Perry Rhodan 702: Das Stummhaus - Clark Darlton - E-Book

Perry Rhodan 702: Das Stummhaus E-Book

Clark Darlton

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Beschreibung

Agenten der OGN im Einsatz - auf der Welt der Aphilie Seit den schicksalhaften Tagen des Jahres 3460, da Terra und Luna nach dem Verzweiflungssprung durch den Soltransmitter erneut auf die Reise gingen und in einem Orbit um eine neue Sonne einschwenkten, ist viel geschehen. Inzwischen schreibt man auf Terra, wenn man die alte solare Zeitrechnung zugrunde legt, Mitte Juli des Jahres 3580. Somit wird der Mutterplanet der Menschheit mit all seinen Bewohnern bereits seit 120 Jahren von der Sonne Medaillon bestrahlt. Medaillon ist eine fremde Sonne - eine Sonne, deren 5- und 6-dimensionale Strahlungskomponenten auf Gene und Psyche der meisten Menschen einen erschreckenden Einfluss ausüben. Als man dies im Jahre 3540 - also 80 Jahre nach der zweiten Ortsveränderung Terras - bemerkte, war es bereits zu spät. Perry Rhodan und die meisten seiner Getreuen wurden ihrer Ämter enthoben und vertrieben. Die von der Sonne Veränderten begannen, alle normal Gebliebenen zu verfolgen und unter dem Zeichen der Aphilie eine wahre Schreckensherrschaft zu errichten. Dieses Regime, das kein Mitleid und keine Menschenliebe kennt, hat seine Position in den vergangenen 40 Jahren zwar festigen, aber nicht verhindern können, dass Immune aus den Reihen der von Roi Danton geleiteten "Organisation Guter Nachbar", die im Untergrund leben, dem Regime große Schwierigkeiten durch ihre Aktionen bereiten. Eine solche Aktion ist auch das Erkundungsunternehmen gegen DAS STUMMHAUS ...

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Veröffentlichungsjahr: 2011

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Nr. 702

Das Stummhaus

Agenten der OGN im Einsatz – auf der Welt der Aphilie

von CLARK DARLTON

Seit den schicksalhaften Tagen des Jahres 3460, da Terra und Luna nach dem Verzweiflungssprung durch den Soltransmitter erneut auf die Reise gingen und in einem Orbit um eine neue Sonne einschwenkten, ist viel geschehen.

Inzwischen schreibt man auf Terra, wenn man die alte solare Zeitrechnung zugrunde legt, Mitte Juli des Jahres 3580. Somit wird der Mutterplanet der Menschheit mit all seinen Bewohnern bereits seit 120 Jahren von der Sonne Medaillon bestrahlt.

Medaillon ist eine fremde Sonne – eine Sonne, deren 5- und 6-dimensionale Strahlungskomponenten auf Gene und Psyche der meisten Menschen einen erschreckenden Einfluss ausüben.

Als man dies im Jahre 3540 – also 80 Jahre nach der zweiten Ortsveränderung Terras – bemerkte, war es bereits zu spät. Perry Rhodan und die meisten seiner Getreuen wurden ihrer Ämter enthoben und vertrieben. Die von der Sonne Veränderten begannen, alle normal Gebliebenen zu verfolgen und unter dem Zeichen der Aphilie eine wahre Schreckensherrschaft zu errichten.

Dieses Regime, das kein Mitleid und keine Menschenliebe kennt, hat seine Position in den vergangenen 40 Jahren zwar festigen, aber nicht verhindern können, dass Immune aus den Reihen der von Roi Danton geleiteten »Organisation Guter Nachbar«, die im Untergrund leben, dem Regime große Schwierigkeiten durch ihre Aktionen bereiten.

Die Hauptpersonen des Romans

Kervin M. Caughens und Kathleen Toaklander – Zwei Alte, die dem »Stummhaus« entgehen wollen.

Vester Brackjon und Hart Den Vol – Zwei Agenten der OGN, die das Geheimnis der Stummhäuser enträtseln wollen.

Jasmin Greender – Eine Mutter, die ihr Kind behalten will.

Perry

1.

Trotz der einwandfrei funktionierenden Klimakontrolle herrschte gegen Mittag brütende Hitze in den Straßenschluchten der Wohnsilos. Nur wenige Menschen schlichen träge und lustlos durch die trockene Wärme und waren froh, wenn sie den Schatten der Hochhäuser ausnutzen konnten, in dem es ein wenig kühler war.

Im wolkenlosen Himmel stand die rote Sonne Medaillon, seit nun hundertzwanzig Jahren der Stern einer fremden Galaxis, um den die Erde kreiste. Sie gab ihr Wärme und Licht, aber sie hatte ihren Bewohnern die Liebe genommen. Ihrem Spektrum fehlte die paraphysische Strahlungskomponente, die Sol und den meisten anderen Sonnen der heimatlichen Milchstraße zu eigen war.

Kervin M. Caughens entsann sich nur noch dunkel an den goldgelben Schein der Sonne Sol, als die Erde noch um sie kreiste. Damals war er noch ein junger Mann gewesen, knapp dreißig Jahre alt. Dann waren die Laren gekommen, übermächtig und nicht zu besiegen. Der damalige Großadministrator des Solaren Imperiums, der seit vierzig Jahren verschollene Perry Rhodan, hatte ein kühnes Experiment gewagt und die Erde versetzt, aber man war in einem unbekannten Teil des Universums rematerialisiert.

Doch die Erde hatte eine neue Sonne erhalten.

Kervin war nun ein alter Mann und hatte die Veränderung miterlebt, die mit fast allen Menschen vor sich gegangen war. Auch er selbst konnte keine Liebe und Zuneigung mehr empfinden, und er verlangte derartige Gefühle auch nicht von den anderen. Zwar gab es Ausnahmen, aber die lebten verborgen im Untergrund.

Liebe war verboten. Bei Todesstrafe.

Er saß dicht beim Fenster und sah hinab auf die Straße. Vor wenigen Tagen hatte man ihm den Video weggenommen. Er sei alt und brauche ihn jetzt nicht mehr, hatte man zu ihm gesagt und war wieder gegangen.

Kervin hatte sich nie etwas aus den staatlich zensierten Programmen gemacht, aber immerhin boten sie die einzige Abwechslung seines eintönig gewordenen Lebensabends. Das Fenster ersetzte nun das Bildgerät, und er hatte vom vierzigsten Stockwerk aus eine gute Übersicht. Viel gab es allerdings nicht zu sehen, denn das Leben spielte sich meist im Innern der gewaltigen Betonblöcke ab, die durch Tunnelbahnen miteinander verbunden waren.

Auch er selbst verließ seine kleine, bescheidene Wohnung nur selten und begnügte sich mit den geringen Altersrationen, die ihm ins Haus geliefert wurden. Sehnsucht nach anderen Menschen kannte er nicht, und seine Verwandten hatte er längst vergessen, so wie auch sie ihn vergessen zu haben schienen.

Körperlich war er nie besonders kräftig gewesen, und im Vergleich zu anderen Männern seines Alters wirkte er kränklich und verbraucht – viel zu früh verbraucht. Das war auch einer der Gründe, warum er sein Leben lang im Hintergrund gestanden und nie einen einflussreichen Posten bekleidet hatte. Bis zum Verwaltungsbeamten hatte er es gebracht, und das sicherte ihm die Altersration und die kleine Rente, die man ihm zubilligte.

Er wurde allein mit sich fertig, er brauchte niemanden. Wenn er Lust danach verspürte, konnte er mit dem Lift hinabfahren und auf die Straße gehen. Das war der letzte Hauch von Freiheit, der ihm verblieben war und der ihn tröstete, wenn er sich mal einsam fühlte, was in letzter Zeit hin und wieder der Fall war – sehr zu seinem Befremden übrigens.

Was seine letzte Frau machte, wusste er nicht. Sie hatte ihn fast grußlos verlassen, als der Heiratsvertrag abgelaufen war. Er hörte nie mehr von ihr. Vielleicht hatte sie sich einen jüngeren Mann gesucht.

Einmal in den vergangenen fünf Jahren hatte ihn sein Bruder besucht, aber nur um sich zu erkundigen, wann er endlich die Aufforderung erhielt, sich im Stummhaus zu melden.

Kervin konnte sich noch gut an das Gespräch erinnern, das nur wenige Minuten dauerte. Wenn er wirklich einen Funken unterschwelliger Emotion verspürt hatte, so erlosch dieser schon bei der formlosen Begrüßung und der taktlosen Frage.

»Ich glaube, es wird noch eine Weile dauern.«

»Das glaube ich nicht, Kervin. Du bist alt genug, und die Wohnungen werden gebraucht. Im Stummhaus bist du sicher gut aufgehoben.«

»Sage doch gleich, dass ich im Totenhaus gut aufgehoben bin!«

»Du wirst doch diesen wilden Gerüchten keinen Glauben schenken?«

»Wer sagt dir, dass es nur Gerüchte sind?«

Sein Bruder hatte sich vorgebeugt und ihn forschend angesehen.

»Soso, Kervin, du gehörst also auch zu jenen, die sich gegen die Staatsordnung auflehnen? Ich werde der zuständigen Behörde davon Mitteilung machen. Menschen wie du sind eine Zumutung für unsere Gesellschaft.«

Kervin hatte zur Tür gedeutet.

»Es ist besser, du gehst jetzt. Ich will meine Ruhe haben.«

Sein Bruder sagte von der Tür her noch: »Die kannst du bald haben, Kervin. Im Stummhaus.«

Dann war er gegangen und hatte sich nie mehr blicken lassen.

Das war vor zwei Jahren gewesen.

Vielleicht hatte er ihn, Kervin, wirklich angezeigt, vielleicht auch nicht. Jedenfalls war er bisher nicht dazu aufgefordert worden, sich bei einem der Stummhäuser zu melden.

Sie waren der drohende Schatten, der über allen alternden Menschen schwebte. Niemand wusste genau, was sie eigentlich waren und wozu es sie gab, außer dass sie die Alten aufnahmen, aber nie wieder hergaben. Niemals war ein Mensch wieder gesehen worden, hinter dem sich die stählernen Pforten eines Stummhauses geschlossen hatten.

Auch Kervin hatte Angst vor dem Stummhaus, und er wusste, dass es für ihn die Endstation sein würde. So recht konnte er nicht daran glauben, dass man ihn und die anderen, die sein Schicksal teilten, töten würde. Aber die heimlichen Gerüchte sprachen davon. In einer Welt, die ohne jede Liebe war, bedeuteten die Alten nur unnötigen Ballast.

Die Stummhäuser waren riesige Gebäudekomplexe, umgeben von hohen und energetisch abgesicherten Mauern. Niemand konnte auch nur ahnen, was hinter diesen Mauern geschah. Etwas Gutes jedenfalls konnte es nicht sein.

Kervin seufzte und beschloss, nicht mehr über seine trostlose Zukunft nachzudenken. Er hatte sein Leben gelebt, so gut es eben ging. Wenn er nun seine bescheidene Wohnung mit einem Gemeinschaftsraum des Stummhauses vertauschen musste, was immerhin noch nicht das Schlimmste war, würde er sich auch damit abfinden müssen.

Aber er hatte ja noch Zeit. Die alte Kathleen Toaklander, die ihm gegenüber in einer ärmlichen Wohnung hauste, war mit hundertdreiundfünfzig fünf Jahre älter als er, und auch sie hatte die gefürchtete Aufforderung noch nicht erhalten. Sie musste zuerst an die Reihe kommen, wenn es gerecht zuging.

Aber was war in dieser Welt noch gerecht ...?

Er zuckte zusammen, als der Summer ertönte und das grüne Licht über dem Empfängerkästchen aufleuchtete. Etwas war für ihn angekommen. Erleichtert atmete er auf, als ihm die Tagesration einfiel. Ein wenig mühsam stand er auf und schlurfte zu dem Fach, öffnete es und nahm den Plastikbehälter heraus, der seine Nahrungsmittel für die nächsten vierundzwanzig Stunden enthielt. Die Tür schloss sich automatisch, und das grüne Licht erlosch.

Es waren die üblichen Konzentrate, eine Flasche mit synthetischer Milch, eine Ration Kaffee und etwas Zucker.

Er erschrak, als es an der Tür klopfte.

Seit zwei Jahren hatte niemand mehr an seine Tür geklopft.

Vorsichtig öffnete er. Vor ihm stand Kathleen Toaklander in ihrem alten Kleid, das sie lieber trug als die üblichen Hosen. Ihr Gesicht drückte Verwirrung und Angst aus.

»Kervin, kann ich 'reinkommen? Es ist etwas passiert.«

Er ließ sie ein und schloss die Tür.

»Setz dich, Kathleen, und beruhige dich. Was ist denn passiert?«

Sie wartete, bis er ihr gegenüber Platz genommen hatte, dann zog sie einen bedruckten Plastikstreifen aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

»Wir haben schon oft darüber gesprochen, Kervin, und nun ist es Wirklichkeit geworden. Weißt du, was das ist?«

Obwohl Kervin es ahnte, schüttelte er den Kopf.

»Nein. Woher soll ich es wissen?«

»Es ist die Vorladung zum Stummhaus Nr. 23 in Melbourne, nicht weit von hier. Ich soll mich in zwei Tagen dort melden – und ich darf nichts mitbringen. Hörst du? Nichts!«

Kervin versuchte ruhig zu bleiben.

»Vielleicht braucht man dort nichts, weil alles vorhanden ist. Ich würde mir deshalb keine Sorgen machen, Kathleen ...«

»Keine Sorgen? Du wirst anders reden, wenn sie dich holen kommen.«

»Dich holt ja auch niemand. Du kannst dich frei bewegen und hingehen.«

»Oder auch nicht!«, sagte sie mit eigenartiger Betonung.

Er blickte sie forschend an, dann schüttelte er den Kopf und meinte: »Keine Dummheiten, Kathleen! Du kannst die Aufforderung nicht einfach ignorieren. Dann würden sie dich wirklich abholen, und wer weiß, was sie dann mit dir machen. Auch ich werde diese Einladung eines Tages erhalten, früher oder später. Mir tut es nur leid, dass wir uns jetzt trennen müssen. Ich hatte sonst keinen Menschen, mit dem ich sprechen konnte.«

So war es in der Tat. Außer der Tatsache, dass sie Nachbarn und alt waren, verband sie nichts. Aber sie sprachen miteinander, wenn es bisher auch immer Kervin gewesen war, der sie besuchte. Heute war Kathleen zum ersten Mal zu ihm gekommen.

»Ich werde verschwinden!«, sagte sie entschlossen und überhörte seine Warnung. »Im Norden und Nordwesten gibt es noch immer weite Landstriche, die wenig bevölkert sind, und im Nordosten haben wir die Berge. Dort kann man sich verstecken. Lieber hause ich in einer Höhle, als dass ich in dieses Stummhaus gehe.«

»Warum hast du eine solche Angst, Kathleen? Was weißt du über die Stummhäuser?«

»Nur das, was man sich erzählt. Es sind riesige Gräber, in denen wir verschwinden werden, denn noch niemals kehrte jemand aus ihnen zurück. Es weiß auch keiner, wer in ihnen arbeitet oder für die Insassen sorgt. Früher, vor knapp achtzig Jahren, bestand das Personal noch aus Robotern, aber sie wurden entfernt. Man flüstert sich zu, dass sie zu menschlich gefühlt hätten. Sie stammten noch aus der alten Zeit – du erinnerst dich?«

»Als Sol noch unsere Sonne war – ja, ich erinnere mich.«

»Und als es noch Perry Rhodan gab, Kervin!«

Er nickte. Mehr wusste er auch nicht zu sagen, außerdem war ihm im Grunde seines Herzens die alte Frau gleichgültig. Er würde in Zukunft eben ganz allein sein – das war es, was ihn bedrückte.

»Rhodan ging auf eine Expedition und kam nicht zurück. Das ist vierzig Jahre her. Wer weiß, wo er geblieben ist. Vielleicht ist er schon lange tot. Er kann uns auch nicht helfen, denn vielleicht würde er ebenso werden wie Reginald Bull, der uns gnadenlos regiert. Nein, Kathleen, ich kann dir nur den einen Rat geben, dich in zwei Tagen beim dreiundzwanzigsten Stummhaus zu melden. Ich wünsche dir viel Glück und hoffe, wir sehen uns wieder.«

Sie stand auf.

»Das glaube ich nicht, Kervin.«

Als er wieder allein war, starrte Kervin auf die Straße hinab.

Zwei Tage also blieben einem, wenn man die gefürchtete Vorladung erhielt. Und man durfte nichts mitnehmen, was einem gehörte. Man ging hin und verschwand für immer hinter den hohen Mauern.

Zwei verdammt kurze Tage letzter Freiheit ...

Er schüttelte den Gedanken von sich ab. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, hatte er jetzt noch fünf Jahre Zeit, ehe er an der Reihe war.

Als die Sonne unterging, aß Kervin eine Kleinigkeit und legte sich halb ausgezogen auf sein Bett. Kathleen hatte sich nicht mehr gemeldet.

*

Als der Empfänger am anderen Vormittag zur ungewohnten Zeit den Eingang einer Sendung ankündigte, wusste Kervin, dass er umsonst gehofft hatte. Er blieb ganz ruhig, als er den Plastikstreifen aus dem Behälter nahm und die Botschaft las.

Ebenfalls das 23. Stummhaus und bereits morgen.

Zur gleichen Zeit wie Kathleen Toaklander.

Gestern noch fest entschlossen, der Aufforderung Folge zu leisten, dachte er plötzlich ganz anders. Er schob es auf die Tatsache, dass man ihm nur noch eine Nacht ließ, keine zwei.

Seit langer Zeit verließ er wieder sein Zimmer, die Vorladung in der Hand, und klopfte an Kathleens Tür. Sie öffnete, sah den Streifen in seiner Hand und winkte ihn zu sich herein.

»Jetzt können wir sachlich miteinander reden«, meinte sie, als er sich gesetzt hatte. »Du bist in der gleichen Lage wie ich, da kann man objektiver urteilen. Gehst du mit mir? Ich breche noch heute Abend auf. Lebensmittel habe ich für einige Zeit, denn ich habe mir immer etwas zurückgelegt. Verhungern werden wir also nicht gleich.«

»Glaubst du wirklich, dass es einen Sinn hat, ihnen entkommen zu wollen?«

Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Es wird zumindest den Sinn haben, dass wir uns nicht freiwillig in ein vorprogrammiertes Schicksal ergeben und einige Tage wirklich frei sind. Vielleicht kümmert sich auch keiner um uns – wer weiß?«

»Es haben schon manche versucht, dem Stummhaus zu entfliehen. Sie wurden alle gefangen.«

»Nicht alle, Kervin! Ich weiß, dass viele für immer in der Steppe untertauchen. Und hast du nie von den Immunen gehört?«

Er nickte zögernd.

»Wer hat nicht von ihnen gehört, Kathleen? Aber sie haben mehr zu tun, als sich um die Alten zu kümmern, die vor dem Stummhaus davonliefen. Sie kennen Liebe und Zuneigung und handeln nach Emotionen, nicht nur nach den Gesetzen der Logik, so wie wir. Ich bedaure sie.«

»Aber sie können uns helfen, Kervin, vergiss das nicht.«

»Und du willst noch heute aufbrechen?«

»Morgen ist es zu spät. Wenn wir nicht beim Stummhaus eintreffen, wird man uns suchen. Dann müssen wir schon weit fort sein.«

»Ich habe keine Lebensmittel gespeichert.«

»Meine reichen für ein paar Tage. Außerdem besitze ich ein wenig Geld, das uns weiterhelfen wird. Draußen gibt es einsame Siedlungen, und für Geld bekommt man alles.«

»Auch ich habe gespart.«

Sie lächelte müde.

»Na also, dann brechen wir auf, sobald die Sonne untergegangen ist. Jeder wird glauben, wir unternehmen einen Spaziergang. Vielleicht nimmt uns auch einer der vielen Transporter mit, die nach Norden fahren. Die Männer in ihnen stellen keine Fragen.«

»Woher weißt du das alles, Kathleen?«

Sie lächelte noch immer.

»Weißt du, Kervin, ich rechne schon lange mit dem Stummhaus und habe mich erkundigt. Wenn du mich wochenlang nicht gesehen hast, war ich unterwegs. Ein Bruder von mir nahm die Tagesration in Empfang und aß sie auf. Immerhin fiel so meine Abwesenheit nicht auf, denn wir Alten werden nicht so kontrolliert wie die anderen, die noch arbeiten. Ich kenne die Steppe, einige Siedlungen und auch die Berge. Wenn wir die Höhlen finden, sind wir in Sicherheit.«

»Du bist eine kluge Frau«, erkannte er an.

»Vor allem bin ich eine logisch denkende Frau«, versicherte sie und deutete zur Tür. »Und nun verschwinde in deiner Wohnung und lasse dir nichts anmerken. Nimm noch deine Tagesration in Empfang und die Rente, die heute eintrifft. Wir brechen zur angegebenen Zeit auf.«

*

Noch am gleichen Nachmittag verließ Kervin den Wohnsilo und machte einen Spaziergang. Sein Ziel war das Stummhaus Nr. 23 und die nähere Umgebung. Er wollte es sich ansehen.

Ein Schauder packte ihn, als er die hohen, grauen Mauern sah, die den Komplex einschlossen, in dem er keine Fenster entdecken konnte. Nur ein breites Tor führte in die Anlage hinein, das fest verschlossen war und vor dem kein Wächter stand, wie er es fast erwartet hatte. Stumm und schweigend lag der Betonblock da, als berge er nicht die geringste Spur von Leben.

Vielleicht gab es auch wirklich kein Leben darin ...