Pilzsaison - Pfälzische Ausgabe - Bernd Franzinger - E-Book

Pilzsaison - Pfälzische Ausgabe E-Book

Bernd Franzinger

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Beschreibung

Wolf Tannenberg, frisch gebackener Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission, hat es in seinem ersten Fall mit einem mysteriösen Verbrechen zu tun: Im Stadtwald wird eine weibliche Leiche entdeckt, in deren aufgeschlitzter Kehle Pfifferlinge stecken. Der Kommissar kann weder eine Spur zu einem Verdächtigen finden noch ist auch nur der Ansatz eines möglichen Tatmotivs zu erkennen. Und wenige Tage später finden Spaziergänger eine weitere Frauenleiche …

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Seitenzahl: 471

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bernd Franzinger

Pilzsaison – Pfälzische Ausgabe

Kriminalroman

Tatort Pfälzerwald Gleich in seinem ersten Fall wird Wolf Tannenberg, frischgebackener Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission, mit einem mysteriösen Verbrechen konfrontiert. Im Stadtwald liegt eine weibliche Leiche, in deren aufgeschlitzter Kehle mehrere Pilze stecken. Der Kommissar kann weder eine Spur zu einem Verdächtigen finden, noch ist auch nur der Ansatz eines möglichen Tatmotivs zu erkennen. Wenige Tage später finden Spaziergänger eine weitere Frauenleiche. Tannenbergs Gegner erscheint übermächtig, denn er ist ein geschickter Stratege, ein leidenschaftlicher Spieler, der immer eine Überraschung für seine Häscher bereithält.

© privat

Dr. phil. Bernd Franzinger, geboren im Jahr der Suezkrise, hat erst im fortgeschrittenen Lebensalter bemerkt, dass die Stimme in seinem Kopf stets pfälzisch mit ihm spricht. Aufgrund dieser späten Erkenntnis hat er sich dazu entschlossen, das Erstlingswerk seiner erfolgreichen Tannenberg-Reihe grundlegend zu überarbeiten.

Impressum

Basiert auf dem Kriminalroman „Pilzsaison“ von Bernd Franzinger

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle

ISBN 978-3-7349-3356-1

Vorbemerkung

E Krimi zum Ferschde unn Schmunzele

Widmung

Für meine Enkel Emilia, Jonas und Charlotte.

Pilze

Bunte Pilze sind die Kindchen,

Die dem Mutterschoß der Waldung

In den feuchten Sommernächten

Gleich zu hunderten entsprießen.

Und sie gucken zwerghaft niedlich

Unter breiten Faltenhütchen,

Ducken sich ins Moosgewoge,

Bange vor der kleinsten Schnecke.

Schnecken kommen viel gezogen.

Hei, wie freu’n sie sich der Beute!

Fressen, dass die Bäuche schwellen

Von des Pilzlings rundem Rücken.

Halt, da greifen weiche Tatzen

Fünfgefingert nach den Pilzen,

Ziehen sie vom Mutterbusen,

Stecken sie ins runde Körbchen.

Und da schauen sie einander

Rund verwundert und verängstigt

An und flüstern: Ach was wird nun –

Wird nun wohl mit uns geschehen?

Emerenz Meier (1874–1928)

1

Schlaftrunken wankte Tannenberg ins Wohnzimmer, nahm gähnend den Telefonhörer aus der Basisstation und ließ sich kraftlos in seinen Ohrensessel niedersinken. »Mensch, Geischer, du aldi Nerfesä, wasn los, hat merr noch nett emool am heilische Sunndaach soi Ruh vor deer?«

»Duud merr echt lääd, Chef, ich wees jo, dass Sie kä Bereidschaft hann, awwer de Owwerstaadtsanwalt leht halt emool geschdeischerde Wert druff, dass Sie sich hegschtpersehnlich um die Sach kimmern.«

»Um welchi Sach? – Langsam! Jetzt saasche merr erschtemool, wie späd ess iss und dann in aller Ruh, was iwwerhaupt bassiert iss.«

»Allo, es iss korz no siwwe. For ner halwe Schdunn hat a Mann aussem Wald aangeruf und behaupt, dass er grad a Leich im Wald gefunn hätt. Meer sinn glei higefahr. Sie missen schnell kumme! So ebbes hannse noch nie gesieh. Uunglaublisch!«

»Was machden der Dödel sunndachs um die Uhrzeit im Wald?«

»Wääs ich doch a nett, Chef. Kummense schnell. I waad am Bremerhof.«

»Mach doch kää so Stress, du Affezibbel, die Dood kann uns jo nimmi fortrenne«, bemerkte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission trocken.

Dann schlurfte er zurück in sein Schlafzimmer, streifte die gestern Abend neben seinem Bett abgelegten Kleidungsstücke über den ungewaschenen Körper und ging in die Garage. Widerwillig startete er seinen alten BMW und fuhr durch die menschenleere Beethovenstraße in Richtung Waldschlösschen.

Eichentlich sollt merr efter emool sunndaachmoijens in aller Herrgottsfrieh durch die Stadt fahre – kää Stau, kää rodi Ampel, kää anarchistische Radfahrer, dachte Tannenberg, als er kurz nach der Abzweigung zum Bremerhof zu einer reflexartigen Vollbremsung genötigt wurde.

»Bleedes Viehzeisch!«, schimpfte er in die frühmorgendliche Stille.

Doch bereits wenige Augenblicke später freute er sich darüber, dass er gerade einer jungen Eichhörnchenfamilie das Leben gerettet hatte.

Nachdem er die letzte Kurve vor dem Bremerhof passiert hatte, sah er bereits von Weitem Kriminalhauptmeister Geiger, der mit beiden Armen wild umherfuchtelnd seinen Chef auf sich aufmerksam zu machen versuchte.

»Was solln dess Theater? Ich bin doch nett blind! De Bremerhof finn ich a bei Nacht unn Newwel. Hasche schunn die Spusi herbestellt?«, fragte Tannenberg durch das offene Seitenfenster.

»Awwer logo, Chef, die sinn schunn voll am Schaffe«, antwortete der übergewichtige Kriminalbeamte, dessen Hemd unter den Achseln von großen Schweißflecken gezeichnet war.

Tannenberg quälte sich mühsam aus seinem BMW-Cabrio, dehnte behutsam den verkrampften Körper und ließ seinen müden Blick über die taubenetzten, dampfenden Wiesen schweben.

Die große, direkt an das alte Sandsteingebäude angrenzende Pferdekoppel lag immer noch so merkwürdig schräg abgeschnitten am Hang. Es war das gleiche Bild, das er schon einmal vor einigen Jahren hier gesehen hatte. Damals, als er das letzte Mal hier gewesen war. So als ob sich in der Zwischenzeit nichts verändert hätte.

Es waren keine schönen Erinnerungsfetzen, die sich gerade Stück für Stück in Tannenbergs Bewusstsein schoben, schließlich waren es die letzten Tage gewesen, die er damals mit seiner todkranken Frau verbracht hatte.

Obwohl schon schwer krank, hatte Lea sich diesen Ausflug so sehr gewünscht, dass Tannenberg ihr dieses Vorhaben einfach nicht abschlagen konnte. Die Ärzte hatten davon eindringlich abgeraten, denn ihrer Meinung nach war das Risiko einer todbringenden Infektion für einen »Moribundus evident«, wie der Oberarzt so bemerkenswert einfühlsam zu ihm gesagt hatte.

Aber Lea war nicht davon abzubringen gewesen. Sie wollte noch ein letztes Mal einen sonnendurchfluteten Herbsttag in der von ihr über alles geliebten Natur verbringen, die bunten Blätter herumwirbeln sehen, das melodische Rauschen in den hohen Buchenkronen hören, die würzige Waldluft atmen …

»Chef, ich deed sae, meer fahrn mimm Ferschder soim Audo«, polterte Geiger rücksichtslos in Tannenbergs schmerzlichen Erinnerungsschub.

»Ach Gott, was für ein herrlicher Sommermorgen: kühl, klar – und Vollmond, einfach spitze! Da geh ich heute Abend selbstverständlich auf die Jagd«, frohlockte der ganz in Grün gekleidete Waldschrat, den Tannenberg spontan in die Kategorie »Unsympath« einordnete.

Unn schunn wirre so enner, der unserer Hochkuldurspraach nett mäschdisch iss, grollte Tannenberg tonlos. Was sinn dess ferr Zeide, wann noch nett emool e Ferschder Pälzisch redde duud.

»Sie Hoschbess, müssen Sie denn in jedes Schlagloch fahren?«, schimpfte Tannenberg, nachdem sein Kopf unsanft an den oberen Türholm geschleudert worden war.

»Entschuldigung, aber wir sind hier schließlich im Wald und nicht in der Fußgängerzone!«, entgegnete der Gescholtene trotzig. »Da vorne ist es übrigens schon.«

Tannenberg sah bereits von Weitem die rot-weißen Flatterbänder, mit denen der Ort des Verbrechens beziehungsweise der Fundort der Leiche abgesperrt war. Unwillkürlich musste er an den 1. FCK denken, der gestern Nachmittag durch eine blamable Vorstellung beim FC St. Pauli mal wieder die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb im wahrsten Wortsinne verspielt hatte.

Als er den schmalen, dicht mit Brennnesseln und Himbeerbüschen umzäunten Pfad zum Pfaffenbrunnen emporstieg, war er froh darüber, das Abonnement für seine Dauerkarte auf der Nordtribüne schon vor Jahren gekündigt zu haben; denn für das, was sich heute im Profifußball abspielte, hatte er kein Verständnis mehr.

Gestern Morgen hatte er gelesen, dass wegen der Kirch-Pleite die völlig überzogenen Millionengehälter dieser verwöhnten Balljongleure durch Bundesbürgschaften abgesichert werden sollten. – Unglaublich!

Inzwischen hatte Tannenberg den unteren der sieben Sandstein-Findlinge erreicht, die man vor Jahrzehnten am Steilhang vor der Schutzhütte wie eine große Steintreppe übereinandergetürmt hatte.

Zunächst sah er nur zwei über den Felsblock hängende nackte Füße, dann, nachdem er keuchend den beschwerlichen Rest des Anstiegs bewältigte hatte, das ganze Bild.

Ja, es war ein Bild, ein Kunstwerk, ein kunstvoll gestaltetes Arrangement, das sich ihm hier oben darbot. Diese Begrifflichkeiten waren zwar durchaus makaber, es handelte sich ja schließlich um einen toten Menschen, der wie auf einem Altar oben auf der roten Sandsteinplatte lag, so aufgebahrt, wie man vielleicht früher Menschenopfer irgendeinem heidnischen Gott dargebracht hatte.

Aber Tannenberg ließ diese Assoziationen unzensiert zu, ja er sprach sie sogar in sein Diktafon, das er immer bei sich trug. Schließlich hatte er von Kriminalrat Weilacher gelernt, dass der erste Eindruck, den man vom Tatort, dem Zustand der Leiche et cetera gewann, extrem wichtig war und oft entscheidenden Einfluss auf die weiteren Ermittlungen hatte.

Als Tannenberg nur noch wenige Schritte von der bis auf die fehlenden Schuhe vollständig bekleideten Toten entfernt war, musste er an das friedlich schlummernde Dornröschen denken.

Während er aber näher an die tote Frau herantrat, verabschiedete sich dieser merkwürdige Gedanke genauso schnell aus seinem Bewusstsein, wie er aufgetaucht war. Denn was er jetzt zu Gesicht bekam, hatte absolut gar nichts mehr mit dem Bild eines lebensnah hergerichteten friedlichen Leichnams zu tun, wie man ihn von kirchlichen Trauerfeiern her kennt.

Auf dem fahlen Antlitz der Toten konnte man zwar auf den ersten Blick keine Verletzungen erkennen, aber das Gesicht der Frau war total entstellt, völlig verzerrt, mit weit aufgerissenem, schiefem Mund und kreisrunden Glotzaugen – genau wie der »Schrei« von Munch, dieses abscheuliche Gemälde, das Tannenberg einmal in einer Kunstausstellung gesehen hatte. Dieses stumme Entsetzen, diese abgrundtiefe Verzweiflung.

Die schreckliche Totenfratze hatte ihn zunächst derart in ihren Bann gezogen, dass er erst einige Augenblicke später ein Detail an der Toten wahrnahm, das er, obwohl schon seit zwanzig Jahren beruflich mit Mord und Totschlag beschäftigt, wirklich noch nie gesehen hatte. Geiger hatte recht gehabt – es war unglaublich! Die Kehle der toten Frau war etwa fünf Zentimeter breit aufgeschlitzt worden und in den klaffenden Spalt hatte irgendjemand Pfifferlinge gesteckt – drei große dottergelbe Pfifferlinge.

»Hopp, Wolf, loss uns erscht unser Awed ferdisch mache. Du unn de Doc kännen noher in aller Ruh die Leich aanglotze unn bedatsche. Awwer jetzt sinn meer an de Reih. Ich hann nämlich heit noch ebbes anneres vor«, sagte der Kriminaltechniker Mertel und schob den in Gedanken versunkenen Tannenberg ein wenig zur Seite.

»Rainer, warum hadden die Fraa nett mäh Blut verlor, wammer ehr die Kehl durchgeschnitt hat?«, fragte Tannenberg den Gerichtsmediziner, dem man deutlich anmerkte, dass er nur widerwillig bereit war, den in Ganzkörperanzüge gehüllten Mitarbeitern der Spurensicherung den Vortritt bei der Erstbegutachtung des weiblichen Leichnams zu überlassen.

»Ess gebbt zwää Meeschlichkäde: Entwerre de Mörder hat noor de Kehlkopp verletzt unn kää Arterie getroff, orre er hat die Fraa aanschließend umgezo. Awwer wie immer, moi liewer Wolf. Wie im Fernsehkrimi: Genaueres erst nach der Obduktion!«, antwortete Dr. Schönthaler.

»Awwer wieso steckt der dere Fraa Gäälschwämmscher in die Kehl?«, murmelte Tannenberg vor sich hin. Er räusperte sich und sprach in sein Diktiergerät: »Ritualmord – Fracheezeichen. Opferung uffem Altar. Wemm soll geopfert werre? Dannezweische, Dannezappe und anneres Waldzeisch sinn wie Blummeschmuck bei nerr Beerdischung um die Dood errumgeleht«, sprach Tannenberg.

»Fichtenzweige und -zapfen, keine Tannen!«

»He?«

»Lieber Herr Kommissar, bei diesem, wie Sie es eben so lieblos genannt haben, ›Waldzeug‹ handelt es sich nicht etwa um Tannen, sondern um Fichten! Und das ist ein gewaltiger Unterschied! Das andere Waldzeug sind Bucheckern und Kiefernzapfen. Und das da oben hinter dem Kopf sind Eichensprösslinge; und was da außenrum liegt, sind Blüten des Roten Fingerhuts«, dozierte Kreilinger.

»Sehr gifdisch!«, warf der Gerichtsmediziner ein. »Awwer wie die guud alt Paracelsus schunn gesaat hat: Die Dosis macht es Gift! Schließlich iss Digitalis a altbewährtes Herzmedikament!«

»Danke für die umfassende Belehrung, meine Herren«, entgegnete Tannenberg in betont gestelzter Fremdsprache. »Der Herr Oberförster hat doch bestimmt noch wichtige Termine, oder?«

Kreilinger verstand. »Ich wollte nur helfen.«

»Danke, aber wir schaffen das schon allein«, sagte Tannenberg.

Mit grimmiger Miene verzog sich der Waidmann.

Anschließend setzte Tannenberg seinen Monolog mit dem Diktiergerät fort. Nun allerdings mit gebührendem räumlichem Sicherheitsabstand, den er sich dadurch geschaffen hatte, dass er sich auf die andere Seite des Totentischs begeben hatte. Da er dort etwas erhöht auf einem kleinen Sandsteinpodest stand, konnte er die Tote aus einer anderen Perspektive betrachten.

»Gekeimte Äschele in Form fumme Symbol aangeordnet – weibliches Symbol, also so e Symbol, wies die Emannze benudze duun, dess mit demm Kreis und demm Kreiz unnedraan. Egal, jedenfalls leien die Triebe, die aus de Äschele wachse duun, so, dass se all noo inne zu de Kräsmidde zeischen. Awwer warum? – Ej, du elender Leischeknipser, musche merr dann direkt in die Aue blitzte? Ich sieh noor noch Schternscher!«, fuhr Tannenberg den verdutzten Polizeifotografen an.

»Wolf, cool down, du bisch doch derjenische, der nie genuuch Bilder funn soine Leiche krie kann. Bin jo glei ferrdisch.«

»Meer sinn a ferrs Erschte ferrdisch«, sagte der Kriminaltechniker Mertel und entfernte die letzten zur Sicherstellung von Fremdfasern und Haaren auf der Kleidung der Toten angebrachten Klebestreifen.

»Waad emool noch e Momentsche«, rief der Gerichtsmediziner.

Er schob sich die dünnen Plastikhandschuhe über die langen Finger und begab sich zum Leichnam. Dort entfernte er die Pfifferlinge aus dem klaffenden Kehlenspalt und reichte sie an Mertel weiter, der sie in ein kleines Tütchen steckte.

Dr. Schönthaler schüttelte den Kopf. »Gäälschwämmscher in de Kehl. Sache gebbts.«

»Du Wolf, ich glaab nett, dass die arm Fraa an dem Schnitt gestorb iss«, sagte der Rechtsmediziner und schob die Bluse der Frau zuerst am Bauch und dann am Rücken nach oben. »Siesche, do hammers schunn: E schääni klänni Stichwund in de Herzgeschend. Dess guck ich merr noher genauer aan.«

»Dodeszeitpunkt?«, fragte Tannenberg.

Der Rechtsmediziner legte den Kopf schief. »Ich schätz emool vor acht bis zehn Schdunne.«

Tannenberg rechnete zurück. »Also so zwische 22 Uhr unn Middernacht.« Er drehte sich zu seinem Mitarbeiter um. »Sa mool, Geischer, hasche Ausweisbabiere gefunn, damit merr die Idendidät vunn de Doode kläre kennen?«

»Nee, in de Kläder war nix unn e Handdasch hammer nett gefunn.«

»Ruf mo in de Zentrale aan unn froo, obs e Vermissdemeldung gebbt.«

»Mach ich sofort, Chef.« Geiger räusperte sich. »Awwer do iss noch ebbes.«

»Ja, was dann, Geischer? Loss derr doch nett jeden Worm änzel aus de Noos ziehe«, schimpfte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission.

»Do vorne iss a noch der, der wo die Leisch gefunnt hat.«

»Ei, Dunnerkeil, denne hädd ich jo fascht vergess.« Tannenberg schaute sich suchend um. »Wo issen der iwwerhaupt?«

»Do vorne in der Schutzhidd.«

»Ei, dann holne halt moo her. Los, los beweesch dich!«

Kriminalhauptmeister Geiger befolgte die Anweisungen seines direkten Vorgesetzten und erschien wenige Augenblicke später mit einem hageren, untersetzten Mann im besten Rentenalter.

»Guuder Mann, was machennen Sie in der Herrgottsfrieh schunn im Wald?«, wollte Tannenberg wissen.

»Ich hann halt von meiner Awed beis Herr PAFFE immer noch dess friehe Uffstehe drin. Do kann ich gar nix degee mache, mojens um halb sechs werr ich äfach wach – ohne Wegger! Unn dann geh ich halt moi Rund von moim Haus im Dunkeldäälchen iwwer de Humbersch zum Paffebrunne unn iwwer de Bremerhof wirre hääm.«

»Iss Ihne dodebei heit moin ebbes Besonneres uffgefall? War irschendebbes annerscht als sunnscht – außer de Leisch nadeerlich?«, fragte Tannenberg.

»Nä, Herr Kommissar, dess war alles wie immer«, antwortete der Mann kopfschüttelnd.

»Gut, dann wars dess erschdemool. Sie kännen häämgehe.«

Während der Rentner sich gemächlich in Bewegung setzte, dachte Tannenberg darüber nach, ob er nach seinem aktiven Polizeidienst auch als Spaziergänger enden würde. Er verscheuchte den deprimierenden Gedanken und blickte an den hohen Buchen vorbei auf seine Heimatstadt, die ruhig und friedlich im sanften Talkessel schlummerte.

Über ihr thronte wie eine mittelalterliche Trutzburg das Fritz-Walter-Stadion, das vor ein paar Tagen zum offiziellen Austragungsort der Fußball-WM 2006 gekürt worden war. Aber Tannenberg konnte sich über dieses von den Würdenträgern der Stadt euphorisch gefeierte Ereignis nicht richtig freuen, denn im Gegensatz zu vielen seiner Mitbürger dachte er bei dem Projekt »WM in Kaiserslautern« nicht an einen sicherlich wünschenswerten Schub von Infrastrukturmaßnahmen und den damit für diese Region verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung, sondern an Horden randalierender Hooligans, die Gewalt und Zerstörung in seine geliebte Heimatstadt brachten.

So wie bei der letzten WM in Lens. Den Namen des schwer verletzten französischen Kollegen hatte er zwar vergessen, aber diese schrecklichen Bilder hatten sich gerade in den letzten Tagen immer und immer wieder vor sein geistiges Auge geschoben.

Während Tannenberg sich gedanklich mit den negativen Begleiterscheinungen moderner Massenveranstaltungen beschäftigte, quälten sich stöhnend und fluchend zwei Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens den beschwerlichen Weg empor zum Felsplateau des Pfaffenbrunnens, wo sie bereits von Dr. Schönthaler mit mahnenden Worten empfangen wurden.

»Wann ehr nooher die Leisch genauso brudal enunnerdrahn, wie ehr de Zinksarsch grad hergebrung hann, kann ich merr moi Awed schbare«, grummelte der Rechtsmediziner.

»Warum muss die Leisch awwer a do owwe uffem Felse leie? Hätt die Fraa nett a unne uffem Parkplatz ehr schwarze Essensmärkscher abgewwe känne, he?«, schimpfte der größere der beiden Männer, während er den matt glänzenden Metallsarg auf dem Waldboden abstellte.

»Seien Sie doch froh, dass der Mörder die Fraa nett uffs Dach vumm Humberschturm geleht hat«, grinste Tannenberg.

»Sie hann gut lache, Sie missen die Dood jo nett erunnerschleppe«, gab der andere Leichenträger genervt zurück, während er sich Schweißtropfen von seiner geröteten Stirn wischte.

»Ich muss mich mit genung annere Sache erummäjere, zum Beischbiel mit der Frooch, wer die arm Fraa vumm Lewe in den Dood beferrdert hat«, konterte Tannenberg. »Unn jedert bidde e bissje Beeilung, denn ball kreizen die Pressegeier und die erschde Sunndaachsausflieschler hier owwe uff.«

»Zugleich!«, riefen die Männer unisono, hievten die silbergraue Leichenbahre in Bauchhöhe und machten sich auf den Weg.

»Gott sei Dank ist die nett so schwer wie der Mops vunn vorgeschdern. War dess a aanschtrengendi Schinnerei!«, hatte der vordere der beiden Männer gerade gesagt, als er auf einer glitschigen Wurzel ausrutschte und kopfüber in die Brennnesseln stürzte.

Der andere Träger konnte nicht verhindern, dass der Metallsarg zur Seite kippte und die tote Frau ebenfalls in die Brennnesselbüsche fiel.

»Ei, lossen doch die Leich glei de ganze Hang ennunnerborzele!«, schimpfte Tannenberg. »Was sinnen ehr ferr hebgedrehde Kaschber? Duun ehr sunnscht Dachladde nachelle, he?«

Dr. Schönthaler schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Dess derf doch nett wohr sinn! Ei, schmeissen die Leisch doch glei de Felse enunner. Wie soll ichen jedzert noch de genaue Doodeszeitpunkt ermittele?«, schimpfte der aufgebrachte Gerichtsmediziner, der auch durch die devoten Entschuldigungsversuche der beiden Mitarbeiter eines alteingesessenen Kaiserslauterer Bestattungsunternehmens nicht zu besänftigen war.

Er war völlig außer sich. »Ehr verfluchte Schdimber! Ich werr persehnlich defor sorje, dass ehr zwää ferrs Pathologische Inschdidud garantiert kää Doode mäh transbordiere duun!«

Als Tannenberg drei Stunden später in der Gerichtsmedizin erschien, hatte sich Dr. Schönthaler noch immer nicht beruhigt. »Mann, Mann, Mann, was ferr dilledandische Trottel! Hänner eischentlich schunn e Vermisstemeldung?«

»Nä, bis jedzert iss noch känni inngang. De Geischer hat alle Dienststelle im Umkräs abgecheckt. Ich kann derr sae, im Präsidium iss vielleicht die Höll los! De Owwererstaatsanwalt iss stinksauer, weil er heit e Golfturnier hat. Natürlich möchte er umgehend und umfassend informiert werden. Der Schwallbagge macht mäschdisch Druck, der will doch …«

»Ach, de lieb Herr Owwerstaatsanwalt, gebbts denne a noch. Was ferr a Fräd«, unterbrach der Gerichtsmediziner.

»Jo, leider! Bin ich froh, dass ich bei deer e wischdischer Termin wahrnemme muss«, sagte Tannenberg, nahm ein Skalpell vom Seziertisch und begann damit vorsichtig auf dem Nagel seines linken Zeigefingers herumzuschaben.

»Kumm, loss des Ding leie, dodemit kammer sich beese Verletzungen zufiesche – unn ä Leisch langt merr ferr heit. Iwwerrischens hann ich gar nett gewisst, dass meer zwä e wischdischer Termin verinnbart hätten«, entgegnete Dr. Schönthaler mit leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln.

Er gab Tannenberg einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

»Folschendes kann ich deer schunn emool sae: Die Dood iss uungefähr 35 bis 40 Joor alt gewesst und hat sich zu Lebzeite inneme sehr gute gesundheitliche Zustand befunn. Sie hat wahrscheinlich viel Sport gemacht, ja merr kann sogar behaupte, dass se ziemlich durchtrainiert war. Die Zää sinn tadellos in Ordnung.

Aber dess interessiert dich alles wahrscheinlich wennischer als dess do: Unser Opfer muss irschendwo feschtgebunn, orre vielmäh feschtgeschnallt gewesst sinn. Dess kann merr an de Hautabschürfunge, an de Fußfessele, Handgelenke, am Owwerkörper unn an de Bä siehe. Außerdem hann ich an denne Stelle Innbludungen und kabuddes Unnerhautgewebe gefunn.«

Dr. Schönthaler reckte den Zeigefinger in die Höhe. »Unn, moi liewer Wolf, ich hann noch ebbes ganz Inderessantes ferr dich. Gugg derr emool die Ferse aan«, sagte der Gerichtsmediziner und deutete auf die Füße der Toten.

Tannenberg blickte auf die blutverkrusteten Fersen und konnte zunächst nichts Auffälliges entdecken. »Na ja, die missen wohl so aussiehe, wann de Täter die Frau e paar Meder iwwer de Waldbodde geschlääft hat.«

»Ja, schunn, awwer dess iss nett ess Entscheidende. Gugg emool do!«, sagte Dr. Schönthaler mit lauter Stimme. Er griff eine Pinzette und zupfte damit an der rechten Ferse der Toten herum. »Wääsche, was dess iss?«

»Allo, ich sieh nix Besonneres.«

»Was ich do grad mit de Pinzett hochheb, iss e Dääl vunn de Achillessehn vunn der Doode.« Um seiner Äußerung nachhaltigeren Ausdruck zu verleihen, legte der erfahrene Pathologe eine kurze Sprechpause ein. »Unn dess bedeit?«

»Ja, Gott, was bedeit dess?« fragte Tannenberg verständnislos.

»Ganz ääfach: De Täter orre die Täterin hat de dood Fraa nett noor e paar Meder iwwer de Bodde geschläft, sondern viele, viele Meder. Merr kennt a behaupte, dass de Mörder se durch de halbe Wald gezoh hat!«

»He?«

»Dodruff deiden die abgeschliffene Ferseknoche unn die tief ingeribbene Sandkörner hi«, erläuterte der Gerichtsmediziner.

Mit eindeutigen Gesten forderte er Tannenberg dazu auf, sich die Angelegenheit aus der Nähe zu betrachten, was der Kriminalist aber dankend ablehnte.

»Dess hääst, de Täter orre die Täterin iss nett, wie merr bisher aangenumm hänn, zu Fuß vumm Pfaffebrunnen gefahr unn hat die Leisch dann die letschde zwanzisch Meder zum owwerschde Felse hochgeschleppt, sondern hatse längeri Zeit iwwer Waldbodde unn Sandstää geschlääft. Warum macht merrn so ebbes Verriggdes?«

»Kä Ahnung, Wolf, dess iss dei Schobb!«

»Do muss die Spusi sofort noch emool raus in die Wallahei! Dess hann die Blindgänger voin garandiert nett bemerkt. Die missen die Schleifspure zuriggverfolsche bis zu demm Platz, wo de Täter geparkt hat, und dort alle Reifeabdrick sichere«, rief Tannenberg aufgebracht. Via Handy instruierte er die Kriminaltechniker.

Dann wandte er sich wieder dem Pathologen zu. »Kannsche schunn ebbes Genaueres zur Tatwaff sae?«

»Allo, ich denk, dass der Geschenstand, mit demm die Fraa tödlich verletzt worr iss, rund, sehr spitz und ziemlich lang gewesst sinn muss. Es kann sich wedder um ebbes Kandisches gehandelt hann norre um e Messer, denn es sinn kää Innrisse orre Schnittstelle in de Wund zu finne. De Stichkanal iss ganz waagrecht.

Ess war also kää Zuschdoße vunn owwe orre unne, denn dann hätt ich määh Bludunge unn Innrisse in de Wund in e beschdimmdi Rischdung finne misse. Dess muss so ebbes wie e iwwerdimensionali Akupunkturnoodel gewesst sinn – allerdings mit wennisch heilsamer Wirkung«, scherzte der Gerichtsmediziner und lauschte einige Sekunden andächtig dem Nachhall dieser nach seiner Meinung sehr gelungenen Formulierung.

Obwohl Tannenberg mit dem Gerichtsmediziner seit vielen Jahren befreundet war, vermochte er manchmal dessen makaberen Humor einfach nicht nachzuvollziehen.

»Gugg derr dess do emool genauer aan«, forderte Dr. Schönthaler den Hauptkommissar zur eingehenderen Begutachtung der Wunde auf.

»Ess langt, wann du merr dess alles in doin Bericht eninnschreibscht. Hasche sunnscht noch ebbes Außergewähnliches entdeckt?«, fragte der Kriminalbeamte, der sich inzwischen demonstrativ ein paar Meter von der aufgebahrten Toten entfernt hatte.

»Moi Hybothees, dass die arm Fraa gefesselt worr iss, werd unnermauert durch Schürfwunde an de Kinnunterseit. Der Täter hat ehrn Kopp wahrscheinlich mit nerr brääde Binn orreme Gerdel fixiert, bevorer …«

»Bevorer was?« fragte Tannenberg ungeduldig dazwischen.

»Bevorer … Dess iss werglisch uunglaublich!«

»Los, machs nett so spannend!«

»Bevorer zwischem sechsten und siebten Ribbeboe denne spitze Gejeschdand langsam inngefiehrt hat.«

»Wie langsam inngefiehrt?«, fragte der Ermittler stirnrunzelnd.

»Na ja, de Täter hat nett fescht zugestoß, so wie zum Beischbiel beime Messerstich, sondern er hat quasi in Zeitlupp dess Ding bis zum Herz rinngedriggt. Der Mensch – iss dess eischentlich noch e Mensch, der so ebbes Abardisches duud?«

»Weiter, weiter, Rainer!«, drängte Tannenberg.

»Der Saukerl muss mit dem Ding de rasende Herzschlach vunn soim Opfer geschbiert hann. – Unn wääsche, was er dann gemacht hat?«

»Was?«

»Dann hat er fescht zugedriggt unn es pulsierende Herz vunn der arm Fraa durchgestoß. So wie merr e Hähnsche uff e Grillspieß steckt.«

»Uunglaublich!«

»Kumm emool näher!«, forderte der Gerichtsmediziner. Er wartete, bis der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission direkt neben ihn stand. Dann zeigte er mit der Pinzette auf den Oberkörper der Toten. »Siehsche dess klääne Loch unner de Bruscht?«

»Ja.«

»Do iss die Spitz rauskumm.«

Für einige Sekunden herrschte völlige Stille in dem weiß gefliesten Obduktionsraum.

»Rainer, ich hann genung. Erspar merr bitte weitere Details. Schreibse in doin Bericht«, bat Tannenberg, den plötzlich ein starkes Unwohlsein überfiel.

Er drehte sich um und machte sich ohne ein Abschiedswort auf den Weg nach draußen.

Aber der Pathologe folgte ihm und hielt ihn am Ärmel fest. »Wolf, waad emool. Hasche nett vergess, mich ebbes Entscheidendes zu froe?«

»Wieso? Was dann?«, fragte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission verwundert.

»Na ja, ferr e professionelli Ermittlungsawed iss die Frooch jo nett uunwischdisch, ob die Fraa Opfer vumme Sexualverbrecher worr iss.«

»Klar, Rainer.« Tannenberg schlug sich mit der linken Hand leicht an die Stirn. »Du hasch recht. Meer gehts halt im Moment nett so besonners.«

»Du machsch merr werglisch Sorje!«

»Dess iss norre e voribbergehendi Konzentrationsschwäsch«, versuchte Tannenberg seine dienstliche Nachlässigkeit zu erklären.

»Voribbergehend? Und vunn weje Konzentrationsschwäch! Dess iss e ausgewachsene Depression, moi Liewer. Unn dess seit sechs Johr! Ich wees, wie arisch dus Lea geliebt hasch, awwers Lewe geht weider! Ess Lea hätt beschdimmt nett gewollt, dass du dich so hänge loscht.«

»Ach, loss mich doch ääfach in Ruh. Du verschtehsch dess nett«, gab Tannenberg trotzig zurück. »Sa merr liewer, ob die Fraa missbraucht worr iss.«

»Allo«, begann der Gerichtsmediziner ruhig, »dodruff gebbts kää Hiweis.«

»Danke, Rainer. Iwwerischens an ferr doi Freindschaft«, sagte Tannenberg leise. »Jedzert muss ich awwer dringend an die frisch Luft.«

»Gudi Idee! Waldgebiede deed ich an deiner Stell allerdings zur Zeit meide.«

Ohne auf Dr. Schönthalers makabere Bemerkung einzugehen, verließ Tannenberg den kalten Totenraum und schlurfte gedankenversunken durch die von grellem Neonlicht durchfluteten Krankenhausgänge.

Obwohl inzwischen die Mittagszeit schon längst vorüber war und er heute morgen in seinem Büro außer zwei Tassen Kaffee und einem trockenen Croissant nichts zu sich genommen hatte, wollte sich noch immer kein rechtes Hungergefühl bei ihm einstellen. Der Formalin-Schleier, der sich seit dem Aufenthalt in den Katakomben des Klinikums über seine Nasenschleimhäute gelegt hatte, war einfach zu penetrant. Am liebsten wäre er jetzt nach Hause gegangen und hätte sich zu einem kleinen Mittagsschläfchen hingelegt, aber er musste leider zur Dienstbesprechung ins Präsidium.

»Na endlich, Herr Hauptkommissar, es wird ja auch Zeit!«, empfing ihn Oberstaatsanwalt Dr. Hollerbach vorwurfsvoll.« Wo ist denn eigentlich der Schauß, den hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen?«

»Der Glückliche befindet sich noch in den Flitterwochen; wahrscheinlich liegt er jetzt faul am Strand und lässt sich die Sonne auf den Bauch scheinen«, antwortete Tannenberg. Die Kommunikation mit seinem Erzfeind führte er nicht in seiner gewohnten Hochkultursprache Pfälzisch, sondern in der ungeliebten ersten Fremdsprache.

»Oder er liegt gerade auf seiner frisch Angetrauten«, warf Geiger keck ein.

»Herr Kriminalhauptmeister Geiger, darf ich Sie um einen kleinen Gefallen bitten?«, fragte der Oberstaatsanwalt.

»Ja sicher! Sie immer, Herr Dr. Hollerbach«, entgegnete Tannenbergs Mitarbeiter großzügig.

»Dann verschonen Sie uns wenigstens heute mit Ihrem primitiven Humor. Wir haben schließlich einen komplizierten Mordfall zu lösen.«

»Nein, Quatsch, der Schauß hat ja schon drei Wochen Urlaub, der müsste morgen wieder zum Dienst erscheinen«, berichtigte Tannenberg, nachdem er sich an dem im Nebenzimmer befindlichen aktuellen Urlaubsplan kundig gemacht hatte.

»Gut, dann sind wir ja ab morgen vollzählig. Herr Hauptkommissar, was sagt eigentlich die Gerichtsmedizin? Sie kommen doch gerade von Dr. Schönthaler, oder?«

Tannenberg berichtete ausführlich über alles, was er von seinem alten Freund erfahren hatte. Sein Redefluss wurde immer wieder von Nachfragen des Oberstaatsanwalts unterbrochen.

»Der Fundort war also definitiv nicht der Tatort. Begründung!«, forderte Dr. Hollerbach eine Stellungnahme des Kommissariatsleiters ein.

»Also zum einen, weil Dr. Schönthaler und die Spurensicherung keine Blutspuren auf den Felsen gefunden haben und zum anderen, weil der Täter die Frau eine längere Strecke durch den Wald hoch zum Pfaffenbrunnen geschleift hat. Und zwar so lange, dass die Achillessehnen der Toten nur noch in Fetzen vorhanden sind. Und diese schmerzvolle Prozedur hätte die Frau wohl kaum freiwillig über sich ergehen lassen.«

»Falsch, Tannenberg, das ist mal wieder eine Ihrer vorschnellen Interpretationen, denn schließlich könnte die Frau ja auch betäubt gewesen sein, als sie hochgeschleppt wurde.« Dr. Hollerbach drehte sich dem am Fenster stehenden Kriminaltechniker zu. »Mertel, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, hat der Täter die Frau tatsächlich vom Waldparkplatz hoch zum Pfaffenbrunnen geschleift.«

»Ja, Herr Oberstaatsanwalt, aber er ist noch ein kleines Stück in den Wald reingefahren. Ich schätze mal, weil er sich dort sicherer, also unbeobachteter, gefühlt hat.«

»Und, Mertel, habt ihr Reifenabdrücke sicherstellen können?«, wollte Tannenberg ungeduldig wissen.

»Klar, die waren nicht zu übersehen. Die Reifen sind zwar anscheinend schon etwas abgefahren, aber dafür waren die Profilspuren auf dem Waldboden wirklich deutlich zu erkennen gewesen.«

»Sehr gut«, sagte Tannenberg eher zu sich als zu den im Besprechungszimmer Anwesenden.

»Nicht gut! Mehr Fragen als Antworten!«, polterte Oberstaatsanwalt Dr. Hollerbach. »Warum schleift dieser Verrückte die Frau den ganzen Weg hoch zum Pfaffenbrunnen? Warum ist der nicht weiter in den Wald reingefahren? Haben Sie dafür eine schlüssige Erklärung, Herr Kriminalhauptkommissar?«,

Trotz der Provokationen blieb Tannenberg gelassen. »Es gibt einige Erklärungen: Vielleicht hat der Täter Angst gehabt, dass er mit seinem Auto auf den schlechteren Wegen oben stecken bleibt. Vielleicht ist er aber nur verrückt und es gibt keinen logischen Grund für sein Verhalten. Auf alle Fälle sind diese Spekulationen im Augenblick nicht sinnvoll.«

»Lieber Herr Hauptkommissar, das sehe ich allerdings anders«, stellte der Oberstaatsanwalt unmissverständlich fest.

Tannenberg ließ sich von diesem Statement nicht beeindrucken. »Wir sollten ganz andere Fragen stellen, zum Beispiel: Wer ist die Tote?«, fuhr er mit seinen kritischen Einlas­sungen fort. »Wenn ich richtig informiert bin, gibt’s immer noch keine Vermisstenmeldung – oder Geiger?«

»Nein, Chef, noch ist keine eingegangen.«

»Wo hat der Täter sein Opfer überfallen, entführt, umgebracht? Wo sind ihre Schuhe? Wo ist ihre Handtasche abgeblieben? Mertel, habt ihr diesmal was gefunden?«

»Nein, weder Schuhe noch Handtasche.«

»Hat irgendein Zeuge das Auto, mit dem die Frau zum Bremerhof transportiert wurde, gesehen? Handelt es sich überhaupt um einen Täter, kann es nicht auch eine Täterin gewesen sein, oder handelt es vielleicht sogar um mehrere Täter? Was für ein Motiv kann es für solch eine merkwürdige Tat geben?«

»Na gut, Tannenberg. Also ich denke, solange wir absolut nichts über die Identität der Frau wissen, können wir im Augenblick wirklich kaum etwas Sinnvolles unternehmen«, resümierte Dr. Hollerbach.

»Deshalb schlage ich vor, dass wir bis morgen früh warten, ob eine Vermisstenmeldung eingeht. Falls nicht, können wir dann in der Rheinpfalz ein Foto der Toten veröffentlichen und die Bevölkerung um Mithilfe bitten. Spurensicherung und Gerichtsmedizin arbeiten ja noch weiter.

Da wir alle erreichbar sind, können wir jetzt nach Hause gehen. Sobald sich etwas tut, treffen wir uns wieder hier und beraten über unser weiteres Vorgehen. Und wie immer meine Herren: natürlich striktes Stillschweigen – auch gegenüber Familienangehörigen!«

Da verständlicherweise niemand etwas an dieser dienstlichen Anordnung auszusetzen hatte, zerstreute sich die Gruppe in Windeseile. Tannenberg verspürte plötzlich ein leichtes Magenknurren, das er eindeutig als Vorfreude auf den frisch gebackenen Hefezopf seiner Mutter deutete.

2

Zärtlich schmiegte sich Sabrina an ihren schlafenden Mann, schnuffelte an seiner sonnengebräunten Haut und streichelte ihn mit sanften Blicken. Obwohl sie nun schon seit fast zwei Jahren tagtäglich mit ihm zusammenlebte, übte dieser schlafende Riese morgens immer noch die gleiche magische Anziehungskraft aus wie damals, als sie zum ersten Mal neben ihm erwachte.

Behutsam schob Sabrina die dünne Sommerdecke von ihrem makellosen Körper, richtete sich im Zeitlupentempo auf und schlich auf Zehenspitzen in die geräumige Wohnküche. Nachdem sie die Kaffeemaschine befüllt und eingeschaltet hatte, stellte sie Milch, Müslischälchen und Obst auf den Tisch. Anschließend begab sie sich zur Morgentoilette ins Bad und kleidete sich an.

Fröhlich einen Ohrwurm, den sie gerade unter der Dusche aufgeschnappt hatte, vor sich hin summend, schlich sie zurück ins gemeinsame Nachtlager und kuschelte sich vorsichtig an den Mann, mit dem sie seit drei Wochen verheiratet war.

»Allerliebschder Ehegadde, unser Urlaub iss leider rumm. Ab heit derrfen merr widder Freind und Helfer spiele«, säuselte sie ihm liebevoll ins Ohr. Als Zugabe hauchte sie ihm einen zarten Kuss auf die Wange.

Michael Schauß gähnte mit weit geöffnetem Mund und brummte wie ein müder alter Grizzlybär, der nach tiefem Winterschlaf gerade die Höhle verlässt. Dann umarmte er seine junge Frau und zog sie zu sich.

»Mischa, nett so fescht!«, wehrte sich Sabrina gegen die Annäherungsversuche. Durch eine schnelle Körperdrehung entzog sie sich der zärtlichen Umklammerung. »Ich bin doch schunn aangezoh. Los, jedzert awwer raus aus de Feddere, du aldes Murmeldier.«

Während Sabrina die beiden Dienstwaffen aus der unteren Kommodenschublade zog, fragte sich Schauß, ob es irgendwo auf der Welt noch eine andere Streifenpolizistin gab, der es ebenso mühelos gelang, einer todlangweiligen Dienstuniform solch eine erotisierende Ausstrahlung zu verleihen.

»Och, Schatz, kumm doch noch e bissje zu merr«, bettelte Michael. »Noor e bissje schnussele. Weil eischenlisch hann ich grad viel mäh Luscht uff annere Sache als uff moin Schobb.«

Sabrina schmunzelte. »Leider hammer jedzert awwer kää Zeit mäh ferr irschendwesche annere Sache. Außerdem wääs ich gar nett, was du mänsch.«

»Schad, werglisch schad«, entgegnete Schauß frustriert. »Uff de anner Seid frä ich mich schunn a uff e bissje Abwechslung. Unn uff de Wolf, denne alde Knorzelkopp. Wääsche eischentlich, dass er midde in unserm Urlaub zum Leiter vunn de Mordkommission befördert werre sollt?«

»Nee, du hasch merr noor verzählt, dass er no demm deedliche Autounfall vunn eierm Kriminalrat zum kommissarische Leiter vumm K1 beschtimmt worr iss und dass noch nett klar wär, obers iwwerhaupt werd, weil de Owwerstaatsanwalt Dr. Hollerbach was degeje hätt«, antwortete Sabrina.

»Es iss awwer schunn länger klar, dass der dodemitt nett durchkummt, weil de Bolizeipräsident de Dannebersch uunbedingt uff dem Poschde hann will. Ich bin ziemlich geschpannt, wie er mit dem neie Schobb zurechtkummt.«

»Warum? Trauschsemm nett zu?«

»Doch, doch, vunn seiner fachliche Qualifikation her uff alle Fäll. Awwer manschmo isser schunn ganz schää eischesinnisch unn noor schwer vunn seine Mitmensche zu ertrae. Do muss er sich schunn e bissje umstelle. Awwer vielleicht ergebbt sich dess jo a vunn allä, wann er endlich e Birro ganz ferr sich allä hat. Ich glaab, dess iss ferr denne alde Krimmelbisser ganz schä wischdisch«, sagte der junge Kriminalbeamte.

Als Kommissar Schauß frohgelaunt das Gebäude der Zentralen Kriminalinspektion am Pfaffplatz betrat, wusste er noch nichts von dem gestrigen Leichenfund, denn weder die Rheinpfalz noch der SWR hatten bisher darüber berichtet.

»Gmoin, moi liewi Flocke. Du siesch moo wirre phantastisch aus! Unn dess am frie Montachmoje.«

»Schää, dich zu siehe, du alder Charmeer. Wie warn de Urlaub?«, fragte Petra Flockerzie, die aber meist nur Flocke genannt wurde.

»Toll, echt toll! Schad, Flocke, dasche nett debei waasch,« antwortete Schauß der Sekretärin des K1 lachend.

»Langt derr enni nimmi, he?«, grölte eine dunkle Männerstimme aus der sperrangelweit geöffneten Tür direkt neben Tannenbergs Büro. »Jedzert hasche schunn die absolut Subberfraa mit de knaggischst Figur weit und brät debeigehatt und dann willsche noch enni mitnemme. Sinn ehr zwää iwwerrhaupt noch zum Esse kumm?«

»Oer, Geischer, du bisch jo ebbes vunn gabudd in dem Herrnkaschde! Laaft derr glei de Sabber aussem Maul? Mach doch endlich emool ebbes geh doin Fruscht und kaaf derr e Paggung Viagra. Dann gehts bei deer vielleicht amool wirre uffwärts, im wahrschte Wortsinn!«, gab Schauß schlagfertig zurück. Petra Flockerzie lachte schallend.

»Ruh iss jedzert!«, brüllte Tannenberg durch die angelehnte Zimmertür, die er kurz darauf wütend aufriss.

»Meer sinn doch nett im Komödiestadel! Hanner dann nix zu due? Mensch, Flocke, du bisch als Sekretärin aangestellt unn nett als Lachsack! Also mach dich gefälligscht an doi Arwed. Meer hann schließlich e komblizierter Mord uffzukläre!«

»Entschuldischung, Chef. Ich hann misse noor so lache, weil …«

»Interessiert mich kää bissje«, unterbrach sie Tannenberg und wandte sich Kommissar Schauß zu. »Hallo, Mischa, schää, dasche wirre dobisch. Kumm rinn. Leit, ich will die neggscht halb Schdunn nett gesteert werre. Klar?«

»Klar, Chef«, erwiderten die Sekretärin und Kriminalhauptmeister Geiger wie aus einem Munde.

Michael Schauß drückte vorsichtig die Zimmertür in ihren Rahmen. »Gmoin, du blutrinnschdischer Wolf, hat merr dich endlich wirre uff e Blutspur aangesetzt?«

»Kumm, loss die Scherze. Meer hann zu schaffe«, entgegnete Tannenberg barsch.

Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm die aktuelle Ausgabe der Bildzeitung, faltete sie auseinander und breitete sie auf dem kleinen Konferenztisch aus. »Do gugg selwer, uff de dridde Seit. Bild wääs moo wirre mäh als meer.«

Kommissar Schauß beugte sich über die Zeitung. Sein Blick streifte die Abbildung des Pfaffenbrunnens.

»Mysteriöser Ritualmord«, las er vor. »Wer issen der Mann uffem Foddo?«

»Dess iss der Rentner, der wo die dood Fraa geschdern gefunn hat«, antwortete Tannenberg.

»Do stehts jo a: ›Mitten im schönen Pfälzer Wald fand Fritz M. am frühen Sonntagmorgen eine weibliche Leiche. Sie lag mit Blumen geschmückt auf einem Felsen. In der aufgeschnittenen Kehle steckten Pfifferlinge. Die Kaiserslauterer Mordkommission tappt noch völlig im Dunkeln.‹ Dess iss jo irre, Wolf. Stimmt dess mit de Gäälschwämmscher?«

»Ja, Mischa, dess stimmt, leider.«

»Wahnsinn! Unn dess bei uns in de Brovinz!«, sagte Schauß kopfschüttelnd.

Das Diensttelefon läutete. »Ah, der Herr Oberstaatsanwalt. Natürlich hab ich schon die Bildzeitung gelesen«, antwortete Tannenberg mit rollenden Augen. »Nein, von uns hat sicher keiner Informationen weitergegeben. Das war garantiert dieser Rentner, ist ja auch ein Foto von ihm in der Zeitung.

Ja, es gibt schon was Neues: Dr. Schönthaler hat Wattepartikel und Chloroformspuren in der Nase des Opfers entdeckt. Außerdem Klebereste am Mund. Ja, das deutet auf eine Entführung hin. Und noch etwas, Herr Oberstaatsanwalt: Dr. Schönthaler meint, dass der Kehlenschnitt hundertprozentig post mortem durchgeführt wurde. Natürlich werden Sie auf dem Laufenden gehalten, nichts lieber als das«, flötete der Leiter der Mordkommission, während er Grimassen schnitt.

»Sei froh, dass merr noch kää Bildtelefon hann!«

»Dess fehlt merr grad noch. Dess iss jo so e Dolldibbe, der Hohl-Hohl-Hollerbach!«

Schauß grinste breit. »Ess iss immer wirre beindruggend, wie perfekt du Hochdeitsch redde känne duusch, wannsche musch.«

Tannenberg blies die Backen auf. »Dess iss ganz schää aanstrengend, kann ich derr noor sae.«

»Chef, ewe iss e Vermissdemeldung rinnkumm!«, schrie Geiger, obwohl er die Tür noch gar nicht vollständig geöffnet hatte.

»Vunn wemm?«, fragte Tannenberg.

»Vunner Fraa Schneider.«

»Ja unn, was hatse gesaat?«

»Na ja, halt dass se ehr Awedskolleschin und beschdie Freindin vermisse duud.«

»Basst die Beschreibung?«

»Basst wie e Arsch uffe Ämer. Die Vermisst soll 39 Johr alt sinn, korze blonde Hoor hann unn e sportlischi Erscheinung sinn. Wollense die Fraa Schneider selwer aanrufe?«

»Quatsch, meer fahrn do sofort hi.«

»Vunn wo aus hatten die eischentlich aangerufe?«, fragte Schauß dazwischen.

»Vumm Lieschenschaftsamt, do schafft die anscheinend.«

»Dess iss doch im Rathaus, orre?«, wollte Tannenberg wissen.

»Jo, Chef.«

»Gut, dann fahre meer glei emool dort anne. Geischer, du bleibsch do unn machsch Delefondienscht. Ruf schunn moo aan unn avisier uns.«

»He? Was soll ich, Chef?«

»Aanrufe unn sae, dass merr glei zu ehr kummen«, antwortete Tannenberg sichtlich genervt.

Als die beiden Kriminalbeamten das schmucklose betongraue Verwaltungsgebäude verließen, wurden sie bereits mit den ersten dicken Regentropfen bombardiert, die gerade eine mächtige blauschwarze Gewitterwolke über der Stadt auszuschütten begann. Mit schnellen Schritten eilten Schauß und Tannenberg zu ihrem neuen Dienstwagen, einem titansilbernen Mercedes-Kombi.

Kurz nachdem sie das zivile Polizeiauto erreicht hatten, zog das wütende Sommergewitter alle Register, die es an diesem schwülen Junimorgen zu bieten hatte: riesige Mengen überpraller Wassertropfen, die auf dem staubigen Asphalt sofort große Luftblasen bildeten; ein aufbrausender, peitschender Wind, der den Regen brutal an die Autoscheiben und Häuserwände klatschte, und als krönenden Abschluss traubengroße Hagelkörner, die sich auf dem Straßenpflaster in Windeseile zu einem eisigen schneeweißen Teppich verknüpften.

Aber genauso schnell und brutal wie das Gewitter über die schutzlose Stadt hergefallen war, genauso schnell war es wieder verschwunden. Urplötzlich kehrte die Helligkeit aus ihrem Versteck zurück und die triumphal grinsende Sonne machte sich schadenfroh über die eisige Körnerpracht her.

»Mischa, wart noch e Momentsche«, sagte Tannenberg zu seinem erstaunten Mitarbeiter. Er betätigte den elektrischen Fensterheber. »Mach moo doi Fenschder uff! – Iss die frisch Luft nett herrlich?«

»Doch, die iss unheimlich erfrischend«, stimmte der junge Kriminalkommissar zu.

»So, jedzert awwer los«, tönte der Leiter des K1. Er setzte das magnetische Martinshorn auf das Wagendach und schaltete es ein.

»Mit Blaulicht zum Rathaus? Iss dess nett e bissje iwwerdripp, Wolf?«, fragte Schauß in die laut aufheulenden Sirenentöne.

»E bissje Schbass werrd merrr in unserm Schobb ab unn zu noch hann derrfe, orre? Soball merr um die Fruchthall erumgefahr sinn, mach ich die Mussig a wirre aus. Zufriede?«

»Klar, Boss!«, gab Schauß schmunzelnd zurück.

Kurz nachdem der silberne Mercedes von der Fruchthallstraße in den Willy-Brandt-Platz eingebogen war, schaltete Tannenberg wie versprochen die Sirene aus. Während Schauß langsam die für Pkws eigentlich gesperrte Rampe zum Rathaus emporkroch, dachte Tannenberg daran, dass er vor etwa zwanzig Jahren schon einmal mit dem Auto auf den Rathausvorplatz gefahren worden war. Damals allerdings von seinem Schwiegervater am Tag der standesamtlichen Trauung.

»Wolf, wääsch du zufällisch, in welchem Schdockwerk ess Lieschenschaftsamt iss?«, wollte Schauß wissen.

»Nä, ich hann kää blasser Schimmer. Hoffentlich nett so weit owwe. Weje moiner Platzangscht kann ich jo kä Uffziesch benutze.«

»Oje, wann dess ganz owwe iss, muss ich jo bis heit Noomiddach uff dich waade«, scherzte der junge Kommissar.«

Die beiden Ermittler betraten das höchste Rathaus Europas, wie die Stadtväter bei allen möglichen Anlässen öffentlich prahlten. Tannenberg dagegen empfand diesen neben die Ruinen der alten Kaiserpfalz brutal eingerammten klotzigen Wolkenkratzer nicht als architektonische Bereicherung, sondern als barbarische Verschandelung der Barbarossastadt.

»Gummo, do vorne iss e Hinweisdafel, wo merr sieht, wo die änzelne Ämder sinn«, sagte Schauß. »Ei, do hammers jo schunn: Lieschenschaftsamt, 6. Owwergeschoss.«

»Na allo, dess geht jo noch! Dann bis glei«, entgegnete Tannenberg und entschwand ins Treppenhaus.

Frau Schneider wurde schnell gefunden. Anscheinend war das gesamte Liegenschaftsamt bereits über den am Pfaffenbrunnen entdeckten weiblichen Leichnam informiert und harrte gespannt der Klärung der Frage, ob die Tote wirklich mit Frau Schneiders Freundin identisch war.

Denn nur so ließ sich wohl erklären, warum Tannenberg bereits im Eingangsbereich des Amtes von mehreren Personen empfangen wurde, die ihn direkt in ein Büro geleiteten, in dem eine in sich zusammengesunkene Frau mittleren Alters saß.

Als Tannenberg die liebevoll umsorgte Dame inmitten eines guten halben Dutzends meist beleibter Kolleginnen erblickte, drängte sich unwillkürlich das Bild von treu sorgenden Elefantenmüttern, die sich schützend um ein verwaistes Jungtier scharten, in sein Bewusstsein.

Durch seine Aufforderung, den Raum umgehend zu verlassen, sahen sich die Anwesenden zu spontanen Unmutsbekundungen genötigt, von denen sich Tannenberg allerdings in keinster Weise beeindrucken ließ.

»So, moi liewi Fraa Schneider, ich denk, meer sollten zunäggscht emool abkläre, obs sich bei der Doode iwwerhaupt um Ehr Freindin hannelt. Vielleicht iss die ganz Uffreschung jo umsunnscht und Ehr Freindin sitzt irschendwo in einer Arztpraxis erum«, versuchte Tannenberg die Frau zu beruhigen, obwohl ihm sein kriminalistischer Spürsinn eindeutig andere Signale sendete.

»Mischa, holmo bidde die Foddos aus de Mapp!«

»Alle?«

»Nää, bloos die Porträtuffnahm und enni mit de Ringe vunn der Fraa«, sagte Tannenberg und ergänzte: Ess iss kää schääner Aanblick, Fraa Schneider, awwer ich kanns Ihne leider nett erspare.«

»Langt nett dess Bild mit de Ringe?«, jammerte Frau Schneider.

»Allo gut, dann guggense sich erschst emool dess do aan«, sagte Tannenberg. Er drehte die eine Fotografie um und reichte sie der Frau, die sofort aufschrie.

»Um Goddes wille, dess iss die Hand vunn de Elvira.« Sie zitterte am ganzen Körper und legte ihre Hand auf den aufgesperrten Mund.

»Bitte beruhischense sich. Sollen merr a Dogderr rufe?«

»Nä nä, es geht schunn«, schluchzte die Frau.

»Erkennense die Ring, Fraa Schneider?«, fragte Schauß.

»Eijo, dess sinn ehre. Denne äne hann ich ehr jo zum 35. Gebortsdaach geschenkt. Ach Gott, iss dess schregglisch! Elvira war so e liewer Mensch.«

»Fraa Schneider, wie issen de vollständisch Name vunn Ehrer Freindin? Elvira …«, drängte Tannenberg.

»Elvira Kannegießer.«

»Wo wahnten Ehr Freindin?«, wollte Kommissar Schauß wissen.

»Kurt-Schumacher-Strooß 74, zweiter Stock«, kam es gehaucht zurück.

»Hattse mit jemand zammegelebt?«

»Nä, nä, sie lebt allä.« Und in einen neuerlichen Weinkrampf hinein ergänzte sie: »Hat allä gelebt.«

»Noor noch ä Frooch, Fraa Schneider, dann losse merrse a in Ruh: Wer sinnen die nexschde Aangeherische vunn de Fraa Kannegießer?«

»Es gebbt a Bruder, der wahnt awwer nett in de Geschend. Awwer ehr Eldere wahnen in Schallodebach, so viel ich wääs.«

»Gut, Fraa Schneider, dann wars dess ferrs Erschde. Die Identifizierung werrn dann wohl die Eldere iwwernemme misse«, sagte Tannenberg.

»Sollemerr werglisch kää Dogderr rufe?«, fragte Schauß.

»Nä, nä. Es geht schunn wirre.«

Tannenberg erhob sich. »Dange, Fraa Schneider, Sie hann uns sehr geholf.« Er ging zur Tür. »Kumm, Mischa, meer fahrn zude Wahnung!«

»Waadense«, rief Frau Schneider den beiden Männern hinterher. Sie griff in ihre Handtasche. »Ich hann e Schlissel ferr die Wahnung. Denne hat merrs Elvira mo gebb, damit ich die Katz versorje kann, wann sie im Urlaub iss. O Gott, die arm Katz, wer kimmerden sich jedzert um dess arme Dier?«

»Do werd sich sicher e Leesung finne«, entgegnete Tannenberg freundlich.

»Dess arme Kätzje. Do missense sofort ebbes unnernemme!«

»Machemerr. Meer rufen noher ess Dierheim aan«, versprach der Leiter des K1. »Awwer vielleicht find sich jo a e Nochbar, ders Kätzje nemmt.«

Die beiden Ermittler passierten die Fußgängerbrücke an der Universität und bogen nach rechts in die Kurt-Schumacher-Straße ein.

»Langsam, Mischa, dess kann glei do am Aanfang sinn«, sagte Tannenberg, während er nach Hausnummern Ausschau hielt. »Na, was hann ich grad gesaat, he? Do vorne iss die 70 unn links newedraan die 68. Kumm, park äfach do irschendwo, meer laafen die paar Meder.«

»Okay! Awwer ich sieh kä freier Parkplatz.«

»Dann stell dich doch äfach in die Innfahrt unn machs Blaulicht druff, dann beschwert sich garandiert kenner!«

Die vierstöckigen Gebäudekomplexe lagen eng ineinander verschachtelt hinter frisch gemähten Rasenflächen, sodass man auf den ersten Blick keine bauliche Differenzierung vornehmen konnte. Lediglich die von Weitem erkennbaren überdimensionierten Hausnummern ermöglichten dem Besucher eine Orientierung. Die eintönigen Häuserfronten wurden optisch aufgelockert durch schmale, vorgezogene Balkone, die meist mit Grünpflanzen oder Blumenkästen dekoriert waren.

»Wolf, was hallschen defunn, wammer erscht emool beim Hausmääschder klingeln? Der wääs, wo die Wahnung vunn de Fraa Kannegießer iss. Unn vielleicht wäs er jo a jemand, der die Katz iwwernemme kännt.«

»Awwer was iss, wann der Mann e Katzeallergie hat orre e Schäferhund, der gern mit Katze spielt?«, fragte Tannenberg scherzhaft.

»Alder Pessimischt! Waads doch erscht emool ab. Wanns so iss, nemmsch du äfach die Katze mit hääm. De Tobias unns Marieke deeden sich beschdimmt fräe«, frotzelte sein junger Mitarbeiter.

»Dess deed merr grad noch fehle! Unn ich mach dann immers Katzeklo sauwer, he? Werglisch e subber Idee, Mischa.« Tannenberg schürzte die Lippen.

»Wammer so Kollesche hat, braucht merr werglisch kä Feinde meh!«

Der Hausmeister zeigte sich sehr betroffen darüber, dass Elvira Kannegießer vermisst wurde, und stellte sofort einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Toten vom Pfaffenbrunnen und der Hausbewohnerin her. Er schilderte die Frau als sehr angenehme Mieterin, die stets freundlich und zuvorkommend gewesen sei.

Besonders mit den vielen männlichen Studenten sei Frau Kannegießer bestens ausgekommen. Sie war anscheinend ein gern gesehener Gast bei jeder Fete. Er habe auch immer mal wieder von Gerüchten gehört, dass die »schöne Elvira« – wie er sie wörtlich nannte – hier und da eine Liaison mit einem der Studenten eingegangen sei. Frau Kannegießer sei eben eine lebenslustige, attraktive Frau gewesen, die nichts anbrennen ließ.

Die nichts anbrennen ließ – was für eine merkwürdige Redewendung, dachte Tannenberg, als die beiden Ermittler vor der Wohnung Elvira Kannegießers standen.

»Wo issen die Katz?«, fragte Schauß sichtlich irritiert, nachdem er mit Frau Schneiders Schlüssel die Tür geöffnet hatte. »Ich hann eischentlich erwaad, dass merr jedzert vunner hungrische Katz begriest werrn. Du nett a, Wolf?«

»Jo, eischentlich schunn. Awwer vielleicht hatse sich jo noor verschdeggelt«, murmelte Tannenberg.

Er war bereits in eine andere Welt eingetaucht. Er hatte dieses Phänomen schon so oft bei sich wahrgenommen, dass es für ihn derart selbstverständlich war wie für andere Leute das tägliche Zähneputzen.

Jedes Mal, wenn Tannenberg während einer Ermittlung in das private Refugium eines seiner Mitmenschen eindrang, bemächtigte sich seiner dieser merkwürdige Gemütszustand, der irgendwo zwischen tief empfundener Abscheu über sein pietätloses Handeln auf der einen und dieser unbändigen Neugier auf der anderen Seite anzusiedeln war.

Natürlich konnte er zu seiner Rechtfertigung die legendären Sachzwänge geltend machen, schließlich war dieses rücksichtslose Eindringen in die Intimsphäre eines ihm völlig unbekannten Menschen für die Ermittlungen zwingend erforderlich. Für ihn war es aber weit mehr als kriminalistische Routinearbeit. Es war ein Spiel – ein Puzzlespiel, das darin bestand, eine Vielzahl von Einzelinformationen zu einem Bild zusammenzufügen, zu einem detailgetreuen Abbild der Persönlichkeit eines fremden Menschen.

»Ferrschderlich stiggischi Luft«, sprach Tannenberg in sein Diktiergerät. »Mischa, mach bidde die Fenschder unn Ballgondeere uff. Awwer guck vorher no, obs irschendwelche Hiweise uff e gewaltsames Inndringe gebbt, sunnscht dreht uns noher die Spuresicherung de Hals errum.«

»Klar, mach ich. Die Luft iss werglisch ferschderlich!«, stimmte Schauß zu und begab sich zu den Flügeltüren des Wohnzimmers.

Tannenberg blieb noch im Flur. Wie ein Scanner tasteten seine Augen zuerst den Fußboden, dann die Wände ab. Gleichzeitig sprach er alle möglichen Details auf Band. Danach schlenderte er gemächlich durch das Schlafzimmer, dann stattete er Bad und Küche einen kurzen Besuch ab. Anschließend kehrte er ins Wohnzimmer zurück, wo er für längere Zeit verweilte.

Kommissar Schauß schlich während dieser Zeit schweigend wie ein Mitglied einer Dom-Besuchergruppe durch die geschmackvoll eingerichtete Single-Wohnung und wartete geduldig, bis Tannenberg seine letzten Eindrücke dem Diktiergerät mitgeteilt hatte.

»Mischa, ich bin ferrdisch. Hasche a de Inndruck, dass die Fraa Kannegießer e zimmlich aktiver Mensch war?«, fragte Tannenberg seinen Mitarbeiter.

»Ja, ich denk schunn. Uff alle Fäll war se ganz schää sportlich«, antwortete Schauß. Er nahm einen größeren Silberpokal aus der Vitrine, den das Opfer anscheinend bei einer Tennis-Vereinsmeisterschaft gewonnen hatte.

»Kumm, Mischa, stell dess Ding besser wirre anne. Meer gehn jedzert eh besser, bevor de Merdell unn soi Leit kummen.«

Just in diesem Augenblick läutete es. »Wammer vumm Deibel redd«, begrüßte Tannenberg die Kriminaltechniker.

Diese stimmten sofort wieder ihr übliches Klagelied hinsichtlich vorsätzlicher Spurenvernichtung an. Erst als Mertel dem Leiter der Mordkommission mittelte, dass Geiger von der KFZ-Zulassungsstelle erfahren habe, dass Frau Kannegießer einen blauen Golf mit dem Kennzeichen KL-EV-16 besitze, hörte er wieder aufmerksam zu.

»Saemool, Mischa, war die Wahnungsdeer eischentlich abgeschloss orre war se noor ins Schloss gezoh?« fragte Tannenberg, während er mit seinem Kollegen langsam die Treppen hinunterging.

»Ich hann de Schlissel noor rinngeschdeck unn korz no rechts gedreht. Sie war also nett abgeschloss.«

»Ja, so hann ich dess a in Erinnerung. Komisch.«

»Warum? Vielleicht iss die Fraa jo noor korz aussem Haus. Zum Zigareddehole zum Beischbil!«

»Jo, vielleicht. Awwer wo iss die Katz abgeblibb?«, fragte Tannenberg.

»Ich hannse jedenfalls nett gesieh«, erwiderte Schauß. »Die Spusi werd se sicher finne. Die Katz hat sich aus Angscht vor deer Krimmelbisser garandiert irgschendwo verschdeggelt.«

»Ei jo, wassen sunnscht, du alder Schbrischeklobber!«

Die beiden Ermittler hatten Elvira Kannegießers blauen Golf schnell entdeckt. Der Wagen stand nur wenige Meter von den Wohngebäuden entfernt auf der anderen Seite der Kurt-Schumacher-Straße.

Allerdings nicht am Fahrbahnrand, sondern auf einem zur Tennishalle gehörenden kleinen, ungepflasterten Parkplatz, direkt hinter Glas- und Altpapiercontainern. Als Tannenberg das äußerlich unversehrte, verschlossene Auto unter der mächtigen Trauerweide erspähte und die aus dichten Büschen und Sträuchern bestehenden natürlichen Sichtschutzmauern zur Straße und zur Tennishalle hin registrierte, blickte er zu seinem Kollegen, der genau das aussprach, was Tannenberg gerade dachte.

»Ess gebbt wohl kaum e geeischnederer Platz ferr e Entfiehrung.«

3

Da Wolfram Tannenberg im Laufe der Jahre eine ausgeprägte Aversion gegen jegliche Form von Kantinenessen entwickelt hatte, versuchte er so oft wie nur irgend möglich, zumindest die Mittagsmahlzeiten im Kreise seiner Familie einzunehmen.

Als ihn Schauß vor seinem Elternhaus in der Beethovenstraße absetzte, erwartete ihn bereits sein Vater, der ihm aus dem sperrangelweit geöffneten Küchenfenster der Parterrewohnung laut entgegenrief: »Ei, guggemoodo, de Herr leidende Grimminalhaubtkommissar hattemool wirre vunn Weidem geroch, dass soi Mudder ebbes Gudes gekocht hat.«

»Vadder, du wääsch doch ganz genau, dass ich nett will, dass die ganz Beethoffestrooß mitkriet, dass ich befördert worr bin. Hall doch äfach in Zukunft doi Schlabbergosch!«, schimpfte sein Sohn, nachdem er die Küche der elterlichen Wohnung betreten hatte.

Er winkte ab. »Obwohl bei deer iss jo eh Hobbe unn Malz verlor. Do kännt ich genauso gut me Ochs ins Horn petze.«

Jakob Tannenberg machte eine ausladende Geste. »Ach Gott, bisch du empfindlich. Du kannsch doch werglich stolz uff doi Karriere bei de Bolizei sinn, orre?«

»Ich schunn, aber du nett! Unn desdeweje sollsche dodemit a nett so hausiere gehe. Ess muss jo nett die ganz Strooß heere, wann ich häamkumm«, gab Tannenberg scharf zurück.

»Jedzert heern ehr zwä awwer sofort uff do erummzuschelle wie die Kesselfligger«, sprach Margot Tannenberg ein Machtwort. »Ehr wissen ganz genau, dass meer ess Esse nett schmegge duud, wann ehr eisch in de Hoor hänn.«

Sie stellte eine große Auflaufform mit dampfenden Käsespätzle auf den hellblauen Aluminium-Untersetzer. »Jaggob, bring merr mool die Salatschissel riwwer!«

»Dess kann doi Herr Sohn mache, der kann unn wääs jo sowieso immer alles besser«, weigerte sich der Senior. »Soim alde Vadder so iwwers Maul zu fahre. Du sollscht dich schäme. Hasche dann iwwerhaupt kää Reschbeckt mäh?«

»Jedzert sei doch nett glei inngeschnappt. Ich bin halt grad e bissje im Schtress unn hann ziemlich viel um die Ohre mit moim erschde Mordfall als Kommissariatsleider.«

»Jo, ich wääs, die Leich vumm Paffebrunne«, bemerkte Vater Tannenberg in etwas versöhnlicherem Ton. Er wechselte das Thema. »Margot, wann kummen dann unser Enkel heit aus de Schul?«

»Die missten eischentlich schunn do sinn«, erwiderte seine Ehefrau. »Wolfi, hol moo de Riesling aussem Kielschrank.«

»Trink ich drei Achtel, du, ich singe wie e Wachtel«, tönte Jacob und nahm seinem Sohn die Flasche aus der Hand.

Tobias betrat die Küche. »Toll, der Onkel Wolfi ist auch da!«

»Tobi, du sollsch mich nett Wolfi nenne«, sagte Tannenberg.

»Oma darf doch auch Wolfi sagen«, beschwerte sich sein Neffe.

»Awwer noor moi Mudder, sunnscht nimmand.«

»Okay, dann eben anders: Einen wunderschönen guten Tag, lieber Onkel Wolfram. Besser so?«, fragte Tobias keck. Er schlurfte an den gedeckten Tisch und wartete mit großen Augen auf den Küchendienst, der ihm endlich das Mittagessen servieren sollte.

»Außerdem kännsche endlisch emool aanfange, Pälzisch mit meer zu redde.«

»Du weißt doch, dass Mama das nicht möchte«, gab sein Neffe zurück.

Tannenberg war bewusst, dass er die Schlacht gegen Betty, seine Schwägerin, schon lange verloren hatte. Seit der Geburt ihrer beiden Kinder sprach sie nur Hochdeutsch mit ihnen. Ihr Argument, dass die beiden es so in der Schule bedeutend leichter hätten, vermochte Tannenberg, wenn er ehrlich war, nicht ganz von der Hand weisen.

Während seiner Schulzeit hatte er als eingefleischter Pfälzer enorme Probleme mit dem Erlernen seiner ersten Fremdsprache Hochdeutsch gehabt, was ihm im Abiturzeugnis mit einem Mangelhaft in seiner angeblichen Muttersprache attestiert worden war.

»Tobi, rahm endlisch doin Ranze aussem Weg!«, forderte Margot Tannenberg. »Vorher griesche nix zu esse.«

»Oma, kapier’s doch endlich: Ich hab dir doch schon megaoft gesagt, dass das kein Ranzen ist, sondern ein Eastpack!«

»Dess iss merr schnorzpiepegal, wie du dess Ding nennsch. Du raamsch denne Ranze jedenfalls jedzert weg.«

»Cool, Omi, mach sie fertig! Gib’s den Machos!« forderte Marieke. Sie warf ihren Rucksack in die Ecke und wollte sich sogleich über das Mittagessen hermachen.

»Langsam, Lieblingsengelin!«, sagte Margot. »Meer fangen erscht aan, wann all am Disch hoggen! Unn ich sitz noch nett am Disch!«

»Gebongt, Omi!«

»Wie kummden de frisch gebaggene Leider vunn de Laudrer Mordkommission eischentlich mit soim neie Fall zurecht?«, fragte Jakob Tannenberg in die atmosphärischen Störungen hinein.

»Schließlich isses jo sein erschder Mordfall, denne er als Schef zu leesen hat.« Er grinste breit. »Awwer wie merr so lese duud, dabbenner ganz schää im Dungele errum, orre nett?«

»Achtung, Achtung, hier spricht ein Bildzeitungsleser«, erwiderte Tannenberg mit einem Ausflug in die ungeliebte Schriftsprache.

»Ei, do steht wenigschdens ebbes driwwer drin. Annerscht als wie in de Rheinpfalz. Warum stehten bei denne noch nix drin?«

»Weil erscht heit Nomidaach die Pressekonferenz iss.«

»Unn warum wääses dann schunn die Bildzeitung, he?«, ließ der Senior nicht locker.

»Du wääsch doch ganz genau, dass ich iwwer dienstliche Aangeleschenheite nett redde derff.«

»Unn ich wääs, woher dess Revolverblädsche soi Informatione hat.«

»Aha. Unn woher?«

Um seinen Sohn noch mehr auf die Folter zu spannen, ließ Vater Tannenberg einen Augenblick verstreichen. »Willsches werglisch wisse?«

Wolfram Tannenberg legte die Hände wie betend aufeinander. »Ich fleh dich aan, o großer Sherlock Holmes aus de Beethoffestrooß, bitte sa merr sofort, warum die bescht deitsch Zeidung schunn wirre alles so frieh wääs.«

Jacob Tannenberg ging nicht auf die Provokationen seines Sohnes ein, sondern nahm seine Lesebrille von der altersschiefen Nase und lehnte sich wichtigtuerisch zurück »Weil de Metzger Fritz denne dess geschdeckt hat.«

»Kennsche denne?«

»Ei jo, der steht manschmo bei uns im Tchibo. Ich kännt deer a noch e paar inderessande Sache sae, die ich heit mojn im Tchibo erfahr hann.«

»Oje, Vadder, du unn doi Tchibo-Schdammdisch. Ehr sinn jo greesere Retsche als die Bildzeitung,Gala unn Fraa im Spischel zamme.«

»Gut, wannsche nett wilsch. Vielleicht kann ich moi hochbrisande Infos jo a woannerscht unnerbringe. Was de Metzger Fritz kann, kann ich schunn lang!«