Perry Rhodan 2319: Die Siedler von Vulgata - Titus Müller - E-Book

Perry Rhodan 2319: Die Siedler von Vulgata E-Book

Titus Müller

0,0

Beschreibung

Sie sind terranische Kolonisten - und erhalten Besuch von der Terminalen Kolonne Auf der Erde und den Planeten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1344 Neuer Galaktischer Zeitrechnung - dies entspricht dem Jahr 4931 alter Zeitrechnung. 13 Jahre sind vergangen, seit eine Veränderung der kosmischen Konstanten die Galaxis erschütterte. Mittlerweile hat sich die Lage normalisiert: Der interstellare Handel funktioniert wieder, die Technik macht große Fortschritte. Da erreicht die Terminale Kolonne TRAITOR die Milchstraße. Diese gigantische Raumflotte gehört zu den Chaosmächten, die mit der Galaxis ihre eigenen Pläne verfolgen. So genannte Kolonnen-Forts entstehen überall, um die zivilisierten Welten unter die Knute TRAITORS zu zwingen. Eines dieser Forts - TRAICOON 0098 - wird im Solsystem zerstört, doch sein Kommandant kann fliehen. Währenddessen macht die Terminale Kolonne in anderen Sektionen der Milchstraße von sich reden. Sogar der unbekannte Planet Vanderbeyten ist von ihren Auswirkungen betroffen. In diesem Fall trifft es DIE SIEDLER VON VULGATA...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nr. 2319

Die Siedler von Vulgata

Sie sind terranische Kolonisten – und erhalten Besuch von der Terminalen Kolonne

Titus Müller

Auf der Erde und den Planeten der Milchstraße schreibt man das Jahr 1344 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – dies entspricht dem Jahr 4931 alter Zeitrechnung. 13 Jahre sind vergangen, seit eine Veränderung der kosmischen Konstanten die Galaxis erschütterte.

Mittlerweile hat sich die Lage normalisiert: Der interstellare Handel funktioniert wieder, die Technik macht große Fortschritte. Da erreicht die Terminale Kolonne TRAITOR die Milchstraße. Diese gigantische Raumflotte gehört zu den Chaosmächten, die mit der Galaxis ihre eigenen Pläne verfolgen.

Sogenannte Kolonnen-Forts entstehen überall, um die zivilisierten Welten unter die Knute TRAITORS zu zwingen. Eines dieser Forts – TRAICOON 0098 – wird im Solsystem zerstört, doch sein Kommandant kann fliehen.

Die Hauptpersonen des Romans

Arrick Aargrefe – Der junge Vanderbeyten-Bewohner erkennt die Geheimnisse eines uralten Buches.

Kantur Gotha – Der Patriarch von Vulgata versucht die Regeln seiner Gemeinschaft einzuhalten.

Murielle Gotha – Die Tochter des Patriarchen muss sich irgendwann für eine Seite entscheiden.

Velved Karwai – Der Anführer der Galchinen sieht nur eine Hoffnung für sein Volk.

Aschuk –

1.

Arrick stieß die Wiege an. Sie schaukelte seinen Sohn. »Du bist das erste uneheliche Kind auf Vulgata seit neunhundert Jahren. Stark musst du werden, hörst du?«

Der Kleine staunte ihn an. Im Licht der Phosphorsteine glitzerten Tränen in den großen Augen.

»Nicht schauen! Schlafen sollst du.« Arrick reckte seine Hand in die Wiege und strich über die weiche Haut in Sabos Gesicht. »Ich wecke dein Vögelchen, und du bekommst noch mal ein Nachtlied, einverstanden?« Er hob das Tuch vom Vogelkäfig.

Der Schakrakei zog müde die weißen Hautlappen von den Augen. Er streckte die Flügel aus, dass sich die Federn weit spreizten.

»Ein Nachtlied!«, befahl Arrick.

Der Schakrakei starrte ihn böse an. Dann begann er zu singen:

O bleibe, Herr

Der Abend bricht herein

Bald ist es Nacht

O lass mich nicht allein.

Arrick spähte zur Wiege hin. Sabos Augenlider flatterten. Der Kleine kämpfte gegen die Müdigkeit an, aber er würde verlieren und würde spätestens bei der dritten Strophe eingeschlafen sein. Dass seine Mutter fehlte, hatte er offenbar nicht bemerkt.

Und er, Arrick? Zwei Stunden mochten es noch sein bis Sonnenaufgang. An den Streit durfte er nicht denken. Auch nicht an die Ernte, die sie morgen einholen mussten, bevor die ersten Regenstürme das Korn nässten, so dass es auf den Halmen zu faulen begann. Wenn er anfing, sich Sorgen zu machen, würde er in dieser Nacht kein Auge mehr zutun.

Er setzte sich an den Tisch und öffnete das gestohlene Buch. Mit den Fingern fuhr er über die glatten Folien. Gestochen scharf stand die Schrift darauf, unverrückbar, tadellos. Er liebte den Geruch des Buchs; nichts in Vulgata roch so. Es mussten die Folien sein, die diesen Duft verströmten wie Blüten und Wasser.

Arrick blätterte. Wo hatte er am Vorabend aufgehört? Hesekiel 10 war es gewesen. Er las.

Und ich sah, und siehe, vier Räder standen bei den Cherubim, bei jedem Cherub ein Rad, und die Räder sahen aus wie ein Türkis, und alle vier sahen eins wie das andere aus; es war, als wäre ein Rad im andern. Wenn sie gehen sollten, so konnten sie nach allen ihren vier Seiten gehen; sie brauchten sich im Gehen nicht umzuwenden; sondern wohin das erste ging, da gingen die andern nach, ohne sich im Gehen umzuwenden. Und ihr ganzer Leib, Rücken, Hände und Flügel und die Räder waren voller Augen um und um bei allen vieren.

Cherubim. Was waren das für Wesen? Über und über mit Augen besetzt, und Flügel hatten sie und seltsame Räder, die mit ihnen rollten. Kantur Gotha, der Patriarch, behauptete, es gäbe kein anderes intelligentes Leben außer ihnen und Gott, nur sie, die Menschen, und ihn, den Schöpfer. Aber wer sagte, dass sich der Schöpfer auf Menschen beschränkt hatte? Der Schakrakei verstand seine Befehle, dumm war er also nicht. Und auch ihn hatte doch Gott geschaffen. Was war mit den Dämonen, von denen er im gestohlenen Buch gelesen hatte? Waren das nicht intelligente Lebewesen, wenn auch böser Natur? Was war mit den Cherubim?

Arrick las noch einmal: Und ich sah, und siehe, vier Räder standen bei denCherubim, bei jedem Cherub ein Rad, und die Räder …

Donner grollte. Es klang, als risse der Himmel mitten entzwei. Ein Sturmwind schüttelte die Hütte. Der Schakrakei verstummte. Blitzschnell klappte Arrick das Buch zu. Wohnten dieser Schrift womöglich Kräfte inne, die er durch sein Lesen heraufbeschwor? Hatte man das Heilige Buch deshalb versteckt und neunhundert Jahre unter Bewachung gehalten?

Arrick schlich aus der Hütte. Am Sternenhimmel stand keine Wolke. Alles war ruhig: die Kirche, die Hütten der Geächteten, unten am Fluss die Siedlung. Nur das Mühlrad knarrte und schaufelte Wasser. Aber er hatte doch Donnern gehört! Arrick sah hinauf zum Lichterteppich, suchte die Sternbilder. War Unordnung in den Himmel gekommen? Ruben, Issachar, Sebulon, sie waren noch an ihrem Platz. Dort hinten über den Bäumen Naftali, dann Benjamin mit dem hell glänzenden Davidsstern.

Das Glitzern der Sterne beruhigte ihn. Immer waren sie da. Ob er sich mit Sabos Mutter stritt oder nicht, ob sie hungern mussten oder Nahrung im Überfluss hatten – die Sterne blieben. Irgendwo dort oben war Terra, die alte Heimat, von der man nicht sprechen durfte. Wie sah es auf Terra aus?

Konnten die Cherubim von Planet zu Planet reisen? Wozu dienten ihnen die Räder mit den vielen Augen?

Er sollte besser schlafen und das Buch fürs Erste geschlossen halten. Müde kehrte er in die Hütte zurück, versteckte das Buch unterm Bett, deckte den Schakrakei zu. Dann schob er die Klappen vor die grün schimmernden Phosphorsteine an der Decke. Im Dunkeln tastete er sich zu Bett und schlüpfte unter die Decke. Wenn er die Textstelle morgen Abend nach getaner Feldarbeit nochmals las, womöglich verstand er dann besser …

Er saß aufrecht im Bett. Wieder hatte es draußen gerumpelt. Ein starker Wind fegte durch die Ritzen der Hütte.

*

Arrick erwachte vom Hungerschreien seines kleinen Sohnes. Ihm dröhnte der Kopf. Er war doch eben erst eingeschlafen, eben gerade hatte er die Augen zugemacht nach langem Hin-und-her-Wälzen und Grübeln. Sabos Stimme gellte unerbittlich in seinen Ohren.

Und beim Patriarchen: Die Sonne war bereits aufgegangen! Sie schien hell durch die Ritzen der Tür. Arrick sprang aus dem Bett, warf sich den Kittel über. Er musste aufs Feld.

»Sabo, was du dir wünschst, kann ich dir nicht geben«, sagte er. »Dafür ist deine Mutter zuständig.«

Er hob ihn aus der Wiege und schmiegte ihn sich an die Schulter. Auf den Fußballen wippte er in der Hoffnung, es würde den Kleinen beruhigen. Der aber brüllte nur noch verzweifelter.

»Gut, gut, ich verstehe. Du bist am Verhungern.« Arrick trat hinaus vor die Tür. Eilig trug er seinen Sohn zur Kirche. Die Tür war verriegelt. Er rief: »Sabo hat Hunger!«

Der Riegel knirschte, die Tür wurde aufgerissen. Murielle nahm ihm das Kind aus den Armen. Dann knallte sie die Kirchentür wieder zu. Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Mühsam sammelte er sich, um nicht gegen die Wand zu treten und einen Fluch auszustoßen.

»Du kannst ins Haus gehen!«, rief er. »Ich bin auf dem Feld. Du wirst mich also nicht sehen. Den Schakrakei habe ich noch nicht gefüttert.«

Es rumorte in seinem Bauch. Heute würde sie ihm kein Essen aufs Feld bringen. Er würde hungrig bleiben bis zum Abend. In der Hütte nahm er die Sense von der Wand, ging wieder nach draußen. Die anderen Geächteten arbeiteten längst. Diese Männer hatten wegen ihm alles verloren: ihre Familien, ihr Ansehen, ihren Besitz. Sie taten so, als bereuten sie nichts, aber war es wirklich so? Er selbst sehnte sich ja täglich nach einem Zuber warmen Wassers im Badehaus, nach Honigkuchen, nach einem Besuch beim Barbier.

Und dann: Murielle. An sie durfte er gar nicht denken. Das Schlimmste an ihrem Zorn war, dass er berechtigt war.

Er wollte fort, nichts als fort von hier. Die Tür warf er zu und stampfte an den anderen vorüber. »Ich fange hinten im Wald an.«

2.

Der ganze Wald hallte wider von Unkenrufen. Die Unken waren gut verborgen, aber kleine weiße Insekten flogen in weiten Bögen zwischen den Bäumen umher.

Velved Karwai betrachtete die Gefesselten am Boden. Ihre Schnauzlippen waren rot vor Wut. Dennoch, er hatte keine Wahl.

»Obkrieger, nimm ihnen die Schellen ab!«, befahl er. »Und such eine Stelle, an der du die Dinger im Gestein verstecken kannst. Eine Felsspalte, eine Höhle, je tiefer es hinabreicht, desto besser. Auch wenn die Schellen aus Kunststoff bestehen, wir dürfen nicht riskieren, dass sie gefunden werden.«

Er leckte sich die Nase. An der Vanderbeyten-Luft trocknete sie schnell. Er vermisste das feuchte Klima des Raumschiffs, die Wasserzerstäuber in den Armlehnen seines Kommandostuhls.

»Ich gehe inzwischen mit einem Stoßtrupp zu den Menschen.« Er wies mit der Pranke auf Aschuk, den Anführer der Gefesselten. »Du kommst mit.«

»Wir gehen nackt, wie wir sind?«, murrte Aschuk.

»Nackt.«

»Du hast einen großen Fehler gemacht, Karwai. Einen tödlichen Fehler.«

»Es gibt kein Zurück mehr.«

Aschuk sah hoch zu Vander, der Sonne des Planeten. »Die Terraner werden der Kolonne nicht widerstehen können.«

»Für Jammerei und Reue ist es zu spät. Hättest du nicht versucht, meine Befehle zu boykottieren, dann stünden wir längst in Verhandlungen mit ihnen.«

»Verhandlungen? Diese Kolonie – das ist doch nicht mehr als ein vergessener Außenposten! Diese Terraner liegen um Jahrhunderte zurück! Willst du mit den unterentwickelten Dürrbeinern etwa über die Kapitulation diskutieren?«

»Es wird keine Kapitulation geben.«

Aschuk stand das Maul offen. Der Unterkiefer mit den spitzen Reißzähnen zitterte. »Nur weil du die Befehle der Kolonne auszuführen hattest«, fauchte er, »hast du noch lange nicht das Recht, über unser aller Schicksal zu entscheiden! Schlimm genug, dass wir durch deine Schuld auf diesem Drecksplaneten landen mussten! Wir sind den Menschen um Längen überlegen. Wir sind die neuen Herren auf Vanderbeyten, und das sollten wir von Anfang an klarstellen.«

»Noch ein Wort, und ich schlitze dir die Kehle auf, Krieger Aschuk.« Velved Karwai fuhr drohend die Krallen aus.

Aschuk brach den Blickkontakt ab.

Durch diesen Aufrührer wurde alles in Gefahr gebracht. Aber ihn töten? Sie waren schon zu wenige, und Aschuk würde in Kürze ein Gelege befruchten. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Kolonne, Aschuk, kümmert dein Gewinsel nicht.«

*

Das gewirkte Hemd triefte vor Schweiß. Es klebte Arrick am Rücken und kratzte bei jeder Bewegung. Zog er es aus, würde er sich die Haut verbrennen. Vander stand hoch oben am Himmel. Also biss er die Zähne zusammen und sichelte weiter. Die Sense rauschte durch das Korn. Halme fielen, Schritt für Schritt. Eine Rast, nur eine kurze Rast …

Noch nicht!, befahl er sich.

Und wenn er nur rasch den Rücken streckte? Arrick hielt inne, stützte sich auf die Sense und reckte sich. Es knackte in seinem Brustkorb. Unten beim Dorf hatten sie die besseren Felder. Bei ihnen war das Getreide kümmerlich; in braunen, kleinen Büscheln hing es von den Halmen herab. Aber es blieb den Geächteten keine Wahl. Wenn sie nicht verhungern wollten, mussten sie sich abplagen und nehmen, was der Boden hergab.

Arrick kniff die Augen zusammen. Bewegte sich dort hinten etwas am Waldrand? Tatsächlich. Da trat jemand auf das Feld. Drei Männer waren es.

Nein, keine Männer.

Arrick fuhr es wie Eis durch die Venen. Das waren … Höllengeschöpfe. Unholde! In gebeugter Haltung humpelten sie über das Feld auf ihn zu, stützten sich immer wieder mit ihren langen Armen ab. Eitrige Haut bedeckte ihre Körper. Sie bleckten Zähne in breiten Schnauzen.

Lauf! Flieh!, sagte er sich. Aber er konnte sich nicht vom Fleck rühren. Ich bin verloren. Diese Bestien werden mich in Stücke reißen. Seine Beine gehorchten nicht, sie verweigerten ihm den Dienst, nur starren konnte er, starren und sein Herz spüren, das wie ein kleiner Vogel in seiner Brust flatterte.

Nur noch ein Satz trennte die Höllengeschöpfe von ihm. Sie richteten sich auf. Das machte sie größer, als es ein Mensch je sein würde. Ihre Beine endeten in Hinterläufen wie bei einem Hund. Glänzende schwarze Warzen bedeckten Brust und Kopf.

Endlich konnte Arrick sich wieder bewegen. Er hob die Sense an und schwang sie drohend. »Lasst mich in Frieden, ihr Bestien!«

Eines der Geschöpfe knurrte. Es duckte sich zum Sprung. Krallen fuhren ihm aus den Pranken, Krallen wie gebogene, scharfe Messerklingen. Es hechelte, als dürstete es nach seinem Blut.

Ein Wink des vordersten Wesens zwang es, die Krallen wieder einzuziehen. Der Unhold fletschte die Zähne und stieß hervor: »Ich bin Velved Karwai.«

Sie sprachen Interkosmo!

»Wir sind unbewaffnet. Wir kommen in Frieden.«

Vorsichtig wich Arrick einen Schritt zurück. Wesen, die Reißzähne im Maul trugen und aus deren Pranken fingerlange Messer ausfuhren, kamen nicht in friedlicher Absicht. »Ich glaube euch nicht«, raunte er. Offenbar fürchteten sie seine Sense, das war gut, vielleicht konnte er es bis zu den anderen Geächteten schaffen.

»Bleib stehen, Wurm!«, geiferte das Geschöpf, das die Krallen ausgefahren hatte, und duckte sich wieder, als wollte es ihn anspringen.

Der vorderste Unhold warf dem Gefährten einen finsteren Blick zu und befahl etwas in Knacklauten. Es klang nicht freundlich. Überhaupt war nichts freundlich an diesen Geschöpfen.

Ich werfe mich herum und renne in den Wald. Aber war das klug? Er konnte es förmlich fühlen, wie sich die Krallen in sein Genick schlugen. Nein, sich umzudrehen war kein guter Einfall.

Die Bestie, die sich Velved Karwai nannte, wandte sich ihm wieder zu. Sie sagte: »Wir sind auf der Flucht. Gewährt der Planet Vanderbeyten uns Asyl?«

Vor was konnten Geschöpfe wie diese auf der Flucht sein? »Wovor flieht ihr?«, fragte er. So konnte er Zeit gewinnen. Solange sie sprachen, fielen sie ihn nicht an.

Velved Karwai entblößte die Zähne. Es sah aus wie das Lächeln eines Untiers, bevor es sein Opfer verspeiste. »Zeit für lange Erklärungen haben wir nicht. Wir sind Deserteure der Terminalen Kolonne TRAITOR. Wir müssen dringend mit eurem Kommandeur sprechen. Bitte führe uns zu ihm.«

Wenn er sie in die Siedlung brachte, würden die Bestien blutige Mahlzeit halten. Das hieß, er durfte nicht einmal dorthin fliehen, sonst zeigte er ihnen unfreiwillig den Weg. Er war verloren.

Gütiger Gott, betete er, ich sterbe doch jetzt noch nicht, oh, lass mich nicht sterben, nicht jetzt, nicht jetzt schon! Seine Knie zitterten. Hilf mir!

Velved Karwai senkte die Schnauze. »Wir sind in Not.«

»In Not?« Arrick dachte nach. Wie konnte er den Bestien entkommen? Zusätzlicher Schweiß brach ihm aus.

Langsam trat Velved Karwai auf ihn zu, sank auf die Vorderpranken nieder und beugte den Kopf nach vorn. Er bot Arrick den Hals dar. »Weise uns zurück oder schlag mir den Kopf mit deiner Waffe ab. Es macht keinen Unterschied für mich. Wenn du uns nicht hilfst, sterben wir.«

Arrick zögerte. Sagte das Höllenwesen möglicherweise die Wahrheit? Er verstand nicht, wovon es sprach, aber dass die nackten Bestien Asyl suchten, dass sie Hilfe brauchten – was, wenn es stimmte? Es war eine Lage, die er kannte. Hätte man ihm nicht geholfen, er läge längst im Beinhaus, fein säuberlich aufgeteilt in Schädel, Armknochen und Beinknochen.

Dieser Velved Karwai, der vor ihm den Kopf beugte, schien es ernst zu meinen. Arrick musste über das hässliche Äußere der Geschöpfe hinwegsehen. Wer, wenn nicht er, konnte verstehen, dass es im All intelligente Lebewesen unterschiedlichster Beschaffenheit geben musste?

»Ihr habt den Richtigen gefragt«, sagte er zögernd. »Ich helfe euch.«

Velved Karwai nickte. »Gut.« Er stand auf und reckte den Kopf gen Himmel. Dann brüllte er wie ein Raubtier.

Arrick fuhr zusammen.

Der Schrei hallte weit. Nach einigen Augenblicken traten weitere Kreaturen aus dem Wald, alle ebenso hässlich gebaut wie die drei Bestien. Immer mehr wurden es. Arrick verschlug es den Atem. Einhundert fremde Kreaturen, hier auf Vanderbeyten, hundert eiterhäutige Höllengeschöpfe.

Er hatte immer gewusst, dass die Menschen von Vulgata nicht allein waren im All. Plötzlich erschien es ihm, als habe sein ganzes Leben auf diesen Augenblick hingezielt. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, wartete er seit jenem Tag vor sechs Jahren nur darauf, dass endlich wieder Besuch kam nach Vanderbeyten, seit jenem Tag, der sein ganzes Leben zerstört hatte und doch nicht anders hätte verlaufen dürfen.

3.

Sechs Jahre zuvor

»Du bist fünfzehn, mein Sohn, und nicht fünfzig. Wenn du einmal graue Haare hast wie ich, kannst du die Gebote des Patriarchen in Frage stellen. Bis dahin tust du, wie dir geheißen ist.« Die Mutter sah ihn an mit einem Blick, der streng wirken sollte.

Arrick fand ihn einfach nur peinlich. Er besah ihr kurz geschorenes Haupthaar. Es war fast weiß. Vor Kummer, hätte sie gesagt. »Was ist denn schon Schlimmes geschehen?«, stöhnte er. »Ich habe ein paar Freunde drüben auf der Neues-Testament-Seite, na und? Wir spielen zusammen. Das ist doch schon alles.«

»Erstens hast du dich vom Neuen Testament fern zu halten. Und zweitens kann man es wohl kaum ›Spielen‹ nennen, wenn ihr junge, zarte Mädchen mit Steinen bewerft.«

»Das sind Kluter, die zerfallen zu Staub, wenn sie auftreffen!«

»Die Mädchen haben geweint. Kennst du kein Mitleid, Arrick?«

»Ach, die heulen immer. Und Mitleid haben sie auch nicht mit uns. Als Terbo sich letztens am Felshang abgeseilt hat, da haben sie ihm von oben ein Tuch über die Augen geworfen.«

»Wie bitte?« Die Mutter packte sein Handgelenk. »Abgeseilt? Aber du hast nicht mitgemacht. Sag mir, dass du nicht am Felshang herumgeklettert bist!«

Er wand sich mühelos frei. »Ich bin keine Memme. Natürlich habe ich mitgemacht.«

»Du hättest in den Tod stürzen können! Dass du so unvernünftig bist! Du bist doch nicht dumm, Arrick, lernst du denn nie dazu? Ich werde mir eine Strafe ausdenken müssen.«

Das sagte sie immer. Letztendlich fiel ihr nie eine ein. Ihm kamen sofort Strafen in den Sinn. Sie könnte ihm beispielsweise auftragen, das Abfallrohr hinten am Haus zu säubern. Aber er würde sich hüten, ihr Vorschläge zu machen. »Kann ich jetzt gehen?«

Müde nickte sie.

Das war der furchtbare Augenblick. Ihr Schimpfen, ihr Drohen – es machte ihm nichts aus. Wenn sie aber müde aussah wie jetzt, wenn ihr Blick voller Enttäuschung auf ihm ruhte, dann schmerzte ihn das mehr, als es Schläge konnten. »Ich bessere mich. Versprochen.«