Perry Rhodan-Paket 15: Aphilie (Teil 1) -  - E-Book
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Perry Rhodan-Paket 15: Aphilie (Teil 1) E-Book

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Beschreibung

Das Jahr 3580: Durch eine waghalsige Aktion ist es Perry Rhodan gelungen, die Erde und den Mond vor dem Zugriff der Laren zu bewahren. Seither umkreist die Heimat der Menschheit in einer weit entfernten Galaxis die grüne Sonne Medaillon. Dann aber tritt etwas ein, womit niemand gerechnet hat: Medaillon sendet eine merkwürdige Strahlung aus, welche die Menschen mutieren lässt. Sie werden zu gefühlsarmen Wesen ohne Nächstenliebe - die Aphilie wird ausgelöst. Perry Rhodan und andere Nicht-Aphiliker müssen die Erde verlassen. Mit dem hantelförmigen Fernraumschiff SOL begibt sich der Terraner auf eine Odyssee, die ihn durch unbekannte Regionen des Universums führt - eine Reise voller Wunder und Schrecken. Gleichzeitig geht der Kampf in der Milchstraße weiter. Dort schart Atlan die Widerstandskämpfer der Terraner und anderer versklavter Völker um sich - gemeinsam will man die Unterdrücker vertreiben ...

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Nr. 700

Aphilie

Machtwechsel im Jahre 3540 – die Menschheit mutiert

von KURT MAHR

Seit den schicksalhaften Tagen des Jahres 3460, da Terra und Luna nach dem Verzweiflungssprung durch den Soltransmitter erneut auf die Reise gingen und in einem Orbit um eine neue Sonne einschwenkten – der Planet und sein Trabant wären bei diesem Unternehmen zweifellos verglüht, wenn die Ploohn-Königin die drohende Katastrophe nicht verhindert hätte –, ist viel geschehen.

Inzwischen schreibt man auf Terra, da man dort auch noch die alte Zeitrechnung beibehalten hat, Anfang Juli des Jahres 3580. Somit wird der Mutterplanet der Menschheit mit all seinen Bewohnern bereits seit 120 Jahren von der Sonne Medaillon bestrahlt.

Medaillon ist eine fremde Sonne – eine Sonne, deren 5- und 6-dimensionale Strahlungskomponenten auf Gene und Psyche der meisten Menschen einen erschreckenden Einfluss ausüben.

Als man dies im Jahre 3540 – also 80 Jahre nach der zweiten Ortsveränderung Terras – bemerkt, ist es bereits zu spät.

Perry Rhodan und die meisten seiner Getreuen werden ihrer Ämter enthoben. Die von der Sonne Veränderten beginnen alle normal Gebliebenen zu verfolgen und eine wahre Schreckensherrschaft zu errichten.

Das neue Regime steht seitdem unter dem Zeichen der APHILIE ...

Die Hauptpersonen des Romans

Sergio Percellar und Sylvia Demmister – Das »Buch der Liebe« berichtet von Sieg der »Vernunft«.

Perry Rhodan – Der Großadministrator wird abgesetzt.

Reginald Bull – Das »Licht der reinen Vernunft« leuchtet.

Pakko – Ein Mann, der den Tod fürchtet.

Trailokanat – Ein Informationsmakler.

Vater Ironside

Bangkok 3580

»Dem nächsten, der dich anschaut, schlage ich ins Gesicht!«, knurrte Sergio.

»Pass nur auf deine Augen auf!«, antwortete Sylvia warnend. »Sie werden dich sonst für einen Wahnsinnigen halten.«

Sie trieben auf der langsamsten Sektion des Rollsteigs durch die Fußgängerzone der Innenstadt von Bangkok, einer Stadt, die sich im Laufe der Jahrhunderte zum Zentrum Südostasiens entwickelt hatte. Um Sergio und Sylvia herum drängte sich dichter Verkehr. Auf dem breiten Laufband standen sie in Tuchfühlung mit Menschen in den üblichen lichtgrauen Standardmonturen, Menschen, die meist starren Blicks geradeaus schauten, ohne jegliche Regung in ihren Gesichtern. Nur hin und wieder sah einer auf – ein Mann gewöhnlich, der eine Frau erblickt hatte, die sein Interesse erregte. Für die kurzen Augenblicke des Vorbeigleitens leuchteten seine Augen in unverhüllter Begierde. Das war es, was Sergio Percellar störte: Sylvia war ein Geschöpf, dessen Anblick die Gier vieler Männer erregte. Sie starrten von dem in entgegengesetzter Richtung laufenden Band herüber, und in ihren Blicken lag soviel obszöne Offenheit, dass Sergio seine Wut kaum mehr zu bezähmen wusste.

Sylvia spürte seine Erregung. Verstohlen legte sie ihm die Hand auf den Arm, eine Geste, die sie sofort verraten hätte, wenn sie von jemand bemerkt worden wäre.

»Nur Ruhe!«, murmelte sie. »Wir sind gleich da. Vergiss nicht, was wir uns vorgenommen haben!«

»Ich wusste nicht, dass es so schwer sein würde«, knirschte er.

»Wiederhole unseren Vorsatz!«, forderte sie ihn auf.

»Jetzt? Hier?«, protestierte er.

»Du kannst ebenso leise sprechen wie ich«, redete sie auf ihn ein, »und niemand außer mir wird dich hören. Also ...?«

Er wusste genau: wenn sie in diesem Ton zu ihm sprach, gab es kein Ausweichen. Stockend begann er: »Ich will fortan die Nächstenliebe als das höchste Gut betrachten, das dem Menschen je zuteil werde. Ich will fortan nicht vergessen, dass eine Laune der Natur und nicht ihr eigenes Wollen den Menschen die Möglichkeit genommen hat, Nächstenliebe zu empfinden. Ich will fortan meine Mitmenschen als Kranke betrachten, die meine Nachsicht verdienen. Ich will mich gegen ihre Nachstellungen wehren, soweit sie mir gefährlich werden können; aber ich will meine Mitmenschen für ihre Handlungen, die aus Mangel an Nächstenliebe geboren sind, nicht verantwortlich machen.«

Sie ließ die Hand von Sergios Arm gleiten.

»Das hast du gut gesagt«, lobte sie ihn halblaut und hatte ihr Gesicht dabei so in der Gewalt, dass es denselben starren Ausdruck zeigte wie das der Menschen, zwischen denen sie eingekeilt waren. »Und du fühlst dich jetzt auch schon viel weniger aufgeregt, nicht wahr?«

»Ja!«, grinste er und fing an zu lachen.

Als er den warnenden Blitz ihrer Augen sah, war es schon zu spät. Einer der Umstehenden fuhr herum und fragte mit drohender Stimme: »Wer hat da gelacht?«

Ein kleines, altes Männchen, das unmittelbar neben Sergio stand, war mit der Antwort gleich bei der Hand. Es streckte den Arm aus und deutete auf Sergios hochgewachsene, hagere Gestalt. Mit schriller Stimme verkündete es: »Der da war es! Ich habe es deutlich gehört!«

Der Frager, ein grobschlächtiger Asiate, drängte die Umstehenden beiseite und kam auf Sergio zu.

»Du hast gelacht? Und warum, Bruder?«

Sergio hatte, als ihm die Gefahr offenbar wurde, in der er schwebte, die Miene aufgesetzt, die Sylvia und er in ihrem privaten Sprachgebrauch »das Standardgesicht« nannten: ernst und ausdruckslos.

»Selbst wenn ich gelacht hätte«, antwortete er mit flacher Stimme, »ginge es dich nichts an, Bruder. Die Wahrheit ist jedoch, dass ich nicht gelacht habe. Ich habe mich verschluckt und gehustet. Und nun, Bruder, lass mich in Ruhe!«

War es die korrekte Antwort, war es Sergio Percellars zwingender Blick – kurzum, der Bullige wandte sich ab. Noch eine halbe Minute verging, dann flüsterte Sylvia: »Hier müssen wir absteigen!«

Sie verließen das Band und mischten sich unter die Menge, die sich abseits der Rollbandstraßen über den Gehsteig schob.

*

Die Straßen und Gassen der Fußgängerzone waren voll von Menschen. Es war, als triebe die Aphilie die Menschen aus ihren Wohnungen, damit sie einander ständig nahe seien, obwohl sie sich nichts zu sagen hatten. Es war ein buntes Völkergemisch, das Sergio und Sylvia umgab, Menschen von allen Zonen der Erde, Marsgeborene und Siedler von den Kolonialwelten des ehemaligen Solaren Imperiums. Was sie alle in Bangkok zu suchen hatten, war Sergio schleierhaft. Sie alle starrten mit teilnahmslosem Blick geradeaus – auch dann, wenn sie sich miteinander unterhielten, was stets mit ruhiger Stimme geschah. Er hasste den leeren Ausdruck ihrer Gesichter, und es kostete ihn Mühe, seinen Abscheu nicht deutlich zu zeigen.

Und noch eine Gruppe von Wesen gab es inmitten des Gedränges, das die Innenstadt von Bangkok erfüllte: gelbbraun Uniformierte, die sich durch die Menschenmenge schoben und ihre Augen überall hatten. Die Gelbbraunen waren Roboter, die Aufpasser der neuen Machthaber. Sie hatten darauf zu achten, dass das Gesetz nicht verletzt wurde. Und wenn sie eine Verletzung beobachteten, dann hatten sie dafür zu sorgen, dass der Schuldige sofort bestraft wurde.

Die Menschen nannten sie nach ihrer Typenbezeichnung: K-2. Ka-zwo, das war ein gefürchtetes Wort, denn die Ka-zwos waren erbarmungslos. Jede noch so kleine Verfehlung wurde scharf geahndet, und es gab keine geringere Strafe als einen Schlag auf die Schulter, mit einer Energie von zwanzig Newtonmeter. Das aber war eine Strafe, unter der schon manches Schlüsselbein den Dienst aufgesagt hatte. Um Ka-zwos machten die Menschen einen Bogen.

Für Sergio Percellar aber – und ebenso für Sylvia Demmister – waren die Ka-zwos die Personifikation der Hässlichkeit dieser Welt. Sergio hasste die Roboter mit einer Inbrunst, die fast schon nicht mehr menschlich war. Sollte ihn jemals einer nach der Leistung fragen, auf die er am stolzesten war, dann hätte er ohne Zweifel darauf geantwortet, er habe bereits zweiundzwanzig Ka-zwos »beiseitegeschafft«.

Er folgte Sylvia in eine schmale Seitengasse, die von schmalen, alten Fassaden begrenzt wurde. Sylvia liebte diesen Teil der Stadt, und in einem der Häuser kannte sie ein kleines Esslokal, von dem sie Sergio schon lange vorgeschwärmt hatte, noch bevor sie nach Bangkok gekommen waren. Es bestand aus einem einzigen langen, schmalen Raum, auf dem man so viele Tische und Stühle wie möglich zusammengepfercht hatte. Das Restaurant war etwa zu drei Vierteln besetzt, als Sylvia und Sergio eintraten. An der rückwärtigen Wand gab es eine Reihe glitzernder Speise- und Getränkeautomaten. Eine Schlange von Menschen hatte sich davor gebildet, und die Schlange bewegte sich nur langsam, da die Automaten eine erstaunlich große Auswahl boten und die Leute Mühe hatten, sich zu entscheiden. Über der Reihe der Automaten und noch einmal über dem Eingang hing je ein kleines Aufnahmegerät, das die Vorgänge im Restaurant aufzeichnete. Denn das war das hervorstechendste Merkmal der aphilen Gesellschaft: dass sie ihre Mitglieder dauernd bewachte.

Sylvia und Sergio stellten sich an. Sergio zog ein paar Münzplaketten aus der Tasche und überlegte, wieviel sie sich heute leisten konnten. Bei einem Leben wie dem ihren war Geld immer knapp, und bis nach Borneo waren es immerhin noch gute zweitausend Kilometer.

Sie waren bis auf drei oder vier Leute, die noch vor ihnen standen, an den ersten Automaten herangekommen, als es geschah – plötzlich, unerwartet und ohne Anlass. An einer der weiter vorne stehenden Maschinen hatte sich einer der Kunden nach der Ansicht des Mannes, der hinter ihm stand, zuviel Zeit genommen. Der Ungeduldige, ein mittelgroßer, grobknochiger Mann unbestimmten Alters, drängte sich mit einem knurrenden Laut nach vorne, rammte dem Saumseligen den Ellbogen in die Seite und begann nun, selber seine Wahl zu treffen.

Unwillkürlich wurde es still in dem langgestreckten Raum. Instinktiv spannten sich Sergios Muskeln. Er wusste, was nun kommen würde, und die andern, die den Zwischenfall beobachtet hatten, wussten es auch.

Eine schrille, quäkende Pfeife begann zu plärren. Das war das Signal. Das Gesetz über den Umgang der Menschen miteinander, Absatz drei: im Alltag, Paragraph vierzehn: bei Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen, war verletzt worden. Eines der Aufnahmegeräte hatte den Verstoß bemerkt und gemeldet.

*

Der Mann, der sich auf so rüde Weise zu seinem vermeintlichen Recht verholfen hatte, stutzte zunächst, als er die Pfeife quäken hörte. Er wandte sich ein wenig von der Maschine ab, aus der er seine Mahlzeit hatte beziehen wollen, und drehte sich so, dass Sergio sein Gesicht sehen konnte. Es war ein hageres Gesicht mit ungesunder, gelblicher Haut und unangenehmen Zügen.

Plötzlich wurde er blass. Die Bedeutung des Pfeifengequäkes schien ihm aufgegangen zu sein. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er in Richtung des Eingangs. Ein gurgelnder Schrei brach ihm über die Lippen.

»Nein!«

Dann sprang er. Er durchbrach die Reihe derer, die sich vor den Maschinen angestellt hatten, mit wild schwingenden Armen trieb er die Leute auseinander. Mit weiten Sätzen hetzte er auf den Ausgang zu.

Draußen – das konnte Sergio durch die offene Tür sehen – zögerte er eine halbe Sekunde, unschlüssig, nach welcher Seite er sich wenden solle. Und mit einemmal ließ er die Arme hängen und senkte den Kopf. Er bot ein Bild der absoluten Mutlosigkeit, und wenige Augenblicke später konnte man erkennen, was es war, das ihm den Mut geraubt hatte.

Von rechts her schoben sich zwei Ka-zwos ins Blickfeld. Der eine trug die reguläre, gelbbraune Uniform, der andere zusätzlich eine rote Markierung am Revers, die ihn als übergeordneten Roboter auswies. Er musste zufällig in der Gegend gewesen sein; denn bei der Bestrafung von geringfügigen Vergehen, wie hier eines vorlag, war die Anwesenheit eines Aufsehers grundsätzlich nicht notwendig.

Die beiden Roboter führten den Mann in das Restaurant zurück. Eines der Prinzipien des aphilen Strafvollzugs war, dass die Strafe nach Möglichkeit am Tatort selbst und in Anwesenheit derjenigen, die auch Zeuge des Vergehens gewesen waren, vollzogen werden solle. Der untergeordnete Robot sprach den Straffälligen mit wohlmodulierter Stimme an: »Du hast das Gesetz über den Umgang der Menschen miteinander – Absatz drei: im Alltag, Paragraph vierzehn: bei Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen – gebrochen. Das Aufnahmegerät hat die Tat aufgezeichnet. Die Aufnahme wurde mir zugespielt. Ich erkenne dich anhand der Aufnahme einwandfrei wieder. Hast du noch eine Frage?«

Der Gelbhäutige bewegte die Lippen und formte ein »Nein«; aber ein Laut war nicht zu hören. Dem Roboter jedoch schien die Antwort zu genügen.

Er hob den Arm. Zwanzig Newtonmeter – das war die kinetische Energie eines Kilogrammgewichtes, das aus etwa zwei Metern Höhe herabfiel. Ein ziemlich wuchtiger Schlag, den manches Knochengerüst nicht ohne Nachwirkung auszuhalten vermochte. Der Gelbhäutige stand still, aber sein Blick war ängstlich nach oben gerichtet, wo die harte Faust des Ka-zwo über ihm hing.

»Jetzt!«, sagte der Roboter freundlich.

Die Faust sauste herab und traf mit dumpfem Aufschlag die Schulter des Straffälligen. Der Mann schrie laut auf und ging in die Knie. Ein paar Sekunden lang hockte er mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden. Dann sprang er auf und lief davon. Die beiden Roboter wandten sich ebenfalls ab und spazierten mit gravitätischen Schritten davon.

»Ich habe auf einmal keinen Hunger mehr«, sagte Sylvia halblaut.

Sergio erwachte aus tiefer Nachdenklichkeit.

»Hunger?«, brummte er. »Wer hat je Hunger gehabt?«

Sie verließen das Restaurant. Ziellos mischten sie sich unter die Menge, die sich die schmale Gasse entlangbewegte. Sie sprachen nicht miteinander. Jeder musste in seinen Gedanken selbst mit dem fertig werden, dessen Zeugen sie soeben geworden waren.

Sergio Percellar sah kaum, was um ihn herum vorging. Er blickte erst auf, als er irgendwo einen flüchtigen, gelbbraunen Schimmer bemerkte. Mit einem Ruck blieb er stehen. Vor ihm stand der Ka-zwo-Aufseher, der Robot mit der roten Markierung am Revers, derselbe, der vor wenigen Augenblicken der Bestrafung des Gesetzesbrechers im Automatenrestaurant beigewohnt hatte.

So schoss es Sergio durch den Kopf. Im nächsten Augenblick korrigierte er sich. Die Ka-zwos hatten alle dieselben Gesichter. Man konnte sie nicht voneinander unterscheiden.

Es gab jedoch keinen Zweifel daran, dass dieser Robot es auf Sergio und Sylvia abgesehen hatte. Er war vor ihnen aus der Menge aufgetaucht und hatte sich so aufgebaut, dass er ihnen den Weg versperrte.

Der PIK

»O verdammt!«, entfuhr es Sergio.

Im nächsten Augenblick hätte er sich am liebsten die Zunge abgebissen.

»Du verwendest eine merkwürdige Sprache, Bruder«, bemerkte der Ka-zwo-Aufseher. »Es ist unter des befreiten Menschen Würde, derartige Worte zu gebrauchen.«

Sergio hielt es für das beste, das Problem frontal anzugehen.

»Du hast richtig beobachtet, Bruder«, gab er zu. »Wir beide haben noch keinen PIK.«

»Und warum nicht?«

»Wir waren nie lange genug an einem Ort, um uns einen zu beschaffen. Außerdem ist die Frist noch nicht abgelaufen. Wir haben noch ein paar Wochen Zeit, bevor wir uns strafbar machen.«

»Genau vier Tage, Bruder«, verbesserte ihn der Robot. »Du hättest besser auf den Kalender achten sollen.«

»Wir werden die nächste Gelegenheit wahrnehmen, uns ein solches Gerät zu beschaffen«, versprach Sergio.

»Darauf wollte ich eben hinaus, Bruder.«

»Wie meinst du das?«

»Ich biete dir die Gelegenheit. Ihr kommt mit mir zum nächsten Büro der Aufsichtsbehörde. Dort wird man euch beiden einen Personal-Identifizierungs-Kodegeber verabreichen.«

Der Vorschlag war Sergio alles andere als angenehm. Der PIK war ein heimtückisches Gerät, und den beiden lag wenig daran, dass die Regierung die Möglichkeit erhielt, ihren Weg durch die Dschungel von Borneo sozusagen ferngesteuert zu verfolgen.

»Wir beide haben eine dringende Verabredung«, versuchte er, den Roboter hinzuhalten. »Ich versichere jedoch ...«

»Darauf kann ich mich nicht einlassen, Bruder«, unterbrach ihn der Ka-zwo-Aufseher. »Ihr beide müsst sofort mit mir kommen. Alle Personen, die innerhalb von zehn Tagen vor Ablauf der Beschaffungsfrist ohne Personal-Identifizierungs-Kodegeber angetroffen werden, sind zur nächsten Niederlassung der Aufsichtsbehörde zu bringen und mit einem PIK auszustatten.«

Sergio zuckte hilflos mit den Schultern. Sein ratloser Blick traf Sylvia.

»Ja, da kann man wohl nichts machen ...«, murmelte er niedergeschlagen.

»Also, kommt mit!«, befahl der Robot.

Er setzte sich selbst an die Spitze der kleinen Gruppe und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sylvia und Sergio folgten in seinem Kielwasser. Mehr als einmal sah Sergio sich blitzschnell um und versuchte, eine Möglichkeit zur Flucht zu erspähen. Aber nicht nur sein Verstand, sondern auch Sylvias warnende Blicke sagten ihm, dass er von einem solchen Vorhaben besser die Finger lassen solle. Die Ka-zwos, und besonders ihre Aufseher, waren hochgetrimmte Maschinen mit einer unglaublichen Reaktionsfähigkeit. Niemand, in dessen Nähe sie sich befanden, hatte nur die geringste Aussicht zu entkommen. Nein, schloss Sergio, es hatte keinen Zweck, die Flucht zu wagen.

Er konnte sich nicht mit Sylvia unterhalten. Der Robot hätte jedes Wort gehört und sorgfältig aufgezeichnet. Also mussten sie sich durch Blicke und kleine Gesten verständigen. Der Ka-zwo-Aufseher bemerkte vielleicht auch das, obwohl er ihnen den Rücken zuwandte. Aber die Sprache der Augen und der Hände konnte niemand entschlüsseln. An Sylvias Blicken erkannte Sergio, dass sie sich über die Gefährlichkeit der Lage wohl im klaren war. Wenn man sich bei der Aufsichtsbehörde, wie der Roboter die Staatspolizei nannte, darauf beschränkte, ihnen einen PIK unter die Haut zu operieren, dann war alles in Ordnung. Irgendwo auf hoher See würden sie sich des Geräts wieder entledigen können.

Aber es war durchaus möglich, dass es schlimmer kam. Wenn dem Robot auch nur der geringste Verdacht bezüglich ihrer Zuverlässigkeit gekommen war, dann würde er diesen Verdacht seinem Vorgesetzten mitteilen, und diesem schrieb es die Dienstordnung der Staatspolizei vor, dass er den Vermutungen seines Untergebenen bis ins kleinste Detail nachging.

Das konnte bedeuten: Hypnose. Und dazu durfte es Sergio nicht kommen lassen. Unter Hypnose würde er der Staatspolizei alles verraten, was er wusste – auch, dass er »ein Buch« war. Und das wiederum würde den Tod bedeuten.

Bevor Sylvia und Sergio zu ihrer Reise nach Borneo aufgebrochen waren, hatten sie sich in mühevoller, wochenlanger Arbeit einen Aktionsplan zurechtgelegt, der alle Gefahren und Eventualitäten berücksichtigte. Bis jetzt war ihre Reise im großen und ganzen unbehelligt vonstatten gegangen. Dieses war die erste ernsthafte Gefahr, deren sie sich erwehren mussten. Ein kurzes Blickspiel mit Sylvia genügte Sergio, um zu erkennen, dass auch sie die gegenwärtige Lage als ernsthaften Gefahrenfall identifiziert hatte.

*

Das Büro der Aufsichtsbehörde war ein ausgedehntes, mehrstöckiges Gebäude, das sich innerhalb eines gesicherten Bereichs befand. An den Grenzen des Bereichs erhob sich eine energetische Sperre, die durch blinkende Warnlichter markiert war. Wer die Barriere berührte, bekam einen Hitzeschock, der in den meisten Fällen tödlich wirkte.

Der Ka-zwo-Aufseher jedoch ließ sich durch die Energiewand nicht beeindrucken. Er wusste, wo es sichere Zugänge gab. Er forderte Sergio und Sylvia auf, sich dicht hinter ihm zu halten; und da sie wussten, dass die Gebäude der Staatspolizei grundsätzlich durch Energieschranken von der Umwelt getrennt waren, leisteten sie der Aufforderung bereitwillig Folge.

Um das Gebäude herum standen auf der leeren, von der Energiebarriere umschlossenen Fläche mehrere Gleitfahrzeuge mit den Emblemen der Staatspolizei. Gelbbraun uniformierte Roboter waren zu sehen, die irgendwelchen unerfindlichen Verrichtungen nachgingen. Das Innere des Gebäudes bestand – das war Sergios erster Eindruck – in der Hauptsache aus kahlen, grell erleuchteten Gängen, fensterlos, mit endlosen Reihen von Türen zu beiden Seiten.

Durch eine der Türen führte sie der Roboter. Sie gelangten in einen kleinen Raum, dessen einziges Mobiliar aus drei Sitzbänken bestand, die sich an den Wänden entlangzogen. An der freien Wand gab es eine weitere Tür, die in einen angrenzenden Raum führte. Durch diese Tür verschwand der Ka-zwo-Aufseher, nachdem er Sergio und Sylvia bedeutet hatte, sich ruhig zu verhalten und zu warten.

Ein paar Minuten vergingen. Sergio starrte zu Boden. Er wusste sicher, dass dieser Raum mit Sicht- und Abhörgeräten überwacht wurde. Es wäre gefährlich gewesen, mit Sylvia zu sprechen. Er wartete, und mit jeder Sekunde wuchs seine Besorgnis. Sicherlich berichtete der Roboter über jede Phase ihrer Begegnung. Der Fluch, der ihm entrutscht war, würde ohne Zweifel erwähnt werden. Wenn der Ka-zwo-Aufseher daran die Bemerkung knüpfte, dass ihm dieser Vorfall verdächtig erscheine, dann wurde die Sache brenzlig. Unwillkürlich fuhr Sergios Hand zur Hüfte hinab. Aber bevor die Finger den Stoff seiner Kleidung berührten, um nach der kleinen, beulenartigen Erhebung zu tasten, unter der sich seine einzige Waffe für den Ernstfall verbarg, erinnerte er sich der verborgenen Aufnahmegeräte und tat so, als plage ihn ein Juckreiz an der Seite.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, durch die der Robot verschwunden war. An seiner Stelle erschien ein Mann mittleren Alters, von mittlerer Statur, mit dunklem, kurzgeschnittenem Haar und einem nichtssagenden Gesicht. Der Mann blickte ernst vor sich hin, während er zuerst Sylvia, dann Sergio musterte. Schließlich nickte er Sergio zu und sagte: »Mit dir will ich zuerst sprechen, Bruder. Komm herein!«

Sergio stand auf und folgte ihm. Merkwürdigerweise lag hinter der Tür nicht ein weiterer Raum, sondern ein Gang, der schmaler und weniger hell erleuchtet war als die Gänge, durch die Sergio bis jetzt gekommen war. Auch gab es zu beiden Seiten keine Türen.

»Wohin führst du mich, Bruder?«, fragte er den unscheinbaren Mann, der vor ihm herschritt.

»Dorthin, wo man PIKs verabreicht, Bruder«, lautete die Antwort.

Im selben Augenblick fing die Gangbeleuchtung an zu flackern. Sergio blieb überrascht stehen und sah auf. Der Unscheinbare fuhr ihn an: »Nicht anhalten! Weitergehen!«

Sergio hörte leise Musik, die aus der Höhe zu kommen schien, durch die niedrige Gangdecke. Es war eine eigenartige Musik, wie Sergio sie nie zuvor gehört hatte, mit einem merkwürdigen Rhythmus, der sich mit dem Flackern der Beleuchtung vereinigte und eine Wirkung erzeugte, die Sergios Körper im gleichen Takt vibrieren ließ.

»Nicht anhalten! Weitergehen ...«

Selbst die Stimme des Unscheinbaren wurde von dem geheimnisvollen Rhythmus eingefangen und schwang mit ihm auf und ab. Überrascht starrte Sergio in den schier endlosen Gang hinein, der sich im Takt der Musik und des Flackerns mit einemmal zu weiten und wieder zusammenzuziehen schien. Er war in eine Märchenwelt geraten! Nichts war mehr wirklich. Der Befehl des Unscheinbaren hämmerte auf ihn ein.

Da durchfuhr es ihn wie ein Ruck. Ein Teil seines kritischen Bewusstseins war wachsam gewesen und warnte ihn: Das war eine Hypnofalle! Noch ein paar Sekunden, und er war dem Bann der fremden Musik, dem rhythmischen Geflacker der Beleuchtung und der beschwörenden Stimme des Mannes vor ihm hilflos ausgeliefert! Er riss sich zusammen.

»Ich komme ...«, ächzte er, um den Unscheinbaren zu beruhigen.

Aber gleichzeitig stach die rechte Hand zu der Stelle am Oberschenkel hinab, die er draußen, im Vorzimmer, zu berühren sich nicht getraut hatte. Der tastende Finger fand die unscheinbare Naht. Ein Ruck – und der Stoff des Beinkleids riss auf. Die Nägel gruben sich ins Fleisch, durchbrachen die Haut und fanden die winzige Kapsel, die sich dort verbarg. Aufstöhnend vor Schmerz brachte Sergio das kleine Gebilde zum Vorschein. Der Sauerstoff der Luft initialisierte den Zünder. Von jetzt an hatte Sergio fünfzehn Sekunden Zeit, sich aus dem Zentrum des Explosionskegels zu entfernen.

»Was ist?«, fuhr der Unscheinbare ihn an. »Warum kommst du nicht?«

Das flackernde Licht, die fremdartige Musik, die Stimme des Mannes – sie alle hatten plötzlich keinen Einfluss mehr auf Sergio. Er hatte die Gefahr rechtzeitig erkannt, und damit war die Wirkung des hypnotischen Einflusses zunichte gemacht.

»Euch alle soll der Teufel holen, Bruder!«, knurrte er zornig.

Dabei schnippste er die kleine Kapsel mit den Fingernägeln fort, warf sich herum und eilte den Weg zurück, den er gekommen war. Der Gang war von bedeutender Länge, und im Banne der hypnotisierenden Musik hatte er vergessen, wie lange er schon unterwegs war. Es dauerte viel länger, als er erwartet hatte, bis er im immer noch flackernden Licht die Tür vor sich auftauchen sah. Fünf, vielleicht sechs Sprünge trennten ihn noch von ihr ... da erhob sich hinter ihm ein Donnergrollen, ein greller Blitz durchzuckte den Gang, und dicht hinter dem Blitz kam eine Druckwelle, die Sergio zu Boden schleuderte.

Er blieb liegen, bis der Lärm verebbt war. Die Explosion der kleinen Sprengkapsel hatte die Luft im Gang erhitzt. Der Schweiß troff Sergio von der Stirn, während er die letzten Schritte bis zur Tür zurücklegte. Erleichtert trat er auf den Ausgang zu. Er erwartete, eine normale Tür zu finden – eine, die sich selbsttätig vor ihm öffnete. So selbstverständlich erachtete er es, dass diese Tür sich verhalten würde wie alle anderen Türen auch, dass er mit dem Gesicht gegen das Hindernis prallte.

Er fuhr zurück. Ungläubig starrte er die Tür an, dann begann er, sie mit den Fäusten zu bearbeiten. Er hoffte, dass Sylvia ihn draußen hören würde und vielleicht von ihrer Seite aus den Ausgang öffnen könne. Aber sein wütendes Getrommel erzeugte weiter nichts als ein paar schwache Geräusche, und er begann zu zweifeln, ob Sylvia ihn draußen überhaupt hören könne.

Erschöpft hielt er inne. Die Fäuste schmerzten. Die Hitze nahm ihm den Atem. Der Schweiß rann ihm in die Augen. Er war zu optimistisch gewesen. Er hatte geglaubt, die Aphilen mit einer einzigen Mikrobombe so ins Bockshorn jagen zu können, dass ihm der Weg in die Freiheit weit offen stünde.

Die Flucht

Staub- und Rauchschwaden wallten durch den Gang. Hustend und keuchend bahnte Sergio sich einen Weg zurück zu der Stelle der Explosion. Noch nie in seiner Erfahrung hatte er mit solcher Inbrunst um das Leben eines Aphilikers gebangt wie in diesen Augenblicken. Es gab für ihn nur noch eine Hoffnung: dass der Unscheinbare ihm helfen werde, der hier irgendwo unter den Trümmermassen des eingestürzten Ganges liegen musste.

Er kniete nieder und begann, Schutt beiseitezuräumen. Wenn es ihm nicht gelang, im Laufe der nächsten zwei oder drei Minuten aus dieser Falle zu entkommen, dann war seine Mühe vergebens. Die Explosion war in anderen Räumen des Gebäudes wahrgenommen worden, und in aller Kürze würden die Räumroboter auftauchen, um nach dem Grund der Detonation zu forschen.

Er rief, um den unter dem Schutt Begrabenen, wenn er überhaupt noch bei Bewusstsein war, auf sich aufmerksam zu machen. Und schließlich hatte er Erfolg. Unter dem Trümmerberg hervor erklang ein qualvolles Stöhnen. Sergio setzte die letzten Kraftreserven ein und arbeitete, dass er sich die Haut von den Händen schund.

Endlich war er am Ziel. Vor ihm lag der Unscheinbare, über und über mit Staub bedeckt. Im schwachen Schein der einzigen Lampe, die in diesem Sektor des Ganges die Explosion überlebt hatte, sah Sergio den Blick des Aphilikers ängstlich auf sich gerichtet. Sergio kannte die Hauptschwächen der Aphiliker, und eine davon kam ihm in dieser Lage zugute. Nach dem Verlust aller Emotionen hatten in den Bewusstseinen der Aphiliker neben dem streng logischen Denkprozess die reinen Instinkte die Überhand gewonnen. Unfähig, Liebe oder Zorn, Zuneigung, Abneigung, Freude oder Trauer zu empfinden, waren die Aphiliker den Urtrieben in weitaus stärkerem Maße ausgeliefert als der Mensch früherer Generationen. Das armselige Häuflein, das da vor ihm lag, wurde von der Todesangst bis in den hintersten Winkel seines Daseins beherrscht. Diesen Umstand gedachte Sergio auszunützen.

»Bist du verletzt, Bruder?«, fragte er ruhig.

»Ich ... ich weiß es nicht ...«, antwortete der Unscheinbare bebend.

»Wie heißt du, Bruder?«

»Ich ... ich heiße ... mein Name ... ist Pakko ...«

»Also schön, Pakko: Steh auf!«

Der Unscheinbare gehorchte. Er hatte eine Beule auf der Stirn, aus der Blut hervorsickerte. Beim Aufstehen ächzte und stöhnte er zwar; aber ernsthaft verletzt schien er nicht zu sein. Sergio erblickte eine Waffe an seinem Gürtel, einen kleinen Blaster. Er nahm ihn an sich.

»Hör zu, Pakko!«, sagte er zu dem Unscheinbaren, als der einigermaßen sicher auf den Beinen stand. »Du bist mein Gefangener. Du hast zu tun, was ich dir befehle. Am Ende dieses Ganges befindet sich eine Tür. Du wirst sie für mich öffnen. Wenn du mir nicht gehorchst, werde ich dich töten. Hast du verstanden?«

»Jjja ...«, würgte Pakko hervor.

Sergio gab ihm einen kräftigen Stoß. Der Unscheinbare taumelte davon. Vor der Tür blieb er stehen und murmelte ein paar Worte. Die Tür war also mit einem akustischen Servo ausgestattet und reagierte nur auf einen bestimmten Audio-Kode.

Der Ausgang öffnete sich. Sergio stieß Pakko beiseite und stürmte hinaus.

»Sylvia ...!«, schrie er.

Das Wort blieb ihm im Halse stecken. Mit wirrem Blick sah er sich um.

Sylvia war nicht mehr da!

*

Als Sergio herumwirbelte und den Unscheinbaren anblickte, leuchtete aus seinen dunklen Augen solch tödliche Entschlossenheit, dass Pakko sich unwillkürlich duckte. Sergio hatte den Blaster gezogen und hielt ihm die Mündung entgegen.

»Wo ist das Mädchen?!«

»Sie ... sie haben es weggeholt ... zum Verhör«, stieß Pakko hervor.

»Bist du ein wichtiger Mann in dieser Organisation, Pakko?«, fragte Sergio.

»Ja«, bekannte der Unscheinbare offen.

»Dann schaff das Mädchen herbei!«, fauchte Sergio ihn an. »Oder es geht dir an den Kragen!«

Er hörte ein Geräusch hinter sich und fuhr herum. Die Tür, die auf den Korridor hinausführte, hatte sich geöffnet. Im Türrahmen erschien die unförmige Gestalt eines Räumroboters.

»Schick ihn zurück!«, befahl Sergio.

Pakko trat auf das Maschinenwesen zu.

»Du wirst hier nicht gebraucht!«, sagte er mit zitternder Stimme. »Die Lage ist unter Kontrolle.«

Wortlos wandte sich der Robot ab und verschwand hinaus auf den Gang.

»Das Mädchen!«, drängte Sergio.

Pakko winkte mit matter Hand.

»Komm mit!«

Die Tür öffnete sich von neuem. Die beiden Männer traten hinaus. Pakko wandte sich nach links. Sergio, den Blaster schussbereit in der Hand, sicherte nach beiden Seiten. Aber da war nur die Gestalt des Räumroboters zu sehen, der sich mit stelzenden Schritten nach der anderen Seite hin entfernte. Pakko ging an vier Türen vorbei. Vor der fünften blieb er stehen.

»Das Mädchen ist dort drinnen«, flüsterte er ängstlich. »Ein Beamter und ein Ka-zwo sind bei ihr.«

»Mach auf!«, befahl Sergio.

Pakko berührte die Türfüllung mit der Hand. Die Tür glitt beiseite. Der Raum dahinter war fensterlos und wurde von grellen fluoreszierenden Lampen beleuchtet. An den Wänden entlang stand glitzerndes medotechnisches Gerät. In der Mitte des Raumes lag Sylvia auf einer Bahre. Sie war halb entkleidet und hatte die Augen geschlossen. Sie schlief entweder, oder sie war bewusstlos.

Ein Mann und derselbe Ka-zwo-Aufseher, der Sylvia und Sergio hierhergebracht hatte, fuhren herum und sahen erstaunt auf, als die Tür sich öffnete. Pakko trat als erster ein, ihm auf den Fersen folgte Sergio. Er wusste, dass der Ka-zwo eine ernstzunehmende Gefahr darstellte. Denn er kannte keinen Selbsterhaltungstrieb.

»Befiehl ihm, auf die Seite zu treten!«, sagte Sergio zu Pakko.

Pakko, der sich in der Gegenwart eines Gleichgesinnten und eines Roboters plötzlich sicherer zu fühlen schien, zögerte. Da rammte ihm Sergio den Lauf des Blasters zwischen die Rippen und zischte: »Sprich ... oder du bist ein toter Mann!«

»Tritt beiseite, Robot!«, sagte Pakko mit bebender Stimme.

Der Robot gehorchte. Dabei ließ er Sergio nicht aus den Augen. Ohne Zweifel übertrug er jede Phase dieser Begegnung an irgendeine Kommandostelle. Sergio stieß den unscheinbaren Pakko von sich. Der Lauf des Blasters richtete sich auf den Ka-zwo-Aufseher. Eine halbe Sekunde später begann die Waffe zu fauchen. Ein greller Energiestrahl leckte zu dem Roboter hinüber und hüllte ihn in ein Flammenmeer. Es gab eine krachende Explosion. Das Maschinenwesen zerbarst. Die Wucht der Explosion war nicht sonderlich groß. Pakko und der andere Aphiliker hatten sich zu Boden geworfen; aber ihre Furcht erwies sich als übertrieben.

Ohne die beiden Ängstlichen aus den Augen zu lassen, trat Sergio zu der Liege. Sylvia atmete ruhig. Wahrscheinlich hatte man sie eingeschläfert. Welcher Behandlung man sie hatte unterziehen wollen, konnte er nicht erkennen. Arme und Beine waren mit Kunststoffschnallen an der Liege befestigt. Sergio löste die Schnallen. Dann wandte er sich an Pakko.

»Das Mädchen und ich ... wir müssen hier 'raus!«, herrschte er ihn an. »Ihr beide werdet uns durch den Energieschirm führen – und zwar sofort!«

In diesem Augenblick begannen draußen die Alarmsirenen zu heulen. Mit schriller Stimme verkündeten sie, dass die Staatspolizei der absonderlichen Ereignisse, die sich in ihrem Bangkoker Hauptquartier zutrugen, gewahr geworden war.

*

Der zweite Aphiliker, ein stämmiger, gedrungener Bursche, trug die immer noch bewusstlose Sylvia auf der Schulter. Sergio, den Blaster ständig schussbereit, trieb die beiden Männer vor sich her. Durch einen Antigravschacht hatten sie einen tief unter der Erde gelegenen Korridor erreicht. Der Gang führte nach Pakkos Aussage unter der Energiebarriere hindurch bis zu einer Stelle, an der er in das unterirdische Verkehrsnetz mündete. Das Schrillen der Sirenen war längst verhallt; aber Sergio zweifelte nicht daran, dass es nur wenige Augenblicke dauern würde, bis die Staatspolizei seine Spur gefunden hatte.

Der Korridor beschrieb eine enge Windung. Eine Tür tauchte auf. Pakko hielt keuchend an.

»Dort ... ist der Ausgang!«, stieß er hervor.

»Weiter!«, fuhr Sergio ihn an.

Pakko eilte voraus und öffnete die Tür. Sie mündete auf einen Bahnsteig der Röhrenbahn. Die Plattform war leer. Rechts lag das Ende des Bahnsteigs nur wenige Schritte entfernt. Ein paar Meter weiter glänzte metallisch das Schleusentor, das den druckregulierten Streckenabschnitt der Röhrenbahn von dem unter atmosphärischem Druck stehenden Bahnsteigsektor trennte. Sergio hatte bislang nicht gewusst, wie sich seine Flucht weiter gestalten würde. Beim Anblick der Schleuse hatte er einen verwegenen Einfall.

»Hinab auf die Fahrbahn!«, befahl er den beiden Aphilikern.

Sie gehorchten ihm ohne Zögern. In seinen Augen stand geschrieben, dass er keine Gnade kannte. Der Mann, der Sylvia trug, stolperte beim Sprung. Dabei entglitt die Bewusstlose seinem Griff. Sergio sprang zwar schnell hinzu, aber auch er konnte nicht verhindern, dass sie mit der Schulter ziemlich hart gegen den Bordsteinrand des Bahnsteigs schlug.

Die Wirkung der Erschütterung war beachtlich. Als Sergio sich über Sylvia beugte, um sie wieder aufzuheben, schlug sie die Augen auf und fand sich schnell in die Situation.

»Setz mich ab!«, forderte sie Sergio auf. »Ich bin bei Kräften, und du brauchst freie Schussbahn, um mit diesen beiden Schurken fertig zu werden.«

Sergio ließ sie zu Boden gleiten. Sie stand erstaunlich sicher auf den Füßen. Mit flammendem Blick musterte sie den stämmigen Aphiliker, der sie bis vor wenigen Augenblicken auf der Schulter getragen hatte.

»Das ist der hinterhältige Schuft!«, sagte sie zu Sergio. »Kaum warst du verschwunden, kam er, um mich abzuholen. Er tat ganz freundlich und sagte, er wollte mir einen PIK verpassen. Statt dessen gab er mir eine Injektion, die mich von den Beinen riss ...«

Der Stämmige duckte sich unter ihrem wütenden Blick. Sergio wies auf das Schleusenschott.

»Wir müssen dort hindurch!«, befahl er. »Los, beeilt euch, damit uns der nächste Röhrenzug nicht einholt!«

Aus sicherer Entfernung richtete er den Blaster auf das Schott, zielte auf die elektronische Verriegelung und drückte ab. Fauchend leckte der Energiestrahl an dem glänzenden Metall und schmolz es. Die beiden Aphiliker wurden vorgeschickt, um die beiden Schotthälften auseinanderzuschieben. Die Schleuse war beleuchtet. Etwa einhundert Meter weiter im Hintergrund befand sich ein weiteres Schott. Dahinter lag der druckregulierte Streckenabschnitt.

»Tretet beiseite!«, rief Sergio.

Er selbst näherte sich dem zweiten Schott bis auf etwa fünfzehn Schritte, dann begann er zu feuern. Der Streckenabschnitt stand unter Unterdruck. Er war bereit, einen vom Bahnsteigsektor abfahrenden Rohrbahnzug aufzunehmen. Der normale atmosphärische Druck, der im Innern der Schleuse herrschte, würde den Zug gegen den im Streckenabschnitt herrschenden Unterdruck in den Abschnitt hineinbewegen. Sobald die ganze Länge des Zuges sich im Abschnitt befand, schloss sich das Schleusenschott, und die weitere Beschleunigung des Zuges wurde von den automatischen Druckreglern übernommen, die überall in die Wandung der Röhre eingebaut waren.

Kaum hatte der leuchtende Strahl des Blasters das Metall des inneren Schotts weichgeschmolzen, da fuhr plötzlich eine heulende Sturmbö über Sergio hinweg und riss ihn fast mit sich zu Boden. Er sah, wie der glühende Teil des Schotts nach innen gedrückt wurde. Mit ungeheurer Wucht rauschte die Luft aus dem von normalem Druck erfüllten Bahnsteigsektor in den fast luftleeren Streckenabschnitt. Es knackte in Sergios Ohren, und ein leichtes Schwindelgefühl machte sich bemerkbar.

»Los, weiter!«, schrie er gegen den tosenden Sturm.

Hinter ihm kamen die beiden Aphiliker, die der Orkan von den Beinen gerissen hatte, wieder auf die Füße. Sylvia war so schlau gewesen, sich eng an die Schleusenwand zu pressen. Ihr hatte der Sturm nichts anhaben können. Sergio wartete, bis Pakko und der Stämmige an ihm vorbei durch das zerfetzte Schott gestiegen waren. Dann folgte er ihnen, und Sylvia blieb dicht an seiner Seite. Von jetzt an brauchten sie nicht mehr zu fürchten, dass ein Rohrbahnzug sie überrollte. Das automatische Überwachungssystem hatte den Schleusendefekt registriert und würde augenblicklich den gesamten Verkehr auf dieser Strecke lahm legen. Der Nachteil war, dass auch die Staatspolizei erfahren würde, was sich hier abgespielt hatte.

Schweigsam tappten sie den Stollen entlang, der nur in geraumen Abständen durch Lichter erhellt war. Der Sturm hatte sich inzwischen gelegt: der Druckausgleich war abgeschlossen. Plötzlich blieb Sergio stehen. Im matten Schimmer einer der wenigen Lampen hatte er den flachen Stutzen eines Regulierventils in der Wandung der Röhre erkannt. Aber das war nicht alles: ein paar Schritte weiter, auf der anderen Seite, etwa in halber Mannshöhe, lag der Verschluss eines Überdruckventils, das immer dann selbstständig in Tätigkeit trat, wenn der Druck innerhalb der Röhre über einen kritischen Wert hinauswuchs. Das Regulierventil führte in einen der riesigen Drucktanks, die die Druckregulierung der Rohrbahn-Streckenabschnitte bewerkstelligten. Der Stollen des Überdruckventils dagegen musste in nicht allzu großer Entfernung irgendwo an die Oberwelt münden.

Als Sergio anhielt, waren auch die beiden Aphiliker stehen geblieben. Pakko sah, wie sich der Lauf des Blasters auf den Verschluss des Regulierventils richtete.

»Nicht!«, schrie er. »Du wirst uns alle umbringen!«

»Legt euch hin!«, knurrte Sergio. »Je fester ihr euch an den Boden presst, desto weniger wird die Luft euch anhaben.«

Pakko wollte weiter jammern, aber Sergio gab ihm einen kräftigen Stoß, so dass er zu Boden ging. Sylvia und der Stämmige hatten seine Anweisung bereits befolgt. Er kniete sich, dem Regulierventil genau gegenüber, vor die linke Wand der Röhre, visierte das Ziel kurz an und schoss.

Die Wirkung war überwältigend. Mit donnerndem Knall barst das Ventil. Der riesige Druckkörper dahinter entließ einen heulenden Strom hochgespannter Luft in die Röhre. Sergio hatte sich sofort nach dem Knall zu Boden geworfen. Er machte sich so flach wie möglich, und trotzdem war es ihm, als müsse ihn der tosende Sturm mit sich fortreißen. So lag er kaum mehr als dreißig Sekunden, obwohl ihm die Zeit wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Da hörte er an den Geräuschen der ausströmenden Luft, dass die Wucht des Sturmes allmählich nachließ. Vorsichtig hob er den Oberkörper ein wenig und spähte nach beiden Seiten. Der rasende Luftstrom trieb ihm die Tränen in die Augen; aber er sah zur linken Hand die beiden Aphiliker platt am Boden liegen und zur rechten Sylvia in derselben Lage verharren, die auch er einnahm. Sie hatte seinen Plan erkannt, ohne dass er zu ihr darüber gesprochen hatte.

An der gegenüberliegenden Wand hatte die plötzlich freigesetzte Luft aus dem Überdruck des Kessels ein mehr als mannshohes Stück Betonguss herausgerissen. Es war ein Loch entstanden, durch das ein normalgewachsener Mensch bequem ins Innere des Kessels eindringen konnte. Ein Blick zur Seite bewies Sergio, dass auch das Überdruckventil inzwischen in Tätigkeit getreten war. Durch das Ausströmen der Pressluft hatte sich der Druck im Innern der Röhre zeitweilig so erhöht, dass der Überdrucksensor angesprochen hatte. Die Öffnung des Überdruckventils war zwar wesentlich weniger bequem als das Loch in der Wand auf der gegenüberliegenden Seite. Aber dafür führte der Weg durch den Überdruckstollen wesentlich gerader in die Freiheit als der durch den Kessel.

Sergio machte eine Kopfbewegung, die Sylvia sofort verstand. Sie stemmten sich gegen den tosenden Sturm und krochen auf die Öffnung des Überdruckventils zu. Sergio half dem Mädchen zur Öffnung des Ventils hinauf. Sie bedurfte ihrer ganzen Beweglichkeit, um durch das enge Loch zu kriechen; aber schließlich war sie in der Wand verschwunden. Sergio folgte ihr, nachdem er sich mit einem letzten Blick davon überzeugt hatte, dass Pakko und der Stämmige immer noch weisungsgemäß auf dem Boden lagen und ihre Gesichter gegen den Beton pressten.

Er hatte Schwierigkeiten mit seinen breiten Schultern, aber schließlich schaffte er es mit Sylvias Hilfe, die enge Öffnung zu überwinden. Dahinter lag ein finsterer, enger Stollen, der zunächst horizontal verlief, um später in steilem Winkel in die Höhe zu steigen. Da, wo er nach oben abknickte, hielt Sergio an, um Luft zu schnappen. Er brauchte eine Weile, um dem geschundenen Körper Ruhe zu gönnen. Von der Röhre her rauschte die aus dem Drucktank entweichende Luft durch den Stollen. Der Sturm hatte bereits über die Hälfte seiner Wucht verloren. Bald würde der Druck im Innern der Röhre sich wieder normalisieren und damit die Schließung des Überdruckventils verursachen.

Sergio empfand Erleichterung. Wenn die Staatspolizei kam und Pakko Bericht erstattete, würde jedermann glauben, er sei mit Sylvia durch die mannsgroße Öffnung ins Innere des Drucktanks geflohen. Auf die Idee, dass sie den Entlüftungsstollen des Überdruckventils als Fluchtweg benützt hatten, würde die Polizei erst später kommen.

Das Buch

Die Luft war mild und vom Duft tropischer Blüten erfüllt. In den Blättern der Bäume raschelte ein sanfter Wind, und von weither drangen die Geräusche der Großstadt. Es war finster.

Die Erleichterung, die auf die überstandene Gefahr folgt, ist um so vollständiger, je größer die Gefahr war. Sergio, unter dem Geäst eines Busches lang ausgestreckt, fühlte sich wohlig entspannt. Er hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und blickte zu den Sternen hinauf.

Sylvia lag neben ihm. Er spürte die Wärme ihres Körpers, und zeitweilig verloren sich seine Gedanken in Bahnen, die in der gegenwärtigen Lage absolut unangemessen waren. Immerhin war die Gefahr noch nicht völlig beseitigt. Der Stollen des Überdruckventils hatte sie in dem Hinterhof eines uralten Industriegebäudes ans Tageslicht geführt. Völlig unbehelligt waren sie hervorgekrochen und hatten sich bei der nächsten Gelegenheit des öffentlichen Verkehrssystems bedient, um an den westlichen Stadtrand hinauszufahren. Dort gab es weitläufige Erholungsflächen – Wälder und Parks, die nahezu in ihrem ursprünglichen Zustand belassen worden waren. Dort hofften sie, unterkriechen zu können, bis ihnen der neue Tag Gelegenheit zu neuen Unternehmungen bot.

Aber die Staatspolizei war auf der Suche, darüber konnte es keinen Zweifel geben. Inzwischen hatte man Pakko vernommen, und Pakko war erstens intelligent genug und zweitens genügend lange mit Sergio Percellar zusammen gewesen, um zu wissen, dass Sergio der Norm des Neuen Menschen nur in höchst unvollkommener Weise entsprach. Mit anderen Worten: Sergio hatte die Umstellung vom emotionengebundenen »alten Menschen« zum rein logisch denkenden und agierenden »neuen Menschen« noch nicht vollzogen. Er war kein Aphiliker ... und das allein reichte aus, um ihn zum sofortigen Tod zu verdammen.

Sylvia regte sich. Sergio blickte zur Seite und sah ihre Augen zu den Sternen hinauf gerichtet. Sie begann zu summen, und ihre Lippen formten halblaute Worte. Er kannte die Melodie, und die Worte, die sie in eigenartigem Singsang von sich gab, erfüllten ihn mit einem Gefühl wohliger Wärme und gleichzeitig mit unstillbarer Sehnsucht nach vergangenen Zeiten.

»Nun aber hört«, sprach Sylvia, »da waren einst Menschen, die einander liebten. Die Eltern liebten ihre Kinder und die Kinder ihre Eltern. Der Nachbar liebte seinen Nachbarn, und die Liebe war allgegenwärtig. Die Menschen lebten in Frieden miteinander, denn unter ihnen war Liebe.«

Sie schwieg. Sergio aber drängten sich die Worte förmlich auf die Zunge, die Worte, die er mit Sylvia gelernt hatte – Worte, die aus »dem Buch« stammten, das nur noch in einer Kopie existierte: in ihrer beider Gedächtnis.

Er erhob sich in sitzende Stellung und sprach in dem gleichen Singsang, in dem auch Sylvias Worte erklungen waren: »Die Liebe hört niemals auf, so doch die Weissagungen aufhören werden und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird.«

Er sank wieder in seine vorige Stellung zurück, und Sylvia fuhr fort: »Ihr aber, die ihr meint, die Liebe zu kennen – zu euch muss ich sagen: ihr wisst nicht, was Liebe ist. Denn das, was ihr Liebe nennt, ist tierische Begier. Eure Liebe ist die Brunst, die schnell aufflammt und ebenso schnell wieder verlischt. Eure Liebe ist nicht die unsere – in der Tat: eure Liebe ist es nicht wert, Liebe genannt zu werden.«

Sie schwieg. Sergio hörte sie schwer atmen. Er selbst war bis ins tiefste Innere aufgewühlt. Niemand rezitierte »das Buch«, ohne dass er von diesen Worten ergriffen wurde, von den Worten einer alten Weisheit, die den Menschen dieser Tage völlig abhanden gekommen war.

»Uns aber ist die Liebe ein heiliges Gut«, fuhr Sylvia nach kurzer Pause fort, »ein wertvoller Besitz, der das Leben der Menschen miteinander überhaupt erst möglich macht. Die Liebe – das ist der Funke des Göttlichen, der in uns wohnt und uns Wärme und Licht in gleichem Maße spendet. Die Liebe – das ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier. Die Liebe – das ist die Sehnsucht des Menschen nach der alten Heimat, nach den Tagen der Sonne, nach der Geborgenheit in der Hand der göttlichen Allmacht.«

An dieser Stelle erhob sich Sergio. Was er und Sylvia abwechselnd gesprochen hatten, war die Einleitung »des Buches«. Es blieb nur noch ein Satz, der die Einleitung vollendete, und die Reihe war an ihm, diesen Satz zu sprechen. Mit volltönender Stimme rief er in die Nacht hinaus: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

Da erklang neben ihm leise ein uraltes Wort. Sylvia sprach es. Es gehörte nicht zum Text »des Buches«. Sie setzte es aus eigenem Antrieb hinzu.

»Amen ...«, hörte Sergio sie sagen.

*

Vor fünfzig Jahren, im siebzigsten Jahr ihres Umlaufs um die Sonne Medaillon, hatte es erste Anzeichen der nahenden Katastrophe gegeben. Sie waren mit Staunen, aber ohne Erkenntnis der drohenden Gefahr beobachtet worden. Eine bisher ungekannte Härte schlich sich in das Verhalten des Menschen seinem Mitmenschen gegenüber. Freundschaften zerbrachen, Kinder hörten auf, ihre Eltern zu lieben, Höflichkeit, Freundlichkeit wurden zu immer selteneren Tugenden. Ein neuer Menschentyp wuchs heran: der Aphiliker, das jeglicher Emotion bare, nur noch nach logischen Gesichtspunkten – und nach den Maßgaben der Urinstinkte – handelnde Wesen.

Diejenigen, die vom Verlust der Emotionalität lange genug verschont blieben und Zeit hatten, sich über die seltsame Veränderung Gedanken zu machen, nannten den Zustand, der den neuen Menschen charakterisierte, die Aphilie, den Mangel an Liebe, die Lieblosigkeit. Unter Liebe verstanden sie dabei nicht die körperliche Liebe; denn die blieb, als Ausfluss eines der Urinstinkte, auch dem Aphiliker erhalten. Liebe war vielmehr die Nächstenliebe – jenes undefinierbare Etwas in der Seele des Menschen, das ihn dazu veranlasst, Dinge zu tun, die seinem Nächsten nützen, ohne ihm selbst irgendwelchen Nutzen zu bringen.

Auf der Erde machte sich das Chaos breit. Die Wissenschaftler ermittelten bald, dass es in der fünfdimensionalen Strahlung der Sonne Medaillon eine gefährliche Komponente gab, die die Fähigkeit des Menschen, Nächstenliebe zu empfinden, allmählich zerstörte. Die, die noch von der Aphilie verschont blieben, gaben sich Mühe, die Zusammenhänge bis ins letzte Detail zu erforschen und einen Weg zu finden, wie der verderbliche Einfluss gebannt werden könne. Aber die wohlmeinenden Forscher wurden am allermeisten gerade von denen in ihrer Arbeit behindert, denen sie zu helfen versuchten. Denn die Aphiliker nannten die Wandlung, die sich an ihnen vollzogen hatte, »den Sieg der reinen Vernunft«. Sie betrachteten sich als eine neue Art, und die Biologen unter ihnen gaben der neuen Art den Namen »homo sapientior«, der »mehr-wissende Mensch«.

Das Häuflein derer, die der Aphilie widerstanden, schmolz im Laufe der Jahre immer mehr dahin. Ein gewisser Rest aber blieb – Menschen, denen auf Grund ihrer psychischen Konstitution die Aphilie nichts anhaben konnte. Sie wurden zu den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft, manche im allerwörtlichsten Sinne, wie zum Beispiel die Aktivatorträger aus Perry Rhodans unmittelbarster Umgebung. Es stellte sich nämlich rasch heraus, dass der Besitz eines Zellaktivators die Wirkung der Aphilie zunichte machte. Es gab nur eine einzige Ausnahme. Alle anderen Aktivatorträger jedoch, auch Perry Rhodan selbst, blieben immun gegen die Lieblosigkeit. Es kam, wie es kommen musste: die Aphiliker übernahmen die Macht. Perry Rhodan und seine Mitarbeiter wurden verbannt. Das war vor vierzig Jahren geschehen, und seitdem wusste niemand, was aus Perry Rhodan, den die Menschheit einst den Erben des Universums genannt hatte, geworden war.

Außer den Aktivatorträgern jedoch gab es natürliche Immune. Sie wurden von den Aphilikern verfolgt und hatten Mühe, wenigstens das nackte Leben zu retten. Es gab Gerüchte, wonach die Immunen im Innern der noch weitgehend dünnbesiedelten Insel Borneo eine Kolonie gegründet hatten, in der andere Immune Zuflucht finden konnten. Aus den Reihen der Immunen kam »das Buch«, hinter dem die Regierung der Aphiliker her war wie der Teufel hinter der armen Seele. »Das Buch« war eine Sammlung von Texten aus Zeiten, in denen die Liebe noch unter den Menschen lebte.

Mit »dem Buch« hatte es eine eigenartige Bewandtnis. Die Worte der Texte waren so aneinandergereiht, dass beim Lesen, mehr noch beim lauten Vortrag von ihnen eine suggestive, nahezu hypnotische Wirkung ausging. Aphiliker, die den Worten »des Buches« lauschten, empfanden plötzlich wieder Liebe für den Mitmenschen. Freilich war die Wirkung nicht von langer Dauer. Meist erlosch sie gleich nach dem Ende des Vortrags, aber die Erfahrung war doch so berauschend, dass »das Buch« quasi über Nacht zu dem begehrtesten Dokument wurde, das die Menschheit jemals hervorgebracht hatte.

Kein Wunder, dass die aphile Regierung »das Buch« sofort verbot. Sein Besitz wurde mit dem Tode bestraft, ebenso seine Herstellung und Verbreitung. Aber selbst die Androhung des Todes schreckte die Menschen nicht, »das Buch« zu erwerben. Es entstand ein umfangreicher schwarzer Markt, auf dem »das Buch« zum Teil zu Phantasiepreisen gehandelt wurde. Bis schließlich die Regierung zu einem Trick griff: Sie erzeugte selbst ein Buch mit einem Text, der dem »des Buches« annähernd gleich war, ohne jedoch jene suggestive Strahlung zu besitzen, die »das Buch« so begehrt machte.

Die Wirkung blieb nicht aus. Menschen, die die Regierungsversion »des Buches« unter Lebensgefahr und zu einem astronomischen Preis gekauft hatten, fühlten sich geprellt, als sie beim Lesen des Textes keinerlei Wirkung empfanden. Die Käufer wurden misstrauisch. Der Markt schrumpfte, und schließlich kam der Handel völlig zum Erliegen. Die Regierung hatte ihr Ziel erreicht. Es war ihr zwar nicht gelungen, die echten Kopien »des Buches« zu erfassen, aber zumindest der weiteren Verbreitung »des Buches« war Einhalt geboten.

Zu den wenigen, die »das Buch« besaßen, gehörten Sylvia Demmister und Sergio Percellar. Sie waren natürliche Immune und hatten sich bis zu dem Tag, an dem sie im Lehrsaal einer europäischen Universität einander zum ersten Mal begegneten, mehr schlecht als recht durchs Leben geschlagen, Teilnahmslosigkeit heuchelnd, den göttlichen Funken der Liebe unter ausdruckslosen Mienen verbergend. Sie hatten sofort Zuneigung zueinander gefasst. Auf gänzlich altmodische und unlogische Art und Weise hatten sie sich ineinander verliebt. Sylvia besaß eine Kopie »des Buches«. In nächtelangem Bemühen hatten sie beide den Text auswendig gelernt, da sie fürchten mussten, dass eines Tages ein Agent der Regierung hinter ihr Geheimnis kommen und »das Buch« konfiszieren würde. Sie prägten sich die Texte des Buches in der ursprünglichen Wortfolge so nachhaltig ein, dass sie zum festen Bestandteil ihres Bewusstseins wurden.

Als die Regierung verlauten ließ, dass im Laufe des kommenden Jahres der Personal-Identifizierungs-Kodegeber eingeführt werden solle, da wussten Sergio und Sylvia, dass ihre Stunde endgültig geschlagen hatte. Der PIK war ein winziges, elektronisches Gerät, das nach dem Willen der Regierenden jeder Mensch künftig in seinem Körper tragen solle. Der PIK strahlte in regelmäßigen Abständen ein Signal aus, das charakteristisch für den Träger des Geräts war. Dieses Signal wurde von den Sensoren der rund um die Erdoberfläche verteilten Computer des Personal-Überwachungs-Systems, PIMOS, aufgefangen. Auf diese Weise wusste PIMOS zu jeder Sekunde, wo irgendein beliebiger PIK-Träger sich aufhielt. PIMOS war der Ansatz und die Grundbedingung für ein System, das der Regierung die totale Überwachung jedes einzelnen Menschen ermöglichen sollte.

Der Gedanke der vollkommenen Überwachung war Sylvia und Sergio unerträglich. Sie hatten längst von dem Gerücht gehört, nach dem es im Innern der Insel Borneo eine Kolonie der Immunen geben sollte. Sie machten sich auf den Weg nach Südostasien. Vor zwei Tagen waren sie in Bangkok angekommen. Einen Tag hatten sie damit verbracht, unter der Hand nach einer See- oder Luftverbindung nach Borneo zu forschen. Wer nach Borneo wollte, war der Staatspolizei automatisch verdächtig. Daher mussten sie ihre Forschungen mit höchster Vorsicht betreiben. Dann kam der Zwischenfall, bei dem es der Staatspolizei um ein Haar gelungen wäre, Sergio in eine Hypnofalle zu bugsieren.

Der Freund

Medaillon sandte ihre ersten, tastenden Strahlen durch das Blattwerk des Gebüschs. Sergio wachte auf. Ein paar Augenblicke lang lag er völlig ruhig und lauschte den Geräuschen des erwachenden Tages.

Neben ihm lag Sylvia. Sie schlief noch. Er betrachtete sie, und ein Gefühl der Zärtlichkeit stieg in ihm empor. Sylvia war nicht schön im klassischen Sinne des Wortes, aber sie war eine überaus anziehende, erregende Frau. Selbst die Farblosigkeit und Monotonie der modernen, aphilen Kleidung vermochten die vollendeten Formen ihres Körpers nicht zu verbergen. Sylvia hatte dunkle Augenbrauen und langes, rötliches Haar. Da die Aphilie jedoch keine langen, wehenden Haare kannte, hatte sie sie unter einem Band gerafft, so dass ihre Frisur dem Standard-Bubikopf der aphilen Weiblichkeit entsprach. Ihre Brauen hatten ihr schon manche Schwierigkeit verursacht. Der Kontrast zwischen Haar und Brauen nämlich ließ die Brauen gefärbt erscheinen, und da die Aphilie in ihrer nur-logischen Denkweise alle Art von Kosmetik für wertlosen Schnickschnack hielt, war Sylvia des öfteren darauf angesprochen worden, sie solle das Färben der Augenbrauen unterlassen.

Sylvia begann sich zu rühren. Sie schlug die Augen auf, blickte ihn an und lächelte. Sie richtete sich zu sitzender Stellung empor und sah sich um. Medaillon erschien über dem Horizont und tauchte die Welt in ein rotgoldenes Licht.

Sylvia reckte sich und stand auf.

»Was steht für heute auf dem Programm?«, erkundigte sie sich.

»Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Sergio, »und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir keine große Auswahl haben.«

»Also ... Trailokanat?«

Er nickte.

»Es bleibt uns einfach keine andere Wahl«, sagte er.

»Traust du dem Mann?«

»Wie kann ich ihm trauen oder misstrauen? Ich habe ihn noch nie gesehen. In Teheran hat uns jemand seinen Namen genannt und ihn als einen Mann beschrieben, der sich dazu hergibt, geheime Reisen nach Borneo zu vermitteln. Das ist alles, was ich weiß.«

Er war ebenfalls aufgestanden. Mit seinen knapp ein-Meter-neunzig überragte er sie um einen ganzen Kopf. Dabei war er ausgesprochen hager, von den breiten Schultern abgesehen, mit einem schmalen Schädel, hoher Stirn, ausgeprägter Nase und einem starken Adamsapfel, der sich immer dann, wenn er erregt war, auf und ab hüpfte.

»Am besten machen wir uns gleich auf den Weg«, schlug Sylvia vor. »Wieviel Geld haben wir noch?«

»Einundzwanzig Solar ... abgesehen von der eisernen Reserve.«

»Das langt gerade für ein halbwegs anständiges Frühstück«, entschied das Mädchen. »Ich habe einen Bärenhunger!«

*

Aus dem Frühstück wurde selbstverständlich nichts. In Restaurants durften sich Sergio und Sylvia nicht mehr sehen lassen, denn in jeder Gaststätte hingen wenigstens zwei Aufnahmegeräte, die den Publikumsverkehr beobachteten, und es war sicher, dass die Staatspolizei inzwischen Weisung erlassen hatte, auf die Physiognomien von Sergio Percellar und Sylvia Demmister mit besonderer Sorgfalt zu achten.

Selbst die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel erschien Sergio zu riskant. Sie legten also ihren Weg zu Fuß zurück und mussten dabei erhebliche Umwege machen, da es ihnen darauf ankam, sich möglichst durch von Fußgängern bevorzugte Zonen zu bewegen. Nur die Menschenmenge bot ihnen Schutz. Sie waren ständig auf der Ausschau nach Ka-zwos. Es war denkbar, dass jeder Wachrobot in seinem Speicher ihr Bild trug. Wenn das der Fall war, dann bedeutete die erste Konfrontation mit einem Ka-zwo das Ende ihres Unternehmens.

Knapp dreißig Kilometer und sieben Stunden nach dem Aufbruch erreichten sie die Gegend, in der Trailokanat sein Geschäft unterhielt. Sie befanden sich an der nördlichen Peripherie der Altstadt von Bangkok. Die Straßen waren breit und für den Fahrzeugverkehr zugelassen. Aber die Häuser zu beiden Seiten stammten noch aus einer Zeit, da das Licht von Sol über der Erde leuchtete und die Menschen noch den göttlichen Funken der Liebe in ihren Herzen trugen.

Trailokanats Unternehmen residierte in den obersten drei Stockwerken eines achtzehngeschossigen Gebäudes. Trailokanat war ein Informationsmakler, der Nachrichten von privaten Zuträgern auf Kommissionsbasis entgegennahm und sie an die öffentlichen Nachrichtendienste weitergab. Für die Vermittlung der Nachrichten erhielt er eine Provision. Das Geschäft des Informationsmaklers war in Zeiten, da die Menschheit noch in Freiheit lebte, ein recht einträgliches gewesen. Jetzt jedoch, da die Regierung das Recht für sich in Anspruch nahm zu entscheiden, welche Nachrichten der Öffentlichkeit vorgesetzt werden durften und welche nicht, waren die Informationsmakler Kontrollen ausgesetzt, die ihre Arbeit behinderten und ihre Gewinne schmälerten.

Innerhalb des großen Gebäudes herrschte nur geringer Publikumsverkehr. Sylvia und Sergio gelangten ungehindert bis ins siebzehnte Stockwerk, in dem sich der Empfang befand. Ein stationär eingebauter Roboter nahm ihren Wunsch, Trailokanat zu sprechen, zur Kenntnis und bat sie, sich zu gedulden. Nach einigen Minuten öffnete sich eine in der rückwärtigen Wand gelegene Tür, und ein kleines, fettes Männchen trat heraus. Aus winzigen, glitzernden Augen, die hinter dicken Speckpolstern fast verschwanden, musterte es die beiden Besucher, und schließlich fragte es mit heller, quäkender Stimme: »Was verschafft mir die Ehre, Bruder und Schwester?«

»Wir wollen mit dem Bruder Trailokanat sprechen, Bruder«, antwortete Sergio.

»Der bin ich, Bruder«, keifte das Männchen. »Also ... was soll's?«

Sergio biss sich auf die Unterlippe. Der kleine Fette wirkte alles andere als vertrauenswürdig. Es fiel Sergio schwer, an die nächstenliebende Selbstlosigkeit dieses Mannes zu glauben.

»Borneo«, sagte Sergio nur.

Er war fest entschlossen, beim geringsten Zögern auf Trailokanats Seite das Büro zu verlassen und das Weite zu suchen. Es musste einen besseren Weg geben, nach Borneo zu kommen, als durch die Vermittlung des Dicken.

Trailokanat aber richtete sich plötzlich schnurgerade auf, so dass er eine halbe Handbreit zu wachsen schien. Der selbstgefällige Ausdruck seines schwammigen Gesichts war verschwunden.

»Hier ist nicht der Platz, um über Borneo zu sprechen, mein Bruder«, stieß er hastig hervor. »Ihr beide kommt am besten mit mir!«

Er führte sie durch die Tür, durch die er gekommen war, in einen kurzen Gang, in den von rechts und links weitere Türen mündeten. Das Ende des Ganges schien dagegen aus einem Stück solider Mauer zu bestehen. Erst als Trailokanat vor das Gangende hintrat und ein paar unverständliche Worte murmelte, stellte sich heraus, dass die Wand in Wirklichkeit eine verkappte Tür war. Der Gang setzte sich dahinter fort und mündete nach etwa acht Metern in einem quadratischen, behaglich ausgestatteten, fensterlosen Raum, der von altmodischen siamesischen Lampen mit einem angenehmen Licht erfüllt wurde.

Trailokanat ließ seine Besucher auf einer bequemen, weich gepolsterten Bank Platz nehmen. Er offerierte Drinks, die Sylvia und Sergio jedoch vorerst ablehnten, weil sie noch immer nicht wussten, was sie von dem Thailänder zu halten hatten, und weil es so kinderleicht war, dem Getränk irgendeine Droge beizumengen. Trailokanat lächelte nur, als er die Ablehnung zur Kenntnis nahm. Das durfte nicht verwundern. Unter Aphilikern galt ein Lächeln zwar als ein Ausdruck des »Mangels an rationaler Selbstständigkeit«; aber man hatte auch regionale Gewohnheiten zu berücksichtigen. Unter Asiaten war das Lächeln daher noch immer ein zulässiger Gesichtsausdruck.

»Ihr wollt also nach Borneo, Bruder und Schwester?«, eröffnete Trailokanat mit seiner unnatürlich hohen Stimme die Unterhaltung. »Wie kommt ihr auf den Gedanken, dass ich euch dabei helfen könnte?«

»Man hat uns in Teheran deinen Namen genannt, Bruder«, antwortete Sergio.

»Aha!«, machte der Thailänder und nickte gewichtig. »Dort gibt es eine starke Kolonie der Immunen.« Plötzlich sah er auf und musterte Sergio scharf. »Ihr seid auch Immune?«

»Nein«, antwortete Sergio, ohne mit der Wimper zu zucken.

Trailokanat neigte den Kopf.

»Ich begreife, dass du dich nicht preisgeben darfst, Bruder. Aber wie kannst du mir beweisen, dass du nicht ein Agent der Staatspolizei bist?«

»Die Staatspolizei sucht nach uns«, gestand Sergio. »Wenn du Beziehungen hast, wirst du in Erfahrung bringen können, dass wir gestern aus dem Hauptquartier ausgebrochen sind.«

Abermals nickte Trailokanat.

»Ich glaube dir, Bruder. Ich will euch beiden daher helfen, nach Borneo zu kommen. Unter einer Bedingung!«

»Welche ist das?«

»Ihr rezitiert ›das Buch‹ und erlaubt mir, den Text aufzuzeichnen.«

Sergio sprang auf.

»Woher weißt du ...?!«

Trailokanat machte eine beschwichtigende Geste.

»Errege dich nicht, Bruder!«, riet er milde. »Denn durch Erregung beweist du, dass du ein Immuner bist. Im übrigen lass dich informieren, dass ich gute Beziehungen nach Teheran besitze. Ihr beide seid mir avisiert worden, und ich weiß, dass ihr ›das Buch‹ in euch tragt.«

Sergio wandte sich mit einem fragenden Blick an Sylvia.

»Ihr braucht euch nicht sofort zu entscheiden«, bot Trailokanat an. »Ihr seid meine Gäste. Dieser Raum steht euch zur Verfügung. Ich gehe. In einer Stunde kehre ich zurück. Dann lasst ihr mich wissen, wie ihr euch entschlossen habt.«

»Und wenn wir auf dein Angebot nicht eingehen?«, fragte Sylvia hastig.

Trailokanat zuckte mit den Schultern.

»Dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.«

*

Nach fünfundvierzig Minuten angestrengten Überlegens und Debattierens waren Sylvia und Sergio sich noch immer nicht darüber einig, ob man Trailokanat trauen dürfe oder nicht. Sergio war der Ansicht, er sei ein habgieriger Geschäftemacher, der sie der Staatspolizei überantworten werde, sobald er den Text »des Buches« aus ihnen herausgeholt hatte. Sylvia dagegen meinte, er sei ein verkappter Immuner. »Das Buch« war, wenn seine Echtheit sich garantieren ließ, trotz der Maßnahmen der Regierung noch immer Tausende von Solar wert. Aber selbst abgesehen von dem Wert, den die Aufzeichnung darstellte, musste Trailokanat nach Sylvias Ansicht als Immuner generell an der Verbreitung »des Buches« interessiert sein.