Pillen-Poker - Jörg Schaaber - E-Book

Pillen-Poker E-Book

Jörg Schaaber

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Beschreibung

Medikamente sollen uns wieder gesund machen oder unsere Beschwerden lindern. Doch in erster Linie sind Medikamente ein Renditeobjekt, denn das Geschäft mit Pillen und Patient:innen ist extrem profitabel. Der Pharmamarkt hat viel von einem Poker-Spiel: Wer am besten bluffen kann, gewinnt.

Das auffälligste Symptom: Die meisten neuen Medikamente bringen den Patient:innen keine relevanten Vorteile. Erst recht gilt das für die Alternativmedizin, die ihren zahllosen Produkten oft völlig evidenzfrei Wirkungen andichtet. Dagegen werden dringend benötigte Medikamente wie neue Antibiotika erst gar nicht entwickelt – sie versprechen zu wenig Profit. Hinzu kommt, dass die Vermarktungsstrategien der Pharmaindustrie, ihre Verkaufs- und Informationstricks immer ausgefeilter werden, bei klinischen Studien immer raffinierter geschummelt und getäuscht wird, während man gleichzeitig den Verbraucher- und Patientenschutz schwächt.

Pillen-Poker liefert nicht nur eine differenzierte Analyse des Geschäfts mit unserer Gesundheit, es zeigt auch Lösungsmöglichkeiten auf. Denn das Gute ist: Man kann es besser machen, und billiger wird es für die Allgemeinheit auch noch – man muss es nur wollen.

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Cover

Titel

Jörg Schaaber

Pillen-Poker

Wie uns die Pharmaindustrie schadet und was man dagegen tun kann

Suhrkamp

Impressum

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medizinHumanHerausgegeben von Dr. Bernd HontschikBand 17

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5241.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Pepe Ramirez/Shutterstock

eISBN 978-3-518-77442-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Willkommen im Pharma-Pokerclub

Zauberhafte Gewinne dank Harry Potter

Ohne Medikamente wären wir schon lange tot. Warum unsere hohe Lebenserwartung keineswegs hauptsächlich Medikamenten zu verdanken ist

Mit Grafiken die Kurve kriegen?

Störche und Babys – Fallstricke der Statistik

Schräge Beispiele

Gesundheit als soziale Frage

Armut macht krank

Die Pharmaindustrie – Apotheke der Welt? Warum man im Globalen Norden länger lebt

Immer wieder das gleiche Spiel

Gute Karten als Geschäftsmodell. Entwickelt wird nicht was benötigt wird, sondern was Profit verspricht

Dieselbe Karte zweimal ziehen

Wenig wirklich Neues

Mit Zitronen gehandelt

Ein Monopol auf gute Karten. Wie mit Patenten hohe Preise durchgesetzt werden

Was ist patentierbar?

Die Industrie lässt sich nicht gern in die Karten schauen. Viele Nieten – wenig Asse

Wer darf mitreden, was den Patient*innen nutzt?

Initiativen aus dem Globalen Süden

Nachzügler Deutschland: Liste schreddern statt einführen

Das Spiel mit den Daten

Wenn es ums Überleben geht

Bild dir eine Meinung?

Privilegierte Waisen

Was wir nicht wissen oder Machen Laborwerte gesund?

Herzinfarkte fördern statt verhindern

Warum ist die Verblindung bei Studien wichtig?

Krebs – Röntgenmessungen reichen nicht

Prinzip Hoffnung: Palbociclib zum Zweiten

Warum Geheimniskrämerei der Gesundheit schadet

Wie viel Information unter den Tisch fällt und was das bedeutet

Tödliches Verschweigen

Falsche Hoffnung gegen Grippe

Reboxetin: Wirksam oder unwirksam?

CSR

 – Transparenz in Europa

Datenverstecke

Der gelungene Bluff: Mit Zahlen lügen

Testen, bis das Ergebnis passt – Palbociclib zum Dritten

Dieselbe Karte mehrfach ausspielen

Wer schreibt, der bleibt

Von relativen und realen Risiken

Testen auf Teufel komm raus

Schlechte Karten gibt es nicht: Wirb oder stirb

Ein Einblick in Vertuschungsstrategien

Eine Kontrollbehörde, die nicht in die Karten schaut

Vertuschen bis zuletzt

Wie man Ärzt*innen beeinflusst

Werbung statt Fortschritt

Pack den Tiger in den Menschen?

Superhelden – nur für was?

Pharmavertreter*innen

Rundumbetreuung

Als Forschung getarnte Werbung

Leitlinien oder Leidlinien?

Krebsmedikamente schnell gelistet, langsam wieder raus

Die Epidemie der Interessenkonflikte

Interessenkonflikte – wo ist das Problem?

Medizinische Fachgesellschaften und die Industrie

Fortbilden oder verbilden?

Die Medien als Werbemaschine

Schlanke Fakten – Rimonabant

Kritik unerwünscht: Eine nicht ganz unblutige Geschichte

Patient*innen als Zielgruppe

Werbung um die Ecke

Krankheiten (er)finden

Kontrolle mangelhaft

Patientengruppen beeinflussen

Wer vertritt Patient*innen?

Industriefreundliche Fortbildung aus Steuermitteln

Wer forscht denn hier?

Arzneikontrolle. Schutz für Patient*innen oder Wirtschaftsförderung?

Zulassung auf Verdacht

Höher, schneller, weiter?

Eine Kapsel macht noch kein Medikament

Arenen der Pharmapolitik

Eine Bank als Akteur der Gesundheitspolitik

Arzneimittelpolitik in stürmischen Zeiten

Deutschland distanziert sich von Transparenz

Punktuelle Verbesserungen statt guter Versorgung

Gates und die globale Gesundheit

Fakten schaffen

Covid-Impfstoffe nur für die Reichen

Ausblick: Es geht auch anders

Was kann ich als Patient*in selber tun?

Gute Informationsquellen

Dank

Glossar

Quellen

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Vorwort des Herausgebers

Die Medizin wird immer und überall mit dem Medikament gleichgesetzt. Oder verwechselt. Man nimmt seine Medizin ein. Um die Medizin, also das Medikament, dreht sich alles. Die Medizin, also die Heilkunde, wird auf die Medizin, also auf das Medikament, reduziert. Das ist das Pfund der Pharmaindustrie, die Basis ihrer Macht. Der Pharmaindustrie ist man ausgeliefert. Sogar Regierungen sind ihr ausgeliefert und gehen in die Knie, wenn sie beispielsweise durch die Zwänge einer Pandemie erpressbar geworden sind. Dann kaufen sie Impfstoffe zu Mondpreisen, denn außer den multinationalen Konzernen gibt es keine weiteren Anbieter. Dann schließen sie Kaufverträge ab, die Geheimhaltungsklauseln über Lieferbedingungen und Preisgestaltungen beinhalten. Dann stellen sie die Hersteller von jeder Haftung frei, falls es zu unerwünschten Wirkungen kommt, die man zunächst noch nicht kennen konnte.

Die Reihe medizinHuman bedarf schon lange eines kritischen Buches über die Pharmaindustrie, obwohl es ja eigentlich nichts Neues gibt. Alles ist bekannt. Erfundene Krankheiten (Disease Mongering), Anwendungsbeobachtungen, intransparente Lobbyarbeit, illegale Preisabsprachen, irreführende Werbung – die Liste der Tricks und Täuschungen könnte beliebig verlängert werden. Aber es ist alles noch viel schlimmer. Es gibt kein Verbrechen, dessen sich die Pharmaindustrie noch nicht schuldig gemacht hat. Manipulation oder Unterdrückung von Studiendaten, gekaufte Wissenschaftler, Erpressung, Verleumdung und Menschenversuche mit katastrophalem Ausgang – auch das nichts Neues und alles bekannt. »Zwei Drittel aller Pharmafirmen [sind] von Wirtschaftskriminalität betroffen«, stellen selbst weniger systemkritische Beobachter wie die Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers fest. Der Pharmakonzern GlaxoSmithKline war zwischen 2003 und 2016 allein in den USA mit 27 verlorenen Prozessen und fast zehn Milliarden Dollar Strafzahlungen Spitzenreiter bei Verfahren um überhöhte Preise, Zulassungsverstöße, Schmiergelder, irreführende Werbung, Verschweigen negativer Untersuchungsergebnisse, Umweltverschmutzung, Bestechung, Steuerbetrug und Insidergeschäften. Unter den 22 untersuchten Firmen waren mit Bayer (13 Verstöße und 603 Millionen US-$ Bußgelder) und Boehringer Ingelheim (7 Verstöße und 416 Millionen US-$ Bußgelder) auch zwei deutsche Firmen. Die Gesamtsumme der Strafzahlungen in diesem Zeitraum belief sich allein in den USA auf 33 Milliarden Dollar.

Es sind heute nur noch wenige gigantische Großkonzerne, salopp Big Pharma genannt, welche die weltweite Produktion und Distribution exorbitant teurer patentgeschützter Medikamente in ihren Händen halten. Sie verfügen über einen immensen Reichtum, sodass beispielsweise die gerade erwähnten Strafzahlungen nur etwa 1,5 Prozent ihrer Umsätze ausmachen und aus der Portokasse beglichen werden können. Es ist außerdem ein Leichtes für solche Unternehmen, die Gesundheitspolitik ganzer Staaten zu beeinflussen.

Mit Jörg Schaaber konnte einer der national und international bekanntesten Kenner und Kritiker der Pharmaszene für die Reihe medizinHuman gewonnen werden. Er arbeitet als Soziologe und Gesundheitswissenschaftler schon seit ihrer Gründung im Jahr 1981 für die BUKO Pharma-Kampagne, einen Zusammenschluss von entwicklungspolitischen Aktionsgruppen. Er hat 1981 Health Action International mitgegründet und war von 2008 bis 2016 Präsident der International Society of Drug Bulletins. Er ist Autor zahlreicher Artikel zu den Themen Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten, Interessenkonflikte, irrationale Vermarktungspraktiken und internationale Gesundheitspolitik. Seit 2005 arbeitet Jörg Schaaber als Geschäftsführer und Redakteur der unabhängigen Verbraucherzeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen und zeichnet für den Pharma-Brief und die Pressearbeit der BUKO Pharma-Kampagne verantwortlich.

Der Autor verfügt dadurch über ein enzyklopädisches Wissen auf seinem Gebiet und kann auf Quellen zurückgreifen, die weitgehend unbekannt sind.

Am Schluss stellt sich die entscheidende Frage: Was tun? Man kann etwas tun! Es gibt Initiativen, die seit vielen Jahren gegen die Missstände kämpfen. Stellvertretend seien hier nur drei genannt: medico international (www.medico.de), MEZIS (www.mezis.de) und vor allem die erwähnte Pharma-Kampagne der Vereinigung Bundeskoordination Internationalismus (www.bukopharma.de), für die Jörg Schaaber arbeitet, einen Zusammenschluss von über 200 Aktions- und Solidaritätsgruppen und Einzelpersonen in Deutschland. Einmischen ist möglich!

Frankfurt am Main, im März 2023

Bernd Hontschik

Willkommen im Pharma-Pokerclub

Eigentlich sollten Medikamente ja wieder gesund machen oder Beschwerden lindern. Doch da sie auch ein Renditeobjekt sind und Aktionäre und Manager jedes Jahr Milliarden am Geschäft mit unserer Gesundheit verdienen, sind die Interessen von Herstellern und Kranken oft nicht deckungsgleich. Warum das schädlich sein kann und was sich ändern muss, davon handelt dieses Buch.

Besonders viel Geld lässt sich mit neuen Medikamenten verdienen. Sind sie erst einmal patentgeschützt, besitzt die Firma ein Monopol und kann fast beliebig hohe Preise verlangen, weil die Konkurrenz ausgeschaltet ist. Neu – das klingt im Grunde gut, doch neu ist leider nicht immer gut. Denn längst nicht jede Neuerung bringt Vorteile, wenn man erkrankt ist.

Der Pharmamarkt hat dabei viel von einem Pokerspiel, wer am besten bluffen kann, gewinnt: Gerade wenn das neue Medikament trotz eines neuen Wirkstoffs nicht wirklich besser ist als die bekannten Therapien, wird die Werbemaschinerie angeworfen. Es ist kein Zufall, dass die Pharmaindustrie mehr Geld für Marketing als für Forschung ausgibt.

Zu den Werbestrategien gehören Hochglanzanzeigen in Medizinjournalen oder Pharmavertreter*innen, die jede Arztpraxis aufsuchen. Viel wichtiger jedoch ist die versteckte Beeinflussung durch »Key Opinion Leader« (KOL), also Ärzt*innen, die in ihrem Fachgebiet ein gewisses Ansehen genießen. Gegen eine fürstliche Entlohnung spannen die Firmen sie systematisch für Werbezwecke ein und lassen sie Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen und Fortbildungen halten. Die KOL stehen quasi hinter dem Pharmaspieler und loben dessen Karten über den grünen Klee – auch wenn das Blatt das gar nicht hergibt.

Selbst Artikel in medizinischen Fachzeitschriften sind nicht geschützt vor Beeinflussung: Dienste von Schreibbüros, die sich auf das Aufpeppen von blassen bis miserablen Studienergebnissen spezialisiert haben, werden nur allzu gerne in Anspruch genommen. Denn wenn ein Artikel den richtigen »Dreh« hat und das Medikament überzeugend angepriesen wird, greifen die Ärztin oder der Arzt eher zum Rezeptblock. So lässt sich auch mit schlechten Karten erfolgreich bluffen.

Mitunter sind die Karten schlicht gezinkt. Zum Beispiel wenn wissenschaftliche Studien manipuliert oder unvorteilhafte Ergebnisse verschwiegen werden. Ein bis heute weitverbreitetes Phänomen.

Eher selten hält eine der Pharmafirmen auch mal ein richtig gutes Blatt in der Hand: einen Wirkstoff, der den Patient*innen wirklich besser hilft. Das ist dann für beide Seiten erfreulich (sieht man von den hohen Preisen ab). Anders als beim Poker kann man sich auf dem Pharmamarkt diese guten Karten aber auch einfach kaufen: Viele erfolgversprechende neue Präparate wurden nämlich ursprünglich gar nicht von den großen Pharmakonzernen entwickelt, sondern von kleinen Start-ups. Diese sind zumeist Ausgründungen von Universitäts-Wissenschaftler*innen, die oft jahrelang auf Staatskosten geforscht und experimentiert haben.

Hat die Forschung der Wissenschaftler*innen zu vielversprechenden Ergebnissen geführt, muss überprüft werden, ob das potenzielle Produkt die Erwartungen erfüllt. Doch den Universitäten fehlt meist das Geld für die kostenträchtigen Studien an Menschen, die am Ende der Medikamentenentwicklung stehen. Also suchen sich Forscher*innen Kapitalgeber und gründen eigene kleine Firmen, um erste klinische Studien mit Patient*innen durchzuführen.

Weist so ein Start-up Erfolge vor, dann klopfen Großkonzerne an und machen Angebote, die kaum auszuschlagen sind. Manche Wissenschaftler*innen werden so über Nacht zu Milliardär*innen. Big Pharma hat bis dahin rein gar nichts zur Entdeckung beigetragen, verdient aber nach dem Aufkauf am Ende am allermeisten. Um so einen märchenhaften Deal geht es gleich im ersten Kapitel.

Die Zeche für diese Deals zahlen wir alle mit exorbitant hohen Medikamentenpreisen. Das sollte uns nicht egal sein. Selbst wenn wir hierzulande in der glücklichen Lage sind, dass die Krankenkassen die Kosten für Arzneimittel bis auf eine geringe Zuzahlung (noch) voll übernehmen, egal wie teuer sie sind – ein Blick über den Tellerrand zeigt: Die Mehrheit der Weltbevölkerung kann es sich schlicht nicht leisten, ernsthaft krank zu werden, weil die Behandlung oft unbezahlbar ist.

In armen Ländern Afrikas oder Asiens führen die drastischen Versorgungsmängel nicht selten zum Tod von Menschen. Sie haben nicht einmal die sprichwörtlich schlechten Karten, da sie erst gar nicht am Spiel teilnehmen dürfen. Aber auch in den USA hat ein Fünftel der Bevölkerung keine Absicherung im Krankheitsfall. Und in den östlichen EU-Mitgliedstaaten bieten Pharmakonzerne ihre teuren neuen Mittel oft nicht an, da es sich aus ihrer Sicht schlicht nicht lohnt. Diese dort preiswerter zu veräußern, könnte ja die hohen Preise in lukrativen Märkten wie Deutschland, Frankreich oder den USA verderben.

Patient*innen, die nicht viel zahlen können, sind schlecht fürs Geschäft. Sie lässt man um des Profits willen links liegen. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat hierzu pointiert folgende Kausalkette erstellt: Seit jeher sei das wichtigste Anliegen der Pharmakonzerne, Gewinne zu maximieren. Das sei ihr Geschäftsmodell. Gewinnmaximierung bedeute Angebotsverknappung. Weil mit der Verknappung die Preise stiegen. Und Preiserhöhungen steigern den Profit.1 Mit diesem Geschäftsmodell ist die Pharmaindustrie äußerst erfolgreich, steigert beständig den Umsatz und erzielt dauerhaft hohe Gewinnraten. Auf diese Weise bleiben neuere lebensrettende Medikamente für weite Teile der Weltbevölkerung unbezahlbar. Bekanntestes Beispiel ist hier Aids: Hohe Preise verhinderten über ein Jahrzehnt die Behandlung der Mehrzahl der Betroffenen – sie hatten das Pech, im südlichen Afrika oder anderen armen Regionen zu leben.

Allerdings ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch in reichen Ländern die Grenze der Belastungsfähigkeit erreicht sein wird. Daher sollte frühzeitig die Diskussion darüber beginnen, was sich ändern muss, um bezahlbare neue Medikamente zu entwickeln und gleichzeitig die Breite der Krankenversorgung sicherzustellen.

Die künstliche Verknappung von Medikamenten ist nicht das einzige Problem dieses profitgesteuerten Modells. Für bestimmte Erkrankungen, die vorwiegend in armen Ländern auftreten, wie zum Beispiel Malaria oder Tuberkulose, wird erst gar nicht an neuen Medikamenten geforscht. Angesichts der Erwartungen der Aktionäre lohnt sich dies schlicht nicht. Arme Erkrankte sind einfach »raus aus dem Spiel« – mit oft tödlichen Folgen.

Proteste gegen diesen zynischen Ausschluss vieler Menschen vom wissenschaftlichen Fortschritt flackern meist erst auf, wenn Patient*innen hierzulande betroffen sind. So kam es in der medizinischen Fachwelt gar nicht gut an, als die Firma Genzyme 2012 das Krebsmedikament MabCampath® (Wirkstoff: Alemtuzumab) in Europa »aus kommerziellen Gründen« vom Markt nahm.2 Die Muttergesellschaft Sanofi machte den Wirkstoff 40-mal so teuer und führte das Mittel gegen Multiple Sklerose (MS) gleich wieder neu ein.

Warum dieser Schritt? Die Form von Blutkrebs, gegen die der Wirkstoff Alemtuzumab hilft, ist sehr selten. MS ist dagegen eine verbreitete Erkrankung, und die Betroffenen müssen über lange Zeit behandelt werden. Für MS wird aber nur ein Zehntel der Wirkstoffmenge wie für die Krebserkrankung benötigt. Mit dem Stopp des Medikaments gegen Blutkrebs wollte die Firma verhindern, dass die preiswertere vorhandene Version kostensparend auch gegen MS eingesetzt wird. Denn das hätte die Gewinnerwartungen des Konzerns beschnitten. Erst nachdem der Rückzug von MabCampath® vollzogen war, wurden die Ärzt*innen informiert: »Uns ist bewusst, dass diese Entscheidung eine Einschränkung Ihrer Therapieoptionen in den Bereichen bedeutet, in denen Sie MabCampath® bislang erfolgreich zur Behandlung eingesetzt haben. Sollten Sie nun Patienten behandeln, bei denen die Therapie mit MabCampath® aus medizinischer Sicht alternativlos ist, wenden Sie sich bitte für weiterführende Informationen an die Firma Clinigen.«3 Also konnte das – für diesen Zweck nicht mehr zugelassene – Medikament für Krebskranke nur noch in einem umständlichen Einzelfallverfahren beschafft werden, mit unklarem Haftungsrisiko für die behandelnden Ärzt*innen.

Auf Dauer ging die Rechnung der Firma allerdings nicht auf. Wegen schwerer Nebenwirkungen wurde Alemtuzumab 2019 zum Reservemittel bei MS herabgestuft, und die Umsätze brachen ein.4

Die exorbitante Steigerung der Gewinnerwartungen auf dem Pharmamarkt kann man an der rasanten Preisentwicklung für Medikamente ablesen. 1977 galt schon der Buchtitel Neunmal teurer als Gold als ein Aufreger; er nimmt Bezug auf ein Diabetesmedikament, das damals die Krankenkassen am meisten Geld kostete: Ein Gramm Glibenclamid war so teuer wie neun Gramm Gold. 36 Jahre später, 2013, ließ sich Sanofi ein Gramm Alemtuzumab mit 29 Kilogramm Gold aufwiegen.5

Pharmaunternehmen sind eben keine Wohltätigkeitsunternehmen – auch wenn sie immer wieder versuchen, sich dieses Image zu verpassen. Ihr primäres Ziel ist, die Aktionäre zufriedenzustellen. Schlüssel zum Erfolg ist dabei die Beeinflussung von Politik, Wissenschaft, Ärzt*innen und Patient*innen. So finden auch fragwürdige und überteuerte Medikamente ihren Markt. Welche Strategien dabei angewendet werden, darum wird es u.a. im Folgenden gehen.

Die Machenschaften der Pharmaindustrie werden nur selten im Detail bekannt. Geschieht dies aber, tun sich Abgründe auf. Und nicht jeder Medikamentenskandal führt dazu, dass das Produkt auch vom Markt verschwindet. Etliche dieser Medikamente, die mehr Schaden anrichten anstatt zu heilen, finden weiterhin Anwendung. Aktuelle Beispiele zeigen, dass sich leider nichts grundlegend geändert hat. Wenn es das Geschäft betrifft, gehen Firmen ziemlich weit – und manchmal sogar über Leichen. Keine Frage, es gibt viele sinnvolle Medikamente, die uns bei Erkrankungen helfen. Doch das rechtfertigt nicht, dass uns Firmen ihre schlechten oder gezinkten Karten unterschieben.

Noch ein Wort zu den guten Pillen: »Keine Wirkung ohne Nebenwirkung« lautet eine Redensart. Wir sprechen üblicherweise von Nutzen und Risiken. Doch das ist ein falsches Begriffspaar. Dem deutsch-britischen Pharmakologen Andrew Herxheimer (1925-2016) war es wichtig, dass Patient*innen eine möglichst fundierte Entscheidung für oder gegen eine Behandlung treffen können. Deshalb bestand er darauf, dass wir immer von Nutzen und Schaden sprechen sollten. (Das alternative Begriffspaar wäre Chancen und Risiken.) Entscheidend ist doch: Welchen Nutzen kann ich von einem Medikament erwarten, und welchen Schaden kann es anrichten? Nur so kann man die am besten geeigneten Mittel auswählen.

Und noch einen weiteren Begriff sollte man mit Vorsicht verwenden: Nebenwirkungen. Manchmal scheint er passend, aber spätestens wenn von tödlichen Nebenwirkungen die Rede ist, wird die Absurdität deutlich. Deshalb spreche ich lieber von unerwünschten Arzneimittelwirkungen oder eben Schaden. Eine differenzierte Sichtweise erlaubt einen nüchternen Blick auf das, was wir von Medikamenten erwarten können – und was nicht.

Genug der Vorrede. Steigen wir doch erst einmal mit einer märchenhaften Geschichte ein.

Zauberhafte Gewinne dank Harry Potter

Was haben Harry Potter und die Zauberschule Hogwarts mit der Pharmaindustrie zu tun? Nichts, könnte man meinen, hätten sich nicht ein Pharmariese und zwei Investmentbanken den Zauberlehrling als Codewort für ein gemeinsames Projekt auserkoren, das ihnen satte Gewinne bescheren und staatlich geförderte Medikamentenforschung in einen Geldregen für Forschende und Firma verwandeln sollte: Um das Jahr 2010 herum zeichnete sich ab, dass man Hepatitis C künftig viel besser behandeln kann als bisher. An öffentlichen Laboren und Universitäten, darunter auch in Heidelberg, waren in jahrzehntelanger Arbeit bahnbrechende Vorarbeiten geleistet und neue vielversprechende Wirkprinzipien entwickelt worden.6

Der US-Konzern Gilead hingegen hatte bei der Suche nach einem eigenen Wirkstoff gegen Hepatitis C nicht so viel Glück. Die Firma wollte jedoch beim großen Geschäft unbedingt mit dabei sein. Deshalb wandte sie sich an die Investmentbank Barclays Capital und die Bank of America Merrill Lynch. So wurde das »Projekt Harry« geboren. Harry Potter, das Wunderkind an der Zauberschule Hogwarts, sollte zum Codewort für den erfolgversprechendsten Hepatitis-Wirkstoff werden. Und Gilead zum Haus Gryffindor. Wie im Roman bestand das Kunststück darin, den Zauberschüler Harry in das richtige Haus zu lotsen, damit er nicht bei der bösen Konkurrenz landet. Und das musste schnell geschehen, bevor die Mitbewerber Harry wegschnappten.

Aber wo steckte Harry? Er war nicht schwer zu finden. Da gab es in Princeton, New Jersey, die kleine Firma Pharmasset. Eine Gründung von vier Uni-Wissenschaftlern, die ihren Wirkstoff Sofosbuvir bereits erfolgreich an mehreren Hundert Hepatitis-C-Patient*innen getestet hatte. Die Investmentbanken rechneten aus, wie hoch Gilead bei Übernahmeverhandlungen pokern müsste, um Harry nach Gryffindor zu locken und trotz hohen Kaufpreises noch dicke Gewinne mit dem Medikament erzielen zu können.

Dann wurde nicht lange gefackelt: Pharmasset wechselte Anfang 2012 für schwindelerregende 11,2 Milliarden US-Dollar den Besitzer. Nicht nur für die Verkäufer, auch für Gilead lohnte sich der Deal. Bereits 2013 kam das Medikament auf den Markt, und die Kosten für den spekulativen Kauf von Pharmasset wurden durch die Einnahmen mit Sofosbuvir in weniger als einem Jahr wieder eingespielt. Gilead erzielte 2015 einen Reingewinn von 55 % des Konzernumsatzes. Das war selbst für die erfolgsverwöhnte Pharmabranche ein Rekordwert.

Wie ist dieses Spiel aufgeflogen? Mit seiner Gewinnsucht stellte sich Gilead selbst ein Bein. Die Firma verlangte für Sofosbuvir 1000US-Dollar pro Tablette, 84 davon sind für eine Behandlung notwendig. Das rief den US-Senat auf den Plan, denn das Gesundheitsunterstützungsprogramm Medicare für Rentner*innen wird aus Steuermitteln finanziert. Das Geld reichte nicht aus, um alle Betroffenen zu behandeln. Der Senat setzte einen Untersuchungsausschuss ein, befragte viele Akteure und ließ beide Firmen durchsuchen.

Dem 1990 Seiten dicken Bericht kann man noch weitere interessante Informationen entnehmen, die sonst nur selten das Licht der Öffentlichkeit erblicken.7 Zum Beispiel die Tatsache, dass die tatsächlichen Produktionskosten für Medikamente – gemessen am Verkaufspreis – oft lächerlich gering sind: Pharmasset kalkulierte die Herstellungskosten für Sofosbuvir auf rund einen US-Dollar pro Tablette. Gilead verlangte von den Patient*innen anschließend aber das Tausendfache.

Das Argument, dass die Forschungskosten durch den Verkaufspreis wieder hereingeholt werden müssten, rechtfertigt im konkreten Fall nicht den hohen Preis. Denn Pharmasset wendete von 2003 bis 2011 für Forschung – einschließlich Fehlschlägen – und die Durchführung von klinischen Studien (→ Glossar) der Phase-2 mit Sofosbuvir gerade einmal 271 Millionen US-Dollar auf. Für die finalen Zulassungsstudien (Phase 3) hatte Pharmasset noch einmal 125,6 Millionen veranschlagt. Letztere wurden jedoch erst nach dem Verkauf von Gilead selbst durchgeführt. Die Summe, die der Konzern für Pharmasset zahlte, hatte also mit den Kosten für die Forschung gar nichts zu tun. Sie war von rein wirtschaftlichen Interessen gesteuert: Gilead wollte anderen Großkonzernen zuvorkommen, die ebenfalls Interesse an dem erfolgreichen Start-up-Unternehmen hatten.8

Johannes Kandlbinder, Leiter der Abteilung Market Access und Preisverhandlungen von Gilead Deutschland, bemerkte hierzu kühl: »Eine solche Investition muss natürlich zurückgespielt werden in den Markt.«9 Der Markt, das sind vor allem die öffentlichen Gesundheitsprogramme, also Steuergelder oder Krankenversicherungsbeiträge. Das staatliche Unterstützungsprogramm Medicare in den USA zahlte 2015 rund neun Milliarden US-Dollar für Sofosbuvir. Die deutschen Krankenkassen überwiesen im selben Jahr fast eine Milliarde Euro für Sofosbuvir-Medikamente.10 So finanziert die Allgemeinheit spekulative Aufkäufe und enorme Gewinne der Pharmaindustrie.

Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Sofosbuvir ist auch ein Beispiel dafür, wie wichtig die Forschung an Universitäten und staatlichen Institutionen für die Entwicklung neuer Medikamente ist.11 Denn Hepatitis C ist als Erkrankung noch gar nicht so lange bekannt. Man wusste nur, dass es sich um eine Leberentzündung handelt, die weder durch das Hepatitis-A- noch das B-Virus ausgelöst wird. Die Identifikation des Hepatitis-C-Virus wurde im Wesentlichen durch staatliche US-Institute geleistet. Doch um Wirkstoffe testen zu können, musste das Virus, oder wichtige Bruchstücke davon, vermehrt werden können. Das erwies sich als außerordentlich schwierig. Mitte der 1990er Jahre fand ein Team um Ralf Bartenschläger an der Universität Heidelberg eine Lösung für das Problem, und Charles Rice von der Rockefeller University in New York verbesserte das Verfahren. So machten beide den Weg frei für die Medikamentenentwicklung. Dabei achtete Rice immer darauf, dass die Ergebnisse seiner Forschung frei verfügbar blieben. Eine von mehreren Firmen, die diese Technologie zur Vermehrung des Virus für ihre Tests nutzte, war Pharmasset.

Die Gründer von Pharmasset waren zwei Forscher der Emory-University in den USA, Raymond Schinazi und Dennis Liotta; dazu stießen noch zwei weitere Wissenschaftler, Chung K. Chu von der University of Georgia und Jean-Pierre Sommadossi von der University of Alabama. Sie brachten nicht nur viel Wissen und etliche Patente mit, sondern blieben auch ihren Universitäten eng verbunden.

Eine Menge öffentlich finanzierter Forschung trug also zu dem ersten wirklich erfolgreichen Hepatitis-C-Medikament bei. Die enormen Gewinne, die diese Mittel einspielen, landen aber in privaten Taschen. Das hier beschriebene Muster – Grundlagenforschung an Universitäten, Ausgründung von Kleinfirmen durch Forscher*innen, bei Erfolg Verkauf an Big Pharma – findet sich immer wieder.

Bei Sofosbuvir handelt es sich immerhin tatsächlich um einen bedeutenden Fortschritt. Das ist aber leider eher die Ausnahme. Dazu gleich mehr.

Ohne Medikamente wären wir schon lange tot

Warum unsere hohe Lebenserwartung keineswegs hauptsächlich Medikamenten zu verdanken ist

Welche Rolle spielen Arzneimittel für die Gesundheit? Kein Zweifel, sie machen Erkrankungen oft erträglicher und können Leben retten. Aber wir neigen dazu, ihre Relevanz überzubewerten. Die Pharmaindustrie fördert diese Fehleinschätzung – Klappern gehört schließlich zum Handwerk.

2008 behauptete die Hauptgeschäftsführerin der Lobbyorganisation Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), Cornelia Yzer: »Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 50 Jahren deutlich erhöht. Nun wird es Sie nicht wundern, dass wir einen Teil des Erfolgs an unsere Fahnen heften.« Und weiter: »Die Studie ›Lebenserwartung der Deutschen‹ […] belegt, dass kaum eine andere Branche sich so sehr für die Verlängerung der Lebenszeit und die Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt hat wie die forschenden Pharma-Unternehmen. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Lebenserwartung um mehr als 30 Jahre angestiegen. In diesen Zeitraum fallen fast alle Meilensteine der Arzneimittelentwicklung.«12

Womöglich setzte Frau Yzer darauf, dass kaum jemand die Langfassung der von ihrem Verband in Auftrag gegebenen Studie zur Kenntnis nimmt. Denn dort steht, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits ein Lebenszeitgewinn von mehr als 20 Jahren zu verzeichnen war: »Aufgrund des medizinischen und technologischen Fortschritts konnten beispielsweise die Säuglings- und Kindersterblichkeit als auch die Müttersterblichkeit stark reduziert werden.«

Die geringe Lebenserwartung vor hundert Jahren wurde also vor allem durch den häufigen Tod von Säuglingen und Kleinkindern verursacht. Wer den fünften Geburtstag überlebte, hatte ziemlich gute Chancen, relativ alt zu werden. In der erwähnten Studie werden die wichtigsten Faktoren für die veränderte Lebenserwartung jedoch nur am Rande erwähnt: Verbesserung der Lebensbedingungen, also angemessene Wohnverhältnisse, sauberes Trinkwasser, ausreichende Ernährung und Hygiene. Diese Faktoren waren für die Senkung der enorm hohen Mütter- und Kindersterblichkeit mindestens ebenso wichtig wie eine bessere Gesundheitsversorgung. Arzneimittel spielten dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle. Und auch sonst kann die Pharmaindustrie für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nur wenig vorweisen, das entscheidend zur Erhöhung der Lebenserwartung beigetragen hätte.

Mit Grafiken die Kurve kriegen?

Lediglich zehn Jahre von den 30 Jahren Lebenszeitgewinn fallen also in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts. Auch hier sind Zweifel anzumelden, ob der Fortschritt vor allem Medikamenten zu verdanken ist. Der vfa reklamiert bei einigen Erkrankungen die Erfolge für sich. Die Auftragsstudie ist mit Grafiken gepflastert, die die Behauptungen untermauern sollen: In den Abbildungen wird die Entwicklung der Sterblichkeit bei einer bestimmten Erkrankung für den Zeitraum 1982 bis 2006 mit der Einführung von neuen Arzneimitteln kombiniert und so ein direkter Zusammenhang nahegelegt.

Es lohnt aber ein genauerer Blick, so zum Beispiel bei der Sterblichkeit an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mehrere Grafiken zeigen hier eine kontinuierlich sinkende Linie. In unregelmäßigen Abständen wird an dieser Linie die Neueinführung von »passenden« Medikamenten markiert. Zusammenhang oder Zufall? Könnte die Sterblichkeit nicht einfach auch aus anderen Gründen gesunken sein? Oder wie erklärt sich dann die Grafik zu Bluthochdruck, in der die Linie zunächst ohne Einführung neuer Medikamente bis 1997 abfiel, dann aber nach Einführung der ersten neuen Mittel kontinuierlich stieg?

Gäbe es durchschlagende Erfolge durch neue Medikamente, müsste die Linie ja nach der Neueinführung einen Knick nach unten machen. Das würde zumindest eine Korrelation anzeigen – doch keinen gesicherten Zusammenhang. (Zum Unterschied zwischen den zwei Begriffen siehe auch Kasten Störche und Babys.) Viel näher liegt, dass die sich ändernden Lebensbedingungen – und damit eine Verringerung der Risiken für Herz-Kreislauf-Krankheiten – für das Sinken der Sterblichkeit eine wichtige Rolle spielen: geringerer Tabakkonsum, gesündere Ernährung und mehr Bewegung.

Störche und Babys – Fallstricke der Statistik

Eines der bekanntesten Beispiele für die Fehlinterpretation von Daten ist der scheinbare Zusammenhang zwischen der Anzahl der Störche und den Geburten in einer Region: weniger Störche – weniger Geburten. Diese statistische Korrelation konnte man tatsächlich finden. Also werden Babys doch von Störchen gebracht? Es gibt einen anderen Zusammenhang, der beide Phänomene erklärt: Mit wachsender Industrialisierung verschlechterten sich die Lebensbedingungen für die Störche – gleichzeitig nahm der Wohlstand der Menschen zu und die Zahl der Geburten ab.

Der eindeutigste Beweis für den Nutzen eines Medikaments liegt also nicht in solch dubiosen Grafiken, sondern in gut gemachten klinischen Studien. Diese zeigen, ob ein Arzneimittel die Sterblichkeit im Vergleich zu Placebo reduziert. Zum Beispiel die cholesterinsenkenden Statine, die die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Herzinfarkts verringern. Für andere, in den Grafiken der Auftragsstudie aufgeführte Wirkstoffe ist ein solcher Effekt nicht so sicher, oder sie bieten gegenüber bereits bekannten Medikamenten keine Überlebensvorteile.

Aber auch bei den Statinen gilt: Viel hilft nicht unbedingt viel. Es besteht nämlich kein offensichtlicher Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Einnahme von Statinen und der Senkung der Sterblichkeit. Einer Studie von Federico Vancheri u.a. in zwölf europäischen Ländern ist zu entnehmen, dass die Zahl der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Zeitraum von 2000 bis 2012 überall sank.13 Aber es waren erstaunliche Unterschiede zu beobachten: Der Rückgang der Todesfälle war teilweise in Ländern höher, in denen weniger Statine verschrieben wurden als in den Ländern, in denen massenhaft Statine verordnet wurden. Größere Erfolge verzeichneten Länder, in denen die Risiken für Herzerkrankungen abnahmen. Die Autoren um Vancheri gelangen zu dem Schluss, dass rund die Hälfte des Rückgangs der Sterblichkeit auf Lebensstiländerungen, etwa gesündere Ernährung, Rauchstopp oder sportliche Betätigung, zurückzuführen sind und nur die zweite Hälfte auf Medikamente. Entscheidend sei also, ob diejenigen Statine verschrieben bekämen, die davon am meisten profitieren würden. Ob Statine für ansonsten gesunde Menschen effektiv und sicher seien, bleibe eine Streitfrage. Dass der Effekt der Statine nicht so groß ist, liegt auch daran, dass sie das Risiko für einen erneuten Herzinfarkt zwar verringern, aber nicht beseitigen: Innerhalb von fünf Jahren sterben rund 15 von hundert Patient*innen mit hohem Risiko ohne Behandlung, mit Statinbehandlung sind es 13. Zwei von hundert überleben also dank der Medikamente.

Wenig aussagekräftig in der vfa-Studie sind auch die Darstellungen zum Thema Brustkrebs. Hier zeigt die Grafik eine Zickzacklinie. Mal sinkt die Sterblichkeit nach Neueinführung eines Medikaments, mal steigt sie an. Heißt das, dass manche Medikamente bei den betroffenen Frauen die Sterblichkeit erhöhen? Vermutlich eher nicht. Aber genauso wenig kann man daraus ableiten, dass ein bestimmtes Medikament zu einer verringerten Zahl von Todesfällen geführt hat.

Auch hier gilt: Für jedes einzelne Arzneimittel muss in Studien belegt werden, dass es den Frauen auch wirklich nützt. Dies ist bei einigen durchaus der Fall, bei anderen leider eher weniger. Außerdem spielen bei der Behandlung von Brustkrebs die chirurgische Entfernung des Tumors und gegebenenfalls Bestrahlungen eine wichtige Rolle. Die Behandlung mit den richtigen Medikamenten kann dann die (zum Glück großen) Chancen, den Krebs zu überleben, zusätzlich erhöhen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Statistiken à la vfa wenig taugen, den angeblich herausragenden Stellenwert von Medikamenten für die Gesundheit zu beweisen. Das spricht nicht gegen Statistiken. Sie sind ein hilfreiches Instrument, um Vermutungen zu bestätigen oder zu widerlegen. Nur muss man dabei die geeigneten Methoden verwenden, unvoreingenommen vorgehen und darf sich nicht von eigenen Interessen leiten lassen. Sonst entstehen Fehlschlüsse, die – wenn es um Gesundheit geht – fatale Folgen haben können.

Schräge Beispiele

Auch was sich der vfa in der Auftragspublikation als besonders wichtige Innovationen auf die Fahnen schreibt, wirkt nicht immer überzeugend. So etwa im Fall vom in Deutschland erfundenen Humaninsulin, das 1983 eingeführt wurde. Insulin wurde bereits in den 1920er Jahren von Universitätswissenschaftlern in Kanada und den USA entdeckt. Es verlängert das Leben von Typ-1-Diabetiker*innen erheblich. Das neuere, nun gentechnisch hergestellte Humaninsulin erzielt indes keine wesentlich bessere Wirkung, aber einen weit höheren Preis.

Der vfa nennt des Weiteren Penicillin als wichtiges Antibiotikum. Das war zweifellos eine bahnbrechende Erfindung. Nur schmückt sich der Industrieverband hier insofern mit fremden Federn, als dass daran auch in diesem Fall kein Pharmaunternehmen beteiligt war: Alexander Fleming entdeckte Penicillin 1928 am St Mary’s Hospital in London, die massenhafte Produktion gelang zuerst in staatlichen Laboren in den USA.

Hinzu kommt, dass für die Sterbefälle durch Lungenentzündung und Grippe in der vfa-Studie dubiose Präparate ins Feld geführt werden. In der Grafik sieht man eine von 1983 bis 1997 tendenziell sinkende Kurve, danach bleibt sie auf gleichem Niveau. Für den gesamten Zeitraum wird kein einziges Medikament genannt, das zur Senkung der Sterblichkeit hätte beitragen können. Erst 1997 gibt es eine Neueinführung, das Antibiotikum Sparfloxacin. Es stellte aber keinen Fortschritt für die Behandlung bakterieller Erkrankungen dar und ist inzwischen wegen seiner Risiken wieder vom Markt verschwunden.

Das 2002 eingeführte Grippemedikament Oseltamivir kann – entgegen früheren Aussagen des Herstellers – keine Todesfälle verhindern. Oseltamivir ist ein Beispiel für die grobe Irreführung der Öffentlichkeit durch Verstecken von »unvorteilhaften« Studienergebnissen.

Bei Arbeiten, die für propagandistische Zwecke erstellt werden, bleiben tiefergehende Analysen leider auf der Strecke. Schließlich möchte sich die Pharmaindustrie einen möglichst großen Anteil an den Gesundheitsausgaben sichern. Dass in der Krankenversorgung auch andere Maßnahmen als die mit Medikamenten eine hohe Gesundheitsdividende bringen könnten, darüber schweigt die Industrie lieber. Es könnte die Dividenden der Pharmaaktien schmälern.

Gesundheit als soziale Frage

Ein kurzer Blick in die Geschichte und in die Entwicklungen in anderen Ländern zeigt, wie wichtig soziale Faktoren für die Gesundheit sind. Dies lässt sich am Beispiel der Tuberkulose (TB) belegen: Heutzutage findet sich diese Erkrankung in Deutschland nur noch relativ selten. Ganz im Gegensatz zu den Zeiten, als mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen in die Städte zogen, um ein Auskommen zu finden, und die Lebensbedingungen oft erbärmlich waren. Viele wohnten eng zusammengepfercht unter miserablen hygienischen Bedingungen in düsteren Mietskasernen. Das führte zu einer starken Zunahme der Erkrankung, die sich durch Tröpfcheninfektion verbreitet. Überdies waren zahlreiche Menschen überarbeitet und unterernährt und deshalb besonders anfällig für TB. Nach einer preußischen Statistik von 1880 war jeder zweite Todesfall in der Gruppe der 15- bis 40-Jährigen auf Tuberkulose zurückzuführen.14 Erst die Verbesserung der Lebensverhältnisse führte zu einem drastischen Rückgang der Sterblichkeit – lange bevor in den 1940er Jahren erstmals wirksame Medikamente gegen TB gefunden wurden. In Deutschland erkrankten 2020 nach Angaben des Robert-Koch-Instituts nur noch rund 4100 Menschen an TB, von denen etwas über hundert daran starben.15

Dagegen infizieren sich laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes Jahr weltweit immer noch über zehn Millionen Menschen mit TB, und 1,6 Millionen sterben an dieser, inzwischen eigentlich gut behandelbaren Krankheit.16 Aus ähnlichen Ursachen wie früher hierzulande: schlechte Lebensbedingungen, beengte Wohnverhältnisse und der oft fehlende Zugang zu Medikamenten. Nicht unerwähnt sollte dabei bleiben, dass die Pharmaindustrie wenig Enthusiasmus für die Entwicklung neuer TB-Medikamente an den Tag gelegt hat: Rifampicin, das aktuell in der langwierigen Standardtherapie verwendet wird, ist seit über fünfzig Jahren auf dem Markt. Nur für die Behandlung der multiresistenten TB gibt es zwei neuere Arzneimittel, die allerdings mit erheblicher Unterstützung durch öffentliche Gelder entwickelt wurden.

Armut macht krank

Ganz generell gilt: Je verbreiteter die Armut, desto schlechter die Gesundheit. Große Ungleichheit in der Gesellschaft und fehlende soziale Absicherung führen zu Krankheit und frühem Tod. Und das ist nicht nur eine Frage des Reichtums eines Landes. Das Bruttosozialprodukt von Costa Rica beträgt pro Kopf weniger als ein Viertel von dem der USA. Aber in dem mittelamerikanischen Land gibt es seit Jahrzehnten eine relativ gute soziale Absicherung, was dazu führt, dass die Einwohner Costa Ricas länger leben als die Bewohner des größten Industrielandes der Welt.17

Das höchste Risiko, früh zu sterben, haben Menschen mit wenig Geld. Das gilt nicht nur in Ländern des Globalen Südens. Auch im reichen Deutschland werden diejenigen, die am wenigsten besitzen, nicht alt. Männer, die über weniger als 60 % des durchschnittlichen Haushaltseinkommens verfügen, leben 8,6 Jahre kürzer als solche, deren Einkommen 50 % über dem Schnitt liegt. Bei Frauen beträgt der Unterschied 4,4 Jahre. Das staatliche Robert-Koch-Institut bemerkt dazu: »So haben Menschen mit niedrigem Einkommen, Berufsstatus und Bildungsniveau ein erhöhtes Risiko für chronische Krankheiten und Beschwerden. Gleiches gilt für krankheitsbedingte funktionelle Einschränkungen in der Alltagsgestaltung und Lebensqualität. Auch im individuellen Gesundheitsverhalten und bei verhaltensbezogenen Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel, Übergewicht und Hypertonie zeichnen sich die sozialen Unterschiede deutlich ab.«18

Verbesserungen entstehen dabei weniger durch individuelle Verhaltensänderungen als durch gesellschaftliche Teilhabe, wie besserer Zugang zu Bildung, Arbeit und ausreichende Absicherung in sozialen Notlagen. Im Übrigen haben sich gesundheitspolitische Maßnahmen – wie Tabak- und Alkoholwerbeverbote oder die Verordnungen zur Reduktion gesundheitsschädlicher gehärteter Fette bzw. der Salzmengen in Fertiggerichten – als wirksamere Mittel erwiesen als der erhobene Zeigefinger.

Einigen Gefahren sind alle Menschen, ungeachtet ihres Einkommens oder ihrer sozialen Klasse, ausgesetzt, sei es die Luftverschmutzung – allein durch die Feinstaubbelastung sterben in der EU jährlich zwischen 168000 und 346000 Menschen vorzeitig19