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Patriarchat und mentale Gesundheit: Beatrice Frasl wühlt tief in den Eingeweiden unseres "kranken" Gesundheitssystems. Psychische Gesundheit ist politisch In Ländern wie Deutschland und Österreich können wir uns auf eine medizinische Notversorgung verlassen. Gibt es einen Unfall, wird ein Rettungswagen gerufen, Patient*innen werden in ein Krankenhaus gebracht und schnellstmöglich versorgt. Selbstverständlich, oder? Immerhin wäre es für uns unvorstellbar, mit einem Knochenbruch wieder nach Hause geschickt zu werden, einschließlich einer Wartefrist von sechs Wochen. Bis ein Behandlungsplatz zur Verfügung steht. In etwa so gestaltet sich jedoch die Situation im Bereich der psychischen Erkrankungen. Denn: Unser Gesundheitssystem schreibt, als Teil unseres Gesellschaftssystems, Ungleichheiten fort. Sozialer und ökonomischer Background, kulturelle Rahmenbedingungen und der neoliberale Leistungsgedanke bestimmen, wer gesund ist und wer nicht, wer krank sein darf und letztendlich auch: wem Behandlungsmöglichkeiten offenstehen und wem diese verwehrt bleiben. Ungleichheit in der psychischen Krankenversorgung geht uns alle etwas an! Du fragst dich, was Geschlecht und die Versorgung psychischer Erkrankungen gemeinsam haben? Was das Patriarchat mit der Diagnose von Krankheiten zu tun hat? Spoiler-Alarm: sehr viel! Der Grund, warum Frauen so viel häufiger von Depressionen und Angsterkrankungen betroffen sind als Männer, warum Männer jedoch weniger oft Ärzt*innen aufsuchen und sich behandeln lassen, liegt u. a. in den stereotypischen Vorstellungen und Rollenbildern, die wir im Laufe unseres Aufwachsens erlernt haben. Und: Frausein im Patriarchat bedeutet Gefährdung auf vielen Ebenen. Der Mangel an ökonomischer Sicherheit, die körperliche und psychische Gewalt, denen Frauen sehr viel häufiger ausgeliefert sind, und die Doppelbelastung, die durch Arbeit und Care-Arbeit auf den Schultern von Frauen lastet, sind zusätzliche Gründe dafür, warum weibliche Personen zur Risikogruppe zählen und durch unzureichende Krankenversorgung abermals benachteiligt sind. Stigmatisierung und Tabuisierung: Wie können wir mit psychischen Erkrankungen umgehen? Dass die psychische Krankenversorgung keine Selbstverständlichkeit ist, hängt eng mit der Pathologisierung bestimmter menschlicher Empfindungen zusammen, die nicht in das kapitalistische System passen. Besonders Frauen, ihre Körper und ihre Wahrnehmungen sind und waren schon immer ein Instrument zur Ausübung patriarchaler Kontrolle. Geschlechterrollen, der "Diagnose Gap" und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse – Beatrice Frasl zeigt in diesem Buch: Das Sprechen über psychische Gesundheit ist ein feministischer Akt, ein Akt, der uns allen die Macht über uns selbst zurückgeben kann.
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Seitenzahl: 370
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für meine Mutterund meine Schwestern
Beatrice Frasl
Geschlecht, Klasse und Psyche
„Das Private ist politisch.“Carol Hanisch
Zur Schreibweise / Wenn du Hilfe brauchst
Vorwort: Wir sind alle Betroffene.Aber manche sind betroffener.
I. Hilflos?
Eine psychische Krise ist kein Beinbruch
Mein Therapieplatz: Geschichte einer Suche
Gesundheit auf eigene Kosten
Psychotherapie als teurer Luxus
Die Folgen der Corona-Krise
Wo gibt es Hilfe?
Welche Hilfe gibt es?
Stigma, Ausgrenzung und Öffentlichkeit
II. Gesellschaft im Ungleichgewicht
Armut macht krank. Krankheit macht arm.
Ungleichheit macht krank
Die Mär von Meritokratie
Schuften bis zum Umfallen
Sinnstiftende Arbeit als Antidepressivum
Die Kosten der Ungleichheit
Alle gegen alle
Aufeinander bezogen
Vereinzelung als Gift für die Seele
Antisoziale Medien
Beziehung als Antidepressivum
III. Gehirne im Ungleichgewicht?
Über Ungleichgewichte von politischer und chemischer Natur
Meine SSRI-Odyssee
Das vielzitierte Ungleichgewicht im Gehirn
Hoffnung in Pillenform
Placebo ohne Täuschung: Psychotherapie
Social Prescribing
Für eine Repolitisierung von Depressionen
IV. Patriarchale Belastungsstörung
Der Faktor Geschlecht
Mangel an Geld
Mangel an Zeit, Mangel an Erholung
Mangel an Sicherheit
Mangel an Raum
Schönheits- und Schlankheitsdiktat
Die Auswirkungen der Mängel
Was ist eigentlich mit den Männern?
V. Patriarchat und Psychiatrie
Die ältesten Beschwerden der Welt – die Diagnose Frau
Femme fragile und Femme fatale
Hysterie als Widerstand
Patriarchale Kontrolle – zur Behandlung der Hysterie
VI. Hysterie heute?
Diagnosen: kulturell und historisch spezifisch
Diagnosen als Herrschaftsinstrument
Die Hysterikerin heute: zur Gegenwart weiblichen Wahnsinns
Die Frau als eingebildete Kranke
Die Hysterikerin als Spektakel
Psychiatrien damals: ein Ort der Unerwünschten
Psychiatrien heute: zwischen Zuflucht und Zurichtung
Zwischen Kranksein und Sein
VII. Fragen, die bleiben
Krankes System, kranke Menschen?
Was können wir tun?
Danksagung
Literatur
Statistiken und Berichte
Wenn du Hilfe brauchst
Wenn du weiterlesen möchtest
Zur Autorin
In diesem Buch kommt weitestgehend das generische Femininum zur Anwendung. Die männliche Form findet nur dann Gebrauch, wenn auch ausschließlich männliche Personen gemeint sind. Eine Ausnahme bilden jene Stellen im Buch, an denen betont werden soll, dass männlich dominierte, patriarchale Systeme besprochen werden oder ein hierarchisches und geschlechtlich markiertes Verhältnis herausgestellt wird.
Die weibliche Form als generelle Ansprache zu verwenden, hat gegenüber dem generischen Maskulinum den Vorteil, dass die männliche Form in der Regel bereits in der weiblichen enthalten ist: „Leserin“ beinhaltet „Leser“, „Leser“ beinhaltet „Leserin“ nicht. Männer sind in der weiblichen Form also nicht nur mitgemeint, sondern auch genannt.
Bei Übersetzungen aus dem Englischen wurde bei Pluralformen, in welchen das Geschlecht der angesprochenen Personen unklar ist („patients“, „doctors“), aus dem genannten Grund ebenso in das generische Femininum übersetzt. Zitate aus dem Deutschen werden in ihrer ursprünglichen Form wiedergegeben, unabhängig davon, ob sie im generischen Maskulinum, mit Binnen-I oder * verfasst wurden.
Am Ende dieses Buches findest du eine Liste mit Telefonnummern und Adressen, an die du dich bei Bedarf wenden kannst.
Liebe Leserin,
dieses Buch handelt von dir.
Das verwundert dich möglicherweise, schließlich weiß ich, die Autorin dieses Buches, nichts über dich (abgesehen von den Freundinnen und Familienmitgliedern, die dieses Buch lesen – herzliches Hallo an dieser Stelle).
Eine Sache weiß ich aber mit Sicherheit, auch wenn ich dich nicht kenne: Du bist vom Thema psychische Gesundheit und Krankheit sowie der Zugänglichkeit von Behandlung (oder eben der Nicht-Zugänglichkeit) und der Niederschwelligkeit unseres Gesundheitssystems (oder eben den vielen Hürden) betroffen.
Auch das verwundert dich möglicherweise: Vielleicht denkst du jetzt: Ich bin aber doch psychisch gesund? Ich brauche weder Therapie noch Psychopharmaka, ich habe dieses Buch in die Hand genommen, um mich über dieses Thema zu informieren, nicht um etwas über mich und meine Situation zu erfahren.
Es tut mir leid, werte Leserin, dass ich dich nun schon zu Beginn dieses Buches enttäuschen muss (Enttäuschungen werden vermutlich im Zuge des Lesens noch einige folgen): Tatsächlich geht es in diesem Buch um dich und deine Situation. Die deiner Familienmitglieder, deiner Kolleginnen, deiner Freundinnen.
Wir sind nämlich alle Betroffene.
Wenn es um psychische Gesundheit und Krankheit geht, tun wir oft und gerne so, als ginge uns das alles nichts an. Als wären Menschen mit psychischen Erkrankungen Outlaws, als würden sie außerhalb der Gesellschaft stehen, weit weg von uns. Das ist uns in der Regel auch recht, denn mit „Geisteskranken“, mit „Verrückten“, mit „Irren“ möchte man ohnehin lieber nichts zu tun haben.
Psychisch Kranke sind im Wortsinn marginalisiert. Das lateinische „margo“ bedeutet Rand. Psychisch Kranke werden an diesen Rand und über den Rand hinausgeschoben. Sie kommen in der öffentlichen Debatte selten als Sprechende vor. Es wird über sie gesprochen, sie reden aber nicht mit. Psychische Erkrankung wird aus dem Blickfeld geschafft – sogar physisch, so doch Psychiatrien historisch oftmals am Rande von Städten gebaut wurden.
Unser Umgang mit körperlichen Erkrankungen und jenen, die sie haben, unterscheidet sich frappant von unserem Umgang mit psychischen Erkrankungen und psychisch Erkrankten. Im Fall von körperlicher Gesundheit und Krankheit ist uns in der Regel bewusst, dass niemand von uns jemals in vollkommener Gesundheit leben wird. Wir alle haben unsere chronischen Wehwehchen, von Allergien über Skoliose bis hin zu Diabetes. Wir alle wissen auch, dass wir an einer Grippe erkranken können, an einer Angina oder einer Durchfallerkrankung. Wir alle wissen, jede von uns kann auch schwer erkranken, sogar tödlich. Gerade in Zeiten wie diesen, inmitten einer Pandemie, wird uns unsere Vulnerabilität täglich eindrücklich vor Augen geführt. Nicht alle sind im selben Maß vulnerabel, aber niemand ist frei von der Gefahr zu erkranken. Wir wissen, dass wir aufgrund dessen alle davon betroffen sind, wie unser Gesundheitssystem aufgestellt ist. Dass wir Vorsorge und Versorgung brauchen – präventive und kurative Unterstützung durch Professionalistinnen.
Bei psychischen Erkrankungen machen wir uns gerne vor, dass wir nichts mit ihnen zu tun haben. Dabei verhält es sich sehr ähnlich wie bei körperlichen Erkrankungen: Wir alle haben unsere Belastungen, die manchmal auch Behandlung benötigen, damit sie sich nicht chronifizieren. Wir alle haben unsere genetischen und biologischen Prädispositionen – sind für Beschwerden verschieden anfällig.
Psychische Gesundheit und Krankheit ist genauso wie körperliche ein Spektrum. Psychisch Erkrankte sind keine „Wesen von einem anderen Stern“. Im Gegenteil, sie sind „zutiefst menschlich“.i Ihre Krisen und Krisenhaftigkeit – eigentlich also: unsere Krisen und Krisenhaftigkeit – sind Erfahrungen, von denen sich niemand abgrenzen kann, da sie zutiefst menschliche Erfahrungen sind, wenn sie auch in unterschiedlicher Ausprägung und in unterschiedlichem Schweregrad gemacht werden.
Die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit sind fließend. Die Grenzen zwischen Krise und Krankheit sind fließend. Es gibt nicht die Betroffenen auf der einen und die Nicht-Betroffenen auf der anderen Seite. Wir sind alle Betroffene. Es gibt nicht die Gesunden auf der einen und die Kranken auf der anderen Seite. Wenn es beispielsweise nicht genügend Psychotherapieplätze auf Krankenschein gibt, bedeutet das, dass wir – ich, du, deine Mutter, dein Bruder, deine Freundin – möglicherweise diesen einen Therapieplatz nicht bekommen, wenn wir ihn brauchen.
Schlechte Gesundheitsversorgung in Sachen Psyche betrifft uns also ausnahmslos alle. Aber sie betrifft uns nicht alle im gleichen Ausmaß – soziale und ökonomische Ungleichheiten und patriarchale Geschlechterverhältnisse bringen einen äußerst ungleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und ein äußerst ungleich verteiltes Erkrankungsrisiko hervor.
Im Jahr 2017 – also noch bevor die Covid-Pandemie den psychischen Gesundheitszustand vieler signifikant verschlechterte – wurde die Zahl derer, die weltweit an psychischen und Suchterkrankungen litten, von der WHO mit 970 Millionen beziffert. Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status waren weltweit stärker betroffen, Frauen ebenso. Von den genannten 970 Millionen entfielen 264 Millionen an Depressionen, 284 Millionen an Angsterkrankungen. 2019 wurde die Zahl der Personen mit Depressionen wesentlich höher als 2017, nämlich mit 322 Millionen weltweit beziffert.ii
In den zehn Jahren vor 2017 stiegen psychische Erkrankungen weltweit um 13 Prozent. Im Jahr 2006 – also sowohl vor diesem Anstieg als auch vor der Corona-Pandemie – errechnete die TU Dresden in einer Meta-Analyse von 27 Studien zum Thema die Wahrscheinlichkeit von Europäerinnen, im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung zu erkranken. Sie lag zu jenem Zeitpunkt bei 50 Prozent. Am häufigsten treten „Angststörungen [auf ], an die sich im weiteren Verlauf oft somatoforme, Sucht- und depressive Erkrankungen anschließen.“iii Jedes Jahr versterben innerhalb der Europäischen Union 58.000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Tote als durch Morde und Verkehrsunfälle zusammen. In der Altersgruppe der 15–29-Jährigen ist Suizid mittlerweile die zweithäufigste Todesursache. Suizid und Suizidalität entstehen oft in Zusammenhang und als Symptom von psychischen Erkrankungen. Wir haben es also schon lange mit einer ganz anderen Art der Pandemie zu tun: mit einer Pandemie psychischer Erkrankungen.iv Und diese Pandemie ist eng mit sozioökonomischen und Geschlechterverhältnissen verwoben.
Ob du im Laufe deines Lebens an einer Angststörung oder einer Depression erkrankst, Schlafstörungen entwickelst, hängt in hohem Maße davon ab, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Und davon, in welchen sozioökonomischen Verhältnissen du lebst.
Wir sind alle betroffen. Wir sind allerdings nicht alle gleich betroffen.
Du vermutest nun vielleicht, dass diese Zahlen politische Verantwortungsträger in aller Welt bereits in Alarm versetzt haben, dass das Ausmaß und die Dringlichkeit des Problems dazu führen, dass Budgets aufgestockt werden, um bessere Gesundheitsversorgung bereitzustellen, dass in Forschung investiert wird, die die Ursachen für psychische Erkrankungen untersucht und neue Behandlungsmethoden entwickelt. Dass in vielen Gesellschaften der Welt breit diskutiert wird, woran Menschen erkranken und wie Systeme umgebaut werden können, damit sie das nicht mehr oder nicht mehr in diesem Ausmaß tun.
Ich muss dich leider – erneut – enttäuschen und dir eine ernüchternde Zahl präsentieren: zwei Prozent, denn „der weltweite Durchschnitt der staatlichen Gesundheitsausgaben für psychische Gesundheit beträgt weniger als 2 %.“v Selbst im reichen Mitteleuropa, in dem ich dieses Buch schreibe, ist die Versorgung nicht gut und nicht ausreichend: „Nur selten [werden] psychische Störungen früh erkannt und adäquat behandelt. 26 Prozent der Betroffenen [erhalten] eine unspezifische und noch weniger eine adäquate Behandlung.“vi
Die Kosten, die innerhalb der Europäischen Union durch psychische Erkrankungen entstehen, werden auf etwa 300 Milliarden Euro im Jahr geschätzt, 132 Milliarden davon entfallen allerdings auf indirekte Kosten in Form von Krankenständen, frühzeitigen Ruheständen, vorzeitiger Sterblichkeit und Arbeitsunfähigkeit. Nur 110 Milliarden Euro fließen in die Behandlung von Patientinnen in Form von Hospitalisierungen und Hausbesuchen. Die Ausgaben, die durch mangelnde, zu späte oder zu schlechte Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen entstehen, sind also höher als der Betrag, der in diese Behandlung gesteckt wird. Falls du an der Stelle noch nicht umfassend frustriert bist, hier noch eine Zahl: Von den genannten 300 Milliarden Euro entfallen vier Prozent auf medikamentöse Behandlung, für Psychotherapie wird weniger als ein Prozent ausgegeben.vii
Der größte Anteil entfällt also auf indirekte Kosten, die auch durch zu späte oder gar keine Behandlung entstehen, wie etwa Krankenstände und Frühpensionierungen, und auf der anderen Seite auf akute Behandlungsformen wie stationäre Aufenthalte, die ebenso teils durch rechtzeitige und qualitativ hochwertige Psychotherapie verhindert werden könnten.viii
Menschen mit psychischen Erkrankungen, Menschen in psychischen Krisen werden also weltweit, aber auch innerhalb der EU vernachlässigt. Oder, anders formuliert: Unser aller psychische Gesundheit wird weltweit, aber auch innerhalb der EU vernachlässigt. Denn wie du an den Zahlen siehst, die Wahrscheinlichkeit, dass jede von uns davon irgendwann betroffen sein wird oder zumindest mit jemandem in Beziehung steht, der betroffen ist, ist hoch. Ob wir adäquate Behandlung erfahren, ist das Ergebnis von politischen Entscheidungen. Im Kern dieser Entscheidungen steht unter anderem die Frage, ob psychische Gesundheit und psychische Erkrankung von Entscheidungsträgern überhaupt ernst genommen werden.
Auch davon sind wir alle betroffen.
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind – ebenso weltweit – mit Stigma, Scham, Beschämung und Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Sie leben oft erheblich kürzer und sterben in Folge ihrer Erkrankung laut WHO „bis zu zwei Jahrzehnte früher“ als Menschen ohne psychische Erkrankungen.ix Stigmatisierung, mangelnde Thematisierung und Minderversorgung hängen zusammen. Sie sind verwoben mit der Frage, ob psychische Gesundheit als kollektive Aufgabe verstanden wird oder als Luxusproblem. Ob die Behandlung psychischer Erkrankung und die Erhaltung psychischer Gesundheit durch beispielsweise Psychotherapie als notwendige Gesundheitsdienstleistung verstanden wird oder als privates Vergnügen. Und all das hängt wiederum damit zusammen, wie ungleich die Verhältnisse sind, in denen wir leben, und wie sehr neoliberale Vereinzelung, das Auseinanderfallen gesellschaftlichen Zusammenhalts und Statuswettbewerb unser Miteinander-in-Beziehung-Treten prägen.
Ebenso sind wir alle davon betroffen, welche mensch-lichen Erfahrungen, Reaktionen, Symptome, Persönlichkeitsmerkmale und Bewältigungsstrategien als pathologisch gelten und welche nicht. Was im jeweiligen gesellschaftlichen, sozialen, historischen Kontext, in dem wir uns befinden, als krank verstanden wird und was nicht. Und auch hier gilt: Wenn wir auch alle davon betroffen sind, sind wir nicht alle im gleichen Ausmaß betroffen. Manche sind kränker als andere. Manche eher diagnostiziert und pathologisiert als andere. Vor allem Frauen und ihren Körpern wurde im Laufe der Geschichte durch psychiatrische Medizin viel Gewalt angetan. Ihre unrühmliche patriarchale Historie bedingt einen kritischen feministischen Blick auf ihre Gegenwart.
Die Grenze, die zwischen Gesundheit und Krankheit gezogen wird, und die diagnostischen Kategorien, in denen letztere aufgedröselt wird, sind nicht frei von gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
Vielleicht fragst du dich an der Stelle, wie ich überhaupt zu diesem Thema komme und warum es mir so wichtig ist. Schließlich bin ich keine Psychiaterin, Psychologin oder Psychotherapeutin. Mein Hintergrund ist ein anderer: Ich habe Anglistik und Amerikanistik mit kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt und Gender Studies studiert. Nach ein paar Jahren in der Wissenschaft und einem Jahr im Parlament als Gleichbehandlungsreferentin arbeite ich jetzt selbstständig als Podcasterin, Vortragende und Schreibende primär zu Themen rund um Feminismus und Geschlechterverhältnisse. Ich habe nicht nur in meinem Studium einen Schwerpunkt darauf gelegt, ich beschäftige mich, seit ich 14 war (das war der Moment, als ich begonnen habe, mich „Feministin“ zu nennen, feministische Theorie zu lesen und mich feministisch zu organisieren), fast rund um die Uhr mit Feminismus und dem Einsatz für eine geschlechtergerechtere Welt – wissenschaftlich, journalistisch, theoretisch und praktisch-politisch. Das Thema psychische Gesundheit und psychische Erkrankung ist vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick möglicherweise unerwartet. Aber nur auf den ersten Blick. Denn tatsächlich können wir anhand einer Betrachtung des Verhältnisses von Psyche und Geschlecht sehr viel über das Patriarchat und seine Wirkweisen lernen. Über seine systemische Abwertung, Diskreditierung und Unterdrückung von Frauen. Über seine Herabwürdigung und Pathologisierung alles Weiblichen. Über sein nervöses Zurechtstutzen von Nichtkonformität mit vorgegebenen Geschlechterrollen und Stereotypen. Über sein Unbehagen mit weiblicher Sexualität, insbesondere dann, wenn sie sich als lesbische Sexualität männlichem Zugriff entzieht.
Frausein und Verrücktsein ist im Patriarchat unausweichlich und auf vielen Ebenen miteinander assoziiert. Frauen und Verrückte bewohnen dieselbe patriarchale Bedeutungsinsel. Es ist also vermutlich kein Zufall, dass ich zu dem Thema gefunden habe, wenn dieses Finden auch ein unfreiwilliges war. Ich wurde nämlich als Betroffene darauf gestoßen. Als politischer Mensch, als Feministin, komme ich nicht umhin, in Bereichen meines ganz persönlichen Lebens Spuren von Politik zu sehen. Oder eher: Ich kann gar nicht anders, als die politischen Dimensionen persönlicher Erfahrungen herauszustreichen und zu analysieren. So ist auch meine eigene Erfahrung mit dem Gesundheitssystem und als Frau, die mit einer psychischen Erkrankung diagnostiziert wurde – in meinem Fall eine rezidivierende Depression –, in vielerlei Hinsicht und auf mehreren Erfahrungsebenen nicht nur eine persönliche, sondern eine politische. Eine, die viele andere in ähnlicher Form machen.
Ich werde im Laufe dieses Buches immer wieder punktuell Auszüge meiner eigenen Geschichte teilen. Aspekte, die ich für politisch relevant halte und von denen ich denke, dass sie beispielhaft sind für die Erfahrungen vieler. Im Fokus sollen jedoch systemische und politische Fragen stehen, es geht mir nicht um die eigene Betroffenheit. Betroffenheitsgeschichten, die über diese individuelle Betroffenheit nicht hinausgehen, hören wir schon zur Genüge, ich möchte die persönliche Betroffenheit auf eine politische Ebene abstrahieren. Ich werde aber an manchen Punkten auf meine eigene Geschichte zurückgreifen, um bestimmte Beobachtungen in Bezug auf politische und systemische Bedingungen zu illustrieren.
Vieles, was du hier lesen wirst, ist von Ambivalenzen geprägt. Davon, dass ich mehr Fragen habe als Antworten. Vielleicht können wir an manchen Stellen gemeinsam nachdenken.
Eine dieser Ambivalenzen besteht im Spannungsverhältnis zwischen der Kritik an Psychiatrie als patriarchale, bourgeoise und heteronormative Institution der Disziplinierung und Zurechtweisung (früher auch Zurechtschneidung) widerständiger Menschen, oft Frauen, und der gleichzeitigen Erkenntnis, dass sie, im Heute und in der Lebenspraxis für das Zurechtkommen mit Krisen, oftmals vonnöten ist. Dass sie Leben retten kann und trotzdem zahlreiche Leben zerstört hat.
Eine weitere besteht darin, dass Selbstfürsorge, Psychotherapie oder auch Medikation nicht die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Verhältnisse ändern, die ihre Notwendigkeit generieren, aber dennoch, für Individuen, überlebenswichtig sein können.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für bessere, niederschwellige psychische Gesundheitsversorgung – psychotherapeutischer und psychiatrischer Natur – und zeigt gleichzeitig auf, dass individualisierte Behandlung und Pathologisierung psychischen Leidens und seelischer Krisen nur bedingt sinnvoll sind. Dass wir aneinander gesunden können, wenn wir zueinander in Beziehung treten. Dass wir in Beziehung und Gemeinschaft heilen. Dass uns Individualisierung und gesellschaftliche Atomisierung krank machen. Dass das medizinische System diese Erkenntnis nicht ausreichend umsetzt und Menschen so nicht die Hilfe zukommen lässt, die sie brauchen.
Es ist auch ein Plädoyer für Menschlichkeit – für die Anerkennung der Menschlichkeit unseres Gegenübers, für die Anerkennung unserer eigenen Verletzlichkeit und die der anderen, für eine Hinwendung zueinander. Wir sind alles, was wir haben.
Psychische Gesundheit ist ein zutiefst politisches Thema. Psychische Krankheit ist ein zutiefst politisches Thema.
Du weißt ja, wir Feministinnen sagen es seit Jahrzehnten: Das Private ist politisch.
i Bock, Äußere Bedrohung – innere Verarbeitung.
ii Gender-Gesundheitsbericht, 33.
iii Meyer, 25.
ivhttps://de.statista.com/statistik/daten/studie/1038848/umfrage/weltweite-anzahl-an-betroffenen-ausgewaehlter-psychischer-erkrankungen/.
ivhttps://www.who.int/health-topics/mental-health#tab=tab_2.
vi Meyer, 25.
vii Meyer, 25.
viii Meyer, 25.
ixhttps://www.who.int/health-topics/mental-health#tab=tab_1.
Depression is depressing.1
Irving Kirsch – „The Emperor’s New Drugs“i
die Hürden auf dem Weg zur Hilfe ♦ Kassenplätze und Wartezeiten ♦ Therapie und finanzielle Möglichkeiten ♦ Deutschland und Österreich im Vergleich ♦ Kosten und Folgekosten ♦ Psychotherapie als Privatvergnügen? ♦ Versorgungslücken kosten Menschenleben
Stell dir vor, du hattest einen Unfall und als Folge dieses Unfalles starke Schmerzen im linken Bein, die sich auch mit Coldpack, Hochlagern und Ibuprofen nicht bewältigen lassen. Du vermutest, dir das Bein gebrochen zu haben. Also beschließt du, wie man das in der Regel bei Beinbrüchen so tut, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Du rufst ein Taxi oder einen Krankenwagen und fährst zur nächstgelegenen Ärztin oder ins nächste Krankenhaus. Dort passiert aber etwas Unerwartetes: Die Ärztin informiert dich darüber, dass krankenkassenfinanzierte Plätze zur Behandlung von Beinbrüchen leider nur begrenzt verfügbar seien, dass es ihr leidtue, sie aber aktuell keine Behandlungsplätze mehr frei habe. Sie nennt dir deine Handlungsmöglichkeiten: Zum einen kannst du die Behandlung privat bezahlen. Welche Kosten auf dich zukommen, sei noch nicht genau abzusehen. Denn zuerst habe schließlich eine Diagnostik stattzufinden, um festzustellen, welche Behandlung überhaupt medizinisch notwendig ist. Diese Diagnostik ist mitunter sehr kostspielig, da sie vermutlich ein Röntgen umfasst. Schon die Kosten für die Diagnostik sind für dich also voraussichtlich nicht leistbar.
Nun hast du eine zweite Möglichkeit: nämlich die, zu warten, bis ein Behandlungsplatz frei wird. Nachdem du deine Diagnostik und Behandlung nicht aus der eigenen Tasche bezahlen kannst, tust du genau das: warten. Trotz deiner Schmerzen und Beschwerden. Deine Ärztin setzt dich also auf eine Warteliste. Etwa zwei, drei Monate wird es dauern, so sagt sie, bis dein mutmaßlicher Beinbruch diagnostiziert und behandelt werden kann. Sie verschreibt dir noch Schmerzmittel zur Überbrückung, wünscht dir alles Gute und verspricht, sich zu melden, sobald ein Behandlungsplatz frei geworden ist und du auf ihrer Warteliste entsprechend weit vorgerückt bist.
Eine völlig absurde und undenkbare Situation in einem Land wie Österreich oder auch Deutschland, in dem doch alle die beste medizinische Versorgung erhalten sollten, und das rasch und kostenfrei? Nun, was in Bezug auf körperliche Leiden tatsächlich undenkbar ist, ist bei psychischen Erkrankungen und Krisen gang und gäbe, denn: Psychotherapieplätze auf Krankenschein sind in Österreich kontingentiert. Das bedeutet in der Praxis, dass erstens nur einige Psychotherapeutinnen überhaupt Kassenplätze anbieten können und dass zweitens jene Psychotherapeutinnen mit Kassenverträgen immer nur eine geringe Anzahl an Therapieplätzen anbieten können, die von der Krankenkasse finanziert werden. Diese sind in der Regel schnell besetzt – Patientinnen haben die Möglichkeit, sich auf Wartelisten setzen zu lassen, wo sie, je nach Therapeutin, oft mehrere Monate auf einen ambulanten Therapieplatz warten.
Derart lange Wartezeiten auf Psychotherapie sind aus mehreren Gründen ein großes Problem: Der erste Grund ist naheliegend: Es ist schlicht unmenschlich, Menschen, die Hilfe benötigen, diese Hilfe zu verweigern oder sie so lange auf Behandlung warten zu lassen. Lange Wartelisten bzw. das nicht ausreichende Finanzieren von Psychotherapie-Kassenplätzen, das zu den langen Wartelisten führt, sind aber auch aus ökonomischer Perspektive sehr kurzsichtig. Auch psychische Erkrankungen können sich, in der Zeit bis zur Behandlung, verschlimmern oder chronifizieren.
Neben dem Warten gibt es für jene, die es sich leisten können, noch eine zweite Option: Man kann die Psychotherapie aus eigener Tasche bezahlen. Das ist in Österreich auch der Regelfall, 80 Prozent der Psychotherapiestunden werden nicht über die Krankenkassen verrechnet. Der Vorteil hier ist, dass nirgends offiziell „aufscheint“, dass man an einem Punkt in seinem Leben psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen musste – aufgrund der umfassenden Stigmatisierung, die psychische Erkrankungen und Krisen umgibt, ist das nicht unerheblich. Der große Nachteil sind aber naturgemäß die Kosten. Selbst finanziell für eine Psychotherapie aufzukommen ist nämlich gerade für jene, die sie am dringendsten benötigen, oft unmöglich. Eine reguläre 50-Minuten-Einheit kostet in etwa 100 Euro (zwischen 80 und 120 Euro). Beim ebenso regulären Therapieintervall von einer Einheit pro Woche fallen jeden Monat also in etwa 400 Euro an Psychotherapiekosten an – für viele unleistbar.
In Deutschland ist die Situation bezüglich kassenfinanzierter Therapieplätze („Kassensitze“ genannt) zwar auch nicht ideal, aber im Vergleich zu Österreich um einiges besser. So ist beispielsweise gesetzlich geregelt, dass Psychotherapeutinnen wöchentliche Sprechstunden und Akutbehandlungen anbieten müssen, die allen Versicherten zugänglich sind. Jede Person kann bis zu sechs dieser Sprechstunden pro Therapeutin in Anspruch nehmen. Es ist auch möglich, im Rahmen der Sprechstunden die Therapeutin zu wechseln oder sich eine Zweitmeinung bei einer anderen Therapeutin einzuholen.
Allein durch das Angebot der therapeutischen Sprechstunden ist die Situation in Deutschland, verglichen mit Österreich, wo man auf ein Erstgespräch oft bereits monatelang warten muss, signifikant besser. Das ändert selbstverständlich nichts an der Problematik, dass viele Therapeutinnen den Hilfesuchenden nach diesen Sprechstunden und Akutbehandlungen keine Therapieplätze anbieten können. Die Wartezeit auf letztere wird dadurch aber verkürzt und möglicherweise erträglicher gemacht, denn sie ist auch in Deutschland viel zu lang. Schon vor Corona lag sie im Durchschnitt bei 20 Wochen.ii
Für viele Betroffene ist es allerdings bereits entlastend, überhaupt auf ein offenes Ohr zu stoßen. Das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass sie nicht völlig allein dastehen, dass es überhaupt Hilfe gibt, kann schon helfen – so können die Sprechstunden möglicherweise bereits erste Belastungen abfedern. In jedem Fall sind sie im Vergleich zum österreichischen System, in dem Notleidende mit „Leider ist gerade kein Platz frei, melden Sie sich in drei Monaten wieder“ auf sich selbst zurück- und in die Hoffnungs- und Hilflosigkeit geworfen werden, eine deutlich bessere Ausgangslage.
Außerdem bieten deutsche Krankenkassen auch an, je nach Therapieverfahren vier bis sieben probatorische Sitzungen, also Probestunden, bei Therapeutinnen zu absolvieren, um herauszufinden, wie gut die Therapeutin zu einem passt. Diese Probesitzungen werden ohne Antrag gewährleistet. Das ist aus einer therapeutischen Sicht höchst sinnvoll und auch notwendig, da die Qualität der therapeutischen Beziehung über den Therapieerfolg entscheidet und es deshalb äußerst ratsam ist, zu testen, ob eine solche therapeutische Beziehung überhaupt aufgebaut werden kann. Aus der Perspektive einer Österreicherin klingt dieses Angebot allerdings völlig utopisch. Wer bessere psychische Gesundheitsversorgung fordert, ist schnell mit dem Argument konfrontiert, dass diese für den Staat unleistbar sei. Wir können es uns nicht leisten, allen Menschen, die Psychotherapie brauchen, diese Psychotherapie auch zu finanzieren ist allerdings sehr kurz gedacht, denn: Wer bei Psychotherapie einspart, lässt am anderen Ende weitaus größere Kosten entstehen: in Form von Krankenständen, in Form von Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Frühpension. Aber auch in Form von oft langen Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten. Wer Menschen nicht hilft, verschlimmert oder chronifiziert ihr Leiden. Bereits 2019 – also noch vor der Pandemie – waren psychische Erkrankungen in Österreich für zwei Drittel aller Frühpensionierungen verantwortlich, bei Frauen in einem noch größeren Ausmaß als bei Männern. Die häufigsten Erkrankungen, die zu Arbeitsunfähigkeit führen, sind affektive Störungen: Angsterkrankungen und Depressionen.iii Vor allem Depressionen führen, gerade, wenn sie schlecht, zu spät oder gar nicht behandelt werden, zu enormen Folgekosten. Laut Schätzungen verursachen sie mit 92 Millionen Euro ein Drittel aller Gesamtkosten, die von psychischen Erkrankungen verursacht werden. Von allen neurologischen und psychischen Erkrankungen sind Depressionen damit europaweit die teuersten.iv
Depressionen haben aber auch einen negativen Einfluss auf die körperliche Gesundheit von Betroffenen, sie erhöhen das Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko, beeinflussen die Krankheitsverläufe bei Krebserkrankungen negativ, ebenso bei Diabetes und anderen chronischen Erkrankungen.v Psychische Erkrankungen nicht oder zu spät zu behandeln, bringt also auch Folgekosten mit sich, die nicht direkt durch eine schlechtere psychische Gesundheit, sondern durch einen schlechteren körperlichen Gesundheitszustand der Betroffenen entstehen.
Schon 2014 kosteten psychische Erkrankungen der österreichischen Volkswirtschaft laut OECD-Bericht elf Milliarden Euro.vi Der gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Schaden, der infolge psychischer Erkrankungen entsteht, ist nicht nur in Österreich beachtlich. In den USA beispielsweise sind 85–95 Prozent der Menschen mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen erwerbsarbeitslos. Die Kosten und Folgekosten sind enorm. Andrew Solomon beschreibt in „The Noonday Demon“, wie diese Kosten sich von Generation zu Generation multiplizieren, wie Erwachsene mit unbehandelten psychischen Erkrankungen diese an ihre Kinder weitergeben, wie diese wiederum zu psychisch kranken Erwachsenen werden. Er konkludiert mit dem Satz: „Die Kosten für die Behandlung von Depressionen in dieser Gesellschaft sind bescheiden, wenn man sie mit den Kosten vergleicht, die entstehen, wenn Depressionen nicht behandelt werden.“vii
Die Nicht- oder Zu-Spät-Behandlung von psychischen Erkrankungen kostet aber nicht nur Geld. Sie kostet auch Menschenleben.
Vor allem für Menschen mit Depressionen ist die äußerste und letzte Konsequenz ihrer Krankheit nicht selten Suizid. Mit einer Depression nämlich ist das Risiko, durch Suizid zu sterben, um das 20-Fache erhöht. Mindestens 50 Prozent aller Suizide sind die Folge von oder stehen in Zusammenhang mit einer depressiven Erkrankung.viii In einer umfassenden Studie wurde festgestellt, dass insgesamt 87,3 Prozent der Menschen, die durch Suizid versterben, vor ihrem Tod mit einer psychischen Erkrankung diagnostiziert wurden.ix
Weltweit stirbt alle 40 Sekunden ein Mensch durch Suizid2, das sind 3.000 Menschen pro Tag, über eine Million pro Jahr.
Während schon die Zahl an abgeschlossenen Suiziden (das Wort „erfolgreich“ erscheint mir in dem Zusammenhang fehl am Platz) erschreckend hoch ist, ist gleichzeitig davon auszugehen, dass die Zahl an Suizidversuchen die Zahl an „erfolgreichen“ Suiziden um das 10- bis 30-Fache übersteigt. Das bedeutet allein für Österreich eine Zahl von 12.500 bis 37.500 Suizidversuchen pro Jahr, von denen im Übrigen 70–75 Prozent durch Vergiftung verübt werden.x Verlässliche Zahlen haben wir hier leider keine, da Suizidversuche oftmals nicht als solche erkannt, als Unfälle missverstanden werden und nicht zwingend zu einem Kontakt mit dem Gesundheitssystem oder anderen Behörden führen.
i „Depression ist deprimierend“. Kirsch, 3.
iihttps://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-psyche-innot-102.html.
iiihttps://www.derstandard.at/story/2000109688123/psychisch-krankesind-in-oesterreich-problematisch-schlecht-versorgt.
iv Gender-Gesundheitsbericht, 33.
v Gender-Gesundheitsbericht, 33.
vihttps://www.diepresse.com/3841010/oecd-bericht-milliardenkostendurch-depressionen.
vii Solomon, 337. „The dollar cost for treating depression in this community is modest when compared to the dollar cost of not treating depression.“
viii Gender-Gesundheitsbericht, 33.
ix Arsenault-Lapierre et al., 4.
x Gender-Gesundheitsbericht, 34.
____________
1 Von direkten Zitaten am Anfang der Kapitel findest du in den Endnoten eine deutsche Übersetzung.
2 Ich spreche hier bewusst nicht von „Selbstmord“, da ich leidende Menschen nicht mit einem grausamen Gewaltverbrechen in Verbindung bringen möchte. Ich verwende die Formulierung „durch Suizid sterben“, nicht „Suizid (oder Selbstmord) begehen“, da Selbsttötung kein Verbrechen ist, nicht im moralischen Sinne und – zumindest hierzulande – auch nicht im rechtlichen Sinne.
persönliche Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem ♦ Hilflosigkeit als Multiplikator der Krise
Ich kenne das Problem der vielen Hürden auf dem Weg zur Hilfe aus eigener Erfahrung. Im Jahr 2010 entschied ich mich zum ersten Mal dazu, mir einen Psychotherapieplatz zu suchen. Ich hatte mehrere Jahre hinter mir, in welchen ich immer wieder wochenlang stark depressiv war, immer öfter gesellten sich tiefe Gefühle von Hoffnungslosigkeit dazu sowie eine erdrückende Überzeugung, im Leben völlig versagt zu haben und als Mensch wertlos zu sein. Ich war zu dem Zeitpunkt übrigens 23 Jahre alt, allzu viele Möglichkeiten zum Scheitern hatte ich noch gar nicht gehabt, ebenso wenig eine Ahnung, wie viel Scheitern ein Menschenleben so beinhaltet und wie viel dieses Scheiterns noch auf mich zukommen würde. 2010 also, als 23-Jährige, kam ich zum ersten Mal als potenzielle psychiatrische/psychotherapeutische Patientin mit dem österreichischen Gesundheitssystem in Kontakt. Es war ein kurzer Kontakt, denn ich gab die Suche nach einem Therapieplatz sehr schnell wieder auf – die Hürden waren zu groß und ich hatte zu wenig Kraft, sie zu überspringen.
Da waren einerseits die finanziellen Hürden. Als Studentin aus der Arbeiterinnenklasse mit sehr geringem Einkommen, das zu dem Zeitpunkt weit unter der Armutsgrenze lag, konnte ich es mir nicht leisten, für einen Therapieplatz zu bezahlen. Ich war also auf der Suche nach einem Kassenplatz. Allen inneren Widerständen zum Trotz (und aller Stigmatisierung von Psychotherapie zum Trotz) zückte ich irgendwann das Handy und den Laptop. Zuerst suchte ich online nach Therapeutinnen, die auf meine Thematiken spezialisiert waren und/oder Therapiemethoden anwendeten, von denen ich dachte, dass sie mir helfen könnten, und die Kassenplätze anboten. Denn wie bereits erläutert haben nur wenige Psychotherapeutinnen in Österreich überhaupt Kassenverträge. Die allermeisten kamen also ohnehin nicht in Frage. Schon die Anrufe allein kosteten mich sehr viel Überwindung. Abgesehen davon, dass ich es hasse zu telefonieren, braucht es erstaunlich viel Kraft, sich zuerst einzugestehen, dass man Hilfe braucht, und dann eine fremde Person anzurufen, seine Symptome zu schildern und nach Hilfe zu fragen. Nichts daran ist angenehm. Nichts daran ist leicht. Leider teilte mir eine Therapeutin nach der anderen mit, dass sie keine freien Plätze habe. Die geringste Wartedauer auf der Warteliste, die mir genannt wurde, war ein halbes Jahr, die längste zwei Jahre. Das Ergebnis der Therapiesuche war also: kein Therapieplatz, sondern Desillusionierung und noch größere Hilflosigkeit. Das Gefühl, dass ich keine Hilfe bekomme, auch wenn ich mich darum bemühe.
Das ist ein Problem, denn Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind wesentliche Symptome, um die Depressionen häufig kreisen. Menschen in depressiven Krisen mitzuteilen, dass es für sie keine Hilfe gibt (wenn auch implizit, indem man ihnen sagt, dass es keine Therapieplätze gibt), ist fatal. Es potenziert die Depression.
Während wir also Menschen in psychischen Krisen oder in tiefer Verzweiflung auf der Suche nach Hilfe Hürden in den Weg stellen, die schon für „Gesunde“ fast unüberwindbar wären, werden durch diese Hürden auch noch die Krisen selbst bestärkt. Das Empfinden der eigenen Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit wird von außen „offiziell“ bestätigt – Nein, dir ist wirklich nicht zu helfen. Es gibt keine Hilfe. Wir werden dir nicht helfen. Deine Situation ist aussichtslos ist die implizite Botschaft, und auch wenn sie implizit bleibt, gibt es nichts, was eine Person in einer Depression weniger hören sollte als das.
Nachdem meine Therapiesuche erfolglos war und mir die Kraft fehlte, mich ihr noch länger zu widmen, als ich das ohnehin schon tat, hörte ich auf mit der Suche, zog mich noch weiter zurück, stürzte noch tiefer in meine Depressivität. Ab und zu nahm ich meinen ganzen Mut und meine ganze Kraft zusammen und versuchte wieder einen Therapieplatz zu finden, aber immer mit demselben Ergebnis.
Daher weiß ich: Der Weg zu psychotherapeutischer Hilfe muss vereinfacht werden. Und: In der Bereitstellung von Hilfe muss dringend miteinbezogen werden, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen und in psychischen Krisen in der Regel nicht die psychischen und oft auch nicht die kognitiven Kapazitäten haben, um diese Herausforderung zu meistern.
Und dann kam 2014. Ich war mittlerweile 27 Jahre alt und hatte gerade mein Studium unter Hochdruck abgeschlossen. Meine Symptome wurden durch diese Situation potenziert, aber auch als der äußere Druck vorbei war, ließ das Gefühl des Unter-Druck-Stehens nicht nach. Der Stressor war weg, der Stress blieb. Eigentlich hätte ich viel Grund zur Erleichterung und zu Freude und Stolz gehabt – mein Studienabschluss erhielt das Prädikat „mit Auszeichnung“, ich war nun nicht mehr nur die Erste in meiner gesamten Verwandtschaft, die eine höhere Schule mit Matura absolviert hatte, sondern auch die Erste mit einem Studienabschluss. Aber die Erleichterung kam nicht. Die Freude und der Stolz auch nicht. Im Gegenteil: Ich entwickelte eine Reihe irrationaler Ängste, war ständig nervös und agitiert und gleichzeitig deprimiert, ich konnte nicht mehr schlafen, nichts mehr essen. Ich verlor in Folge innerhalb kürzester Zeit fast die Hälfte meines Körpergewichtes. Lange wurde das von meiner Umwelt nicht als Problem gesehen. Da ich vorher dick war und an die 95 Kilo hatte, wurden die 50 Kilo, die ich nun wog, sehr positiv wahrgenommen. Die Komplimente für meine „Modelfigur“ waren zahlreich. Dass es mir nie so schlecht ging wie zu jenem Zeitpunkt und dass der Gewichtsverlust ein Ergebnis tiefen inneren Leids und großer Verzweiflung oder, anders formuliert, das Symptom einer Krankheit war, schien niemanden zu interessieren. Ausdrücklicher wurde mir nie vor Augen geführt, dass mein Wohlbefinden als Frau irrelevant ist, solange ich nur schlank und ansehnlich bin. Die Nachricht war: Es ist egal, wie es dir geht, solange du dabei gut aussiehst. Wichtig und lobenswert für eine Frau ist es offenbar, so wenig Raum wie möglich einzunehmen – auch physisch.
Da mein Gewichtsverlust nicht das Ergebnis gezielten und kontrollierten Abnehmens war, sondern ein Resultat dessen, dass ich monatelang kaum einen Bissen hinunterbrachte, entwickelte ich Vitamin- und Nährstoffmängel. Diese wirkten sich körperlich aus. Ich litt unter Haarausfall, hatte seltsame Ausschläge und wurde insgesamt immer schwächer und kränker. Ich verbrachte viel Zeit bei Ärztinnen, da mir meine körperlichen Symptome noch zusätzliche Sorgen bereiteten. Jede Ärztin untersuchte jeweils nur die Körperregion, für die sie zuständig war, niemand blickte über den Tellerrand. Die irrationalen Ängste setzten sich nun in einer großen Angst vor körperlichen Erkrankungen und Infektionen fest. Die für mich unheimlichen Symptome, die mein Körper aufgrund der psychischen Krise, die ich durchmachte, und aufgrund des massiven Gewichtsverlustes ausbildete, gaben diesen Ängsten recht.
Um es kurz zu machen: 2014 bekam ich endlich einen Therapieplatz. Ich musste erst körperlich erkranken, meine psychische Erkrankung musste sich körperlich auf massiv gesundheitsgefährdende Weise manifestieren, um Hilfe zu erhalten. Leider aber auch 2014 nicht in Form eines Kassenplatzes. Ich erfuhr zufällig und durch Glück, dass die österreichische HochschülerInnenschaft Therapiestunden finanzierte, und nach den so finanzierten zehn Einheiten konnte ich meinen Therapieplatz zu einem Sozialtarif behalten. Erst 2017, als bei meiner damaligen Therapeutin ein solcher frei wurde, erhielt ich einen kassenfinanzierten Therapieplatz. Sieben Jahre also, nachdem ich ursprünglich mit der Suche begonnen hatte.
Wie viel Leid wäre mir erspart geblieben, hätte ich früher Hilfe bekommen? Wie vielen Menschen würde Leid erspart, würde ihnen früher geholfen? Meine Geschichte ist nämlich keineswegs außergewöhnlich – sondern ein Beispiel von vielen.
Deutschland und Österreich: verschiedene Systeme ♦ Fachärztinnen ♦ Medikamente
Während die Kostenübernahme von Therapie durch staatliche Krankenkassen in Österreich die absolute Ausnahme darstellt, ist sie in Deutschland Standard. Wenn ich auf Social Media über die Kosten berichte, die mir durch meine psychische Erkrankung entstehen, reagieren deutsche Followerinnen in der Regel mit Verwunderung bis Schock. „Aber das zahlt doch die Krankenkasse? Warum musst du das denn selbst zahlen? Hast du keine Diagnose?“
Doch, doch, ich habe eine Diagnose, und ich mache meine Therapie aus Notwendigkeit, nicht als Zeitvertreib. Dennoch: Die Psychotherapie bei meiner aktuellen Therapeutin kostet mich 110 Euro die Stunde. Glücklicherweise hat die staatliche Krankenkasse (als Selbstständige bin ich bei der sogenannten „SVA“ versichert) meinen Antrag auf Teilrefundierung gestattet, wodurch ich pro Einheit 40 Euro von der Krankenkasse refundiert bekomme. Es bleibt also eine wöchentliche Summe von 70 Euro für Psychotherapie, eine für mich lebensnotwendige Gesundheitsdienstleistung.
Für die Refundierungsbewilligung musste ich einen Antrag stellen, der genauso gut hätte abgelehnt werden können. Wäre ich bei der österreichischen Gesundheitskasse (der ÖGK) versichert, wo die meisten Personen in Österreich versichert sind, beispielsweise fast alle Arbeiterinnen in regulären Beschäftigungsverhältnissen, würde der Refundierungsbetrag nur 28,42 Euro pro Einheit betragen. Hinzu kommen die Kosten für meine Psychiaterin, die 180 Euro pro Termin berechnet – von denen ich in der Regel 80 Prozent refundiert bekomme, vorstrecken muss ich den Betrag dennoch. Gute Psychiaterinnen sind rar, die meisten von ihnen haben keine Kassenverträge. Jene mit Kassenverträgen sind in aller Regel so überbucht, dass sie keine neuen Patientinnen mehr aufnehmen können. Neben Psychotherapie zahlt man in Österreich also auch die behandelnde Psychiaterin in der Regel selbst.
Hinzu kommen die Kosten für Medikamente – das ist in aller Regel nur ein Kostenanteil, der an die Krankenkasse entrichtet werden muss. Aktuell liegt diese Rezeptgebühr in Österreich bei 6,65 Euro pro Medikamentenpackung. Allerdings gibt es auch eine Reihe neuerer Antidepressiva, die in Österreich nicht von der Kasse übernommen werden. Eines davon ist Vortioxetin (als Brintellix auf dem Markt). Vortioxetin ist das einzige Antidepressivum, das laut Angaben der Pharmafirma, die es vertreibt, die kognitiven Symptome von Depressionen lindert.i Von den staatlichen Krankenkassen wird es in Österreich nicht übernommen. Als ich vor einiger Zeit, nachdem ich bereits verschiedene Medikamente ausprobiert hatte und keines davon Wirkung zeigte, von meiner damaligen Psychiaterin auf meinen Vorschlag hin – da ich als Doktorandin insbesondere die kognitiven Einschränkungen, die mit meiner Depression einhergingen, belastend fand – Brintellix verschrieben bekam, musste ich etwa 130 Euro pro Packung für das Präparat bezahlen. Eine Packung reichte für 28 Tage. „Glücklicherweise“ zeigte aber auch Brintellix bei mir genauso wenig Wirkung wie die Medikamente vor ihm und ich wurde wieder auf ein kassenfinanziertes Präparat eingestellt, für welches ich reguläre Rezeptgebühren zu entrichten hatte.
Da ich – auch aufgrund meiner Depression – nach meinem Studium einige Jahre nur von Mindestsicherung lebte, machten die Kosten, die mir durch meine psychische Erkrankung entstanden, einen Großteil des mir zur Verfügung stehenden Monatseinkommens aus. Oft überstiegen sie es sogar, was dazu führte, dass mein Konto-Minus unablässig wuchs. Ich war in der paradoxen Situation, dass mich die Behandlung meiner Depression zusätzlich belastete: weil ich sie mir eigentlich nicht leisten konnte und weil ich sah, dass ich mich Monat für Monat, für diese Behandlung, in Schulden stürzte. Ich erinnere mich sehr gut an einen bestimmten Moment im Jahr 2018, als ich beim Bankomat Geld für einen Besuch bei meiner psychiatrischen Fachärztin beheben wollte, aber der Überziehungsrahmen meines Kontos ausgereizt war. Ich konnte also nicht zur Psychiaterin gehen, weil ich es mir schlicht nicht mehr leisten konnte.
Wie es mir ging, geht es vielen Menschen in Österreich.
ihttps://www.arzneimitteltherapie.de/heftarchiv/2014/12/vortioxetin-multimodales-antidepressivum-als-neuartige-option-inder-therapie-der-major-depression.html#:~:text=Vortioxetin%20(Brintellix%C2%AE)%20ist%20ein,auf%20unterschiedliche%20Rezeptoren%20des%20Serotoninsystems.
Ausbildungskosten ♦ Therapie als Klassenfrage
Der Sozialpakt der UN aus dem Jahre 1966 legt im Artikel 12 fest, dass alle Menschen das Recht auf den „höchsten erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben. Gesundheit und ein niederschwelliger Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sind also ein Menschenrecht. Der Zugang zu psychischen Gesundheitsdienstleistungen wird vom österreichischen Gesundheitssystem allerdings eher wie ein privater Luxusspaß gehandhabt. Dies ist für alle Beteiligten ein großes Problem. Neben der Kostenintensität von Psychotherapie für jene, die sie in Anspruch nehmen müssen, ist nämlich auch der Ausbildungsweg zur Psychotherapeutin kein einfacher.
Er besteht in Österreich aus zwei Teilen: dem sogenannten Propädeutikum und dem darauffolgenden Fachspezifikum. Laut psyonline.at belaufen sich die Kosten für den ersten Teil, das Propädeutikum, auf 4.000 bis 8.000 Euro, hinzu kommen noch die Kosten für 50 Stunden Selbsterfahrung und 20 Stunden Supervision – diese sind nicht näher ausgeführt. Das Fachspezifikum wiederum kostet zwischen 25.000 und 50.000 Euro – je nach Ausbildungsanbieter. Zudem gibt es die Möglichkeit, an privaten Universitäten – konkret der Donau-Universität Krems und der Sigmund-Freud-Universität in Wien – Psychotherapiewissenschaften zu studieren. Auch hier muss man tief in die Tasche greifen. Ein Beispiel: An der Sigmund-Freud-Universität bezahlt man für das BA-Studium, dessen Abschluss das Propädeutikum beinhaltet, 6.300 Euro pro Semester.
Die Ausbildung zur Psychotherapeutin ist also teuer. So teuer, dass sie für die meisten ein unbezahlbarer Traum bleibt. Wer nicht das Glück wohlhabender Eltern hat, die die Ausbildungskosten stemmen können, kann sich diesen Traum oft erst sehr spät und nach jahrelanger Berufstätigkeit und Sparsamkeit erfüllen. Oder gar nicht.
Während also andere Ausbildungen für Gesundheitsberufe wie jene zur Ergotherapeutin, Physiotherapeutin oder Hebamme nach erfolgreichen Aufnahmeprüfungen an Fachhochschulen studiert werden können, wo dann auch „nur“ die regulären Studiengebühren zu bezahlen sind, ist die Ausbildung zur Psychotherapeutin privat zu finanzieren. Warum ist das so? Ist Psychotherapie eine weniger wichtige Gesundheitsdienstleistung als Physiotherapie? Möchte man, dass nur eine bestimmte, finanziell privilegierte demografische Gruppe den Beruf der Psychotherapeutin ausübt?
In der Praxis nämlich führen die hohen Kosten der Ausbildung genau dazu: Nur wenige können sie sich leisten. Das hat auch für die zukünftigen Patientinnen Konsequenzen.
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind überdurchschnittlich oft von Armut betroffen und sitzen dann im therapeutischen Setting oft einer Therapeutin gegenüber, die wiederum verglichen mit der Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich wohlhabend ist. Das hat Auswirkungen auf die Qualität der Therapie: So kann es dazu führen, dass armutsbetroffene Klientinnen sich unverstanden fühlen und den Eindruck haben, die Therapeutin kann die eigene Lebensrealität und alles, was diese an Belastungen mit sich bringt, nicht nachvollziehen.
Selbstverständlich gehört es zu den Kernaufgaben einer Therapeutin, hochgradig empathisch zu sein. Es wird dennoch immer einen Unterschied machen, ob man von Armut, Sexismus oder Rassismus gehört oder diese auch tatsächlich selbst erfahren hat. Ob man aus eigener Erfahrung weiß, welche Traumatisierungen Armutsbetroffenheit mit sich bringen kann, oder sich in eine Situation hineinfühlt, die einem fremd ist.
Wer Zugang zu Psychotherapie und damit zu einer manchmal lebensnotwendigen Gesundheitsdienstleistung hat, ist leider eine Klassenfrage. Wer adäquate, professionelle Hilfe in einer psychischen Krise oder bei einer psychischen Erkrankung erhält und wer nicht, ist ebenfalls eine Klassenfrage. Und: Wer in die Position kommt, diese Hilfe leisten zu können und eine Ausbildung zur Psychotherapeutin zu machen, ist eine Klassenfrage. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
die Pandemie als Brennglas ♦ drastische Unterversorgung vs. steigende Zahlen von Erkrankten ♦ Kontingenterhöhungen
Die multiplen Krisen, die die Corona-Pandemie mit sich brachte, wirkten an vielen Fronten wie eine Art Brennglas, das latente und chronisch vorhandene gesellschaftliche und politische Schieflagen sichtbar machte. Es lohnt sich also auch für die Erkenntnisse, die in diesem Buch versammelt werden, einen genaueren Blick darauf zu richten, was die Corona-Krise in Sachen psychische Gesundheit und psychische Gesundheitsversorgung offenbarte.
Schon vor der Corona-Krise herrschte in Österreich eine manifeste – und chronische – Unterversorgung in der Behandlung psychischer Erkrankungen. Diese Situation wurde in Folge der Pandemie noch um einiges prekärer.
Sowohl die Donau-Universität Krems als auch die Sigmund-Freud-Universität in Wien untersuchten die psychische Gesundheit der österreichischen Bevölkerung während und in Folge der Corona-Krise. Alle Studien zeigten signifikante Verschlechterungen ihres Gesundheitszustandes.
In der ersten dieser Studien, die im April 2020, also im zweiten Monat der Pandemie, durchgeführt wurde, zeigte sich bereits ein fünffacher Anstieg von Depressionssymptomen und ein dreifacher Anstieg von Angsterkrankungssymptomen. Die letzte Studie der Donau-Universität Krems im Jänner 2021i zeigt, dass Depressionen, Angsterkrankungen und Schlafstörungen in der Gesamtbevölkerung in einem alarmierenden Ausmaß gestiegen sind, ein Viertel der Bevölkerung leidet mittlerweile unter depressiven Symptomen, bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 ist es die Hälfte. Im Vergleich dazu: Im Jahr 2019 waren es etwa fünf Prozent. Besonders besorgniserregend ist der Anstieg der Fälle an schweren Depressionen – diese haben sich verzehnfacht. Die Studie zeigte auch, dass eben vor allem Menschen unter 24, Menschen mit geringem Einkommen, Singles und Getrenntlebende sowie Frauen von Verschlechterungen ihres seelischen Wohlbefindens und ihrer psychischen Gesundheit betroffen waren.
In einer weiterführenden Studie wurde vor allem der Gesundheitszustand junger Menschen zwischen 14 und 20 erhoben – mit ernüchterndem Ergebnis: 62 Prozent der Mädchen und jungen Frauen hatten eine mittelschwere Depression, 38 Prozent der Burschen und jungen Männer. Insgesamt haben sich, so die Studie, depressive Symptome, Angstsymptome und Schlafstörungen unter jungen Menschen durch die Pandemie verfünf- bis verzehnfacht.ii
Während die kassenfinanzierte psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in Österreich seit Langem mangelhaft ist, trifft das auf die Kinder- und Jugendpsychiatrie in besonderem Maße zu. Die drastische Unterversorgung veranlasste Ärztinnen der Kinderund Jugendpsychiatrie in Hietzing/Wien im Februar 2022, eine Gefährdungsanzeige zu machen, um sich, so die Ärztinnen, „nicht länger in Situationen bringen [zu] lassen, die letztendlich für alle Beteiligten fahrlässig sind“.iii
Die Tragweite des Problems wird einem vor allem dann bewusst, wenn man sich vor Augen führt, dass in akutpsychiatrischen Stationen ohnehin nur die allerschwersten Fälle psychischer Erkrankungen und Krisen landen, suizidale Menschen beispielsweise oder Menschen inmitten von akuten Psychosen. Und: Nicht einmal für diese Fälle reicht die Versorgungslage in Österreich aus.
Sollte es einem reichen, mitteleuropäischen Land nicht leicht möglich sein, Menschen in akuten Krisen adäquat zu versorgen? Ein System, das über ausreichend Mittel verfügt, Banken zu retten, verfügt auch über ausreichend Mittel, um Menschen zu retten. Was fehlt, ist nicht Geld, was fehlt, ist politischer Wille.
