Pferdeheimat im Hochland - Schottischer Sommer - Ursula Isbel - E-Book

Pferdeheimat im Hochland - Schottischer Sommer E-Book

Ursula Isbel

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Beschreibung

Die 16-jährige Laura beginnt ihr Jahr auf der Farm ihres Onkels im schottischen Hochland. Doch bei "The Laurels" handelt es sich um keine gewöhnliche Farm, sondern um einen Gnadenhof für misshandelte Pferde. Laura gibt ihr bestes bei der Pflege der Tiere, doch kann sie das Vertrauen der Vierbeiner in die Menschen wiederherstellen? Kann sie den Tieren mit ihren körperlichen, aber vor allem seelischen Schmerzen helfen?Die 16-jährige Laura konnte ihre Eltern endlich davon überzeugen ein Jahr auf dem Gnadenhof ihres Onkels zu verbringen. Sie liebt die Arbeit dort mit den Tieren und als ihr Onkel Laura in Aussicht stellt den Hof an sie zu vererben, ist die junge Pferdenärrin im absoluten Glück. Lauras Eltern stimmen zu, dass sie auf dem Hof bleiben darf und die Teenagerin beginnt eine Freundschaft mit Danny vom Nachbarhof. Doch die Familien leben seit langer Zeit im Streit. Kann Lauras und Dannys Freundschaft dagegen bestehen?

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Ursula Isbel

Pferdeheimat im Hochland - Schottischer Sommer

 

Saga

Pferdeheimat im Hochland - Schottischer Sommer

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1990, 2021 Ursula Isbel und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726877342

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

1

Mein Bruder sang »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus« – sehr laut, krächzend und ziemlich falsch; er war wegen seiner Sangesfreude in der ganzen Familie gefürchtet. Doch draußen war wirklich Mai. Wenn man aufs Land fuhr, konnte man den Kuckuck rufen hören und im Garten unseres Reihenhauses blühte der Flieder.

»Hilft mir mal wieder keiner beim Abwasch? «, rief Mutter in Tims Gesang hinein und mein Vater sagte automatisch hinter der Zeitung hervor: »Ihr solltet eurer Mutter wirklich mehr helfen.« Da hörte Tim zu krächzen auf und murmelte etwas von Schularbeiten und Prüfungen, und unsere Mutter streckte den Kopf aus der Durchreiche und beklagte sich darüber, dass in diesem Haus nie einer freiwillig auf die Idee käme, ihr eine Arbeit abzunehmen, und dass sie schließlich nicht unsere Sklavin sei.

Tim verschwand, wie immer, wenn es ums Abwaschen, Geschirrtrocknen oder Staubsaugen ging. Ich sah ihm nach und hätte ihm gern meine Meinung gesagt, doch aus Erfahrung wusste ich, dass es nicht viel brachte. Der einzige Erfolg war, dass Mutter dann durchdrehte, weil es unweigerlich zum Streit zwischen Tim und mir kam. Und letzten Endes zog ich dabei doch den Kürzeren – vermutlich, weil Hausarbeit in den Augen meiner Eltern noch immer mehr Mädchen- als Jungensache war, auch wenn sie sich für absolut modern hielten.

Ich ging also in die Küche, während aus dem Nachbargarten Grilldüfte herüberzogen und den Geruch des Flieders verdrängten. Meine Mutter kratzte Töpfe aus und ich versenkte die Hände im Spülwasser, das zu heiß war.

»Onkel Scott hat geschrieben«, sagte Mutter. »Ich fürchte, er wird immer mehr zum Einsiedler, seit Anne nicht mehr lebt.«

Onkel Scott war mit der Schwester meiner Mutter verheiratet gewesen. »Woher weißt du das?«, fragte ich.

»Seine Briefe werden so wunderlich. Er ist wohl sehr eins sam, der Ärmste. Wenn die beiden Kinder gehabt hätten . . . So lebt er ganz allein in diesem großen Haus und ich möchte nicht wissen, was das für eine Junggesellenwirtschaft ist! Überall Hundehaare und Pfeifenasche und alte Zeitungen und in der Küche Berge von schmutzigem Geschirr . . .«

»Aber er hat doch eine Haushälterin«, sagte ich. »Und wieso meinst du, dass er einsam ist? Er hat seine Pferde.«

»Pferde sind keine Menschen«, erklärte meine Mutter. »Und Mrs. Tweedie ist inzwischen bestimmt schon über siebzig. Ich glaube, sie hat Gicht oder Rheuma.«

Mrs. Tweedies Leiden interessierten mich nicht sonderlich. »Aber hat er nicht immer zwei Pferdepfleger gehabt?«

Meine Mutter spritzte mehr Spülmittel ins Wasser. Es schäumte, was ich nicht ausstehen kann. »Ach, damit scheint’s auch nicht mehr recht zu klappen. Scott beklagt sich darüber, dass er nicht die richtigen Leute kriegt. Vielleicht ist es auch so, dass er selbst einfach zu schwierig oder anspruchsvoll geworden ist. Jedenfalls hat er im Augenblick nur einen jungen Mann aus der Nachbarschaft und bei dreißig Pferden reicht das natürlich nicht vorn und hinten.«

»Verstehe ich nicht«, sagte ich und kratzte einen Essensrest aus einer Schüssel. »Hier sind Stalljobs sehr gesucht. Ich wollte, sie hätten in unserem Reitstall eine Stelle frei, dann könnte ich dort arbeiten – wenigstens für ein Jahr oder so.«

»Du sollst was Richtiges lernen, Laurie«, erwiderte meine Mutter erwartungsgemäß.

»Was ist an der Arbeit mit Pferden nicht richtig, kannst du mir das verraten?« Es war immer das gleiche alte Problem – meine Eltern und ich hatten bezüglich Arbeit, Schulausbildung und Beruf total verschiedene Ansichten.

»Vielleicht kriege ich ja die Lehrstelle bei Sokrates.« Das war ein Goldschmied in unserer Nähe, der in Wirklichkeit Huber hieß, sich aber einen griechischen Namen zugelegt hatte. »Nur meint er, dass es frühestens in einem Jahr klappen wird, wenn sein derzeitiger Azubi ausgelernt hat.«

»Vielleicht!«, sagte meine Mutter. »Und selbst wenn – was machst du inzwischen? Nach der mittleren Reife, meine ich? Du willst doch nicht etwa ein Dreivierteljahr lang zu Hause herumsitzen?«

Wir hatten das alles schon tausendmal durchgekaut. »Ich könnte inzwischen ein Berufsfindungsjahr machen«, sagte ich ohne Begeisterung.

Im Wohnzimmer hatte mein Vater den Fernseher eingeschaltet. Wir hörten die Stimme eines Sportreporters herüberdröhnen, aufdringlich wie ein Jahrmarktschreier.

»Nicht so laut!«, rief meine Mutter, doch Vater hörte sie nicht. Sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und ging kopfschüttelnd zu ihm, während ich Berge von Tellern, Schüsseln, Tassen und Besteck spülte, die kein Ende zu nehmen schienen.

Dabei dachte ich an Onkel Scott. Ich hatte ihn vor acht Jahren kennen gelernt, als er mit Tante Anne nach Deutschland reiste. Damals war ich achteinhalb gewesen und er etwa fünfundvierzig. Natürlich war er mir – wie alle Leute über dreißig – steinalt vorgekommen. Ich erinnerte mich nur noch daran, dass er mich »Lassie« genannte hatte, wie diesen Hund im Fernsehen, und dass er Pfeife rauchte.

Endlich war das Geschirr gespült; zum Abtrocknen hatte ich keine Lust mehr. Zum Gebrüll von »Tor!«, »gelbe Karte« und »Foul« stieg ich die Treppe hinauf in mein Zimmer. Als ich dann am Fenster stand und zu unseren Nachbarn hinübersah, die als echte Grillfanatiker bei jedem Sonnenstrahl Würstchen auf der Terrasse brutzelten, ertappte ich mich dabei, dass ich noch immer an Onkel Scott dachte.

Tante Anne hatte uns Fotos von ihrem Haus geschickt; ein seltsames graues Gebäude mit mindestens fünf Kaminen, Vortreppe, Efeu zwischen schmalen Fenstern und einem Meer von Bäumen und Büschen drum herum, die das Haus irgendwie düster erscheinen ließen. Dazu gehörte auch viel Land mit Koppeln und Weiden, deren Grenze die Kette der Hügel und Berge war. Meine Tante hatte nicht ohne Stolz davon erzählt und ich hatte es nicht vergessen, denn als Kind kam es mir vor, als würde sie dort in einem Schloss wohnen.

Während ich darüber nachdachte, schaute ich auf unser winziges Gärtchen hinunter, ein handtuchgroßer Streifen Grün zwischen zwanzig ebensolchen Gartenstreifen, die alle gleich aussahen. Von der Hauptstraße drang Verkehrslärm herüber und drei Häuser weiter hatte jemand das Radio zu laut aufgedreht.

Onkel Scott aber saß allein in seinem großen, düsteren Haus, in dem ab und zu eine gichtkranke Frau namens Tweedie herumschlurfte und versuchte Ordnung zu schaffen, während draußen die Pferde auf grünen Koppeln weideten, versorgt von meinem Onkel und einem jungen Typen, den ich mir sommersprossig und rothaarig vorstellte. In meiner Phantasie spielte dazu jemand auf dem Dudelsack.

2

Und wie hast du dir das vorgestellt?«, fragte mein Vater.

Ich wusste, jetzt musste ich die Sache richtig anpacken, wenn ich nicht gleich von vornherein alles verderben wollte. Ich musste einen vernünftigen, sachlichen Eindruck machen. Es wäre unklug gewesen, ihm und Mutter von meinem Traum zu erzählen.

Also sagte ich sehr vernünftig und sachlich: »Ich könnte ja mal an Onkel Scott schreiben und ihn fragen. Vielleicht freut er sich, wenn ihm jemand mit den Pferden und im Haushalt hilft.«

»Im Haushalt?«, wiederholte meine Mutter mit vielsagendem Unterton. »Du und Haushalt? Das erstaunt mich jetzt aber, Laurie. Ich versuche seit Jahren, dich fürs Kochen zu interessieren, doch ohne den geringsten Erfolg.«

Ich zog es vor, das zu überhören. »Ich könnte sicher eine Menge dabei lernen«, sagte ich tugendhaft. »Perfekt Englisch zum Beispiel. Pferdehaltung. Ein Jahr Auslandsaufenthalt ist doch schließlich keine üble Sache, oder?«

Mein Vater war nachdenklich geworden. Ich merkte, dass er die Idee nicht schlecht fand, aber überlegte, wo der Haken an der Sache sein mochte. Schwieriger war es schon mit meiner Mutter.

»Dein Onkel wird erwarten, dass du ihm den Haushalt führst«, sagte sie. »Oder wenigstens, dass du die allernötigsten Arbeiten im Haus erledigst und für ihn kochst. Und das kannst du nicht.«

»Kochen kann man lernen«, erwiderte ich. »Ich nehme ein Kochbuch mit. Das ist doch ganz einfach.«

»Ja. Kinderleicht«, sagte sie ironisch.

Diesmal jedoch hatte ich Vater auf meiner Seite.

»Warum sollte sie es nicht lernen können?«, meinte er. »Wenn man ins Wasser geworfen wird, schwimmt man. Vielleicht würde Laurie dadurch selbstständiger. Das allein wäre die Sache schon wert. Und gute Englischkenntnisse sind heutzutage auch nicht zu verachten. Ich wollte, ich hätte als junger Mann die Chance gehabt, für ein Jahr ins Ausland zu gehen. Aber davon konnte man damals nur träumen. Mein Vater war im Krieg gefallen, ich musste rasch Geld verdienen. Und dann haben wir früh geheiratet – zu früh vielleicht . . .«

Mutter hob den Kopf. »Willst du mir daraus einen Vorwurf machen? Du warst es doch, der unbedingt eine Familie haben wollte! Und du weißt, dass ich der Kinder wegen meinen Beruf aufgegeben habe, in dem ich bestimmt nie wieder unterkomme. Stattdessen sitze ich jetzt halbtags an der Kasse im Supermarkt. Glaubst du vielleicht, mir macht das Spaß? Ich könnte längst Einkäuferin in einem großen Modehaus sein . . .«

Ich hörte nicht mehr hin. Diese Diskussionen kannte ich schon, wusste, welchen Verlauf sie nahmen und wie sie endeten. Ich dachte an meinen Traum von vergangener Nacht, den ich verschwiegen hatte, weil er nicht »vernünftig« war – das sind Träume ja selten –, und ohne den dieses Gespräch nie stattgefunden hätte.

Im Traum war ich durch einen verwilderten Garten gegangen, in dem Rhododendronbüsche, groß wie junge Bäume, rot und golden blühten. Dämmerlicht lag über den Pfaden und im dichten Blattwerk sangen die Vögel. Sonst war es still. Ich konnte die Tropfen von den Blütenblättern ins Gras fallen hören und plötzlich, sehr nahe, das sanfte Wiehern eines Pferdes und leichtes Hufgetrappel auf weichem Grund. Dann teilte sich das mannshohe Buschwerk wie ein Vorhang und ich sah eine Koppel im Mondlicht, auf der sich eine Gruppe von Pferden frei und wild bewegte. Ihr Fell glänzte wie silberne Birkenstämme, wie Ebenholz und reife, rote Kastanien, und der Wind spielte in ihren Mähnen und Schweifen. Wie verzaubert betrachtete ich sie, gefangen von der Schönheit dieses Bildes. Und während ich da stand, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Ich sah mich um und bemerkte ein Haus zwischen den Bäumen, breit und düster unter dem dunklen Himmel. Ein Mann lehnte an der Säule der Vortreppe und winkte mir zu. Und obwohl seine Gestalt, sein Gesicht verschwommen waren wie auf einer längst verblassten Fotografie, wusste ich doch, dass es Onkel Scott war, der dort auf mich wartete.

Mitten in der Nacht war ich aufgewacht. Plötzlich war alles ganz natürlich und einfach, als hätte es mir »der Herr im Schlaf gegeben«, wie es in einem Sprichwort heißt. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Sicher gab es Hindernisse, die überwunden werden mussten, aber die gibt es ja immer.

»Wir lassen Scott entscheiden«, hörte ich meinen Vater sagen. »Wenn er sie nimmt, soll’s mir recht sein.«

»Ich hab keine Lust, mich zu blamieren«, erwiderte meine Mutter mit einem Seitenblick auf mich, der nicht besonders freundlich war. »Ein paar Tage, nachdem sie ihm die erste Mahlzeit vorgesetzt hat, wird ein Brief in unserem Postkasten liegen, in dem er sich beklagt, dass wir ihm ein Kuckucksei ins Nest gelegt haben.«

Ich bemühte mich, liebenswürdig und sachlich zu bleiben. »Ich schreibe ihm natürlich«, sagte ich. »Ich schreibe ehrlich, dass ich nicht kochen kann – noch nicht. Dass ich aber dafür etwas von Pferden verstehe. Vielleicht ist ihm das sogar wichtiger. So was soll’s ja geben.«

»So viel einer eben versteht, der seit zwei Jahren reitet«, schränkte meine Mutter ein.

»Ich helfe regelmäßig bei Habermanns im Stall«, erinnerte ich sie, noch immer höflich, obwohl es mir langsam schwer fiel.

Mein Vater sagte: »Gib Laurie eine Chance, ja? Erziehung bedeutet, Kinder zu unterstützen, nicht, sie zu entmutigen.«

Er sagte manchmal solche Sachen, die einen total in Erstaunen versetzen konnten. Ich warf ihm einen dankbaren Blick zu und Mutter erwiderte: »Ich versuche doch nur, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen, um ihr eine Bauchlandung zu ersparen.«

»Bauchlandungen gehören zu den Erfahrungen, die man im Leben machen muss. Die kann einem keiner ersparen.«

Ich war der Meinung, dass Bauchlandungen zu den Erfahrungen gehörten, die andere Leute machen mussten, aber ich nicht; doch das verschwieg ich.

»Ich schreibe noch heute an Onkel Scott«, sagte ich und der Name hatte plötzlich einen neuen, besonderen Klang.

»Und falls er einverstanden ist – wie willst du die Fahrt nach Schottland finanzieren?«, fragte Mutter. »Du weißt, dass wir das Haus abbezahlen. Seit vier Jahren verzichten wir auf unseren Urlaub. Wir können uns nicht noch mehr einschränken.«

Auch darüber hatte ich schon nachgedacht. »Es gibt billige Städtereisen mit dem Bus. Eine Schulfreundin ist zu Ostern für ungefähr hundertfünfzig Mark nach London gefahren. Ich jobbe einfach irgendwo ein paar Tage. Irgendwie kriege ich das Geld schon zusammen.«

»Irgendwo, irgendwie . . .« Ich sah den Zweifel im Gesicht meiner Mutter, doch für mich selbst war alles wunderbar klar und einfach. Ich wusste, ich konnte alles schaffen, jede Schwierigkeit überwinden, wenn Onkel Scott nur Ja sagte – und warum sollte er das nicht?

Ich hörte, wie meine Eltern sich noch über die Sache unterhielten, während ich mich mit Briefpapier und meinem Englischlexikon auf die Terrasse setzte. Es roch nach Abgasen und Erbsensuppe. Irgendwo sang ein Vogel, doch der ferne Verkehrslärm war stärker als seine Stimme; ein ständiges Brausen und Dröhnen und Tosen, in dem das Vogelgezwitscher gleichsam ertrank.

Ich versuchte mir die schottischen Highlands vorzustellen, die Stille, den Duft des Heidekrauts, die Schafe und Pferde auf den Hügeln; doch ich konnte es nicht. Ich war in der Großstadt aufgewachsen, und selbst im Urlaub, auf den Campingplätzen in Italien und Jugoslawien, war es immer laut und eng zugegangen. Doch im vergangenen Herbst hatte ich im Fernsehen einen Reisebericht über Schottland gesehen und wusste, dass es dort Landstriche gibt, die wild und einsam sind: Hügel und Täler von sattem Grün und dazwischen schimmernde Seen, die Ufer von Rhododendron, Stechpalmen und Kiefernwäldern gesäumt. Sicher gab es Leute, die diese Gegenden fern von Supermärkten, Diskos und Modeboutiquen gottverlassen genannt hätten, das einfache bäuerliche Leben primitiv und hinterwäldlerisch; doch mir war es wie der Rest eines verlorenen Paradieses vorgekommen.

Ich hatte nie selbst an Onkel Scott geschrieben; jedenfalls nicht mehr als meinen Namen auf Weihnachts- und Geburtstagskarten. Das machte die Sache nicht gerade leichter. Dazu kam, dass der Brief ja in Englisch abgefasst sein musste. Mr. Marks, unser Englischlehrer, hätte sich bestimmt die Hände gerieben, wenn er mich jetzt hätte sehen können, bleistiftkauend und im Oxford Dictionary blätternd.

Während ich noch über dem Entwurf brütete und schwitzte, kam meine Mutter auf die Terrasse und sagte: »Schreib ihm aber klar und deutlich, dass es nur für ein Jahr ist, damit er keinen allzu großen Schrecken bekommt.«

»Hab ich schon«, erwiderte ich. »Und dass ich noch nicht kochen kann, aber Ahnung von Pferden habe, geübt im Putzen und Geschirrspülen bin und verträglich und genügsam . . .«

»Verträglich und genügsam?«, wiederholte sie, konnte sich aber ein Lächeln nicht verbeißen.

Mein Bruder tauchte in der Tür auf und erklärte, es wäre »ätzend unfair«, dass ich nach Schottland dürfe und er nicht.

»Du kannst es ja auch versuchen, wenn du mit der Schule fertig bist«, sagte ich. »Daran hindert dich keiner.«

»Du glaubst doch nicht, dass Onkel Scott noch jemals mit einem Mitglied unserer Familie etwas zu tun haben will, nachdem du über ihn hereingebrochen bist?«, fragte Tim.

»Verschwinde!«, rief ich. »Ich will jetzt den Brief zu Ende schreiben. Du störst hier.«

Er kam näher und sah mir über die Schulter. »Dear Uncle Scott«, las er laut. »I’m sure you will be surprised by this letter, especially as I never wrote to you before . . .«

Ich versetzte ihm einen kräftigen Stoß mit dem Ellbogen.

»Deine englische Aussprache stinkt zum Himmel«, sagte ich. »Heb dich hinweg! Auf Wiedersehen!«

Er lachte. Da er gerade im Stimmbruch war, klang es nervtötend, ungefähr wie eine Blechschaufel, mit der man auf kiesbestreutem Pflaster herumscharrt. Wie immer bekam ich davon eine Gänsehaut. »Love and kisses from your lousy little Laurie!«, flötete er und lachte kreischend.

»Mann, bin ich froh, wenn ich dein Gesicht ein Jahr lang nicht mehr sehen muss!«, sagte ich aus tiefstem Herzen.

Ich brauchte mehr als zwei Stunden für den Brief. Trotzdem war er bei weitem nicht so, wie ich ihn haben wollte. Ich beschloss jedoch, dass es so gehen musste, und hoffte, dass Onkel Scott nicht einer war, der sich an grammatikalischen Fehlern festbiss.

Als ich den Umschlag auf der Schreibmaschine meines Vaters tippte, fiel mir zum ersten Mal auf, dass Onkel Scotts Anwesen The Laurels hieß; und der Gleichklang zwischen meinem Vornamen, Laura, und dem Gutshof im schottischen Hochland erschien mir wie ein gutes Omen.

3

In der folgenden Woche hatten wir Pfingstferien. Ich verbrachte sie hauptsächlich damit, auf den Briefträger zu warten, obwohl meine Mutter behauptete, die Post aus den Highlands sei manchmal sechs bis sieben Tage unterwegs. Außerdem, so erklärte sie, wäre ihr Schwager sowieso ein ziemlich lausiger Briefschreiber (das Wort »lausig« benutzte sie natürlich nicht), bei dem es Wochen, manchmal sogar Monate dauern könnte, bis er auf einen Brief Antwort gab.

Ich weigerte mich, zu glauben, dass Onkel Scott so grausam sein konnte, mich wochenlang schmoren zu lassen. Er musste doch begreifen, wie wichtig die Sache für mich war, falls er sich nicht inzwischen zu einem total verknöcherten Egoisten entwickelt hatte.

»Ruf ihn doch einfach an«, riet mir Tim. »Das hält man ja im Kopf nicht aus, wie du herumhängst und den Briefkasten anschmachtest.«

Doch irgendwie war mir unbehaglich zu Mute bei dem Gedanken, den Hörer abzunehmen und plötzlich Onkel Scotts Stimme zu hören. Englisch am Telefon, das war schlimmer als eine mündliche Prüfung! Und Mutter meinte, es wäre nicht gut, Onkel Scott »die Pistole auf die Brust zu setzen«.

»Du musst ihm Zeit lassen, sich alles zu überlegen«, sagte sie. »Er soll sich nicht überrumpelt fühlen.«

Ich ging in die Stadtbücherei und lieh Bücher über Schottland aus. Ein Bildband von den Highlands war dabei mit Aufnahmen von heidekrautbewachsenen Gebirgsketten unter Wolkenschwaden. Ich las von Bonny Prince Charlys Flucht, von der unglücklichen Mary Stuart und den Engländern, die zwischen 1750 und 1850 bei den sogenannten Highland Clearances unzählige Bauern von ihren Höfen in den fruchtbaren Tälern vertrieben hatten, weil das Land für die Schafzucht gebraucht wurde. Um zu verhindern, dass die Farmer zurückkehrten, brannte man ihre Häuser nieder und verwüstete ihre Felder. Wilde Gemetzel hatten in den malerischen Tälern stattgefunden, Clans waren verraten und ausgelöscht worden und mit ihnen ihre Gefolgsleute.

»Schottland hat eine wilde und blutige Geschichte«, sagte mein Vater, der mir abends manchmal über die Schulter sah, wenn ich im Sessel saß und las. »Ein kleines Land mit einem viel zu mächtigen und eroberungslustigen Nachbarn, das vergeblich um seine Freiheit gekämpft hat.«

»Laurie lacht sich bestimmt einen von diesen rothaarigen Dudelsackbläsern an«, witzelte mein Bruder. »So einen Typen mit Schottenröckchen und gestrickten Wadenwärmern. Wem darf ich denn da bei der Hochzeit die Schleppe tragen?« Und er lachte heiser und scheppernd.

»Wer sagt, dass du zur Hochzeit eingeladen wirst?«, fragte ich.

Das Warten wurde von Tag zu Tag nervenaufreibender. Zwei Wochen waren nun verstrichen, seit ich den Brief an Onkel Scott in den Postkasten geworfen hatte.

»Wahrscheinlich will er nicht, dass ich komme, und es ist ihm bloß peinlich, mir abzusagen«, vertraute ich meiner Freundin Annika düster an.

Sie schüttelte den Kopf. »Absagen kriegt man meistens postwendend«, behauptete sie lebensklug. »Wer weiß, vielleicht hat’s in den Highlands einen wahnsinnigen Sturm gegeben, das Postauto ist umgekippt und der Postsack ist mitsamt deinem Brief in eine Schlucht gefallen oder von einem Wasserfall weggespült worden oder in einem von diesen Lochs versunken . . .« Annika hatte eine lebhafte Phantasie.

Ich musste lachen. »Ja und dann hat Nessie den Postsack verschluckt. Oder feindliche Hochlandindianer haben die Postkutsche überfallen, wie?«

Sie war schon bei einer anderen Möglichkeit. »Oder eine Schneelawine ist von den Bergen abgegangen und hat die Zufahrtsstraßen blockiert . . .«

»Schneelawinen? Im Juni?«, sagte ich.

»Also hör mal, in Schottland ist das doch jederzeit drin!«, erwiderte sie entrüstet, so, als wäre sie dort geboren und aufgewachsen. Sie war jetzt fest davon überzeugt, dass mein Brief auf irgendeine abenteuerliche Weise verschwunden oder einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen war und Onkel Scott nie erreicht hatte.

»Du musst noch mal schreiben!«, sagte sie.

Doch das wollte ich nicht. Ich vermutete, dass Onkel Scott ganz einfach Bedenkzeit brauchte; vielleicht war er auch irgendwo in Schottland unterwegs, um Pferde zu kaufen. Ich vertröstete mich von einem Tag auf den nächsten. Immer, wenn ich von der Schule nach Hause kam und wieder nichts als Reklame im Briefkasten vorfand, dachte ich: Morgen kommt der Brief. Morgen bestimmt.

Doch was schließlich kam, war kein Brief, sondern ein Anruf; und auch den verpasste ich, denn ich war an diesem Abend wie fast jeden Mittwoch mit Annika und ihrem Bruder im Hallenbad.

»Er hat angerufen!«, brüllte Tim aus dem Wohnzimmer, sobald ich die Haustür aufgeschlossen hatte.

»Wer?«, schrie ich.

»Mann, Onkel Scott natürlich!«

Ich ließ meine Umhängetasche fallen und stürmte ins Wohnzimmer. Da saßen sie seelenruhig vor dem Fernseher und mampften Erdnüsse wie die Streifenhörnchen.

»Was hat er gesagt?« Meine Stimme überschlug sich vor Aufregung.

»Er konnte vor Glück kaum sprechen«, sagte mein Bruder mit vollem Mund. »Er hat vor Rührung geweint. . .«

Ich schwor mir, dass ich mich an ihm rächen würde, aber jetzt nicht. Aus dem Fernseher klangen Schüsse. »Halt den Schnabel«, rief mein Vater. »Er hat gesagt, er kann im Augenblick nicht schreiben . . .«

»Ein Pferd hat ihn in die Hand gebissen«, warf meine Mutter ein.

»Aber dass er nichts dagegen hat, wenn du kommst«, vervollständigte mein Vater.

Nach übermäßiger Begeisterung klang das nicht gerade, aber das störte mich im Augenblick nicht weiter. Hauptsache, er hatte Ja gesagt! Ich fiel meinem Vater um den Hals und Mutter erklärte: »Er schreibt dir, sobald er kann.« Und ich stolperte über Tims ausgestreckte Beine, fiel fast in den Fernsehschirm und umarmte auch meine Mutter.

»Alles unter der Voraussetzung«, sagte mein Bruder kauend, »dass du vorher einen Kochkurs machst.«

Ich starrte ihn an. »Blödsinn! Das hat er nicht gesagt! «

Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, hat er nicht. Obwohl die Idee gar nicht so übel ist.«

Ich hörte nicht mehr richtig hin, denn ich war schon auf dem Weg zum Telefon, um Annika anzurufen.

Es war wunderbar, mit jemandem zu reden, der sich so richtig mit mir freute. Wir telefonierten über eine Stunde miteinander. »Ich besuche dich«, versprach Annika. »Sobald ich meinen ersten Urlaub kriege. Im Frühling müsste es klappen.«

Annika wollte nach der mittleren Reife ein einjähriges Praktikum bei einem Fotografen machen und anschließend auf die Staatslehranstalt für Fotografie gehen. »Hast du dich schon erkundigt, was die Fahrt nach Schottland kostet?«, fragte sie.