Pietismus - Martin H. Jung - E-Book

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Martin H. Jung

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Beschreibung

FISCHER KOMPAKT. Verlässliches Wissen kompetent, übersichtlich und bündig dargestellt. Das Werk liefert einen Überblick über die pietistischen Erneuerungs- und Frömmigkeitsbewegungen im deutschen Protestantismus. Die Darstellung gibt einen historischen Aufriss und führt religiöse Grundüberzeugungen, soziale Programmatik und bedeutende Vertreter der Bewegungen vor Augen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Martin Jung

Pietismus

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Inhalt

Grundriss»Pietismus« – Schimpfwort, Bewegung, EpocheDefinitionenAnfänge und HintergründeAnliegen und ZieleWirkungenStationen des PietismusAufbrüche und Umbrüche in Frankfurt und LeipzigDas Zentrum Halle an der SaaleDie Siedlung Herrnhut in der OberlausitzWürttemberg als Land des PietismusPietismus an Ruhr, Rhein und WupperPietismus in der reformierten SchweizFernwirkungen und NachgeschichteDer Methodismus als Kind des PietismusErweckungs-, Gemeinschafts-, HeiligungsbewegungenPietismus heute?Pietismusforschung – Geschichte und GegenwartVertiefungenSpener – Vater des PietismusFrancke – Pädagoge des PietismusZinzendorf – Gemeindegründer und ÖkumenikerBengel – Bibelforscher und ZukunftsdeuterPetersen – Laientheologin des PietismusNitschmann – Gemeindeleiterin und DichterinTersteegen – Mystiker und SchriftstellerVon Buttlar – Visionärin und SeparatistinDie Theologie des PietismusWiedergeburt und BekehrungDie Ethik des PietismusFrauen im PietismusPietismus und JudentumNatur und Technik im PietismusPietismus und AufklärungPietismus und ReformationAnhangZeittafelGlossarLiteraturhinweiseAbbildungsnachweise:

Grundriss

»Pietismus« – Schimpfwort, Bewegung, Epoche

Vom »Pietismus« wurde vermutlich erstmals um 1674 in Frankfurt am Main gesprochen, die bislang bekannte älteste schriftliche Bezeugung des Begriffs stammt aus dem Jahr 1680. Dann tauchte das Wort 1689 auch in Leipzig auf. Es war ein Schimpfwort. Verwendet wurde es von den Gegnern einer neuen Bewegung in der evangelischen Kirche. Weil sich diese Bewegung Frömmigkeit – lateinisch: pietas – zum Ziel gesetzt hatte, sprachen ihre Gegner verächtlich von den »Pietisten« und der »Pietisterei«. In den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden vielerorts von den Obrigkeiten Verordnungen »gegen Pietisterei« erlassen. Nach und nach machten sich die als Pietisten Beschimpften und Ausgegrenzten den neuen Begriff zu Eigen und bezeichneten sich selbst so. Noch heute gibt es in den evangelischen Kirchen Gruppen, die sich pietistisch nennen. Im 19. Jahrhundert wurde Pietismus zu einem Begriff der Kirchengeschichtsschreibung und zu einer Epochenbezeichnung.

Definitionen

Der Pietismus war eine Erneuerungs- und Frömmigkeitsbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus, und zwar die bislang bedeutendste. Als Erneuerungsbewegung ist er vergleichbar mit der Reformation, der bislang bedeutendsten Erneuerungsbewegung im abendländischen Christentum. Als Frömmigkeitsbewegung ist er vergleichbar mit dem Mönchtum, der bislang bedeutendsten Frömmigkeitsbewegung in der Christentumsgeschichte überhaupt. Als protestantische Erneuerungs- und Frömmigkeitsbewegung steht der Pietismus auf gleicher Ebene mit dem Puritanismus, einer Erneuerungs- und Frömmigkeitsbewegung, die der englische Protestantismus hervorgebracht hat. Der Pietismus und der schon zuvor entstandene Puritanismus sind in vielen Punkten verwandt und haben sich wechselseitig beeinflusst.

Der Pietismus war eine soziale Bewegung und nicht einfach eine religiöse Idee oder ein theologisches Programm. Als Bewegung bildete er Organisationsformen und Strukturen, später sogar richtige Institutionen heraus. Das Hauptanliegen der Bewegung war die Erneuerung und Förderung der Frömmigkeit, also der gelebten Religiosität. Gleichzeitig zielte er auf die Reformierung des gesamten kirchlichen und sogar des öffentlichen Lebens. Der Pietismus veränderte nicht nur die Kirche, sondern beeinflusste weite Bereiche von Gesellschaft und Kultur.

Anfänge und Hintergründe

Der Pietismus entstand nicht an einem bestimmten Datum und an einem bestimmten Ort, und er wurde nicht von einer einzigen Persönlichkeit begründet. Anders als die Reformation, die mit dem Jahr 1517, mit der Stadt Wittenberg und mit der Person Martin Luthers einen eindeutigen und markanten Ausgangspunkt hatte, hatte der Pietismus von Anfang an mehrere Zentren. Verschiedene kirchliche Aufbrüche verbanden sich und formten gemeinsam die pietistische Bewegung. Gleichwohl kommt den Jahren 1670–1675 und der Stadt Frankfurt am Main sowie dem dort wirkenden lutherischen Pfarrer Philipp Jakob Spener eine hervorragende Bedeutung zu. Ob es ohne die Impulse aus Frankfurt zu einer pietistischen Bewegung gekommen wäre, ist fraglich. Frankfurt wirkte befruchtend und integrierend auf kirchliche Erneuerungsbewegungen an anderen Orten. In Frankfurt wurde die pietistische Bewegung von einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen getragen. Es waren überwiegend Laien, und der studierte Theologe Spener war nur ein Beteiligter unter anderen. Spener hat die Frankfurter Ideen und Projekte allerdings 1675 programmatisch gebündelt in schriftlicher Form einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert. Damals veröffentlichte er seine Pia desideria, die zur Programmschrift des Pietismus wurden. Deswegen lässt sich Spener als Vater des Pietismus bezeichnen. Im Rückblick erschienen dieser Mann, diese Schrift und dieses Datum als die Ausgangspunkte des Pietismus. Andere Ursprungsorte und Impulsgeber traten zwangsläufig, aber nicht berechtigterweise in den Hintergrund.

In vielen Regionen Deutschlands wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über die Erneuerung von Kirche und Gesellschaft nachgedacht. Im Hintergrund stand die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges. Von 1618 an war Deutschland drei Jahrzehnte lang vom Krieg heimgesucht worden. Die Folgen für die Menschen, die Landschaft und die Kultur waren verheerend. Kirchen und Klöster wurden geplündert, Felder und Städte zerstört. Die Schlachten forderten ihre Opfer, und die herumziehenden Truppenverbände beraubten die Bevölkerung, vergewaltigten Frauen und schleppten Seuchen ein. Als Folge des Krieges reduzierte sich die Bevölkerung Deutschlands um etwa 40 Prozent. Ganze Landstriche waren entvölkert. Fromme Menschen interpretierten dieses Geschehen als Strafgericht Gottes für ihre Sünden und riefen zu Buße und Umkehr auf. Nach dem Friedensschluss 1648 fragten sie nach einem erneuerten, gottwohlgefälligen Leben.

In mehreren Regionen Deutschlands begannen unabhängig voneinander kirchliche Reformen. Im Herzogtum Württemberg kam es in den 40er-Jahren unter der Leitung des lutherischen Theologen Johann Valentin Andreä zu einem Reformschub. Die Menschen sollten besser als zuvor mit der Bibel bekannt gemacht und es sollte mehr als zuvor auf ein sittliches Leben gedrängt werden. Auch die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt, um das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben. Im Herzogtum Sachsen-Gotha engagierte sich der Landesherr, Ernst der Fromme, für die Erneuerung der Kirche und des gesellschaftlichen Lebens. Der Alltagswandel der Bevölkerung wurde streng kontrolliert, das Schulwesen verbessert und eine neue, mit Erläuterungen versehene Bibelausgabe veranstaltet.

In Straßburg entwickelten die Theologieprofessoren Johann Schmidt, Johann Georg Dorsche und Johann Konrad Dannhauer Reformvorstellungen. Schmidt forderte und förderte eine verstärkte katechetische Unterweisung der Jugend und engagierte sich für die Verbreitung englischer Erbauungsliteratur. Dorsche wollte eine Studienreform und wandte sich gegen den permanenten Streit unter den Theologen. Dannhauer nahm in seiner Ethik puritanische Einflüsse auf und forderte eine strenge Sonntagsheiligung. In eindrücklichen Predigten legte er den Katechismus aus, um die Menschen mit den Grundlagen des christlichen Glaubens und Lebens besser vertraut zu machen.

Ein weiteres Zentrum von Reformanstrengungen war Mülheim an der Ruhr. Hier bemühte sich der reformierte Theologe Theodor Undereyck um die Erneuerung des Gemeindelebens. In Frankfurt am Main trafen sich seit 1670 in einem Pfarrhaus Patrizier und Akademiker regelmäßig zu einem religiösen Gesprächskreis. Auch sie wollten damit der Erneuerung der Kirche dienen und wurden zur Keimzelle der pietistischen Bewegung.

Vielfach griffen die reformwilligen Kräfte auf ein Werk zurück, das bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts erschienen war und das nun aktuell gewordene Motto des »Wahren Christentums« im Titel trug. Johann Arndt, nach Pfarrämtern in Quedlinburg, Braunschweig und Eisleben zuletzt lutherischer Generalsuperintendent in Celle, ließ in den Jahren 1605–1610 insgesamt vier Bücher vom Wahren Christentum erscheinen, die eine auf die Erneuerung des Lebens abzielende Frömmigkeit und ein Christentum des Herzens und der Tat propagierten. Dieses Werk sollte für die pietistische Frömmigkeit grundlegend werden. Arndt kommt für den Pietismus eine so große Bedeutung zu, dass man mitunter den Pietismus als Frömmigkeitsform – nicht aber den Pietismus als soziale Bewegung – bereits mit ihm und also im frühen 17. Jahrhundert beginnen lässt.

Johann Arndt

Anliegen und Ziele

Die Anliegen und Ziele des Pietismus waren vielfältig. Am besten lassen sie sich anhand der bereits erwähnten Pia desideria, der von Spener stammenden Programmschrift des Pietismus, erfassen, die auch heute noch gedruckt und gelesen wird. Der Titel der Schrift ist lateinisch, sie ist aber in deutscher Sprache geschrieben. Der Titel wird von Spener schon auf dem Titelblatt übersetzt, nicht wörtlich mit »fromme Wünsche«, sondern mit »herzliches Verlangen«. Worauf richtet sich Speners tief in seinem Herzen gegründetes Verlangen? Die Fortsetzung des Titels liefert die Antwort: Spener verlangt »nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche« und bietet dazu in seiner Schrift »einige dahin einfältig abzweckende christliche Vorschläge« an. Spener, »Doktor der Theologie und Prediger und Senior zu Frankfurt am Main«, kritisiert in ihr den Lebensstil aller gesellschaftlichen Gruppen einschließlich der Regenten und der Pfarrer, beschwört den Glauben an eine bessere Zukunft und fordert sechs konkrete Reformen.

1. soll das Wort Gottes »reichlicher« verbreitet werden. Die Bibel müsse deswegen im Gottesdienst verlesen, privat studiert und in neu einzurichtenden Gemeindekreisen besprochen werden. 2. soll endlich das allgemeine Priestertum verwirklicht, d.h. das Engagement der Laien in den Gemeinden gestärkt und die Alleinzuständigkeitsbereiche der Pfarrer eingeschränkt werden. 3. soll den Menschen verdeutlicht werden, dass das Christentum nicht einfach eine Lehre sei, die man zu wissen habe, sondern auf die Praxis abziele, ganz konkret auf die Liebe zum Nächsten. 4. soll unter Christen über Fragen der Theologie weniger Streit herrschen. 5. soll das Theologiestudium verändert und an praktischen Erfordernissen ausgerichtet werden. 6. sollen sich die Predigten verbessern, sie sollen auf Rhetorik und Gelehrsamkeit verzichten und sich auf den Glauben und seine Früchte ausrichten.

Speners Theologie kreiste um den Gedanken der Wiedergeburt. Durch neue Menschen sollten neue Gemeinden und eine neue Kirche geschaffen werden.

Speners Reformschrift war zunächst kein Bestseller. Sie erschien als Vorrede zu einer dickbändigen Neuausgabe von Predigten Arndts. Später gab es Separatausgaben im Taschenbuchformat. Gelesen wurde die Schrift überwiegend von Pfarrern. Viele stimmten Speners Vorschlägen zu, machten sie sich zu Eigen und traten brieflich mit ihm in Verbindung. Besonders dort stieß Spener auf Resonanz, wo schon länger und auf ähnliche Weise an der Reform der Kirche gearbeitet worden war. Auf diese Weise entstand, ausgehend von einem kommunikativen Netzwerk evangelischer Theologen, eine überregionale Bewegung. Insbesondere bildeten sich vielerorts nach dem Frankfurter Vorbild Gemeindekreise, in denen die Bibel gelesen und ausgelegt wurde. Man sprach von Privatversammlungen, Erbauungsstunden oder Konventikeln. Spener selbst hatte von »frommen Versammlungen« (lateinisch: collegia pietatis) und vom »Kirchlein in der Kirche« (lateinisch: ecclesiola in ecclesia) gesprochen. Es ging dabei zunächst um die Sammlung engagierter, so genannter »wahrer« Christen innerhalb der größeren christlichen Gemeinschaft. Ein Kern Aktiver und Überzeugter sollte die Erneuerung der Kirche vorantreiben. Solche Gemeindekreise hatte es zuvor nicht gegeben. Zwar gab es Vorbilder in den Täuferversammlungen der Reformationszeit und in der niederländisch-reformierten Kirche des 17. Jahrhunderts, aber in den lutherischen Kirchen Deutschlands beschränkte sich das Gemeindeleben auf die Gottesdienste und die dazugehörigen sakramentalen Handlungen (Taufe, Abendmahl). Alles lag in der Hand des Pfarrers. Gemeindekreise oder eine andere aktive Beteiligung der Gemeindeglieder am kirchlichen Leben gab es nicht.

Titelseite von Speners Pia desideria

Gemeindekreise sind im heutigen kirchlichen Leben eine Selbstverständlichkeit. Im 17. Jahrhundert stießen sie auf Widerstand. Es gab noch keine Versammlungsfreiheit. Zusammenkünfte von Männern und Frauen, dazu noch unterschiedlichen sozialen Standes und häufig abends, lösten Verdächtigungen aus. Fast überall wurden diese Versammlungen deswegen verboten oder zumindest der Aufsicht eines Pfarrers unterstellt. Doch die Bewegung ließ sich nicht mehr unterdrücken. Pietistinnen und Pietisten versammelten sich, wenn es sein musste, im Verborgenen und nahmen dafür mitunter Gefängnis und Landesverweis in Kauf.

Wirkungen

Der Pietismus erfasste im Laufe des 18. Jahrhunderts in unterschiedlicher Intensität alle deutschen Landeskirchen und die Kirchen der reformierten Schweiz. Im kirchlichen Bereich war diese Bewegung zeitweise so dominierend, dass man mit Blick auf das Jahrhundert zwischen 1675 und 1780 von der Epoche oder dem Zeitalter des Pietismus spricht. Der Pietismus folgte auf die Epoche der Orthodoxie, die nach dem Abschluss der Reformation mit dem Jahr 1555 begonnen hatte. In etwa zeitgleich war die Epoche des Pietismus mit der Epoche der Aufklärung. Zwischen beiden Bewegungen gab es deshalb vielfache Wechselwirkungen, und partiell verfolgten Pietismus und Aufklärung sogar gleiche Ziele und kooperierten dabei.

Der Pietismus veränderte die Kirche und die Theologie und er führte zu einem Aufschwung im Bildungs- und Sozialwesen. Im Zeitalter des Pietismus und getragen von Pietisten begann der deutsche Protestantismus mit der organisierten Verbreitung von Bibeln und mit der Mission unter Juden und Heiden. Es wurden zahlreiche Schulen, auch für Mittellose, und soziale Einrichtungen geschaffen. Dabei wurden erstmals auch die Mädchen und jungen Frauen gefördert. Unzählige Erbauungsschriften entstanden und religiöse Lieder (vgl. Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert, 2003), die teilweise bis in die Gegenwart in evangelischen Kirchen Verwendung finden. Verbunden mit dem Anliegen der religiösen Jugendbildung wurde in den evangelischen Kirchen der Konfirmation zum Durchbruch verholfen. Viele bedeutende Gelehrte an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die nicht dem Pietismus angehörten, waren dennoch nachhaltig von diesem geprägt, z.B. der große Theologe Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832).

Der Pietismus führte auch zu einer Reduzierung der konfessionellen Gegensätze. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts standen sich in Deutschland nicht nur evangelische und katholische Christen, sondern auch evangelisch-lutherische und evangelisch-reformierte feindlich gegenüber. Man bezichtigte sich gegenseitig der Irrlehre, des »Falschglaubens« oder des Unglaubens, und die Theologen profilierten ihre Lehren in scharfer Abgrenzung von anderskonfessionellen Theologien. Spener hat bereits 1675 zur Mäßigung aufgerufen. Obwohl selbst fest auf dem Boden des Luthertums stehend, wollte er in den anderen Konfessionen nicht Un-, sondern Mitchristen sehen und ihnen in Liebe begegnen. Andere Pietisten gingen weiter als Spener und forderten konfessionelle Offenheit, ja Toleranz. Vereinzelt wurde sogar eine betont überkonfessionelle Position eingenommen. Im Pietismus gab es die Bereitschaft zur Begegnung und zum Gespräch mit Christen anderer Konfessionen. Mitunter kamen außer den drei großen abendländischen Konfessionen auch das östliche Christentum, die so genannte Orthodoxe Kirche, in den Blick und sogar andere Religionen, insbesondere das Judentum.

Stationen des Pietismus

Als Folge von Speners Pia desideria vernetzten sich in Deutschland verschiedene lokale und regionale Frömmigkeits- und Erneuerungsbewegungen und es entstand die Bewegung des Pietismus. Die verschiedenen lokalen und regionalen Zentren befruchteten sich in der Folge gegenseitig, machten aber auch unterschiedliche Entwicklungen durch. Eine zentrale Leitung gab es nicht. Spener war für viele Vorbild und Ratgeber, erntete mitunter aber auch innerpietistischen Widerspruch. In den 70er-Jahren des 17. Jahrhunderts gab es Pietisten und Pietistinnen außer in Frankfurt u.a. bereits in Trarbach, Laubach, Gedern, Darmstadt, Halberstadt, Kiel, Schweinfurt, Augsburg, Rothenburg o.T., Windsheim, Esslingen und in verschiedenen Orten des Herzogtums Württemberg. In den 80er-Jahren sollte Leipzig zu einem neuen wichtigen Zentrum der Bewegung werden.

Aufbrüche und Umbrüche in Frankfurt und Leipzig

Die Kernzelle des Frankfurter Pietismus waren der Jurist Johann Jakob Schütz und der Theologe Spener. 1675 kam als dritte Säule die visionär begabte Adlige Johanna Eleonora von und zu Merlau hinzu, die später den Theologen Johann Wilhelm Petersen heiratete. Die Idee zu den Gemeindekreisen oder Konventikeln stammte nicht von Spener, sondern von Schütz. 1670 hatte er diese Einrichtung angeregt, um die Frommen geistlich zu stärken und ihnen zu einer ähnlichen Form von Geselligkeit zu verhelfen, wie sie weniger religiös gestimmte Menschen in den Wirtshäusern finden. Die Resonanz war groß. Bald schon musste vom Studierzimmer des Pfarrhauses in eine Kirche umgezogen werden. 1675 kam es zur Entstehung weiterer Konventikel in der Stadt. Zunächst noch unter dem Einfluss Speners und damit des Pfarrers stehend, verselbständigten sie sich im Laufe der Zeit und radikalisierten sich. Die Radikalen trafen sich nicht mehr in Pfarrhäusern und Kirchen, sondern im Saalhof, einem privaten Gebäudekomplex am Ufer des Mains. War man zunächst angetreten, die bestehenden Kirchentümer zu erneuern, so wurde für einen Teil der Aktivisten allmählich die Trennung von den Kirchen zum Programm. Die Kirchen hielten sie nicht mehr für reformierbar und wollten deshalb die wahrhaft Frommen in eigenständigen Gemeinschaften sammeln. Damit wurde der Weg zur Bildung von Freikirchen beschritten, die es damals noch nicht gab und die damals auch nicht erlaubt waren. Die radikalisierten Pietisten und Pietistinnen hielten sich vom Gemeindegottesdienst fern und verweigerten die Teilnahme am Abendmahl. Mit den anderen, weniger frommen Christen wollte man nichts mehr zu schaffen haben. Die offizielle Kirche bezeichnete man polemisch als »Babel«, also als Ort der Gefangenschaft und des Exils, aus dem sich wahre Christen zu befreien trachteten.

Saalhof in Frankfurt, Treffpunkt radikaler Pietisten

Spener, aber auch die politischen Obrigkeiten, sahen diese Entwicklung nicht gerne. Die Separatisten, wie man diejenigen nannte, die sich von der offiziellen Kirche getrennt – separiert – hatten, wurden verfolgt. Viele dachten an Auswanderung, manche realisierten sie und gingen z.B. nach Pennsylvanien, wo der englische QuäkerWilliam Penn (1644–1718