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Beschreibung

Philosophie in ihrer historischen Tiefe und systematischen Breite Das Handbuch bemüht sich nicht nur um eine Begriffsbestimmung, sondern insgesamt um ein Denken von der Praxis her. Es beansprucht, für unser Verständnis der gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten nicht theoretische Begriffe einfach vorauszusetzen, sondern von den Praktiken und den praktischen Vollzügen selbst erst zu erschließen. Es schlägt den Bogen von den griechischen Anfängen über die Philosophie Hegels und materialistische Positionen bis zu sprachphilosophischen, pragmatischen, anthropologischen und phänomenologischen Praxisauffassungen des 20. Jahrhunderts. Das Handbuch setzt eine vertiefte Reflexion jener Grundbegriffe und Traditionen der Philosophien in Gang, die heute in den Praxistheorien der Kultur- und Sozialwissenschaften Anwendung finden.

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Philosophien der Praxis

Ein Handbuch

Thomas Bedorf / Selin Gerlek

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG

Inhaltsverzeichnis

EinleitungDie Praxis aus wissenschaftlicher Perspektive in Antike und Mittelalter.  Methodische und inhaltliche Grundlagen bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin1. Vorbemerkungen2. Die Praxis als Handlungsbeschreibung bei Platon3. Die Praxis und ihre Realisierung durch Klugheit und Tugend in Aristoteles’ Handlungstheorie3.1. Die Entfaltung des Begriffs Praxis im Unterschied zum Hervorbringen (Poiēsis)3.2. Das Konzept einer praktischen Vernunft3.3. Praxis als Zusammenwirken von praktischer Vernunft und Tugend3.4. Eine vorläufige Würdigung4. Prinzipien der Praxis: Universale Normen und partikulare Selbstbestimmung in der Praxis nach Thomas von Aquin4.1. Universale ethische Sätze und Gewissen: Voraussetzungen der Rezeption der aristotelischen Ethik in Antike und Mittelalter4.2. Thomas’ Rezeption der aristotelischen Unterscheidung von Praxis und Poiēsis4.3. Rationale Selbstbestimmung: Die Fundierung der praktischen Vernunft im „Naturgesetz“ (lex naturalis)4.4. Das Naturrecht und die Begründung von Moralität4.5. Die Funktion des Naturgesetzes in der selbstbestimmten Lebensführung5. Schlussfolgerungen: Die bleibende Bedeutung der aristotelisch-thomasischen Ethik als PraxistheorieG.W.F. Hegel. Geistphilosophie als Nachdenken über die Situiertheit vernünftiger Praxis1. Einleitung2. Praxisphilosophie als Geistphilosophie?2.1. „Geist“: Hegels methodische Kunstfigur2.2. Zwei Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein: „Philosophie der Praktiken“ oder „Praxisphilosophie“3. Praxis als „Aktivität des Geistes“3.1. Konstitutionstheorie oder Formreflexion: Wie lässt sich die „Wirklichkeit der Vernunft“ verstehen?3.2. Wie fängt Praxisphilosophie „unbefangen an“?3.3. Inwiefern fängt Praxisphilosophie beim Denken an?4. Die Elemente „sittlicher Wirklichkeit“4.1. Der Anstoß: „Praktische Vernunft“4.2. Die Gewohnheit des Guten: Die geistige Durchbildung des Natürlichen4.3. Tätige Selbstständigkeit: Die Öffentlichkeit des Handelns4.4. Anerkanntsein: Die soziale Form des praktischen Selbstbezugs5. Sittlichkeit: Die Idee der PraxisDie Einheit von Theorie und Praxis. Praxiskonzepte vom Linkshegelianismus bis zum historischen und dialektischen Materialismus1. Einführung2. Praxis und Linkshegelianismus2.1. Linkshegelianer als Gruppe2.2. Die Genese der Linkshegelianer3. Praxis bei Karl Marx3.1. Praxis im Frühwerk3.2. Praxiskonzeptionen ab 1845/46 und Engels Prägung4.1. Zum Problem der Einheit von Theorie und Praxis, vom Gothaer zum Erfurter Grundsatzprogramm. Revisionismusstreit und Austromarxismus4.2. Die Orthodoxie bei Lenin und Stalin und in ‚offiziösen‘ Quellen5. Theorie und Praxis bei Antonio Gramsci und der jugoslawischen Praxisphilosophie6. Praxis und Auflehnung gegen die VerhältnissePragmatismus. Erfahrung als experimentelle Praxis1. Annäherungen – Praxis im Pragmatismus2. Erschließung der Erfahrung – Charles S. Peirce und William James3. Experimenteller Empirismus – John Dewey4. Neopragmatismus und neue PragmatistInnen5. Neue Einsätze – Bernstein, Rorty, Putnam6. Sprachphilosophische Anschlüsse7. SchlussbemerkungenDie offene Praxis der Sprache. Wittgensteins und Austins pragmatische Wende der Sprachphilosophie1. Historische und systematische Einordnung1.1. Radikalisierung der Sprachphilosophie1.2. Praxis ist kein theoretischer Gegenstand1.3. Inhaltsübersicht2. Von der Tiefenstruktur der Sprache zu ihrer offenen Praxis2.1. Das klassische Programm der Sprachanalyse2.2. Offene Praxis als Antwort auf das Problem der Selbstkritik2.3. Beispiele und Appelle als Methode3. Wittgenstein3.1. Auf der Suche nach Notwendigkeit3.2. Zweifel und praktisch funktionierende Kontexte3.3. Holismus der Bedeutung3.4. Zeigen und Sprachspiele3.5. Kritik des Subjekts3.6. Wie lehrt uns die Praxis das Verstehen?3.7. Zusammenfassung4. Austin4.1. Austins ambivalenter Begriff der Praxis4.2. Normative Praxis anstatt formaler Kriterien4.3. Sprechen als Handlungen4.4. Sprechakte über Austin hinaus4.5. Zusammenfassung5. Kritische Einordnung5.1. Zusammenfassung der Methode5.2. Ist das Relativismus?5.3. Wandel und KonfliktHannah Arendt. Philosophie der Praxis als Welteröffnung1. Einführung2. Arendts Motiv: Erfahrung des Zusammenbruchs und Kritik an der Moderne2.1. Umkehrung von Theorie und Praxis2.2. Erfahrung des Totalitarismus – Zusammenbruch der Welt2.3. Die Kritik an der Moderne – Erd- und Weltentfremdung2.4. Das Ende der politischen Praxis mit Marx?3. Welteröffnung3.1. Erscheinungsraum der Praxis: Das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“3.2. Handeln (praxis) und Sprechen (lexis)3.3. Die Freiheit, frei zu ein3.4. Pluralität3.5. Das Handeln als Anfangen und Weiterführen3.6. Handeln als Antworten auf die Natalität4. Praxis-InitiativePhänomenologie. Leibliche Fundierung und lebensweltliche Artikulation des praktischen Selbst- und Weltbezugs1. Einleitung2. Deutsche Phänomenologie2.1. Edmund Husserl: Der bewegte Leib als Grundlage lebensweltlicher Vollzüge2.2. Martin Heidegger: Performativität und Pragmatik des menschlichen Selbst- und Weltbezugs3. Französische Phänomenologie3.1. Maurice Merleau-Ponty: Wahrnehmung und leibliche Bewegung als menschliche Praxis3.2. Paul Ricœur: Phänomenologie des Willens und Hermeneutik der Handlung4. Phänomenologie und Anthropologie: Hans Blumenberg und die Visibilität als Motor humaner Praktiken5. FazitPhilosophische Anthropologie. Philosophie der Praxis als Ringen, der Moderne gerecht zu werden1. Zur Orientierung: Die leitende These2. Vorverständnis von Praxisphilosophie3. Das Gemeinsame: Bedingte Vernunft in einer Philosophie des Geistes4. Philosophische Anthropologie 1: Der Vollzugsaspekt4.1. Max Scheler4.2. Die lebenslogische Hermeneutik4.3. Helmuth Plessner5. Philosophische Anthropologie 2: Primat von Wirklichkeit5.1. Primat von Geltung5.2. Josef König5.3. Politische Anthropologie5.4. Zur Abgrenzung: Cassirer6. Philosophische Anthropologie 3: Bedingtes Handeln6.1. Bedingtes Handeln oder Handeln unter Bedingungen?6.2. Handeln ohne Täter-Subjekt6.3. Pathische Bewandtnisse6.4. Widerfahrnisse als Antworten6.5. Vermittlung als Vollzug7. Geist als MitweltPoststrukturalismus. Die Mauer zwischen Theorie und Praxis durchstoßen1. Einleitung1.1. Historischer und wissenschaftlicher Rahmen1.2. VertreterInnen des Poststrukturalismus1.3. Hauptthemen des Poststrukturalismus2. Die Vorgeschichte und der historische Kontext des Poststrukturalismus2.1. Der Strukturalismus und die strukturalistische Methode2.2. Die Épistémologie und das Verhältnis von Theorie und Praxis2.3. Die Phänomenologie im Frankreich der 1960er Jahre2.4. Die politischen Unruhen im Frankreich der 1960er Jahre3. Poststrukturalismus und Praxis3.1. Sprache und Differenz: Derrida, Deleuze, Butler3.2. Theorie und Praxis: Foucault, Deleuze, Bourdieu3.3. Struktur: Bourdieu, Deleuze4. SchlussbetrachtungBibliographieRegister
[Zum Inhalt]

|1|Einleitung

Philosophie ist Geschäft der Theorie: Erfindung, Begründung und Kritik von Theorie. Zwar ließe sich das von den meisten Wissenschaften sagen, aber im Falle der Philosophie kommt hinzu, dass ihr überhaupt ein genuiner materialer Gegenstand über die Theoriebildung hinaus fehlt. Sie hat etwas zu sagen, dies aber nicht über etwas Bestimmtes. Sie bezieht sich nicht auf einen Bereich oder einen Aspekt der Welt, für den sie im Unterschied zu anderen Wissenschaften im Besonderen zuständig wäre; wie die Soziologie für die „Gesellschaft“, die Biologie für das „Leben“, die Psychologie für das „Seelische“ usw. Und weil der Philosophie der Gegenstand fehlt, ist sie oder zumindest wirkt sie wie die theoretischste aller Wissenschaften: Sie beschäftigt sich häufig mit dem, was andere Wissenschaften eigentlich tun (und was diese nicht zugleich reflektieren können, während sie das tun, was sie tun) oder mit dem, was diesen Wissenschaften vorausliegt (weil sie in ihrer wissenschaftlichen Praxis die eigenen Voraussetzungen nicht bedenken). Vielfach ist Philosophie daher Klärungsarbeit: Reflexion darauf, was mit einem Sprachgebrauch gemeint ist. Sie versucht sich an der Klärung dessen, was überhaupt ein bestimmter Begriff bedeutet und wie er sich von anderen unterscheidet. Man darf daher sagen, dass Philosophie überhaupt und in der Hauptsache Arbeit am Begriff ist.

Was kann aber für diese theoretischste aller Wissenschaften „Praxis“ bedeuten, gar eine „Philosophie der Praxis“? Es scheint in diesem Ausdruck ja eine Behauptung zu stecken, nämlich dass Philosophie zur Praxis etwas zu sagen hätte. Das ist wohl zu hoffen, aber der Schluss, alle Philosophie wäre eo ipso „Philosophie der Praxis“, ist dann doch etwas vorschnell. Wenn aber nicht jede Philosophie eine der Praxis ist oder sein will, so meint also „Philosophie der Praxis“ eine besondere Sorte Philosophie, die sich von anderen Weisen, diese Wissenschaft zu betreiben, unterscheiden will. Was das aber heißt, ist nicht ohne Weiteres klar, sodass am Ende selbst noch von „Philosophien der Praxis“ gesprochen wird, da die Arbeit am Begriff der Praxis selbst polyphon ist.

Prinzipiell scheinen nun drei Weisen möglich, den Ausdruck „Philosophie der Praxis“ zu verstehen.

 

1. Disziplinärer Anspruch: Eine spätestens seit Kant geläufige und bis in die organisatorische Ordnung der akademischen Philosophie reichende innerfachliche Differenz unterscheidet die Theoretische von der Praktischen Philosophie. Die Theoretische Philosophie versammelt Antworten auf die Frage, was und warum etwas ist: Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Was ist Erkenntnis? Was hält die Welt zusammen? Was heißt Denken? Wie funktioniert das Bewusstsein? Gibt |2|es Gesetze des Denkens? Unter die Theoretische Philosophie fallen demnach die philosophischen Teildisziplinen der Erkenntnistheorie, der Metaphysik, der Logik, der Ontologie und der Theorie des Bewusstseins (bzw. der theory of mind). Die Praktische Philosophie behandelt demgegenüber Antworten auf die Frage, was wir tun können und sollen: Was unterscheidet eine Handlung vom Verhalten? Was bedeutet Geschichte? Wie ist eine gerechte soziale und politische Ordnung möglich? Wie verhalten sich Recht und Moral zueinander? Entsprechend werden unter die Praktische Philosophie die Teildisziplinen der Handlungstheorie, der Moralphilosophie, der Rechtsphilosophie, der Sozialphilosophie, der politischen Philosophie und der Geschichtsphilosophie subsumiert. Die Praktische Philosophie in diesem disziplinären Sinne ist jedoch von einer „Philosophie der Praxis“ streng zu unterscheiden. Denn der Anspruch einer „Philosophie der Praxis“ besteht gerade darin, mehr als eine Teildisziplin der Philosophie zu sein. Sie ist keine Unterabteilung, sondern vielmehr eine bestimmte Weise, die Philosophie selbst zu verstehen; nämlich von der Praxis her. Was das bedeutet, ist ganz unterschiedlich gesehen worden – woraus sich schließlich der titelgebende Plural „Philosophien der Praxis“ erklärt. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Positionen die Überzeugung, dass die Trennung in Theorie und Praxis – und somit die innerfachliche in Theoretische und Praktische Philosophie – selbst problematisiert werden muss. Eine „Philosophie der Praxis“ ist eine Philosophie, die die Theorie-Praxis-Unterscheidung in verschiedene Zuständigkeiten nicht fraglos hinnimmt. Sie schlägt somit eine alternative Perspektive vor, in der die Fragen und Probleme der Philosophie sich anders stellen lassen.

 

2. Methodischer Anspruch: Unter methodischen Gesichtspunkten meint Praxis etwas, das als Praxis (oder häufig auch: als Praktik) beschrieben und in ihrem Vollzug und ihrer Funktion analysiert werden kann. Klassische neuzeitliche Erklärungen sozialer Interaktionen bedienen sich häufig (bisweilen implizit) dichotomischer Begriffspaare. Sie gehen von einer Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Handlung und Struktur, Anwendung und Regel oder Individuum und Gesellschaft aus, um aus deren Spannung bspw. das Gelingen oder Misslingen von Handlungen oder die Transformation sozialer Ordnungen zu erklären. „Philosophien der Praxis“ sind demgegenüber der Auffassung, dass diese dichotomischen Unterscheidungen, die nicht selten in einen harten Dualismus münden, Voraussetzungen machen, die die Theorie selbst nicht weiter begründet. Sie bezweifeln nicht, dass es Individuen „gibt“, aber sie zweifeln daran, dass man „Individuen“ genauso wie „Gesellschaft“ als eine wissenschaftliche Entität betrachten kann, von der man ohne weitere Erläuterung einfach ausgehen könne, um etwas Anderes zu erklären. „Individuum“ und „Gesellschaft“ sind selbst Konstituiertes und daher genauso gut oder genauso wenig Ausgangspunkt für Theoriebildung wie andere Begriffe. Bisweilen unterstellt eine Philosophie der Praxis daher den klassisch neuzeitlichen dichotomischen Theorien eine Substantialisierung von Kategorien, die doch selbst sozial oder kulturell erzeugt worden und somit eben |3|nichts ahistorisch Essentielles sind. Statt mit Begriffen zu beginnen, die Voraussetzungen machen, die wir nicht einholen können oder die sich dichotomisch gegenüberstehen, plädieren Theorien der Praxis dafür, mit einem mittleren Begriff zu beginnen, der gewissermaßen zwischen den beiden Polen steht: eben dem Begriff der Praxis. Zwar gibt es nun eine ganze Reihe antidualistischer Ansätze. Die Pointe des Praxisbegriffs liegt hingegen darin, dass er die Erzeugung sozialen und kulturellen Sinns weder monistisch noch in der Setzung von Abbildverhältnissen oder Parallelisierungen sehen will, sondern in performativen Vollzügen materiell-habitueller Ensembles.

Eine Praxis wird dann verstanden als Vollzug von Körperbewegungen, die sich in einem Setting sozialen Sinns abspielen, durch Wiederholung eingeübt und als sinnhafte wiedererkennbar werden, aber sich dadurch zugleich von anderen unterscheiden. Eine solche Beschreibung von sozialen oder kulturellen Praxen muss (und: darf!) dann Begriffe wie Handlung, Absichten, Gesellschaft oder Diskurs nicht verwenden, um soziale Vollzüge erschöpfend zu beschreiben. Theorien der Praxis versuchen auf diese Weise schlanke und nüchterne Theorien zu sein – doch sie sind dies, gerade weil sie qua kritischer Distanznahme zu ansonsten unfraglich angenommenen Konzepten diese zunächst als das nehmen, was sie sind: geronnene Konzepte, deren Zeit und Bestimmung auf der kontingenten Praxis der Theorienbildung beruht.

Klar ist daher auch, dass sie sich in deutlicher Abgrenzung von anderen Theorien positionieren, die im 20. Jahrhundert zum Standard gehören: Handlungstheorie, Strukturalismus, Systemtheorie, Hermeneutik, Philosophien des Geistes usw., also KandidatInnen für jene Philosophien, die in der dichotomischen Gegenüberstellung eine Seite präferieren und die jeweils andere als davon abhängig betrachten. Beiträge zu dieser Ausrichtung von Praxisphilosophien finden sich schon in den Begrifflichkeiten der antiken griechischen Philosophie, bei Hannah Arendt, in der Phänomenologie Merleau-Pontys, der Praxissoziologie Bourdieus oder den poststrukturalistischen Körpertechniken Foucaults.

Bei allen Unterschieden ist den hier behandelten Philosophien gemeinsam, Praxis als eine Form kollektiven Vollzugs zu verstehen, der sich nicht aus einzelnen zweckgerichteten Handlungen zusammensetzt: Praxis ist prinzipiell offen. In der gegenwärtigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion (s.u.) ist dies wiederholt als Praxis, aber auch (um ihre Pluralität betonen zu können und sie einzeln analysierbar zu machen) als Praktiken bezeichnet worden.

 

3. Holistischer Anspruch: Wegweisend für diese dritte Variante ist eine Erweiterung der Praxis-Auffassung. Hier fungieren nicht mehr einzelne kulturelle oder soziale Vollzugspraktiken als Analysegegenstand der Theorie, vielmehr steht am Grunde des Ganzen selbst eine Bewegung: das „Leben“, der „Geist“, das „Tätigsein“, die „Geschichte“. Einen wichtigen Einsatz markiert dabei die Philosophie Hegels, die den aristotelischen Begriff der praxis wieder aufgreift, aber vor allem Vernunft selbst in ihrem Vollzug begreift, zu dem ihre Materialisierungen in Sitte, |4|Institution und Recht hinzugehören. Das Auseinandertreten von theoretischer und praktischer Vernunft – wie sie aus der disziplinären Unterscheidung von Theoretischer und Praktischer Philosophie vertraut ist – wird so überführt in eine spannungsreiche Reflexion über das und mit dem Medium, in dem sich ihre Begriffe entfalten. Wenn zum Denken aber auch seine geschichtliche Entfaltung gehört, so ist jedes Nachdenken über das Denken selbst situiert und auf einen Standpunkt bezogen, sodass die nachhegelsche ‚Verwirklichung der Philosophie‘ die politisch verändernde Kraft einer Philosophie der Praxis weit deutlicher in ihr Zentrum zu rücken vermag. Dass erst Marx und an Marx anschließende AutorInnen explizit auf den Begriff der Praxis statt auf den des Geistes (wie bei Hegel selbst) zurückgreifen, lässt nicht daran zweifeln, dass in diesem philosophiehistorischen Kontext der anspruchsvollste Versuch vorliegt, von der Praxis her zu denken. Eine nicht zeitlich parallele, aber sehr wohl dem Gegenstand geschuldete, inhaltlich Analogien bietende Entwicklung lässt sich mit Blick auf spätere Positionen nachzeichnen: Wittgensteins Sprachholismus, dessen Gebrauchstheorie der Sprache Bedeutung von der geteilten Praxis her denkt, wird in der Folge nicht nur von Sprechakttheoretikern wie Austin aufgegriffen, die ihrerseits von der Praxis her zu denken beginnen; ihren konsequentesten Ausdruck findet dieser holistische Anspruch schlussendlich bei den PoststrukturalistInnen, die mit ihrer Stärkung der Performativität die mit Wittgenstein begonnenen Denkfiguren kulturtheoretisch zugespitzt haben.

 

Konkret verhandelt werden in den in diesem Handbuch zusammengestellten Überblicksartikeln nur das 2. und 3. Verständnis des Ausdrucks „Philosophie der Praxis“, während der disziplinäre Anspruch (die Unterscheidung von Theoretischer und Praktischer Philosophie im herkömmlichen Sinne) selbst als motivationaler Hintergrund fungieren mag. Gemeinsam ist ihnen der Non-Dualismus, der die Praxis wesentlich als performativen Vollzug denkt. Als Performanz ist Praxis nicht reduzibel auf die Bedingungen ihrer Hervorbringung oder die AkteurInnen und Strukturen, die verantwortlich für Form und Inhalt der jeweiligen Praxis sind, sondern ihre Bedeutung liegt in ihr selbst (was eine erläuterungsbedürftige These ist): Jedweder Zugriff auf Praxis lässt die Performanz zunächst einmal ‚erstarren‘, er zeigt daher einen bzw. zeugt von einem jeweiligen Zugriff unter je zu explizierenden Vorzeichen. Philosophien der Praxis machen daher deutlich, dass ein Sprechen über sich vollziehende Praxis zwar einen Gegenstand (bzw. mehrere) thematisiert, diesen (bzw. diese) jedoch als Resultate von Praxis selbst begreift.

Aus der Tatsache, dass sich die Philosophien der Praxis mit ihrer Distanzierung von dichotomischen Grundüberzeugungen zu einer spezifisch neuzeitlichen Konstellation in Beziehung setzen, begründet sich auch die eigentümliche Diskontinuität in der historischen Abfolge der Beiträge. Denn auf den antiken, vornehmlich aristotelischen Praxisbegriff, auf den mehr oder minder alle Praxis-PhilosophInnen Bezug nehmen, folgt nicht etwa eine anhaltende Rezeptions- |5|und Umarbeitungsgeschichte, sondern eine gewisse Stille, in welcher der Begriff seine Anziehungskraft einbüßt. Es ist dann v.a. die Geistphilosophie Hegels und die materialistische Geschichtsphilosophie, die bei den Linkshegelianern ihren Ausgangspunkt nimmt und die den Praxisbegriff wieder auf die Agenda setzt. Das 20. Jahrhundert wiederum kann schließlich als die Blütezeit der Praxiskonzeptionen gelten, wenn im Ausgang von Wittgenstein die Sprechakttheorien und PoststrukturalistInnen oder im Ausgang von Husserl die PhänomenologInnen neuerlich vielgestaltig sich ausnehmende Praxisphilosophieangebote bieten.

In jüngster Zeit erfahren Theorien von „Praxis“ im Zuge der Wendung von den Geistes- zu den Kulturwissenschaften bzw. der Praxiswende in den Sozialwissenschaften selbst vermehrte Aufmerksamkeit und stellen ab auf die Untersuchung vor allem materiell und korporal vermittelter Praktiken sozialer und kultureller (Re-)Produktion. Philosophische Denkströmungen und Positionen v.a. des 20. Jahrhunderts werden seit etwa zwei Jahrzehnten als Ausgangspunkt genommen, um vermittels einer Belehrung über theoretische Engführungen der Vergangenheit jene blinde Flecken der Theorie wieder sichtbar zu machen: der Körper des body turn, der sprachliche Vollzug des linguistic turn und die Dinge des material turn führen heute zu einer breit aufgestellten Programmatik seitens der sogenannten „Praxistheorien“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften (für das Stiftungsmoment des sog. practice turn: Schatzki et al.; 2001 Reckwitz 2003 sowie Schäfer 2016; Daniel et al. 2015; Prinz 2014; Hörning/Reuter 2004; Hillebrandt 2009). Der Philosophie bietet diese Entwicklung die Chance, diese Theoriebewegung selbst noch einmal auf ihre philosophischen Wurzeln hin zu befragen (in dieser Sicht, aber auch mit Blick auf eine Renaissance einer Philosophie der Praxis, die mit kultur- und sozialwissenschaftlichen Praxistheorien Gemeinsamkeiten hat, sei etwa verwiesen auf: Alkemeyer et al. 2015; Bedorf et al. 2017; Kertscher et al. 2015).

So sehr die zeitgenössische Konjunktur der „turns“ Neuigkeit suggeriert, so zeigt doch – darin zumindest bestand die Ausgangshypothese zu diesem Handbuch – ein Blick in die Geschichte der Philosophie, dass die Arbeit an der Theorie der Praxis nicht nur so neu nicht ist, sondern v.a. eine Breite philosophischen Problembewusstseins bietet, das wiederum auf die heutige Theoriediskussion rückwirken kann. Gerade aus der philosophiehistorischen Vergewisserung lässt sich ableiten, dass die Bearbeitung der Pluralität der Philosophien der Praxis in ihren Familienähnlichkeiten mehr verspricht als die Hoffnung auf eine kurzfristige Engführung auf die eine Theorie oder Philosophie der Praxis. Daraus, dass das methodische und das holistische Verständnis von „Philosophie der Praxis“ sich darin unterscheiden, welchen Umfang Praxis hat und welche Rolle sie jeweils spielen soll und kann, folgt auch die Notwendigkeit, für den Titel dieses Handbuchs den Plural zu wählen. Er signalisiert die Offenheit in diesem Feld unterschiedlicher Ansätze, die jeweils den Praxisbegriff in den Vordergrund rücken. Denn eine „Praxisphilosophie“ oder eine „Philosophie der Praxis“ gibt es (derzeit) nicht.

|6|Legt man diesen Befund zugrunde, mag es manche/n verwundern, dass ein Handbuch zu einem philosophischen Feld erscheint, das keineswegs als bereits in Standardwissen transformiert gelten kann, sondern vielmehr als offenes Forschungsfeld gelten muss. Aufgrund der Aktualität des Praxisbegriffs einerseits und der reichhaltigen philosophischen Tradition der Reflexion von der Praxis her andererseits, schien es jedoch ebenso legitim wie wünschenswert, diese für die gegenwärtigen Forschungen in der Philosophie und ihren Nachbarwissenschaften zu sichten und verfügbar zu machen. Wenn künftige Forschungen es als überholt erscheinen lassen, hätte sich der Zweck des Handbuchs erfüllt.

Die einzelnen Artikel versuchen zu Beginn jeweils zu klären, was sie als Arbeitsdefinition unter „Praxis“ verstehen und abschließend den Ertrag zu bestimmen, den die diskutierten Positionen für die Arbeit im Feld der Philosophien der Praxis erwarten lassen. Da die Artikel teilweise große thematische und historische Distanzen abzuschreiten haben, sind sie entsprechend umfangreich. Passagen, die auf untergeordnete Aspekte eingehen und für das Verständnis der Darlegungen des Gesamtartikels nicht zwingend erforderlich sind, sind petit gesetzt und können von eiligen Leserinnen und Lesern übersprungen werden. Jedem Artikel folgt ein kurzer Absatz mit kommentierten Leseempfehlungen zum Einstieg.

Aus Gründen der Nutzerfreundlichkeit wurde eine in anderen Handbüchern bereits bewährte Konvention für die bibliographischen Nachweise gewählt. Die Siglen aus Name und Jahr nennen jeweils das Ersterscheinungsjahr der Publikation, die im Literaturverzeichnis nachgewiesen wird. Auf die Nennung mehrerer Jahreszahlen, wo dies bibliographisch angezeigt wäre, wird aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet. Die der Sigle folgende Seitenangabe hingegen bezieht sich stets auf die neueste greifbare Ausgabe bzw. die Werkausgabe (soweit sie vorliegt). Nur diese zitierte bzw. verwendete Ausgabe wird im Literaturverzeichnis aufgeführt. Mit der gewählten Konvention erhält die Leserin und der Leser sowohl eine Information zur Einordnung in den historischen Entstehungskontext als auch eine Hilfestellung zum Auffinden der heute greifbaren Ausgaben.

Wir haben den Autorinnen und Autoren zu danken, die sich nicht nur mit großem Engagement an diese Expedition in unwegsames Terrain gewagt haben, sondern auch bereit waren, in einem Workshop an der FernUniversität in Hagen im Dezember 2017 die Arbeitsversionen ihrer Artikel einem kritischen Kommentierungsprozess auszusetzen. Es ist zu hoffen, dass beim Lesen der Eindruck entstehen wird, dass sich dieser Aufwand gelohnt hat. Unter den AutorInnen sei besonders Volker Schürmann genannt, der dieses Handbuchprojekt über seine verschiedenen Etappen begleitet und wiederholt Klärendes beigetragen hat. Ein besonderer Dank gilt Sarah Kissler, die mit ihrer bewundernswerten Balance aus Akribie und Geduld das gesamte Manuskript editorisch zur Druckreife gebracht hat, sowie Felix Schneider, der Geschwindigkeit mit Effizienz auf vorbildliche Weise zu verbinden vermag.

 

Hagen, im Februar 2019  Thomas Bedorf und Selin Gerlek

[Zum Inhalt]

|7|Die Praxis aus wissenschaftlicher Perspektive in Antike und Mittelalter.  Methodische und inhaltliche Grundlagen bei Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin

Matthias Perkams

1.Vorbemerkungen

Die Praxis ist bereits früh zum Thema der Philosophie geworden, und zwar sowohl als Wort als auch als ein Problemfeld eigener Art. Dabei wurden bereits von Platon (ca. 428–347 v. Chr.) und insbesondere von Aristoteles (384–322 v. Chr.) Zugangsweisen und Konzeptualisierungen entwickelt, die den Besonderheiten der Praxis Rechnung tragen und eine wissenschaftliche Rede hierüber ermöglichen sollen. Aufgrund neuer Begriffs- und Problemfelder haben diese Praxistheorien in der späteren Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit das Denken angeregt und zu weiteren Ausarbeitungen Anlass gegeben, unter denen der Ansatz des Thomas von Aquin (1224/25–1274) durch die Berücksichtigung vieler Gesichtspunkte der Einheit und Vielheit menschlichen Handelns eine besondere Differenziertheit erreicht.

Schon den aristotelischen Überlegungen liegt ein sehr weites Verständnis von Praxis zugrunde, bei der jedes Handeln insofern als Praxis gelten kann, als es von intrinsischer Bedeutung für ein gelingendes menschliches Leben ist. Diese Globalperspektive bedeutet freilich nicht, dass eine Fokussierung des Praxisbegriffs auf einzelne Handlungsvollzüge nicht stattfände: Vielmehr gelingt Praxis gerade dadurch, dass jemand entsprechend den unterschiedlichen Anforderungen der einzelnen Situation auf gute Weise aktiv ist. Eine solche Praxis durch dauerhaft erworbene, das Handeln prägende Charakterzüge des Einzelnen, die Tugenden, ermöglicht. Hierbei bewirken im aristotelischen Modell die ‚ethischen Tugenden‘, dass die emotionale Seite unseres Charakters auf ein maßvolles Handeln gerichtet ist, das im Einzelfall durch Zusammenwirken mit der Klugheit gelingt, einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, welche im konkreten Handeln die richtigen Mittel und Wege finden kann. Der hiermit gegebene Fokus auf die Besonderheit einzelner Situationen und Akteure, aber auch auf die Einbringung von Wissen in den Vollzug einer Handlung macht die aristotelische Theorie bis heute zu einem dauernden, nicht überholten Referenzpunkt für das philosophische Nachdenken über menschliche Praxis.

|8|Eher indirekt berücksichtigt der aristotelische Ansatz auch ein Problem menschlicher Praxis, mit dem sich bereits Aristoteles’ Lehrer Platon auseinandergesetzt hatte: Wie lässt sich sicherstellen, dass menschliche Praxis nicht nur in der Sache erfolgreich ist, sondern auch tatsächlich gut und gerecht durchgeführt wird? Der damit angezeigten moralischen bzw. normativen Dimension guten Handelns (zu den Kriterien normativen Handelns s. Birnbacher 2003, 12–43) entspricht der aristotelische Ansatz insofern, als der aristotelische gute Akteur, der ‚Tüchtige‘ (ho spūdaios) mit Freude das Gute und somit auch das Gerechte tun wird; die von Platon insbesondere in der Politeia behandelten Fragen, warum es für den Einzelnen besser ist, gerecht, also moralisch gut, und eventuell (zumindest dem Anschein nach) erfolglos zu handeln als schlecht und erfolgreich, werden jedoch in der aristotelischen Philosophie nicht explizit adressiert: Aufgrund von Aristoteles’ Konzentration auf die begriffliche Klärung der Bestimmung des im Sinne des Glücklich-Seins (hē eudaimonia) gelingenden Lebens und der charakterlichen Voraussetzungen dafür, tritt die Frage danach, wann ein Handeln gerecht bzw. oder, wenn man so will, im moralischen Sinne gut ist, etwas in den Hintergrund.

Das ist der Punkt, an den die Position des Thomas von Aquin in besonders interessanter Weise anschließt: Thomas verbindet das aristotelische Konzept der Praxis mit einer Deutung der menschlichen Vernunft als ein ‚Naturgesetz‘, aufgrund dessen die Klugheit als praktische Vernunft sowohl grundlegende Ziele des menschlichen Lebens als auch Normen für das individuelle und das gesellschaftlich-staatliche Zusammenleben im Lebensvollzug realisieren kann. Zum Gegenstand philosophischer Theorie wird hierbei auch die Möglichkeit (für Personen und selbstregulierte Institutionen) von etablierter Praxis und geltenden Gesetzen sowie von verfestigten Gewohnheiten und Charakterzügen durch bewusste Willensentscheidungen abzuweichen, indem universale Regeln und Normen individuell berücksichtigt werden. Ermöglicht wird das insbesondere durch die differenzierte Beurteilung von Gesetzen mittels praktischer Vernunft als handlungsleitender Klugheit und kritisch urteilendem Gewissen. Eine Notwendigkeit zur Nichtanerkennung, Veränderung und Weiterentwicklung von Gesetzen sowie die Legitimität dieser kritischen Praxis selbst werden so berücksichtigt. Somit kann Thomas’ Ansatz als eine Theorie individuell-rationaler Selbstbestimmung vor einem normativen Horizont beschrieben und auf aktuelle Fragestellungen bezogen werden (vgl. Perkams 2008).

Im Folgenden sollen insbesondere diese drei Ansätze, in ihrer zeitlichen Abfolge, ihren Grundzügen nach vorgestellt und als Theorien rational geleiteter guter Praxis gedeutet werden. Zwischengeschaltet ist ein kurzer Abschnitt, der die wichtigsten systematisch-begrifflichen Entwicklungen nachzeichnet, welche die im Vergleich zur Antike veränderte Perspektive des Thomas von Aquin historisch bedingen. Schließlich folgt ein ausführliches Schlusswort.

|9|2. Die Praxis als Handlungsbeschreibung bei Platon

Platons Annäherung an die Problematik der Praxis geht von Sokrates’ Diskussionen mit den Sophisten aus, einer Gruppe von Denkern und Lehrern einer erfolgreichen politischen Lebensführung, die zu seiner Zeit großen Einfluss auf die Athener Oberschicht besitzt. Die grundsätzlichen Probleme, die Platon, vielleicht auf Anregung seines Lehrers Sokrates, in sophistischen Konzeptualisierungen der Praxis sah, ohne dass er diesen grundsätzlich ablehnend gegenübergestanden hätte, führen in seinem Frühdialog Charmides zu einer begrifflichen Hinterfragung des Konzepts von Praxis: Hier nimmt die Dialogfigur Sokrates die vom Politiker und Sophisten Kritias vorgetragene grundsätzliche Differenzierung des Handlungsbegriffs in ein nicht sittlich qualifiziertes Tun (griechisch poiein) und ein moralisch womöglich gutes Handeln nicht auf, das Kritias mit dem Verb prattein bzw. dessen substantivierter Form praxis, bezeichnen möchte. Insbesondere weist er die Annahme zurück, das Tun des Guten (griechisch praxis tōn agathōn) sei selbst die Tugend der Besonnenheit, da ja der (gute) Nutzen oder (schlechte) Schaden, der aus einer Handlung resultiere, auch dem besonnen Handelnden nicht unbedingt bekannt sei (Charmides, 163b–164c; vgl. Symposion205b8–c2). Hier wird bereits deutlich, dass für Platon – wie für alle hier behandelten Autoren – die Behandlung menschlicher Praxis durch eine Analyse und Beschreibung des praktisch relevanten Wissens erfolgen muss, die durch rein begriffliche Unterscheidungen nicht zu leisten ist, da dies Wissen letztlich in der konkreten Situation angemessene Handlungsoptionen aufweisen muss, die entsprechend der Vielfalt der Praxis sehr vielfältig sein können.

Die Rolle des Wissens wird in dem etwas späteren Dialog Protagoras noch mehr herausgestellt, der von der These des Sophisten Protagoras ausgeht, dass Tugend grundsätzlich lehr- und lernbar sei, was Sokrates bezweifelt (320b). Als Antwort erklärt Protagoras mit einem Mythos die Unterschiede zwischen der Ausübung einer bestimmten Fertigkeit, z.B. der Heilkunst, die von bestimmten Menschen gelernt und gelehrt werden kann, sowie einer Tugend wie der Gerechtigkeit, die zwar allen Menschen in gleichem Maße zukommt, die aber auch von allen erlernt werden muss (321c–322d). Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden die Schwierigkeiten des somit erforderlichen Lernprozesses durch konstantes Nachfragen des Sokrates verdeutlicht. Er hinterfragt insbesondere die Annahme, dass die Tugenden jeweils etwas Verschiedenes sind (328d–334c, 348c–353b), und stellt die These auf, dass jeder das tut, was er als gut, d.h. als lustbringend, erkannt hat (351d–360e).

Ähnliche Punkte werden auch im etwa zeitgleichen Dialog Gorgias angesprochen. Hier beginnt Platon mit einer Unterscheidung verschiedener Formen des Handelns nach deren Gegenständen, ob sie etwa auf körperliche Gegenstände oder auf Worte ausgerichtet sind (449c6–454a5). Diese Typologie wird auch hier zur Frage nach den auf die Polis bezogenen Tätigkeiten zugespitzt, die nicht nur im weitesten Sinn produktive Fertigkeiten sind, sondern nur mit einer sittlichen |10|Zielsetzung überhaupt sinnvoll vollzogen werden können. Rhetorische bzw. politische Lehre muss daher durch die Einbeziehung einer normativen Dimension fundiert sein, wie gegenüber den Sophisten festgehalten wird (454b5–461b2). In beiden Dialogen wird somit die politische Aktivität als herausgehobene Form von Praxis zum Thema, deren Behandlung freilich besondere Schwierigkeiten aufwirft, weil sie nicht wie ein spezifisches Handwerk vermittelt werden kann. Zwar wird auch für sie die Bedeutung des Wissens als Vergleichsgrundlage zwischen verschiedenen möglichen Handlungsalternativen herausgehoben, doch überwiegt insgesamt die Hinterfragung der sophistischen Positionen, also die eigentlich konstruktive philosophische Begriffsarbeit.

Auch in weiteren Dialogen bleiben die angesprochenen Themen zentral für die platonische Gedankenentwicklung, wobei die Wurzel prattein/praxis weiterhin häufig verwendet wird, um dasjenige Handeln zu beschreiben, das zum menschlichen Glück (eudaimonia) führt (Charmides172a1–3; Euthydemos279e3–6; vgl. Bien 1989, 1277). Handlungstheoretisch erweist sich dabei insbesondere als zentral, wie das für den Menschen Angenehme (hêdy) richtig zu verstehen ist: Auf die Dauer und im Ganzen fällt es für Platon mit dem sittlich Guten zusammen und ist durch dieses zu definieren (Protagoras354a3–356c3), so dass das sittlich Gute nur erstrebt werden kann, allein weil es angenehm ist (Philebos20e1–22a6).

Insgesamt gibt sich Platon nicht damit zufrieden, die (seiner Meinung nach) auf unreflektierte Nützlichkeitserwägungen abzielende sophistische Handlungstheorie mit Argumenten aus der Praxis selbst zu bekämpfen. Vielmehr sucht er zu einer begründeten Einschätzung des sittlichen Wertes menschlicher Handlungen zu gelangen, als deren Ausdruck er die philosophische Lebensführung ansieht, die sich gerade nicht an äußerem Erfolg orientiert (Gorgias500c 1–9; Phaidon69c3–d4; Euthydemos282c1–d2; vgl. Kauffmann 1993, 79f.). Als Gegenmodell hierzu wird insbesondere die Disposition des recht Handelnden untersucht, die in der Politeia als die Gerechtigkeit (dikaiosynē) bestimmt wird, die durch die rechte Zuordnung der verschiedenen Elemente gekennzeichnet ist (Politeia441d5–e7). Dass diese Zuordnung nicht beliebig ist, wird in der Politeia durch den Vergleich mit der Ordnung der Polis und im Gorgias durch einen mit der Struktur des Kosmos verdeutlicht (Gorgias506d2–507a2). In den Nomoi ist es die rechte Beachtung des Ganzen gegenüber den unwichtigen Details, die das gute Handeln gegenüber dem Schlechten ausmacht (901b1–c6).

Diese sittlich-normative Perspektive sollte es verbieten, Platons Philosophie als „poiētisch“ im gleich zu erläuternden aristotelischen Sinne zu charakterisieren (vgl. Buchheim 1986, 131–135) obwohl die gleichsam objektive Beurteilbarkeit menschlichen Handelns ein wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung Platons mit der Sophistik ist (Kratylos386e5–387b7, in Bezug auf technisches Handeln), die auch zur Heranziehung ontologischer Gesichtspunkte bei der Beurteilung des Handelns führt (Philebos18e3–19a2; vgl. Kauffmann 1993, 52–58). Auf diesem Weg führt die Frage nach dem rechten Praxiswissen hin zur Ideenlehre. Gegen die Annahme, dass das Bemühen um Sittlichkeit für Platon nur durch das |11|Streben danach, glücklich zu werden, motiviert sein kann bzw. darf, spricht andererseits das Gewicht, das er dem Guten als einer objektiven Größe beimisst. Es findet seinen deutlichsten Ausdruck in der herausgehobenen Stellung, die der Idee des Guten auch innerhalb bzw. jenseits des Seins der Ideenwelt zukommt (epekeina tês ūsias: Politeia 509b8f.). Hierbei wird die Idee des Guten sowohl als Grundlage jeglicher Erkenntnis als auch als Strebensziel thematisiert (vgl. Horn 2009, 166f.). Wenn auch die handlungstheoretischen Implikationen der Lehre von der Idee des Guten in der Politeia nicht ganz deutlich werden (vgl. Pfannkuche 1988, 169–183), so ist doch klar, dass die ontologische Dignität des höchsten Guten jedenfalls in die Beschreibung richtigen Handelns eingeht: Dieses muss dem Guten entsprechen, insofern es Autarkie (hikanon) und Vollkommenheit (teleon) aufweist (Philebos 20d1–10, 22b3–8; vgl. Kaufmann 1993, 61; Horn 2009, 162–164).

Ein konstanter Faktor von Platons Analyse des richtigen Handelns stellt weiterhin die Beschäftigung mit der praxisleitenden Vernunft dar, die er, wie gesagt, als entscheidend für die Bestimmung menschlicher Praxis ansieht. Im Phaidon wird diese Vernunft deutlich von den sekundären Ursachen für das menschliche Handeln abgehoben: Die Ursache dafür, dass Sokrates im Gefängnis sitzt, ist die durch Vernunft (nôi) begründete Meinung (doxa) der Athener, dass er sterben soll, bzw. seine eigene Meinung, dass es besser sei, das Urteil zu akzeptieren, als sich durch Flucht zu retten; die körperlichen Ursachen, die die Möglichkeit zur Ausführung dieser Ansichten geben, sind dem gegenüber sekundär (98b7–99b6; vgl. Politikos281e 1–5). Auch noch in den späten Nomoi ist es die Vernunft, durch die jemand gut handelt, während das Fehlen vernünftiger Einsicht gleich zum schlechten Handeln führt (Nomoi897b1–4). Im Hintergrund steht hier die Ansicht, dass der ganze Kosmos letztlich durch rationale Ursachen bestimmt wird, denen gegenüber auch die Wirkkraft der Gestirne sekundär ist (Nomoi892b5–8).

Es ist also durchaus korrekt zu behaupten, dass die Praxis bereits ein zentrales Thema von Platons Philosophie darstellt, zu dessen Erhellung viele in den Dialogen verhandelte Gegenstände beitragen. Tatsächlich sind diese Überlegungen in vielerlei Hinsicht, z.B. im Hinblick auf die Möglichkeit der Erlernbarkeit von Praxis, bis heute aufschlussreich, wobei den Hinweisen auf die Notwendigkeit eines Bemühens um ein objektiv gutes Handeln besondere Bedeutung zukommt. Gerade die Vielfalt der Ansätze führt andererseits dazu, dass eine geschlossene Praxistheorie bei Platon noch nicht zu finden ist, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil er zu wichtigen Themen anscheinend keine abschließende Lösung erkennen kann. Das gilt insbesondere in der Frage nach dem Verhältnis von Glücksstreben und der Berücksichtigung objektiv geltender Normen, aber auch in der Frage, inwieweit ein Wissen allein, ohne Beteiligung anderer Seelenvermögen, ausreicht, um gute Praxis zu garantieren.

|12|3. Die Praxis und ihre Realisierung durch Klugheit und Tugend in Aristoteles’ Handlungstheorie

Eine Erklärung dieser Punkte in einer weitgehend kohärenten Theorie, in der auch die von Platon noch abgelehnte Unterscheidung von „Praxis“ und der sogenannten Poiēsis ihren Platz findet, kann als die Epoche machende Leistung des Aristoteles im Hinblick auf das Nachdenken über Praxis gelten.

3.1.Die Entfaltung des Begriffs Praxis im Unterschied zum Hervorbringen (Poiēsis)

Bei Praxis und Poiēsis handelt es sich für Aristoteles um zwei verschiedene Weisen menschlicher Aktivität. Den Unterschied beider macht er insbesondere an zwei Punkten fest:

[1] Jede Fertigkeit (technē) bezieht sich auf die Entstehung sowie das Fertigmachen und Betrachten (technazein kai theōrein), wie etwas von dem entsteht, was es geben und nicht geben kann und das seinen Ursprung im Hervorbringenden, aber nicht im Hervorgebrachten hat. […] Weil aber das Hervorbringen (poiēsis) und die Praxis etwas Verschiedenes sind, muss sich eine Fertigkeit auf das Hervorbringen, aber nicht auf eine Praxis beziehen. […] Denn das Ziel des Hervorbringens ist gewiss etwas Verschiedenes, das der Praxis aber nicht. Denn die gute Praxis ist selbst das Ziel.

[2] Deswegen glauben wir, dass Perikles und ähnliche Leute klug sind, weil sie das für sich und für die Menschen Gute betrachten (theōrein) können. […] Deswegen muss die Klugheit eine auf Praxis abzielende, mit Vernunft verbundene, in Bezug auf das Menschliche wahre Charakterhaltung sein.

[3] Aber gewiss gibt es für eine Fertigkeit eine Tugend (aretē), für die Klugheit aber nicht. Und in einer Fertigkeit ist der vorzuziehen, der freiwillig einen Fehler macht, im Hinblick auf die Klugheit aber weniger, so wie auch im Hinblick auf die Tugend. (Nikomachische Ethik [NE] VI4, 1140a10–14, 16f.; 5, 1140b6–10, 20–24)

Der Kerngedanke dieser Stelle besteht in der Herausarbeitung von Praxis als einer spezifischen Weise des menschlichen Agierens: Neben der üblichen Weise der Aktivität, in der es uns darum geht, etwas zu produzieren oder zustande zu bringen, muss man eine Art von Aktivität annehmen, deren Ziel im guten Handeln selbst liegt.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens sind mehrere Bemerkungen zu machen: Mit „Hervorbringen“ ist hier nicht nur eine Herstellung im engeren Sinne gemeint, die dazu führt, dass ein materieller Gegenstand entsteht, sondern dieser Begriff ist auf jede Tätigkeit zu beziehen, die in erster Linie darauf abzielt, etwas zu erreichen, was vom Handelnden verschieden ist. Hierzu gehört also das Schreinern eines Tisches ebenso wie das Produzieren eines Buches. Aber auch das Erreichen eines sportlichen Ziels, wie etwas das Schießen eines Tors oder das Besteigen eines bestimmten Bergs, oder das Vermitteln einer bestimmten Lehre kann grundsätzlich zu diesem Bereich gerechnet werden, und wohl überhaupt jede Tätigkeit, deren Ziel im Verdienen des eigenen Lebensunterhalts liegt. Wie |13|diese Beispiele zeigen, können die Unterschiede zu Tätigkeiten, deren Zweck in ihnen selbst liegt, fließend sein, wenn man etwa das Betreiben von Sport, z.B. Fußball, oder das Musizieren als in sich selbst sinnvolle Tätigkeiten ansieht. Übrigens weisen diese Beispiele für inhärent wertvolles Handeln auf den wichtigen Punkt hin, dass eine Tätigkeit durchaus praktisch und poiētisch zugleich sein kann, wenn ein Musiker mit Freude ein Stück spielt und doch für den Auftritt bezahlt wird (vgl. Broadie 1991, 205–208).

Ähnliches gilt auch, wenn man den Sinn der aristotelischen Praxis etwas genauer eingrenzt: Die von mir als [2] und [3] gezählten Paragraphen weisen nämlich darauf hin, dass es Aristoteles nicht um jede möglicherweise selbstzweckliche Tätigkeit geht, sondern dass er eine noch spezifischere Form hiervon als Praxis bezeichnet: Seine Beispiele sind nicht zufällig der Athener Staatsmann Perikles und vergleichbare Weise, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das für den Menschen Gute „betrachten“ können. Ebenso also, wie laut Abschnitt [1] zum Hervorbringen ein „Betrachten“ (theōrein) der Frage gehört, „wie etwas entsteht“, wird nun eine spezifische Kompetenz für die Praxis genannt, die Aristoteles als bekannt voraussetzt: Die Leistung dieses Vermögens, der „Klugheit“ (phronēsis), das sich im Wirken guter Politiker manifestiert, kann daher verdeutlichen, was als Praxis im aristotelischen Sinne zu gelten hat: Eine Aktivität, die konstant das gute menschliche Leben realisiert, indem sie für die menschliche Gemeinschaft direkt wirkt, und zwar, unter Leitung einer ihr angemessenen Rationalität, sowohl im Hinblick auf das Individuum selbst als auch im Hinblick auf politische Gemeinschaften.

Auf diese Weise erschließt sich dann auch, was näherhin mit der Aussage, dass „die gute Praxis selbst das Ziel ist“, gemeint ist. Sie verweist auf den Hintergrund von Aristoteles’ ethischem Ansatz im Ganzen: Für ihn besteht das Ziel des menschlichen Leben in einem Glücklich-Sein (eudaimonia), in dem die dem Menschen als Menschen gegebenen Möglichkeiten möglichst vollständig und dauerhaft realisiert werden (NE I 5f., 1097a15–1098b8; gezeigt im ‚Ergon-Argument‘: NE I 6, 1097b22–1098a20; Eudemische Ethik [EE]II1, 1218b 31–1219a 39; vlg. Müller 2003, 514–542). Nur eine Aktivität, die diesem Anspruch gerecht wird, verfolgt wirklich keine Ziele, die außerhalb des Menschen liegen, sondern ihre Ziele liegen innerhalb ihrer selbst. „Denn wir wählen sozusagen alles um etwas anderen willen außer der Eudaimonia“ (NE X 6, 1176b30f.). Für Aristoteles kommen, wie er bekanntlich in Buch X der Nikomachischen Ethik erläutert (NE X 7f., 1177a12–1178b32), nur entweder eine theoretische Aktivität wie die des Philosophen oder eine praktisch-politische Aktivität als Realisierung der Eudaimonie infrage. Letztere ist, da die erste eher das Göttliche im Menschen betrifft (1177b30f.), im eigentlichen Sinne die Praxis im aristotelischen Sinne.

Den Unterschied einer solchen Praxis von einem „Hervorbringen“ verdeutlicht Aristoteles in Abschnitt [3] schließlich durch einen weiteren Gedanken: Die Tätigkeit eines exzellenten Hervorbringens kann auch darin bestehen, absichtlich etwas Fehlerhaftes zu produzieren: Zum Beispiel kann ein guter Büchsenmacher Gewehre produzieren, die ihr Ziel regelmäßig verfehlen, und ebenso kann ein |14|guter Fußballtrainer seine Mannschaft absichtlich so aufstellen, dass sie verliert. Für die Klugheit als der Praxis inhärente Rationalität ist das nicht möglich, sondern hier wäre ein absichtliches Verfehlen des menschlichen Gutes ein Zeichen dafür, dass eigentlich keine Klugheit vorliegt. Die Klugheit ist demnach eine „Tugend“, d.h. eine dauernde erworbene Charaktereigenschaft, die nur auf das Gute hinwirken kann, und zwar natürlich auch dann, wenn sie für ein konkretes Ziel, etwa ein neues gerechtes Gesetz, auf gleichsam „poiētische“ Weise arbeitet.

3.2.Das Konzept einer praktischen Vernunft

Besondere Bedeutung für das Konzept der Praxis hat somit bei Aristoteles die Annahme einer spezifisch praktischen Form von Rationalität, die er selbst bereits an drei Stellen als „praktische Vernunft“ bezeichnet. Diese Stellen lassen deutlich erkennen, wie sich das aristotelische Konzept praktischer Vernunft von der gleichnamigen Konzeption Immanuel Kants unterscheidet, die vom strikt universalen kategorischen Imperativ geprägt ist. Den Ausdruck „Praktische Vernunft“ gebraucht Aristoteles explizit an folgenden Stellen:

Diese beiden sind also Vermögen der örtlichen Bewegung, Geist und Streben, und zwar der Geist, der um etwas willen nachdenkt und der praktische (nūs de ho heneka tū logizomenos kai ho praktikos). Er unterscheidet sich nämlich durch sein Ziel vom theoretischen. Auch jedes Streben erfolgt um etwas willen. Worauf sich nämlich das Streben richtet, dies ist das Prinzip der praktischen Vernunft (hū gar hē orexis, hautē archē tū praktikū nū). Das Ende ist aber das Prinzip der Praxis. Folglich werden diese beiden zu Recht für die Anfänge der Bewegung gehalten, Streben und praktische Vernunft (orexis kai dianoia praktikē). (De anima [DA]III10, 433a13–18)

Dasselbe muss die Vernunfterkenntnis sagen und das Streben verfolgen. Dies ist nun die praktische Vernunft und die entsprechende Wahrheit (hē dianoia kai hē alētheia praktikē). Bei der theoretischen und weder praktischen noch poiētischen Vernunft ist das gute und schlechte Funktionieren das Wahre und das Falsche (dies ist nämlich die Funktion jedes Vernunftvermögens). Beim praktischen Vernunftvermögen aber besteht die Wahrheit in Übereinstimmung mit dem richtigen Streben (NEVI2, 1139a22–31).

Es gibt Leute, die […] häufig, ohne aufzufallen, der Sache nicht zugehörige und überflüssige Argumente (logous) vorbringen. Dies aber tun sie manchmal durch Unwissenheit, manchmal durch Frechheit, und durch sie lassen sich manchmal auch die Erfahrenen und zum Handeln Fähigen täuschen, durch Leute, die architektonische oder praktische Vernunft (dianoian architektonikēn ē praktikēn) weder besitzen noch dazu in der Lage sind. (EE I 6, 1216b40–17a10).

Die ersten beiden dieser drei Stellen stimmen in mehreren wichtigen Punkten überein:

Es gibt eine praktische Vernunft, die sich von der theoretischen unterscheidet.

Der Unterschied zum theoretischen Denken besteht darin, dass die praktische Vernunft sich auf ein Ziel bezieht. Im richtigen Bezug darauf liegt die ihr eigene Wahrheit.

|15|Dies hängt damit zusammen, dass die praktische Vernunft stets mit einem Streben verbunden ist.

Weiterhin sind einige Aspekte erwähnenswert, die zumindest an einer der drei Stellen genannt werden: Die De anima-Stelle weist darauf hin, dass auf einen Akt der praktischen Vernunft unmittelbar Praxis, also ein Handeln, folgt. Die Passage aus der Eudemischen Ethik mit ihrem Hinweis auf ein „architektonisches“, d.h. leitendes, Vermögen, zu dem auch die Klugheit in Verbindung stehen soll, bestätigt, dass es hier um nichts anderes geht als um die eben diskutierte Klugheit, der ebenfalls ein solches architektonisches Vermögen, gemäß ihrer politischen Kompetenz, zugeschrieben wird (vgl. NEVI8, 1141b21–27; zu Übersetzungsvorschlägen Wolf 2002, 266). Vor diesem Hintergrund weist die Stelle aus Nikomachische EthikVI auf einen Punkt hin, der für unser Verständnis der Aussage, die Klugheit sei eine Tugend, zentral ist: Nach dieser Stelle ist die Richtigkeit des Strebens ausschlaggebend für die Wahrheit der praktischen Vernunft und wird selbst durch die sogenannte ethische Tugend garantiert.

3.3.Praxis als Zusammenwirken von praktischer Vernunft und Tugend

Damit ist ein weiterer Zentralbegriff der aristotelischen Ethik angesprochen, nämlich der der Tugend, die auch in der aristotelischen Konzeption eine wesentliche Voraussetzung für die Eudaimonie ist (NE I 6, 1098a 12–18). Denn diese besteht in einer Aktivität gemäß der Tugend, wofür das Besitzen von Tugenden notwendig ist. Bis heute bekannt ist auch Aristoteles’ Lehre der Beschreibung der sogenannten ethischen Tugenden als Haltungen, durch die jemand darauf abzielt, die rechte Mitte in einem Gegenstandsbereich zu treffen, z.B. in der Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit (NEII5f.). In diesen Kontext gehören auch seine Lehren von den Tugenden des sozialen Lebens, vor allem der Gerechtigkeit in Nikomachische Ethik V, aber auch der Freundschaft in Nikomachische EthikVIII–IX. Da zudem richtige Freude bzw. Lust aus tugendhafter Aktivität entstehen und ein willensschwaches (akratisches) Handeln durch Tugend verhindert werden soll, kann man die Nikomachische Ethik in ihrer Gänze durchaus als eine ausführliche Tugendlehre charakterisieren.

Ein philosophisch exaktes Verständnis von Aristoteles’ Tugendlehre und ihrem Bezug zum Handeln ist jedoch nicht einfach, und das hat nicht zuletzt mit der praktischen Vernunft bzw. Klugheit zu tun: Zwar ist es klar, dass Aristoteles diese im Rahmen seiner Unterscheidung zweier Arten von Tugenden – nämlich „dianoetischer“ Tugenden des Verstandes und „ethischer“ Tugenden des Charakters, die insbesondere ein kontrolliertes Verhältnis zur eigenen Emotionalität bewirken (NEII1) – den Verstandestugenden zurechnet. Doch das Verhältnis der Klugheit zu den ethischen Tugenden, das Aristoteles vor allem gegen Ende von Buch VI der Nikomachischen Ethik behandelt, stellt ein zentrales Problem für |16|die Interpretation der aristotelischen Ethik dar. Denn die Aussagen, die Aristoteles hierzu trifft, klingen zunächst einmal kontraintuitiv:

Das Werk wird gemäß der Klugheit und der ethischen Tugend ausgeführt; denn die Tugend macht das Ziel richtig, die Klugheit das auf dieses Hinführende. (NEVI12, 1144a6–8)

Die Tugend bzw. Schlechtigkeit verdirbt das Prinzip bzw. rettet es; in den Handlungen ist das Worumwillen Prinzip, so wie in der Mathematik die Hypothesen. Weder dort lehrt also die Vernunft die Prinzipien, noch hier, sondern die entweder natürliche oder angewöhnte Tugend lehrt die richtige Meinung über das Prinzip. (NEVI9, 1151b15–19)

Für den tugendhaften Menschen scheint dies zu bedeuten, dass die Richtigkeit seiner Ziele nicht durch die Klugheit oder durch eine andere Form von Vernunft sichergestellt ist, sondern allein durch die ethische Tugend, d.h. durch sein gutes Ethos bzw. seinen guten Charakter. Diese Ansicht stimmt auch mit den aus De animaIII9–10 und Nikomachische EthikVI2 zitierten Aussagen sowie der für Aristoteles wichtigen Verbindung von Klugheit und Überlegung (būleusis) überein, die stets mit dem Hinweis verbunden ist, dass man nicht über Ziele, sondern über Mittel überlegt (v.a. NEIII5–6). Ferner steht sie in enger Korrespondenz zu Aristoteles’ Lehre von der Vorzugswahl (prohairesis), die üblicherweise als Wahl der richtigen Mittel für ein vorliegendes Ziel verstanden wird (NEIII4). Aristoteles war demnach offensichtlich der Meinung, die Ziele richtigen Handelns seien dem Handelnden durch seine ethische Tugend vorgegeben und nicht durch die praktische Vernunft. Die Praxis erweist sich somit als ein guter Lebensvollzug, in dem die Klugheit im Rahmen eines durch Tugend grundsätzlich geprägten Agierens die Richtung des Tuns im Einzelnen ermittelt. Damit ist der Verstehenshorizont bestimmt, von dem aus die aristotelische Praxisphilosophie seit der Antike gelesen wurde, zum Beispiel von Thomas von Aquin im 13. und auch noch von Julius Walter im 19. Jahrhundert: Sie interpretierten die aristotelische Beschreibung von Praxis und praktischer Vernunft nicht primär als eine Deduktion aus Prinzipien, die die Vernunft selbst aufstellt, sondern als einen Vollzug des bereits tugendhaften Menschen. (Thomas von Aquin, SLEVI, 10, l. 151–162 Gauthier; STh Prima Secundae I-II57, 5; s. Walter 1873, 74f.)

Es ist bemerkenswert und von Aristoteles’ Text her verwunderlich, dass dies für die Forschung des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen nicht mehr gilt. Stattdessen nimmt man seit Richard Loening 1903 verbreitet an, dass nach Aristoteles die Vernunft in der Lage sei „Prinzipien des Handelns“ zu erkennen (vgl. Loening 1903, 26–39), und akzeptiert Leonard Greenwood 1909 geäußerte Umdrehung der aristotelischen Formulierung („the actual stating of the telos […] must be the work not of moral aretē, but of phronēsis“, (Aristoteles [Greenwood] 1909, 51) als Interpretation des von Aristoteles Gemeinten. Das, was für diese das „auf das Ziel hinführende“ (ta pros to telos) ist, wird nun zu „component means“ or „constitutive ends“ umgedeutet, d.h. zu Bestandteilen dessen, was das Ziel ausmacht. (Aristoteles [Greenwood] 1909, 52–54) Vergleichbar unaristotelische Formulierungen sind auch in aktuellen Publikationen zu finden: „The first task |17|of deliberation concerns a decision not about means but about ends“ (Sherman 1989, 71; vgl. Kraut 1989, 343: „The political life is devoted to the fullest possible expression of practical wisdom, and the ethical virtues are desirable because they facilitate this intellectual activity“). Wohl selten hat eine Interpretationstradition, die so offen dem zu interpretierenden Text widerspricht, vergleichbare Erfolge gefeiert.

Die hier angesprochene Frage ist in jedem Fall für die Erklärung dessen, wie sich Praxis vollzieht, von großer Bedeutung: Bietet uns Aristoteles tatsächlich eine Erklärung für die Zielausrichtung unseres Handelns, die nicht unmittelbar eine rationale Bestimmung beinhaltet? In der Tat scheint es ja schwer vorstellbar, dass uns in der Praxis ein nicht rationales Streben Handlungsziele vorgibt: Wie soll man sich dies vorstellen? Ist damit tatsächlich ein nicht rationales Streben gemeint, oder lässt diese Lehre Raum für eine Mitwirkung der Vernunft? Um derartige Fragen zu beantworten, möchte ich nun in drei Schritten Aristoteles’ Standpunkt klarer machen: I. werde ich Aristoteles’ bereits kurz erwähnte Verhältnisbestimmung von Streben und Denken anhand einiger nicht-ethischer Schriften näher erläutern, sodann II. anhand des zweiten Buches der Eudemischen Ethik zeigen, wie sich die Rolle der ethischen Tugend vor diesem Hintergrund erklären lässt, und schließlich III. den Zusammenhang dieser habituellen Zielauffassung mit der Vernunft diskutieren, bevor ich zu einer kurzen vorläufigen Würdigung der aristotelischen Position komme.

3.3.1.Die Ausrichtung der Praxis auf Ziele

Im IX. Buch seiner Metaphysik weist Aristoteles darauf hin, dass rationale Wesen innerhalb seiner Konzeption von Möglichkeiten auf besondere Weise zu behandeln sind: Da nicht-rationale Vermögen grundsätzlich auf ein Objekt ausgerichtet sind, werden sie aktiv, wenn ein solches Objekt in hinreichender Nähe auftaucht (IX5, 1014b35–18a9). Für die Vernunft (logos), die sich auf zwei einander ausschließende Objekte zugleich beziehen kann, gilt dies aber nicht, sondern sie kann immer nur eine der verschiedenen in ihr liegenden Möglichkeiten realisieren. „Also“, schließt Aristoteles, „muss etwas anderes das Entscheidende sein; ich meine hiermit das Streben oder die Vorzugswahl. Denn was das vernünftige Vermögen entscheidend erstrebt, das tut es“ (1014a10–12). Diese Stelle fasst auf prägnante Weise die Gründe zusammen, die die Sonderstellung des Strebens in Aristoteles’ Handlungstheorie motivieren: Anders als die Vernunft impliziert ein Streben eine Festlegung auf ein Handlungsziel; nur ein Wesen, das bereits strebt, dessen Ziel also festliegt, ist überhaupt in der Lage zu handeln.

Wie sich Streben und Vernunft hierbei verhalten, das wird näher erklärt in Aristoteles’ Schriften „Über die Seele“ (De anima) und „Die Bewegung der Tiere“ (De motu animalium). Beide beschreiben den Bewegungsvorgang anhand dreier Momente, nämlich 1. des unbewegten erstrebten Objekts, 2. des Strebevermögens, das zugleich bewegt und bewegt wird, und 3. der dadurch eintretenden |18|Bewegung des Lebewesens (DAIII10, 433b 13–19; De motu animalium [MA]6, 700b35–01a1). In enger Verbindung mit dieser Dreiteilung wird die Frage diskutiert, welche Seelenvermögen am zweiten Punkt wirksam sind, d.h. wodurch ein erkanntes Objekt das Lebewesen bewegt. Dies kann aber Aristoteles zufolge weder irgendein Erkenntnisvermögen aus sich heraus, noch auch das Strebevermögen selbst. Eine direkte Wirkung der praktischen Vernunft werde nämlich durch ein willensschwaches Handeln ausgeschlossen, bei dem jemand seiner Vernunft zuwiderhandelt; eine ausschließliche Wirkung eines Strebevermögens sei hingegen deswegen unmöglich, weil ein willensstarker Handelnder zwar ein Streben in Form einer Begierde habe, ihr aber nicht folge (DAIII9, 432b26–33a8). Auf dieser Grundlage zieht Aristoteles den Schluss, dass praktische Vernunft und Strebevermögen bei der Bewegung des Lebewesens eine Einheit bilden müssen, indem sich beide auf das erstrebte Objekt beziehen und so das Lebewesen auf dieses hin in Bewegung setzen (DAIII10, 433a13–21; MA6, 700b,17–25).

Die für die Bewegung notwendige Beschränkung der rational gegebenen Möglichkeiten auf genau ein Objekt muss demnach dadurch erfolgen, dass dieses zum Objekt des Strebens wird. Eine solche Festlegung erfolgt wiederum, wenn ein Gegenstand als „angenehm“ (hēdy) empfunden wird; er wird dann nicht nur theoretisch erkannt, sondern auch unmittelbar erstrebt, ebenso wie das als „unangenehm“ (lypēron) empfundene automatisch gemieden wird. Beide Prädikate implizieren nämlich, anders als „wahr“ und „falsch“, dass das von ihnen prädizierte Objekt des Strebens wird (DAIII7, 431b8–10; vgl. De sensu et sensato1, 436b15–17). In der Schrift „Die Bewegung der Tiere“ (De motu animalium) wird dies dadurch näher erklärt, dass die Erkenntnis als angenehm oder unangenehm automatisch eine körperliche Wärme oder Kälte verursacht, mit der z.B. Emotionen wie Mut, Furcht und sexuelles Begehren verbunden seien (8, 701b33–702a5). Von daher entwickelt Aristoteles die Idee einer ununterbrochenen Kette von Wirkungen, die mit der Erkenntnis anhebt und mit einer körperlichen Bewegung endet: „Denn die organischen Teile bereiten die Emotionen vor, das Streben aber die Emotionen, und das Streben wiederum die Vorstellungskraft. Diese entsteht aber entweder durch Denken oder durch sinnliches Wahrnehmen.“ (MA702a17–19)

Diese hier nur sehr knapp skizzierten Grundlagen von Aristoteles’ Bewegungstheorie zeigen, dass für ihn eine handlungsleitende Funktion von Vernunft überhaupt nur in einem Zusammenspiel mit einer Form des Strebens deutlich wird. Ich möchte dabei zwei Punkte besonders festhalten: 1. Eine rationale Erkenntnis muss auf jedem Fall einem rationalen Streben vorhergehen. 2. Diese Erkenntnis selbst kann den Gegenstand des Strebens aber nicht hinreichend spezifizieren, um selbst handlungsleitend zu wirken. Dafür ist vielmehr nötig, einen rational erkannten Gesichtspunkt in ein Streben zu übersetzen.

|19|3.3.2. Die Tugend und die Auffassung der Ziele

Vor diesem Hintergrund kann insbesondere anhand des zweiten Buchs von Aristoteles’ relativ wenig gelesener Eudemischen Ethik näher erklärt werden, wie die ethische Tugend die Ziele des Handelns vorgibt. Dieses Buch enthält nicht nur eine ausführliche Erklärung dieses Punktes, sondern es weist auch enge Parallelen zu den bis jetzt zitierten naturwissenschaftlichen Schriften auf, die daher zur Verdeutlichung herangezogen werden können.

Aristoteles schildert hier die ethische Tugend vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, die Herrschaft des rationalen Seelenteils in der Seele zu ermöglichen (I 8, 1218b9–16; II1, 1219b39–1220a4). Dazu hält er fest, die ethische Tugend sei eine Qualität in Bezug auf solche Haltungen, nach denen man Emotionen wie Zorn, Furcht und Scham empfinde oder nicht empfinde (II2, 1220b7–20). Diese seien nämlich mit Empfindungen wie „angenehm“ (hēdy) und „unangenehm“ (lypēron) untrennbar verbunden (II1/2, 1220a34–39; 2, 1220b14f.): Wenn ich Zorn empfinde, dann wird für mich eine Aggression angenehm und Zurückhaltung unangenehm; empfinde ich Furcht, erscheint mir die Flucht angenehm, das Standhalten unangenehm. Die Aufgabe der Tugend besteht nun darin, eine rechte Ordnung unter diesen handlungsleitenden Emotionen herzustellen:

Weil […] die ethischen Tugenden dem nicht rationalen Seelenteil angehören, der aber über Streben (orexis) verfügt […], muss der Charakter notwendigerweise durch das Verfolgen oder Meiden bestimmter Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten (hēdonai kai lypai) schlecht oder hervorragend sein. […] Denn die Anlagen und die Haltungen beziehen sich auf die Emotionen, die Emotionen aber werden durch Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit bestimmt. (EEII4, 1221b27–37)

Die Ausführungen aus den eben zitierten Schriften zeigen, wie diese Aussage zu verstehen ist: Die Leistung der Tugend besteht darin, dass die von der Vernunft als richtig bewerteten Objekte als „angenehm“ und „unangenehm“ empfunden werden, so dass sie, vermittelt über die richtigen Emotionen, zum Gegenstand unseres Strebens und folglich unseres Handelns werden. Ein tugendhafter Mensch wird in seinem Handeln daher ausschließlich durch solche Objekte bestimmt, die als richtig zu bewerten sind. Umgekehrt ist es ohne eine solche Tugend nur schwer möglich, das Handeln auf solche Objekte auszurichten.

Wie kommt nun Aristoteles vor diesem Hintergrund zu der Annahme, dass die Tugend die Richtigkeit des Ziels, die Klugheit die der dazu hinführenden Schritte garantiert? Im letzten Kapitel des zweiten Buches der Eudemischen Ethik stellt er zunächst die Frage, ob die Tugend „die Prohairesis, d.h. das Ziel […] oder, wie einige meinen, die Vernunft (ho logos) fehlerlos macht“. Die Verbindung von Vernunft und Tugend wird sofort mit dem Hinweis abgelehnt, die Richtigstellung des Logos sei eine Wirkung der Selbstbeherrschung (enkrateia), also des Gegenteils der Willensschwäche (akrasia. II11, 1227b12–16; vgl. DAIII9, 433a6–8; Top. IV5, 125b20–27). Während er eine genauere Aussage hierzu verschiebt, betont Aristoteles sofort, die Tugend mache nicht das, was zum Ziel hinführe richtig, sondern dieses selbst, „weil es über dieses weder ein Nachdenken (logismos) noch Vernunft gibt“ (II11, 1227b24f.). Die Begründung für diese Behauptung besteht zunächst in der Feststellung, keine Fertigkeit denke über ihr Ziel nach, was an einigen Beispielen belegt wird: Weder frage sich der Arzt, ob er für Gesundheit sorgen soll, noch der Gymnastiker, ob körperliches Wohlbefinden anzustreben sei; lediglich die auf dieses Ziel hingeordneten Handlungen seien bei ihnen umstritten. Hieraus kann Aristoteles folgern:

Wenn also der Grund für jede Richtigkeit entweder die Vernunft oder die Tugend ist, dann ist das Ziel, wenn nicht die Vernunft Ursache hierfür sein kann, sicher wegen der Tugend richtig. […] Das Worumwillen ist das Mittlere, dessen Ursache die Tugend ist, für [Ich lese mit einer Konjektur Kennys tū für das überlieferte to. Vgl. zum ganzen Abschnitt Kenny 1979, 83–87] dessen Vorzugswählen als Worumwillen die Tugend die |20|Ursache ist. Allerdings bezieht sich die Vorzugswahl nicht hierauf, sondern auf das, was seinetwegen erfolgt. (II11, 1227b34f., 1227b37f.)

Die Überlegung und die mit ihr verbundene Vorzugswahl sind demnach stets auf Mittel zum Ziel bezogen; dieses selbst kann nicht Gegenstand der Überlegung sein, sondern es werde durch die Tugend vorgegeben. Wie aber ist dies genau zu verstehen? Das Problem dabei ergibt sich, wie John Cooper bemerkt (Cooper 1975, 4f.), daraus, dass Aristoteles’ Beispiele stets aus dem Bereich von Handwerken oder anderen professionellen Tätigkeiten genommen werden, in denen das Ziel des Handelns feststeht, da es nach der bekannten Lehre des Ersten Buches der Nikomachischen Ethik von einer höherrangigen Tätigkeit vorgegeben wird. Für die Praxis, also das Ausüben von Tugenden, ist aber gerade dies nicht selbstverständlich, da sie ja ihr Ziel in sich selbst haben soll; auf ihren Bereich wird man aber die Aussage beziehen müssen, dass die Tugend die Ziele vorgibt.

Wichtige Hinweise zum Verständnis dieser Ansicht liefert der Abschnitt zur Vorzugswahl in der Eudemischen Ethik: Diese sei deswegen nur auf die Mittel, nicht auf das Ziel ausgerichtet (II10, 1226a7–15), weil sie ein Überlegen (būleusis) sei. „Menschen, für die kein Ziel festliegt, überlegen nicht“ (II10, 1226b29f.). Bemerkenswert ist, dass Aristoteles in diesem Kapitel angibt, welche Vermögen für das Ansetzen des Ziels verantwortlich sind: Die Vorzugswahl

ist […] nicht ein Meinen über die einem selbst obliegenden Gegenstände des Handelns, durch die wir tatsächlich glauben, man müsse in gewisser Weise handeln oder nicht handeln. Dies ist etwas Gemeinsames von Meinen (doxa) und Wollen (būlēsis). […] Denn jemand will in erster Linie das Ziel, und meint, er müsse sowohl gesund sein als auch gut handeln. (II10, 1226a4–7, 13–15)

Während sich die Vorzugswahl nur auf die Mittel zum Ziel erstreckt, wird dies also durch die Vermögen des Meinens und des Wollens vorgegeben. Der Verweis auf das Gesund-Sein und das Gut-Handeln bestätigt diese Interpretation: Das Gesund-Sein (hygiainein) ist ja das Ziel, das der Arzt nicht wählt, sondern das seiner Überlegung vorausliegt (II10, 1226a8–14; II11, 1227b30f.). Das gleiche gilt für das eu prattein, das ich mit gutes Handeln übersetzt habe: Dieser Begriff, der ebenso „gut gehen“ bedeuten kann, ist ein Synonym zum Glücklich-Sein, dem eudaimonein bzw. der eudaimonia (II1, 1219b 1f.) und auch zum guten Leben (eu zēn), das in Nikomachische EthikVI als das Ziel der phronēsis genannt wird (NEVI5, 1140a28). Der gesamte Bereich der mit Überlegung und Klugheit verbundenen Vorzugswahl lässt sich demnach auf den ursprünglichen Wunsch, glücklich zu sein, beziehen und ermittelt die richtigen Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel. Daher ist dieses Ziel ein den Prinzipien theoretischen Denkens vergleichbares (II10, 1227a8–11; II11, 1227b28–30) erstes Prinzip.

3.3.3.