt man immer noch die Magie, die von diesem Ort ausgeht», wanderte ihr Blick den Strand entlang. Erst dann bemerkte sie, dass Lotta mit den Tränen kämpfte. «Ach Süßen, kann ich vielleicht irgendetwas für dich tun?», legte sie freundschaftlich einen Arm um Lotta.

«Nein, ist schon gut! … Bernd würde es nicht wollen, dass man um ihn weint. Er … hatte doch immer so eine positive Einstellung zum Leben und war der Meinung …, dass wir durch unsere Gedanken und Taten weiterleben!», befreite sich Lotta aus ihrem Arm, stand unsicher auf und ging hinunter zum Wasser, wo sie sehnsüchtig aufs Meer hinausblickte.

Während ihr Blick über die Wellen der Brandung glitt, tauchten vor ihrem inneren Auge Szenen aus einer längst vergangenen Zeit auf. Zu dieser Zeit brannten hier noch überall am Strand Lagerfeuer, um die sich ihre neu gegründete Familie und ihr selbst gewählter Clan sowie viele fremde Brüder und Schwestern scharten. Sie alle waren aus ihrem tristen Alltag in der noch prüden und grauen deutschen Nachkriegsgesellschaft hierhergekommen, wenn auch viele nur für kurze Zeit.

Versunken in die psychedelischen Klänge von Trommeln und Gitarren tanzten einige von ihnen in ekstatischen Bewegungen, meditierten, rauchten oder liebten sich hier in aller Öffentlichkeit. Diese Bucht war für sie lange Zeit ein Zuhause, Wohn-, Schlaf- und Badezimmer in einem. Bis eines Tages der Druck der Einheimischen gegen das, wie sie es nannten, gottlose Treiben zu groß wurde und die Ältesten ihres Clans beschlossen, sich im Hinterland niederzulassen.

Zwar kehrten sie immer noch regelmäßig zurück, um zum Beispiel den Sonnenuntergang zu genießen. Aber es wurde nie wieder so wie früher, als es nur um das nackte Sein und das Erleben ging. Denn nachdem die Miliz den Strand geräumt und ihre behelfsmäßigen Unterkünfte in Brand gesteckt hatte, war diese unbeschwerte Zeit ein für alle Mal vorbei.

Ein Großteil der Schwestern und Brüder kehrte enttäuscht oder unter sozialem Zwang in ihr verpöntes, bürgerliches Leben zurück. Ein Teil von Lottas Clan blieb jedoch zusammen und schuf sich weit hinten im Tal eine neue Heimat und eine eigene Gesellschaftsform, die hier ihren Ausgangspunkt genommen hatte.

«Ja, dieser Ort ist wirklich magisch!», nickte Lotta zustimmend, bevor sie wieder sehnsüchtig aufs Meer blickte. Als ihr Blick diesmal über die Brandung glitt, verspürte sie plötzlich den Wunsch, sich mit den Wellen zu vereinen. «Habt ihr eigentlich auch Lust zu baden?», ging sie zu ihren Freunden zurück und zog kurzerhand ihre Hose aus, wobei sie ihre Begleiter auffordernd und fragend ansah. Dann folgten ihr Oberteil und das Tuch, das sie um ihr Haar trug, sowie die Kette, und so stand sie schon nackt vor ihnen, bevor sie eine Antwort geben konnten.

Überrascht sahen sich Anne und Ole kurz an, bevor Anne aufstand und sich ihres Kleides entledigte. Ich blieb jedoch unbewegt sitzen und starte Lotta weiter nur fragend an. «Was ist denn, keine Lust? Du lässt uns doch nicht allein baden, oder?», stemmte sie ungewohnt ungeduldig die Arme in die Seite.

«Ähm, ja, besser nicht!», kratzte ich mich verlegen am Kopf, bevor ich zu Lotta hochsah. «Und ihr solltet euch auch besser wieder anziehen. Hier stehen doch überall Schilder herum, auf denen für jedermann deutlich lesbar steht: Kein FKK!»

«Ach Ole!», schüttelte sich Lotta plötzlich vor Lachen und wedelte mit ihrem kleinen rechten Zeigefinger vor meinem Gesicht hin und her. «Um diese Zeit ist das schon okay. Denn um diese Uhrzeit schlafen die streng katholischen Gomeros schon», griente sie mich verwegen an.

Gelebte Utopie

Langsam erwachte ich aus einem unruhigen Schlaf und strich zufrieden mit meiner linken Hand sanft über Annes entblößten, muskulösen Rücken. Vorsichtig bewegte ich mich dabei ein wenig hin und her, um eine bequemere Position zu finden. Denn mein Rücken schmerzte unangenehm. Kurz darauf schloss ich die Augen wieder, um meinen Gedanken weiter nachzuhängen, die sich um mein neues Zuhause drehten.

Mein neues Zuhause ist seit kurzem La Gomera, ein fast paradiesisch anmutendes Fleckchen Vulkangestein, das aufgrund seiner geographischen Lage meist mit ewig frühlingshaften Temperaturen gesegnet ist. Aus diesem Grund ist diese schöne kanarische Insel seit Jahrzehnten das Ziel vieler Aussteiger, die hierherkommen, um dem ungemütlichen Klima Mitteleuropas zu entfliehen.

Ich sah mich jedoch nicht als Aussteiger, sondern wenn dann eher als Umsteiger, den eine Reihe glücklicher Umstände hierhergeführt hat. Zuvor hatte ich mir ein Sabbatjahr gegönnt, und war so meinem alten, komplizierten Leben als professioneller Support Engineer für eine große amerikanische Firma im oft kalten und verregneten Norddeutschland entflohen, und genoss nun das einfache Leben hier in dieser fast tropischen Landschaft.

Doch das einfache Leben hier war bei näherem Hinsehen oft gar nicht so einfach, auch wenn dieses zauberhafte Tal im Südwesten La Gomeras mit seinen Bananenplantagen und den jahrhundertealten künstlichen Terrassen auf den ersten Blick etwas anderes versprach. Zwar kämpften die Menschen hier noch nicht mit den schnöden Wohlstandskrankheiten oder dem medialen Overflow einer westlichen Industriegesellschaft. Doch war die Zeit auch hier nicht stehen geblieben, und so mussten sich die meisten der verbliebenen deutschen Migranten so gut wie möglich in die Gesellschaft integrieren, wobei sie einen mehr oder weniger ausgeprägten Unternehmergeist entwickelten, nur eben anders als in ihrer alten Heimat.

Am deutlichsten spürte ich das hier in El paraíso en el charco, einer kleinen Ansammlung einfacher Fincas an einem wunderschönen Naturteich, hoch oben am nordöstlichen Ende der grünen Talzunge von Valle Gran Rey. Hierher hatte sich Mitte der siebziger Jahre der Rest von Lottas Clan zurückgezogen, um ihren Traum von einer anderen Gesellschaftsform zu verwirklichen.

Als New Community lebten, liebten und arbeiteten sie seither hier gemeinsam und belebten so eine im industrialisierten Westen längst verloren geglaubte Ganzheit. Vieles hat sich seitdem verändert und weiterentwickelt, aber man spürt deutlich, dass sie den Kern ihres Traumes nicht aus den Augen verloren haben.

Für mich als nüchternen, kopfgesteuerten Informatiker war dieses Gegenmodell immer noch eine Art utopische Gesellschaftsform, die mich aber sehr real umgab. Denn während ich Anne weiter zärtlich über den Rücken streichelte, kuschelte sich plötzlich von der anderen Seite Lotta in meinen Arm. «Buenas Diaz! Hast du auch so gut geschlafen?», gähnte sie leise, bevor sie mir einen zärtlichen Kuss auf die Wange drückte.

«Hm», brummte ich gerade zustimmend, als ein lauter Gong erklang, der die meist noch schlafende Gemeinschaft zum Frühsport rief.

«Mist, schon so spät?», schaute Lotta überrascht auf die Uhr. «Dabei kommt es mir so vor, als wären wir gerade erst ins Bett gegangen», sah sie mich verschlafen an, bevor sie Anne sanft über die Wange strich, die daraufhin lächelnd die Augen aufschlug.

«Nein, wir waren schon ziemlich früh im Bett!», hob Anne den Kopf und küsste erst Lotta und dann mich zärtlich auf den Mund, bevor sie mir überraschend munter direkt in die Augen sah. «Vamos!», nickte sie mir aufmunternd zu, bevor sie mir einen weiteren Kuss auf die Lippen hauchte. «Dann mal raus aus den Federn!», erhob sie sich und stieg über mich hinweg aus dem Bett.

Ich dachte jedoch nicht daran aufzustehen, denn wie jeden Morgen genoss ich erst einmal den Anblick ihres durchtrainierten Körpers, während sie vor dem bodentiefen Fenster, von dem aus man einen wunderschönen Blick ins Tal hatte, ein paar Dehnübungen machte, um sich fürs Laufen aufzuwärmen. Doch als der Gong zum zweiten Mal ertönte, mussten auch Lotta und ich das Bett verlassen.

Frühsport an sich und ausgiebiges Joggen gleich nach dem Aufstehen gehörten nicht gerade zu den Dingen, auf die ich mich besonders freute. Aber immerhin schien sich mein Körper darauf einzustellen, so dass ich es neuerdings sogar ein wenig genoss, mit den anderen am Rande des immergrünen Nebelwaldes entlangzulaufen, ohne von Seitenstichen oder Kurzatmigkeit geplagt zu werden. Den krönenden Abschluss dieses sportlichen Ausflugs in die Natur bildete dabei stets ein gemeinsames Bad in dem großen Naturteich im Herzen unserer kleinen Siedlung.

Als ich zum ersten Mal an diesem öffentlichen Bad teilnahm, kam es meiner Vorstellung von einem Garten Eden sehr nahe. Denn egal ob jung oder alt, alle gaben sich hier ganz natürlich und planschten ausgelassen, wobei selbst die anwesenden Teenager keine Probleme mit ihren sich transformierenden Körpern hatten.

Beim anschließenden gemeinsamen Frühstück fühlte ich mich durch das Bad im kalten Wasser erfrischt und voller Tatendrang, was für mich ebenso neu war wie das Gefühl, Teil einer großen informellen Gemeinschaft zu sein. Dieses Gefühl gefiel mir nach all der Zeit, der meist selbst gewählten Einsamkeit und den körperlichen Gebrechen, und so haderte ich auch mit der Meinung einiger älterer Kommunarden. Denn diese sogenannten Stones betrachteten Anne und mich bisher nur als Lottas Sommergäste. Und ich hoffte inständig, dass sie sich in dieser Hinsicht irren würden. Denn mein altes Leben lag nicht nur von der Entfernung her sehr weit von diesem lebens- und liebenswerten Ort entfernt.

Als kleine Anerkennung, so empfand ich es jedenfalls, war mir vor kurzem die Aufgabe übertragen worden, mich um die wirtschaftlichen Belange der Gemeinschaft zu kümmern. Denn diese verpönte monetäre Aufgabe war den meisten Stones von Natur aus zuwider, da sie sich lieber mit höheren Dingen beschäftigten. Das konnte ich zwar nachvollziehen, was mich allerdings verwunderte, war, dass sie sich dann aus meiner Sicht eher niederen Tätigkeiten zuwandten, wie zum Beispiel der Landwirtschaft, handwerklichen Tätigkeiten oder dem Betrieb von Restaurants, von denen die Gemeinschaft insgesamt drei besaß.

Ich hingegen freute mich über meine neue Aufgabe, da sie mir die Möglichkeit bot, hinter die Kulissen der HFNCI zu schauen. Anne, quasi die zweite Novizin der Gemeinschaft, wurde als angehende Pädagogin und Mutter mit der Betreuung der Kinder betraut.

Die Hippe Freak New Community International, kurz HFNCI, ist die Organisation, die Lottas Vater mit einigen Gleichgesinnten vor gut dreißig Jahren gründete, um ihren Traum von einer idealen Welt, wenn auch im Kleinen, zu bewahren, nachdem ihnen die Gründe für das Scheitern der Counterculture in Amerika Anfang der siebziger Jahre wie ein Fanal erschienen waren. Denn auch dort kehrten damals viele Gleichgesinnte desillusioniert oder aus sozialen Zwängen in das eintönige Leben ihrer Elterngeneration zurück. So tat Lottas Clan etwas, was man ihnen als Teil eines bis dahin nicht arbeitenden, mystisch orientierten Zweiges dieser Subkultur eigentlich nicht zugetraut hätte, und schuf mit dieser Organisation etwas Nachhaltiges.

Das daraus entstandene Gemeinschaftsgefühl hatte auch bei Anne etwas Bleibendes hinterlassen. Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatte, durch einem eher enttäuschenden One-Night-Stand schwanger geworden zu sein, konnte sie sich im Kreis der Gemeinschaft dazu durchringen, das ungeborene Leben entgegen ihren eigentlichen, straff organisierten Zukunftsplänen zu behalten.

Als äußeres Zeichen dieser inneren Einkehr und als eine Art Initiationszeichen ließ sie sich einen fröhlichen Smiley, der frech die Zunge herausstreckt, auf den Hintern tätowieren. Dies sollte den Bruch mit ihrer Vergangenheit dokumentieren, in der sie sich ohnmächtig unter der Knute ihres übermächtigen Vaters wähnte. Nach dieser Renaissance bekannte sie sich auch öffentlich zu ihrer bis dahin sorgsam unterdrückte sexuelle Neigung zu beiden Geschlechtern, und das von Polyamorie geprägte Umfeld der Gemeinschaft ermöglichte ihr ein unbeschwertes Ausleben ihrer Persönlichkeit.

Der Smiley, den Lottas Mutter als junge Designstudentin entworfen hatte, wurde im Laufe der Zeit nicht nur zum modischen Accessoire, sondern auch zum Markenzeichen des HFNCI und ziert seitdem die meisten Produkte der Organisation.

Dubios

«Guten Morgen Ole, wie sieht's aus, habe ich heute wieder das Glück, diesen wunderbaren Tag in der Gesellschaft eines jungen, überaus sympathischen Mannes zu verbringen?», riss mich Leonoras sanfte Stimme gegen Ende des Frühstücks aus meinen Tagträumen.

«Oh, hallo Leo? Ja, das hast du!», erhob ich mich lächelnd, nachdem ich Anne einen Abschiedskuss gegeben hatte.

«Gut, das freut mich!», lächelte sie Anne kurz an, bevor sie mich wieder ansah und sich mütterlich bei mir einhakte. «Okay, dann lass uns zuerst einmal die Zettelkästen leeren und schauen, ob jemand einen besonderen Wunsch hat, den wir heute noch erfüllen können.»

«Gerne!», lächelte ich zurück, auch wenn ich mich immer noch ein wenig über die Kommunikationswege innerhalb der Gemeinschaft amüsierte. Aber das würde ich nie sagen, denn ich mochte und respektierte die ältere Dame sehr.

Leonora vertrat nach dem unerwarteten Tod von Lottas Vater nicht nur die Kommune nach außen, sondern kümmerte sich auch fast allein um die materiellen Bedürfnisse der Kommune, die sie nicht durch Subsistenzwirtschaft produzieren konnte. Deshalb freute sie sich über meine Unterstützung.

«Na, dann bin ich ja mal gespannt, was heute so alles auf den Zetteln steht», sagte ich und öffnete neugierig den ersten himmelblauen Kasten. «Wow, das lohnt sich!», griff ich nach dem wilden Zettelberg, der mir aus dem Kasten entgegenquoll, und reichte ihn Leonora.

«Ach was, das geht doch noch! Warte erst einmal den Sommer ab, dann wird dir dieser vermeintliche Berg hier nur noch wie ein Hügel vorkommen», hob sie demonstrativ die Ausbeute des Zettelkastens in die Höhe. Dann setzte sie sich in den Schatten einer alten Bananenstaude, wo sie lächelnd den Inhalt des Stapels studierte und das Gelesene auf mehrere Rückseiten übertrug, wobei sie den Originaltext auf der jeweiligen Vorderseite markant durchstrich.

«Hier, das kannst du alles schon mal mitbringen, wenn du Lotta und die anderen in den Ort hinuntergefahren hast», reichte sie mir kurze Zeit später einen der Einkaufszettel.

«Okay, mach ich», überflog ich neugierig den Inhalt des Zettels und erfreute mich wie jedes Mal an ihrer Handschrift, die sehr schön geschwungen war und fast altdeutsch wirkte. Doch plötzlich zuckte ich zusammen: «Ja sag mal, was soll ich da mitbringen…? Nee nun mal im Ernst, das geht doch nun wirklich nicht, ich meine ich kann doch nicht!», tippte ich nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf den Zettel und sah sie mit großen Augen an.

«Ja, natürlich meine ich das ernst!», nahm sie mir den Zettel aus der Hand und las die Bestellung noch einmal Zeile für Zeile durch. «Also ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo dein Problem liegt», sah sie mich verständnislos an.

«Na ja, ich meine unter anderem die ganzen Gummis hier!», tippte ich mit dem Zeigefinger auf die entsprechende Zeile auf dem Zettel. «Und was soll das bitte sein?», deutete ich auf die Zeile darunter.

«Ach, du meinst unsere gute Gleitcreme! Nein, die ist echt super und aus ganz natürlichen Inhaltsstoffen», schaute sie mich weiterhin verständnislos an, bevor sie ein gewinnendes Verkäuferlächeln aufsetzte. «Also, wenn ihr mal welche braucht, dann kann ich euch genau diese empfehlen. Diese Creme ist so ziemlich geschmacksneutral, greift die Scheidenflora nicht an und lässt sich hinterher ganz leicht abwaschen, ohne zu schmieren!»

«Ähm ja…, danke für den Tipp!», erwiderte ich zuerst überrascht ihren Blick, dann legte sich meine Stirn in Falten. «Leo, jetzt aber mal Butter bei die Fische! Ich kann doch nicht ernsthaft ein Dutzend Familienpackungen Kondome und x Flaschen Gleitcreme kaufen. Da komme ich mir ja vor wie ein Bordellbesitzer, der seinen Jahresvorrat auffüllt», empörte ich mich, wenn auch im Flüsterton.

«Na, wenn wir damit mal ein ganzes Jahr hinkommen? Denn wenn ich mich recht entsinne, hielt die letzte Fuhre gerade mal knapp zwei Monate, und nun beginnt auch noch bald die Hauptsaison», wirkte sie auf einmal nachdenklich. «Na, wie dem auch sei», lachte sie kurz herzhaft, bevor sie die Anzahl der Packungen nach oben korrigierte. «Bestell Oswaldo einfach einen lieben Gruß von mir. Dann wird er schon nicht die Policia holen.»

Doch einen lieben Gruß von Leonora brauchte ich dem Besitzer des örtlichen Reformhauses gar nicht auszurichten. Denn kaum hatte ich meine Bestellung wortlos über den Tresen geschoben, lächelte mich Oswaldo auch schon spöttisch an. «Ah, der neue Laufbursche meiner Lieblingskundin!», begrüßte er mich auf Spanisch.

«Sí!», antwortete ich schüchtern, nickte und überlegte, bis ich die Bedeutung von Oswaldos Aussage ganz verstand. Dabei lächelte ich vordergründig, da ich zunehmend nervöser wurde. Denn der untersetzte, aber sehr kräftige Mann machte keine Anstalten, die soeben aufgegebene Bestellung zu begutachten, stattdessen musterte er mich eine Weile eingehend, bevor er etwas ungläubig aus dem Fenster blickte. Dann zuckte er mit den Schultern, bevor er über seine linke Schulter hinweg laut in die Dunkelheit seines Ladens rief: «Sophia!»

«Sí, papá!», sagend, erschien daraufhin eine hübsche junge Frau in Lottas Alter. Diese schaute zuerst mürrisch zu ihrem Vater, bevor sie zu lächeln begann, als sie mich erblickte. Dabei blies sie sich eine Locke ihres langen schwarzen Haares aus dem Gesicht, während sie ihr ohnehin schon enges Top glatt strich, wodurch mein Blick automatisch auf ihre pralle Oberweite fiel. Lächelnd nahm sie es zur Kenntnis, ebenso wie ihr Vater, der aber nicht lächelte, sondern seine Augen kritisch verengte.

Als sie dann den Zettel mit der Bestellung von ihrem Vater entgegennahm, der mich weiterhin eindringlich musterte, legte sich ihre Stirn sichtlich in Falten. «Oh, vale!», stieß sie wissend aus, drehte sich auf dem Absatz um und bedeutete mir mit der rechten Hand, ihr in die Dunkelheit des Ladens zu folgen.

Unsicher nickte ich dem immer noch finster dreinblickenden Ladenbesitzer zu, bevor ich mich anschickte, ihr zu folgen. Dieser murmelte nur etwas Unverständliches und wandte sich wieder seiner Tageszeitung zu, die er zur Seite gelegt hatte, als ich seinen Laden betrat.

Dann musste ich mich beeilen, denn ich sah Sophia gerade noch hinter einem der hohen Regale verschwinden.

«Keine Angst, mein Vater ist eigentlich ganz umgänglich! Er hadert nur jedes Mal mit Gott, wenn jemand von oben aus der Kommune kommt und das hier bestellt», begrüßte sie mich kniend auf dem Boden, während sie eine Palette mit der bestellten Gleitcreme aus einem der hinteren Regale holte und direkt vor meinen Füßen auf den Boden knallen ließ. Dann zog sie eine goldene Kette mit einem Kruzifix als Anhänger aus ihrem Dekolleté und küsste es sanft, bevor sie es wieder zurücksteckte. «Dabei verdient er gar nicht schlecht an euch!», sah sie zu mir hoch und lächelte erneut, während sie kurz nachdachte. «In einem Punkt muss ich meinem Vater allerdings Recht geben! Du siehst wirklich nicht aus wie die Typen, die sonst hier reinschleichen und schüchtern einen Zettel von Leonora über die Theke schieben. Und schon gar nicht tauchen diese Typen hier in so einem schicken Camper auf!», nickte sie spöttisch in die Richtung, in der mein recht neuer VW-Bus mit Campingausstattung stand, der frisch poliert in der Sonne glänzte.

«Oh, tun sie nicht. Ähm, was sind das denn sonst für Typen?», stutzte ich, da mir gerade auffiel, dass Sophia fast akzentfrei Deutsch sprach, und blickte neugierig zu ihr hinunter.

«Na, so schlaksige Typen eben!», erhob sie sich mit einer abfälligen Handbewegung. Dabei wanderte ihr Blick langsam meinen Körper hinauf, bis sie mir direkt in die Augen sah.

«Oh, das tut mir leid», stotterte ich verlegen, weil ich ihren Blick weder deuten noch ihm standhalten konnte. «Und den Rest, wo habt ihr den versteckt?», stammelte ich schließlich.

«Versteckt ist wohl das richtige Wort!», grinste sie mich verschwörerisch an. Dann schlängelte sie sich absichtlich unbeholfen durch den schmalen Gang zwischen den schweren Regalen und schob sich dabei ganz dicht und betont langsam an mir vorbei. Ich versuchte noch, nach hinten auszuweichen, aber die Regale, die nun schmerzhaft in meinen Rücken drückten, hinderten mich daran.

Während ich mich noch irritiert fragte, ob ich ihr folgen sollte, kam sie schon mit einer Leiter in der Hand zurück. Diese lehnte sie dann an das Regal neben mir und stieg darauf. «Eure tolle Gleitcreme kann er dem Pfarrer ja notfalls noch als Badezusatz verkaufen. Aber mit dem hier...», warf sie mir einen mittelgroßen Karton mit Kondomen hinunter, «käme er in ernsthafte Erklärungsnot!», lachte sie erneut herzhaft.

«Wieso?», schaute ich überrascht zu ihr auf.

«Na, weil sein oberster Hirte immer noch gegen Verhütung ist. Was für ein Blödsinn, im Zeitalter von Aids und der ganzen Überbevölkerung!», verzog sie kritisch das Gesicht, bevor sie wieder in ihren Ausschnitt griff, ihr goldenes Kruzifix hervorholte und es küsste.

«Oh, das klingt aber ziemlich aufgeklärt. Ich meine ja nur, da er ja anscheinend auch dein oberster Hirte ist», betrachtete ich sie eingehend von unten.

«Ja, das scheint wohl so!», stieg sie weiterhin lachend die Leiter hinunter und sah mir dann erneut tief in die Augen.

«Na, dann lassen wir das Thema mal besser», wich ich nicht nur verbal aus, denn mir brannte gerade ein anderes Thema mehr auf der Zunge, das mir auch wesentlich unverfänglicher erschien. «Aber sag mal, warum sprichst du eigentlich so verdammt gut Deutsch?»

«Oh, wieso sollte ich nicht? Ich habe doch zur Hälfte deutsches Blut in mir. Okay, das sieht man mir nicht unbedingt an, weil ich viel von meinem Vater geerbt habe. Abgesehen von meinen wunderschönen grünen Augen», strahlte sie mich damit an, «und meiner Vorliebe für große, starke Männer mit blauen Augen und blonden Haaren», dabei kam sie mir noch näher und neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite.

«Ach so, ja dann», starrte ich wie gebannt in ihre unergründlichen Augen, die weit auseinander in einem ebenmäßigen, sonnengebräunten Gesicht ruhten. Als sich ihr Mund jedoch leicht öffnete und ich deutlich ihren Pfefferminzkaugummi riechen konnte, wandte ich reflexartig mein Gesicht zur Seite und flüsterte: «Aber du kannst doch nicht...!»

«Ich kann was nicht?», ließ sie eine Kaugummiblase direkt vor meinem Gesicht platzen und lachte erneut. «Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich hier im Laden meines Vaters...? Na, du bist mir ja einer!», zog sie ihren Kopf ruckartig zurück, bevor sie mir kokett zuzwinkerte. Dann nahm sie die Leiter und ging damit wortlos davon. Als sie kurze Zeit später ohne sie zurückkam, betrachtete sie mich eingehend, so wie es ihr Vater vor ihr getan hatte. «Du bist Ole, richtig?», umarmte sie mich plötzlich freundschaftlich und hauchte mir einen Kuss auf jede Wange, bevor sie mich versonnen angrinste. «Schön, dich endlich persönlich kennenzulernen. Lotta hat mir schon so viel von dir vorgeschwärmt!»

«Was, du kennst Lotta?», sah ich sie erstaunt an.

«Natürlich kenne ich Lotta», lächelte sie. «Denn so groß ist das Valle Gan Rey nun auch nicht. Außerdem sind wir richtig gute Freundinnen. Und wenn sie auf der Insel ist, treffen wir uns regelmäßig im Restaurant ihrer Eltern», hielt sie plötzlich inne und betrachtete mich eingehend. «Heilige Göttin, so verliebt und glücklich habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen und jetzt weiß ich auch warum, auch wenn sie mir Anne immer noch vorenthält. Zum Glück kann ich mich auf Tia verlassen. Übrigens, hat Leonora dir auch etwas für uns mitgegeben?», schaute sie mich plötzlich fragend an.

«Ach ja, richtig!», kratzte ich mich verlegen am Kopf, denn das hatte ich glatt vergessen.

«Super, dann lass uns die Sachen mal zu deinem Wagen bringen!», nahm sie mir den Karton mit den Kondomen ab und nickte hinunter zu der Palette mit der Gleitcreme und den anderen Sachen, die Leonora bestellt hatte.

Bei meinem Camper angekommen, war ich froh, dass ich die langsam schwer werdende und unhandliche Palette einfach ins hintere Ablagefach fallen lassen konnte, aus der ich dann einen großen, noch schwereren Karton herauszog. «Was ist das eigentlich für ein Zeug?», sah ich sie dabei fragend an.

«Ach, das sind Kräutermischungen und Salben, die die Kommune herstellt und die wir mit großem Erfolg auf dem Festland verkaufen», öffnete sie den Karton und zeigte auf die Gläser, deren Deckel alle mit dem frechen Smiley verziert waren. «Das hier zum Beispiel ist ganz neu und hilft gegen Menstruationsbeschwerden, das hier gegen Fieber und das hier gegen Arthritis», hob sie verschiedene Gläser hoch.

Dann las sie einen kleinen Zettel, den sie zuvor aus dem Karton genommen hatte und führte anschließend eine kurze Wareneingangskontrolle durch, bevor sie die Preise der einzelnen Positionen zusammenzählte. Während sie die Positionen noch einmal im Kopf durchrechnete, zog sie ein kleines Portemonnaie aus ihrer engen Daisy Duke und reichte mir 120 Euro. «Hier, stimmt so, und bitte grüß Leonora von uns. Wir bräuchten Anfang nächster Woche wieder eine Lieferung. Was genau sage ich Lotta am Dienstagabend, okay?», dabei hob sie den Karton mühelos hoch und lächelte mich noch einmal an. «Gut, ich muss dann mal. Ciao, wir sehen uns!», küsste sie mich zum Abschied auf jede Wange, bevor sie in Richtung des Ladens verschwand.

«Ja, tschüss!», steckte ich das Geld ein und sah ihr nachdenklich hinterher, wie sie gekonnt ihre Hüften im Rhythmus der klappernden Flipflops hin und her schwang.

Abends fuhr ich mit Anne zu Lotta ins Restaurant. Es lag direkt unten an der Playa de la Calera und hatte sich im Laufe der Zeit zu einem echten Geheimtipp für Freunde der vegetarischen Küche entwickelt. Auf dem Weg dorthin erzählte ich ihr von meinem delikaten Auftrag, den ich am Morgen von Leonora erhalten hatte. Dabei schilderte ich sehr anschaulich Oswaldos skeptische Art und ließ mich über seine Vorbehalte gegenüber der Kommune aus, so dass Anne immer wieder laut auflachte. Sophia hingegen sparte ich in meinen Erzählungen völlig aus, obwohl ich ihren Kaugummi noch deutlich riechen konnte.

Als ich die Szene im engen Gang zwischen den Schwerlastregalen noch einmal im Kopf durchspielte, fuhr mich Anne plötzlich erschrocken an: «Pass auf, der Typ vor uns auf der Straße scheint dich gar nicht zu bemerken!»

«Was?», schreckte ich aus meinen Tagträumen auf und konnte gerade noch rechtzeitig mein Camper nach links auf die freie Gegenfahrbahn lenken. Sonst hätte ich wohl den Wandersmann umgefahren, der gemächlich, aber mit steifen Gliedern und den markanten weißen Kopfhörern in den Ohren mitten auf der Straße vor uns herlief.

«Hey, du Penner, glaubst du, du bist ganz allein auf Gottes weiter Erde?», grölte ich wütend durch das offene Beifahrerfenster und Anne direkt ins Ohr, die mich daraufhin böse ansah.

Der Wandersmann hingegen schien von dem Vorfall nichts mitbekommen zu haben, denn er hob freundlich lächelnd kurz die rechte Hand zum Gruß.

«Stopp Ole, halt bitte an!», stammelte Anne einen Augenblick später und starrte ungläubig in den rechten Außenspiegel.

«Was soll denn das? Willst du diesem lebensmüden Penner etwa persönlich dazu beglückwünschen, dass er den morgigen Tag doch noch erleben darf?», sah ich sie überrascht an und krallte mich am Lenkrad fest, ohne die Geschwindigkeit zu verringern.

«Nein, natürlich nicht! Obwohl, letzten Monat hätte ich mir das nicht nehmen lassen», schaute sie mich zunächst verständnislos an, bevor sie amüsiert den Kopf schüttelte. «Komisch, irgendwie kommt mir der Typ bekannt vor! Aber so wie der sich bewegt? Hm», starrte sie dann wieder in den Rückspiegel und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

Der karnivore Geliebte

«¡Holà, mis amorcitos!», rief Lotta und kam durch das Restaurant gelaufen, kaum dass ich meinen Camper geparkt hatte. Ungeachtet der vielen Gäste fiel sie Anne um den Hals und küsste sie leidenschaftlich. «Na, wie ist es dir denn heute so ergangen?», fragte sie dann und betrachtete Anne mit einem langen Blick. «Ich habe Gisela von deiner Übelkeit gestern Abend erzählt, und sie hat sich schwere Vorwürfe gemacht, dass sie euch ausnahmsweise das ungesunde L-Carnitin-haltige Fleisch gebraten hat», sagte sie und strich Anne sanft über den Bauch. Dann führte sie uns zu einem freien Tisch und wischte mit einer gekonnten Handbewegung ein paar Brotkrümel von der Tischdecke. «Heute gibt es eine leckere Tomatensuppe und einen ebenso leckeren Thunfischsalat. Na, wie klingt das?», wanderte ihr Blick zwischen Anne und mir hin und her.

«Meinst du nicht, dass es eher an der grünen Mojo-Sauce lag, die sie gestern fast literweise in sich hineingelöffelt hatte?», grinste ich schelmisch und gab ihr zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss. Doch damit war Lotta noch lange nicht zufrieden. So schlang sie ihre Arme um meinen Nacken und küsste mich leidenschaftlich.

«So, so, da ist also die grüne Mojo-Sauce geblieben!», schaute sie dann Anne mit gespielter Ernsthaftigkeit an, die nur unschuldig mit den Schultern zuckte. «Na, das erklärt einiges, und worauf habt ihr heute Appetit?»

«Hm?», kratzte ich mich unschlüssig am Kopf. Bei den derzeitigen Temperaturen hatte ich überhaupt keine Lust auf Tomatensuppe. Außerdem verlangte es mich gerade nach Proteinen. Nach tierischen Eiweiß, um genau zu sein, und mit ein bisschen Thunfisch hier und da auf einem allzu gesunden Salat war ich überhaupt nicht zufrieden.

«Ach Ole, Fleisch macht Fleisch, wie man hier unschwer erkennen kann», erriet Lotta meine Gedanken und kniff mir in den Bauch.

«Ja, aber...», wollte ich gerade meinem Unmut Luft machen, als Lottas kleiner Zeigefinger wieder mahnend in die Höhe schnellte. «Okay, schon gut!», nickte ich. «Nur eins verstehe ich nicht! Wenn die Natur uns als Vegetarier vorgesehen hätte, dann hätte sie uns doch nicht evolutionär mit der Fähigkeit ausgestattet, Fleisch zu verdauen», sagte ich unbedacht, bevor ich mir bewusst wurde, wo ich mich gerade befand. Denn plötzlich war es mucksmäuschenstill auf der Gäste-Terrasse und ich hatte das Gefühl, dass mich alle verwundert anstarrten. Wobei ich bei einigen der anwesenden Männer eine stille Zustimmung in ihren Blicken zu erkennen glaubte, weshalb ich verlegen sagte: «Ja dann, Moin erst mal!»

Die Einzige, die mich nicht erstaunt ansah, war Lotta. Stattdessen lachte sie herzlich. «Ach Ole, wie ich es liebe, dass du dein Herz auf der Zunge trägst. Auch wenn du dich damit ab und zu in, sagen wir mal, ziemlich interessante Situationen bringst. Und ja, das ist wohl wahr. Aber seit der Mensch das Feuer für sich nutzbar gemacht hat, braucht er sein Gehirn nicht mehr für die Verdauung. Also hat er jetzt Ressourcen frei und kann sich um seine Umwelt Gedanken machen, wenn er denn will.» Dann räusperte sie sich amüsiert, bevor sie in normaler Stimmlage sagte: «Am besten gehen wir einfach nach hinten zu Mama und schauen, was sie für dich tun kann!», ergriff sie meine Hand und zwinkerte Anne zu, die sich gerade eine Träne aus dem Augenwinkel wischte.

«So, mein karnivorer Geliebter, hier haben wir jede Menge erstklassigen Tofu und Saitan in den verschiedensten Sorten. Nach welchem gelüstet es dich heute und was dürfen wir dir damit zubereiten?», öffnete Lotta die Kühlkammer und machte eine einladende Handbewegung.

«Ja dann, ein Steak Medium bitte, am besten mit gebratenen Champignons», grinste ich herausfordernd.

«Okay, kein Problem», küsste Lotta mich auf die Wange und wandte sich ihrer Mutter zu. «Für den Herrn hier bitte ein Tofu Suteiki Medium.»

Währenddessen schaute ich mich neugierig im Kühlraum um. Was Lotta wohlwollend zur Kenntnis nahm. «Ist es nicht interessant, wie viele verschiedene Tofusorten es gibt? Das hier zum Beispiel ist ein Seidentofu, der hat eine ganz zarte Konsistenz und eignet sich wunderbar für Süßspeisen. Ganz im Gegensatz zu diesem Schwammtofu hier, den man zum Beispiel nach Belieben füllen und dann frittieren kann», nahm sie die erwähnten Sorten heraus und hielt sie mir hin.

Bei einem der so präsentierten Bohnenquarks musste ich spontan die Nase rümpfen. «Okay, und das, was ist das für ein kleiner Stinker hier?», zog ich reflexartig den Kopf zurück, da es sehr streng roch.

«Oh, das ist ein Seidentofu, der mit einer speziellen Gemüse- und Fischlake behandelt wurde, und diese Art wird, wie du richtig bemerkt hast, stinkender Tofu genannt», lachte sie erneut. «Hier, probier mal, ist das nicht lecker?», zog sie ein Messer aus der Tasche und schnitt ein Stück ab, das sie mir einfach in den Mund schob, ohne eine Antwort abzuwarten.

Ich verschluckte mich fast, als ich das faulig aussehende Stück, dessen Geschmack mich ein wenig an Käse erinnerte, fast unzerkaut hinunterschluckte. «Ähm ja…, gar nicht mal so schlecht!», räusperte ich mich. «Nur eins noch, ihr esst ja auch Fisch und den bietet ihr hier im Restaurant auch an. Aber ich dachte immer, dass echte Vegetarier überhaupt keine Tiere essen, egal ob vom Land oder aus dem Wasser. Richtig, oder?»

«Auch das ist Richtig», lächelte sie mich milde an, «überzeugte Vegetarier essen keinen Fisch. Fisch und Krustentiere stehen nur bei den Pescetariern auf dem Speiseplan, die manche Vegetarier abfällig als Pseudovegetarier bezeichnen. Dass wir aber nicht darauf verzichten wollen, hat seine Gründe, die sich wunderbar in deine Theorie von der Entwicklungsgeschichte der Menschheit einfügt. Denn bevor der Mensch jagte, um an Fleisch zu kommen, nutzte er die Fisch- und Muschelbestände, um seinen täglichen Eiweißbedarf zu decken und an die lebensnotwendigen und lebensverlängernden Omega-3-Fettsäuren zu kommen. An dieser gesunden und natürlichen Ernährung finden wir nichts Verwerfliches, zumal wir nur Fische aus Wildbeständen anbieten, die mit nachhaltigen Fangmethoden gefangen wurden. Aber natürlich bieten wir auch rein vegetarische Gerichte an», erklärte sie mir. Dann drückte sie mich an sich und küsste mich zufrieden, bevor sie mich plötzlich kritisch musterte. «Okay, dann lass uns jetzt besser rausgehen, sonst erkältest du dich noch», zog sie mich zur Tür hinaus, bevor sie diese sorgfältig verschloss.

Ich war überrascht, wie gut das Pseudo-Steak schmeckte. Dennoch grunzte ich irgendwann in Gedanken versunken: «Fleisch macht Fleisch, pah!»

«Ach Ole, du denkst ja schon wieder laut!», lächelte mich Lotta an, die mich die ganze Zeit kritisch beobachtete. «Und, wie ist Gisela das Tofu suteiki gelungen?»

«Also», streckte ich den Rücken durch und legte das Besteck zur Seite, bevor mein Blick zwischen Anne und Lotta hin und her wanderte, «erst einmal möchte ich sagen, dass ich positiv überrascht bin. Der Geschmack ist wirklich lecker, nur», hielt ich inne und wog abwägend den Kopf hin und her, «die Konsistenz ist, sagen wir mal…, schon anders. Aber die Pilze hier, also die sind echt lecker. Außerdem fehlen mir ehrlich gesagt noch ein paar Pommes, dann wäre das Gericht nahezu perfekt!»

«Am besten mit Ketchup, oder?», wackelte Lottas Finger wiedermal vor meinen Augen hin und her. «Ach Ole, die Pilze sind doch ganz wunderbare Kohlenhydratspender. Da brauchst du doch keine vor fetttriefenden, krebserregenden Pommes und schon gar nicht Zucker mit Tomatensoße.»

«Ja, ist ja gut, Botschaft angekommen!», lächelte ich leicht genervt. «Ich soll dich übrigens von Sophia grüßen. Sie freut sich schon auf Dienstagabend und ich frage mich, was am Dienstagabend genau stattfindet», sah ich sie neugierig an.

«Oh, wie schön, du hast Sophia getroffen», strahlte Lotta plötzlich, bevor sich ihre Stirn nachdenklich in Falten legte. «Ach ja, am Dienstag ist Neumond. Oh Belisama, wie konnte ich nur deinen Ehrentag vergessen!»

Apologie

Trotz der nur knapp 4 km langen Strecke war Martin etwas dehydriert und hatte einen staubigen Geschmack im Mund, als er in seiner neuen Stammkneipe direkt unten an der Hafenpromenade der Playa de la Calera einkehrte. «¡Holà Martin!», begrüßte ihn die Barkeeperin freundlich und schüttelte ihre langen Dreadlocks aus dem Gesicht.

«¡Holà Roswita!», grüßte er erschöpft zurück und setzte sich wenig elegant auf einen der Barhocker direkt am Tresen. «Ein Bier bitte!», sagte er lächelnd und atmete erleichtert aus.

«Gern, und so wie du ausschaust, willst du sicher ein großes?», hielt sie demonstrativ einen Halbliterkrug in die Höhe.

«Ja, gerne, denn ich glaube, den habe ich mir heute nun wirklich verdient!», nahm er seine modische Hornbrille ab und befreite sie mit Hilfe seines T-Shirts vom Straßenstaub.

«Und warum hast du ihn dir verdient?», fragte sie professionell höflich, während sie den Zapfhahn betätigte.

«Hm?», blickte er überrascht auf und setzte seine Brille wieder auf. Einen Moment dachte er über ihre Frage nach und stellte dabei fest, dass dieser Tag bisher doch nicht so gut gelaufen war. Denn nachdem das Trio gestern Abend endlich aufgebrochen war, hatte er sich sehr darüber geärgert, dass er aufgrund der fortgeschrittenen Stunde nicht mehr schwimmen konnte. So war er erst eine gefühlte Ewigkeit später in einen leichten Schlaf gefallen, aus dem er aber immer wieder aufschreckte. Denn seine Träume in der letzten Nacht wurden von Anne beherrscht. Darin lief sie ihm immer wieder lächelnd nackt entgegen. Doch jedes Mal, wenn er ihren perfekten Körper in seine Arme schließen wollte, blieb sie kurz vor ihm stehen, sah ihn entsetzt an und übergab sich zu seinen Füßen. Deshalb hatte er heute Morgen, oder vielmehr am frühen Nachmittag, eine Ewigkeit gebraucht, um aufzustehen und sich anzuziehen.

«Na ja, ich bin zumindest heute nicht von eurem alten Kackfelsen gesprungen», blickte er verlegen zu Roswita auf und versuchte, die Flüssigkeit in seinen Tränenkanälen zurückzudrängen, die jedes Mal nach außen drängte, wenn er sich seines nicht ganz perfekten Körpers bewusst wurde. «Das ist doch schon mal was, oder?», fügte er wenig später leise hinzu.

«Ja okay, das ist doch schon mal was! Hast du diesmal wenigstens oben drauf gestanden?», lächelte sie ihn milde an, während sie das frisch gezapfte Bier vor ihm auf den Tresen stellte.

«Hm, mehr oder weniger!», grämte er sich noch ein wenig, bevor er einen großen Schluck nahm, ohne ihr den Spruch übel zu nehmen. «Du weißt ja, das ist gar nicht so einfach für mich!»

«Ach, Seemann, hör auf zu jammern! Es hätte doch viel schlimmer kommen können.»

«Ja, aber wie denn?», sah er sie ungläubig an und stellte den inzwischen fast leeren Humpen wenig gefühlvoll auf den Tresen. «Immerhin habe ich doch alles verloren, wie du weißt! Also ...»

«Wirklich alles?», fiel sie ihm unsanft ins Wort und sah ihn streng an. «Jetzt hör aber mal auf! Immerhin bist du gerade aufrecht durch meine Tür gekommen, oder?», griff sie nach dem Bierglas und füllte es wieder auf. «Und das hier geht aufs Haus!», stellte sie das Glas ebenfalls schwungvoll auf den Tresen zurück, so dass die Schaumkrone am Rand des Glases herunterlief.

Beltane

Beltane ist ein Fest des Feuers, der Blumen und der Liebe und trennt seit jeher das Sommerhalbjahr vom Winterhalbjahr. Vor Urzeiten feierten die Menschen diesen Tag, weil sie und das Vieh ihre dunklen und oft stickigen Behausungen verlassen konnten und sich das Leben endlich wieder im Freien abspielte.

Dieses alte heidnische Fest auf La Gomera zu feiern, ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn auf dieser gesegneten Insel herrscht das ganze Jahr über frühlingshafte Temperaturen. Dennoch feierten die Señoras del la Luna llena, wie sich Lotta und einige ihrer Freundinnen nannten, jedes Jahr diesen besonderen Tag, den fünften Neumond nach dem Julfest.

Ich war sichtlich enttäuscht, als Lotta mir eröffnete, dass die Männer ihres Clans am Vorabend zu diesem besonderen Fest traditionell zuerst die Häuser und Ställe mit frischem Grün schmückten und dann bis spät in die Nacht Doppelkopf spielten, um den frauenfreien Abend und den größten Teil der Nacht zu überbrücken. Was die Frauen der Clans in dieser Zeit trieben, darüber schwieg sie sich jedoch beharrlich aus.

So stellte dieser alte Festtag eine doppelte Bestrafung für mich dar. Zum einen mochte ich dieses Kartenspiel nicht mehr, seit ich es jahrelang bei der Bundeswehr täglich in der Mittagspause gespielt hatte. Zum anderen war es das erste Mal, dass Lotta etwas nicht erzählen wollte, was im Zusammenhang mit diesem besonderen Datum meine Phantasie anregte. Denn dank Goethes Faust hatte ich dieses Datum bisher nur mit der Walpurgisnacht in Verbindung gebracht. Zwar wusste ich nicht viel über diesen höchsten Feiertag der Hexen. Dennoch schickte mir mein Kopfkino immer wieder Bilder von spärlich bis gar nicht bekleideten Frauen, die mit einem Besen in der Hand in ekstatischen Bewegungen um ein Feuer tanzten.

Als ich Lotta in einem unbedachten Moment davon erzählte, lachte sie zuerst herzlich, bevor sie mich amüsiert auf die Wange küsste und mir ins Ohr flüsterte: «Oh, mein phantasievoller Geliebter, warte nur bis Samhain, denn dann wirst du und deine Manneskraft ganz im Mittelpunkt stehen. Aber die Beltane-Nacht als Fest der Reinigung und Fruchtbarkeit feiern wir Frauen unter uns!» Damit war das Thema für sie abgehakt und so wie sie mich ansah, wagte ich nicht weiter nachzufragen.

Auch Leonora war bei diesem Thema sehr geheimnisvoll. Sie erzählte nur, dass sie wie immer an Beltane ihr traditionelles Himmelskleid tragen, sich einen Blumenkranz aufs Haar setzen und dann bis zum Sonnenaufgang ausgelassen feiern wolle.

Auch wenn ich nicht wusste, was ein Himmelskleid ist, gab ich mich mit dieser Auskunft zufrieden und fragte nicht weiter nach. Erst als ich erfuhr, dass Anne eine Einladung der Vollmondfrauen erhalten und angenommen hatte, war meine Neugier wieder geweckt.

Doch bevor ich diese befriedigen konnte, tauchte Peter, einer der Stones, auf und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm den Maibaum vom letzten Jahr aufzuarbeiten und einen Kranz zu binden. Also schob ich die Gedanken an das geheimnisvolle Fest beiseite, verabschiedete mich von meinen Metamours und folgte Peter in die Schreinerwerkstatt, die etwas abseits an ein Stallgebäude grenzte. So verpasste ich auch das nächste aufregende Ereignis.

Hereinbrechende Gestirne

Langsam schlängelte sich eine weiße Mercedes E-Klasse Limousine den Berg hinauf nach El paraíso en el charco. Denn es war das erste Mal, dass Sebastian Gommez Sanches diese schmale, kurvige Straße hinauffuhr, und das will schon etwas heißen. Schließlich fährt er schon seit fünfzehn Jahren Taxi auf dieser Insel. Deshalb hatte er gedacht, sie wie seine Westentasche zu kennen. Doch hier war er noch nie gewesen, und wenn die junge Frau bei dem Fährterminal nicht in sein Taxi eingestiegen wäre, hätte sich daran wahrscheinlich auch nichts geändert.

Diese Frau ist wirklich merkwürdig, dachte er erneut, als er sie durch den Rückspiegel betrachtete. Nicht im Sinne von hässlich oder so, im Gegenteil, sie war sogar sehr attraktiv, wenn auch für seinen Geschmack etwas zu dünn. Nur hatte ihr Blick etwas, das sich am besten mit gebieterisch und durchdringend beschreiben ließ, und das verunsicherte ihn. Ohne es zu merken, wischte er sich erneut mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn, während er sie eingehend musterte.

Neben einem wallenden schwarzen Rock trug sie ein enges, ebenfalls schwarzes Spaghetti-Top, unter dem sich deutlich zwei kleine Ringe abzeichneten, wo er normalerweise nur etwas anderes vermutet hätte. Außerdem trug sie noch weiteren, äußerst merkwürdigen Schmuck. Das Amulett, das sie an einer dünnen, aber massiven Kette um den Hals trug, sah aus wie ein chinesisches Ying/Yang-Symbol, nur dass es dreigeteilt war, und der einzige Ring, den sie an der rechten Hand trug, hatte vorne eine Art Ringschelle.

Das alles, zusammen mit ihren langen schwarzen Haaren, die sie anscheinend lange nicht gewaschen hatte, und ihrer blassen Haut, erinnerte ihn, einen streng gläubigen Katholiken, an einen gefallenen Engel. Mit einem Kopfschütteln versuchte er sich von diesem Gedanken zu befreien, während er in den dunklen Himmel blickte und vergeblich den Mond suchte. Scheiße, das auch noch", fluchte er leise, während er hastig ein Kreuz schlug und dann sein Kruzifix berührte, das er an einer einfachen Kette um den Hals trug.

Während er noch ein stummes Vaterunser betete, erkannte er erleichtert, dass hinter der nächsten Biegung eine Lichtung mit einer Ansammlung von einfachen Häusern und Hütten auftauchte, und überglücklich vernahm er kurz darauf, dass die geheimnisvolle Frau hier ihre gemeinsame Reise beenden wollte.

Abrupt hielt er sein geliebtes Taxi vor dem nächsten Haus an und kassierte schnell das Fahrgeld. Nachdem er sich für das üppige Trinkgeld bedankt hatte, mit dem er nicht gerechnet hatte, stieg er eilig aus. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich nach hinten, öffnete rasch den Kofferraum und stellte ihr Gepäck, das nur aus einer Tasche und einem Rucksack bestand, einfach neben sein Auto. Erst dann sah er wieder auf und bemerkte, dass die junge Frau immer noch im Auto saß. Verärgert schnaufend ging er zum Fond und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.

«Wenn Sie so nett wären?», streckte ihm die junge Frau ihre rechte Hand entgegen, wodurch sein Blick unwillkürlich auf ihren merkwürdigen Ring fiel. Diesen schien sie noch dadurch zu betonen, indem sie ihren Ringfinger etwas von den anderen ab streckte.

«Hm, ja!», räusperte er sich noch einmal verlegen, bevor er ihre Hand ergriff, woraufhin sie zufrieden lächelnd aus den Wagen stieg.