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Rita Süssmuth

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Beschreibung

»Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Dieser Satz wurde vor über 70 Jahren im Grundgesetz verankert, aber politisch fehlt der Wille zur konsequenten Umsetzung. Rita Süssmuth kämpft gegen die Folgen der Ungleichheit, erklärt ihre historischen Wurzeln und sagt, was geschehen muss für eine bessere Zukunft. »Wir Frauen«, sagt die ehemalige Bundestagspräsidentin, »wurden immer schon gebraucht, aber mit unseren Fähigkeiten und Kompetenzen nicht anerkannt.« Von 1918–1987 wurde im Parlament nie ein Frauenanteil über 10 Prozent erreicht. Das Wahlrecht wurde gegeben und in Teilen wieder genommen, Berufswege wurden erweitert und wieder eingeschränkt, die Quote mühsamst durchgesetzt und nicht beachtet. Parität muss das Ziel heißen – dafür streitet Rita Süssmuth seit vielen Jahren. Und in den aktuellen existenziellen Krisen wird die Ungleichheit der Lebenschancen größer. Jeden Tag werden wir konfrontiert mit der Ungleichheit der Geschlechter – bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dem viel zu hohen Anteil von Frauen in Teilzeit mit negativen Konsequenzen für Einkommen, Alterssicherung und beruflichen Aufstieg sowie dem hohen Frauenanteil bei den Schwächeren unserer Gesellschaft.

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Seitenzahl: 119

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Rita Süssmuth

PARITÄTJETZT!

Wider die Ungleichheit von Frauen und Männern

Eine Streitschrift

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8012-7040-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8012-7040-7 (E-Book)

1. Auflage 2022

Copyright © 2022 by

Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag:

Ute Lübbeke | Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagfoto: © Stella von Saldern, 2021

Illustration Frau auf Vogelkäfig: © Serpentina Hagner

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2022

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany 2022

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

1Der Planet Erde schlägt um sich – wir alle sind gefordert

2Aufbruch und Rückschlag – Alternativen zur Zwietracht der Geschlechter

2.1Der große Weimarer Durchbruch

2.2Rückfall in die Barbarei – die Zeit des Nationalsozialismus

2.3Das Ringen um Gleichberechtigung im Grundgesetz

2.4Die emanzipatorisch-gesellschaftliche Bewegung der Bundesrepublik

2.5EXKURS: »Vom Käfig zum freien Flug« – Der Beitrag der Frauen in Kunst und Kultur

3Von der Quote zur Parität – warum jetzt?

4Parität im Jahre 2022? Eine Bestandsaufnahme

4.1Gleichberechtigung und Gleichstellung

4.2Zahlen und Fakten

4.3Der Mauerfall: Frauen – befreit und bedrängt

5Wege zur Parität

5.1Gleichstellung in der Gesellschaft setzt Parität in der Politik voraus

5.2Freiwillige Paritätsregelungen durch die Parteien

5.3Verpflichtende Paritätsregelungen durch den Gesetzgeber

5.4Mögliche Modelle für unsere Gesellschaft und die Politik

6Fazit: Fünf Thesen zur Verwirklichung der Parität

Dank

Die Autorin

Die Künstlerin

Die Illustration

1

Der Planet Erde schlägt um sich – wir alle sind gefordert

Die Erde tobt und bebt und windet sich unter der Last der Menschen, die sie bewohnen – die Folgen heißen unter anderem: Erderwärmung, Dürre und Trockenheit, ein ansteigender Meeresspiegel, Überflutungen, Erdrutsche und Stürme mit rasender Geschwindigkeit. Dies sind beunruhigende Tatbestände.

Ein weiteres abschreckendes Bild gibt der Mensch selbst und direkt ab: Gewalt, Krieg, Hunger und Vertreibung mit unvorstellbaren Vernichtungen von Leben, Natur und Kultur. Die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, ist die Höchste seit dem Zweiten Weltkrieg: 70,8 Millionen1 Alte und Junge, Frauen und Männer, Menschen aller Kulturen und Religionen. Und auch die Corona-Krise und die mit ihr einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen sind historisch ohne Vergleich.

All dies bringt unseren Planeten – und uns mit ihm – in die größte Gefahr. Wer bietet der Welt und ihren Geschöpfen Schutz? Wer stellt die Ordnung wieder her und stoppt das Chaos? Die Götter? Der Schöpfer selbst? Wir Menschen? Es ist höchste Zeit, wir sind gefordert. Sehr viele Junge haben das verstanden, aber auch Ältere, unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Überall auf der Welt sind wir Menschen betroffen.

Klima und Umwelt sind aufgrund unseres schonungslosen, egoistischen Verbrauchs nahezu abgewirtschaftet. Und mit »uns« meine ich vor allem: uns in der westlichen Welt. Es wurde viel diskutiert seit den 1970er-Jahren, aber zu wenig oder erst spät gehandelt. Jetzt wird es eng. Es ist nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf.

Gerade die junge Generation mit weiblicher Initiative und Führungskraft lässt uns Politiker nicht mehr schalten und walten, ohne uns auf die Finger zu schauen und uns zu kontrollieren: Jetzt ist es daran zu handeln, bevor es endgültig zu spät ist! Dafür stehen mit beispiellosem Mut die heute 18-jährige Greta Thunberg und ihre Mitstreiterinnen.2

*

Dieser Drang zu handeln und die Welt zum Besseren zu verändern, geht von Frauen und Männern gleich welchen Alters aus. Jedoch: Fällt uns nicht auf, dass die weibliche Stimme lauter wird? Dass ihr Weckruf international unüberhörbar wird? Dies ist die Stunde der Frauen. Kein Dornröschenschlaf mehr, kein Abwarten, kein Dulden und Delegieren. Sie packen sichtbar an, suchen das Rettende und die Möglichkeiten konsequenter, radikaler Veränderung ohne Gewalt – so lange es noch möglich ist. Nicht nur »Fridays for Future« stehen dafür, sondern Millionen Menschen, die jeden Tag für ihre und unsere Zukunft engagiert unterwegs sind.

Warum sage ich »radikal«? Einfach deshalb, weil weniger nicht mehr ausreicht. Zu diesem Radikalsein gehören die Kraft zur Lebensumstellung, alternative Ideen, Haltungen und Zielsetzungen, schöpferische Fantasie. Ein Blick zurück in die Geschichte belegt mit einer Fülle von Beispielen, was gerade Frauen hier in bitterer Not, in größter Bedrängnis und Entmutigung mit ihrer unermüdlichen Tatkraft, ihren praktischen Fähigkeiten und ihrer Bereitschaft zur Hoffnung geleistet haben.

Wie viele neue Zeichen wurden von ihnen gesetzt und Aufgaben gemeistert! In diesem Sinne waren sie oft »radikal«, weil sie nicht aufgehört haben, gegen große Widerstände und inmitten scharfer Konflikte einem Weg zu folgen, der genaues Hinsehen und Zuhören und Verständigung den Vorzug gibt. Und nach dem Scheitern wieder aufzustehen, um weiter zu machen, war ihnen zur zweiten Natur geworden.

*

Ohnmächtig und ohne Ideen sind wir Frauen nie gewesen. Aber im hohen Maße ausgegrenzt von politischen Mandaten und Ämtern, unterschätzt und von Ideologien umstellt. Auch in Europa, das von seiner Namensgeberin her weiblich ist und eigentlich die Europa heißen müsste, wurden allzu lange unsere angeblichen Defizite thematisiert: zu emotional, zu wenig Distanz und Sachlichkeit, zu wenig Befähigung für das Politische.

Angeblich. Denn in diesem beschämend falschen Bild fehlt die Beachtung der unersetzlichen Leistungen von Frauen auf allen Gebieten, vor allem in den Bereichen Sorge und Fürsorge, aber ganz besonders in den dunkeln Zeiten, als die Welt durch Kriege in Schutt und Asche gelegt worden war: Da haben Frauen die Gesellschaft am Leben erhalten, wenn die Männer weg waren, und Frauen haben das Land wieder aufgebaut, wenn ihre Männer traumatisiert, verwundet und oft apathisch zurückkehrten.

Berufe im Bereich Gesundheit, Soziales oder Erziehung – die sogenannten Care-Berufe –, vor allem auch in der Pflege sind durch einen hohen Frauenanteil geprägt. 85 Prozent des Pflege- und Betreuungspersonals in Heimen und ambulanten Diensten sind nach der jüngsten Pflegestatistik (2019) weiblich. 68 Prozent der Frauen in der Altenpflege arbeiteten in Teilzeit. Betrachtet man die Erwerbstätigen insgesamt, so verschärft sich das Bild: Nach Ergebnissen des Mikrozensus lag die Teilzeitquote über alle Wirtschaftsbereiche hinweg im Jahr 2019 bei 29 Prozent. Bei Frauen betrug sie 48 Prozent, bei Männern 12 Prozent.3

*

Das Corona-Virus und seine ökonomischen Folgen treffen uns alle. Besonders bitter bekommen es aber diejenigen zu spüren, die bis heute aufgrund von Teilzeit und geringerem Verdienst vorbelastet sind – die Frauen. Wir sind nicht im Aufstieg zu einer paritätischeren Welt, sondern, mehr denn je, im Abstieg begriffen, weg von ihr. Eine um sich greifende Verunsicherung mit zwei ganz unterschiedlichen Ausrichtungen zeichnet sich ab:

Die Tendenz Nummer eins: weg vom Globalen hin zum Nationalen und Nationalistischen, zurück in die Vergangenheit mit nationalen Allianzen zur eigenen Absicherung, Abwehr von Flüchtlingen, weg von interkulturellen Einflüssen, Aufbau von Fremd- und Feindhaltungen, Ausgrenzung und Diffamierungen.

Die Tendenz Nummer zwei: die Rettung des Planeten Erde, verschärfter Umweltschutz, neues friedfertiges und kooperatives Denken und Verhalten – lokal, national und international. Diese Entwicklung wird sichtbar in der gegenwärtigen Avantgarde für die Zukunft, in der jungen Generation mit radikalen Zielen und Erwartungen an eine Veränderung der Lebensverhältnisse und individuellen Verhaltensweisen. Eine der weltweiten Anführerinnen ist die genannte Greta Thunberg. Doch sie rüttelt nicht nur andere auf mit ihren Unterstützer*innen, sie tut viel mehr, arbeitet praktisch und wirkt politisch, so jung sie ist. Sie besteht auf dem »Jetzt« ohne Verzug, in Europa und der Welt.4

Aber ist es überhaupt möglich, das bisherige Denken und Handeln ohne schrittweise Kompromisse durch radikale Vereinbarungen zu erreichen? Gegner dieser Gangart arbeiten mit schwerwiegenden Zweifeln und Argumenten gegen zu viel Eile. Die beobachtbaren Indikatoren verstärken die berechtigten Forderungen nach einem schnellen und weltweit getätigten Klimaschutz. Das Problem ist komplex, greift tief in selbstverständlich gewordenes Handeln, in unsere gewohnte Lebenswelt ein und fordert nachhaltige Lösungsansätze, die uns oft befremden.

Wurde etwas erreicht? Die zukunftsentscheidenden Fragen sind auf dem Tisch und werden nicht länger verdrängt, immerhin. Sie betreffen alle, erfordern Zusammenarbeit, Gemeinsinn von vielen, alternative Antworten. Sie verlangen Tempo und einen langen Atem, um ihre Tauglichkeit und internationale Wirksamkeit zu prüfen und unter Beweis zu stellen. Verzagtheit und Bequemlichkeit stehen uns oft im Weg, wenn wir neues Wissen und Erfahrungen sammeln.

*

Aber was uns gegenwärtig umtreibt ist breiter angelegt als die Klimakatastrophe und Corona. Es betrifft unseren Zustand als Gesellschaft, unser Lebensgefühl und unser Lebensverständnis mit neuen Verunsicherungen. Das Vertrauen in die Zukunft ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die menschliche Allmacht zeigt Risse, sieht sich plötzlich überrascht einer drängenden Fragwürdigkeit ausgesetzt. Das Selbstverständliche ist nicht mehr selbstverständlich. Eine erste Reaktion darauf hieß: »Das dauert nicht lange an. Die alte Normalität kehrt bald wieder!« Nun sind wir schon im dritten Jahr der Corona-Krise. Sie hält noch immer an. Und sie schlägt um in schlechte Stimmung, Aggressivität und Ratlosigkeit.

Gleichzeitig wachsen Reform- und Innovationsideen im Umgang mit Energie, Ernährung, Wohnungsbau und Wohngestaltung quer durch die Generationen. In vielen Kommunen erleben wir gegenwärtig mehr Lust auf Verantwortung statt Resignation. Das trifft für städtische und ländliche Regionen zu. Es fällt auf: Wohlfühlen in der Stadt hängt nicht mehr einseitig von Läden und Einkaufspassagen ab, sondern von der Möglichkeit, sich zu treffen, Plätze zu gestalten, miteinander zu reden und Entspannung zu suchen für Jung und Alt. Altes bleibt, verbindet sich aber stärker mit Bedürfnissen nach kleinen Gemeinschaften und ihrem Zusammenhalt. Viele von uns werden gefragt: »Was soll das? Wo bleibt die Zeit für die Pflichtaufgaben – Arbeit, Haushalt, Kochen, Schulaufgaben, Kinder und Ältere versorgen?« Die Antwort lautet: Alles hat seine Zeit.

Kinder brauchen Kinder, wollen mit anderen Kindern lernen und spielen. Und die Erwachsenen suchen Muße, wollen verweilen, sich treffen und etwas erleben. Der Devise: »Kontakte einschränken!« steht der gleichgewichtige Slogan gegenüber: »Distanz ja, aber mit neuen Zeichen von kontrollierter Nähe und Achtsamkeit!« Wir werden wieder erfinderischer, wie die Kinder. Es begegnen sich Angst und Mut, Neues, wenn auch anders, auszuprobieren. Die alten Probleme sind nicht weggefegt, aber sie werden mit neuer Zuversicht bearbeitet. Ja, Corona hat Distanz geschaffen. Aber zugleich auch das Bedürfnis, näher zusammenzurücken, umzulernen und weiter zu lernen – oft mit mehr Lebensfreude als Qual an den Beschränkungen.

Immerhin: Hier gibt es Bewegung, es wird diskutiert über Klimaschutz, geredet und gestritten, die Medien berichten und reißen den Diskurs aus der Verdrängung und Vergessenheit heraus. Eine solche Dynamik brauchen wir auch in der Gleichstellungsdebatte. Wir brauchen mediale Aufmerksamkeit, wir brauchen Diskurs, wir brauchen Streit – mit radikalen Ideen, Ansätzen und Lösungen unter Einbezug aller gesellschaftlichen Akteure.

*

Denn womit sehen wir uns momentan in Deutschland konfrontiert? Mit einer Rückkehr zu alten Ausgrenzungen, einer abnehmenden Beteiligung der Frauen an politischen Mandaten und Ämtern auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene. Besonders in kleinen Gemeinden und im ländlichen Raum ist das spürbar. Aber auch für Großstädte gilt: Eine Oberbürgermeisterin ist schwer zu finden.5 Der Anteil der Frauen in der Politik nimmt nicht zu, sondern ab. Deutlich und stetig. Das kann und darf nicht so bleiben.

Brauchen wir in dieser dramatischen Lage eine Revolution? Ich habe zunächst an das Selbstverständliche gedacht, an die gleiche Verteilung von Verantwortung und Beteiligung an den Zukunftslösungen, kurz: an Parität. Für die Gegner des Paritätsgedankens ist das Wort Revolution wahrscheinlich eine gefährliche Perspektive. Für die Nachdenklichen und die Offenen ist Parität hingegen eine politische Selbstverständlichkeit – eine logische, soziale und emotionale, ja menschengerechte Notwendigkeit.

*

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich gut an zwei Theaterabende aus jüngster Zeit und den Bericht von Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Oktober 2019 anlässlich der Saisoneröffnung der Münchner Kammerspiele, die sich um das Thema neue Verantwortungspartnerschaft drehte. Beide Aufführungen haben mich alarmiert und inspiriert. Der Abend war einzigartig, Verena Regensburger brachte »These Teens will save the Future« und Stefan Pucher eine Inszenierung von »König Lear« auf die Bühne. Warum hat mich beides so gefesselt und nicht wieder losgelassen? Beide sind von einer seltsam paradoxen Art. Sie spielen in hochdramatischer Weise mit den Vorstellungen von Ende und Neuanfang, Desaster und Rettung, Irrsinn und Realität. Die Anspannung steigert sich in einer Weise, die fast unerträglich erscheint, aber gleichzeitig danach drängt, nicht abgebrochen zu werden. Dieser Zwiespalt löst sich nicht auf, bleibt aber durchsetzt von Hoffnungssplittern und erlebbaren Hoffnungselementen.

Verena Regensburgers Kernaussage in ihrer Theaterkomposition mit 26 jungen Menschen im Alter zwischen zehn und 20 Jahren lautet: »These Teens will save the Future«. Die Intendantin hat Texte geschrieben, geformt und rhythmisiert, Solostellen und Chor-Explosionen komponiert, aus denen Entsetzen und Entrüstung sprechen, aber auch helle Wachheit für das »Feuer« in Natur und Kultur – hoch spannend. Ihre Botschaft ist eindringlich und energisch, aber nicht verzweifelt. Aus den gesprochenen und gesungenen Passagen wird hier Kunst zur politischen Aufgabe und Herausforderung. Ein Appell zur Umkehr! Es bleibt nicht bei der Wucht der Entrüstung, es entwickelt sich in den Videos und den darin enthaltenen Begegnungen die Aufforderung, persönlich darüber nachzudenken, wie es weiter gehen kann und muss: »We are unstoppable, a better world is possible.« Diese Jugendlichen sind überzeugt, dass Veränderung mit ähnlich oder gleich fühlenden und denkenden Menschen möglich ist. Vor allem dann, wenn viele Menschen ihren Ängsten und Erwartungen eine öffentliche Stimme geben. Diese Entrüstung, die Forderungskataloge, Nutzung der Rechte und Freiheiten, Authentizität und gendergerechte Sprache beziehungsweise kultivierte Sprache entgleiten nicht in eine utopische Sphäre. Sie bleiben – inmitten einer Welt voller Widersprüche. Es ist unsere Aufgabe, diese abzubauen und aufzulösen. Das ist möglich, wenn auch nicht ohne Widerstände.

In Puchers »König Lear« wird die Shakespeare-Tragödie durch Thomas Melle in einen aufregenden Geschlechter- und Generationenkampf verwandelt. Melles Botschaft lautet: Die garstigen Töchter King Lears sind keineswegs die lieblichen Geschöpfe der Emanzipation. Sie treten mit dem radikalen Anspruch auf, das patriarchale System endgültig zu beseitigen. Das erfordert die radikale Bekämpfung von Ausgrenzung und Diffamierung, Herabsetzung, Verfolgung und Mord. Dieser Anspruch muss für alle strikt verbindlich sein. Wenn sich diese Untaten nicht in der nächsten Generation fortsetzen sollen, dann muss radikale Umkehr zügig auf den Weg gebracht werden. Und dazu gehört die öffentliche Rolle der Frauen, der lange Ausgegrenzten und Verfolgten, die bisher in ihrem Können, ihren Ideen und Argumenten unterschätzt wurden. Frauen engagieren sich, brauchen dazu aber auch eine größere Beteiligungsoffenheit der Männer.

Wir müssen umdenken, zu mehr Mitmenschlichkeit und Würde und zu weniger Isolation und Alleingelassensein finden.

*

Beide Theaterinszenierungen weisen den Weg zu einer radikalen Veränderung. Das kann nur mit und durch Menschen erfolgen und nicht allein durch Freiwilligkeit ohne Regeln und Gesetze. Das Niederträchtige, Zerstörerische, Unmenschliche bedarf dringend der Zähmung und keinerlei Duldung.

Unsere aktuelle Lage zu Hause und in der Welt ruft nach Menschen, die sich beteiligen an notwendigen Veränderungen. Die Zahl an Menschen, auch jungen, die solidarisch einander helfen, ist noch immer ermutigend hoch, das zeigen die Statistiken. Aber zugleich wächst die Zahl der Gleichgültigen und Egoisten. Und irgendwann halten wir für selbstverständlich, was uns abhandengekommen ist oder abhandenkommen wird – wechselseitige Achtsamkeit und Solidarität.