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Valuta Tomas

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Beschreibung

Nora beschäftigt sich leidenschaftlich gerne mit mittelalterlichen Foltermethoden- und Instrumenten. Außerdem ist sie bei Gericht als staatlich anerkannte Psychiaterin tätig, um den psychischen Stand von Serienmördern zu untermauern. Um ihr Wissen weiterzugeben, hält sie für die Polizei mehrere Vorträge im Jahr und unterstützt sie in deren Arbeit. Allerdings ist sie Soziopathin, die auf der anderen Seite nichts mit der Welt und den Menschen anfangen kann. Diese sind ihr zuwider. Sie sind den Dreck unter ihren Schuhen nicht wert. Deshalb hat sie sich in Montanas Provinz zurückgezogen, bis Ava an die Tür ihrer Holzhütte klopft. Die junge Journalistin Ava hat die Aufgabe bekommen, eine Biografie über die gebildete Frau zu schreiben, ohne zu wissen, in welches Labyrinth von menschlichen Abgründen sie sich damit katapultiert. Denn Nora ist kein Mensch die im Hamsterrad der Gesellschaft mitläuft. Und genau das wird Ava Tag für Tag am eigenen Leib zu spüren bekommen. Please insert coin - hart, ehrlich, gesellschaftskritisch

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Seitenzahl: 385

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 5

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Impressum neobooks

Kapitel 1

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Valuta Tomas

»Doktor Jercy? Die Psychiaterin Doktor Nora Jercy? Die Doktor Nora Jercy? Du schreibst über Doktor Nora Jercy eine Biografie?« Wenn Sarah diesen Namen noch öfter ausspricht, kann Ava ihn mit verbundenen Augen tanzen und klatschen.

Als wenn sie die Nominierten-Liste für die nächste Oscarverleihung vor sich liegen hätte, schiebt Ava ihrer Freundin eine Akte hinüber, die diese ohne zu zögern aufschlägt.

»Heilige Scheiße«, schnappt Sarah nach Luft und schaut mit offenem Mund auf das Foto der Psychiaterin. Dieses wurde noch vor ein paar Stunden auf die Wand im Konferenzraum von People & People projiziert.

Wie jeden Tag treffen sich die Freundinnen auch heute in ihrem Stammcafé zur Mittagspause, um sich gegenseitig die neusten Geschichten der Promis in L.A. zu erzählen.

Während Ava als ehrgeizige Journalistin neuen Storys hinterherjagt, arbeitet Sarah als Tontechnikerin in den Film Studios. Für sie sind A oder B Promis auch nicht mehr, als Menschen, die ebenso Luft atmen und gewisse Geschäfte verrichten, wie jeder andere Sterbliche auf dieser Erde auch. Sie versteht den ganzen Hype um irgendwelche Persönlichkeiten nicht.

»Wow, Doktor Nora Jercy. Ich glaube es nicht.« Sarah schaut von der Akte auf und sieht dabei zu, wie Ava ihren Blick durch das Café wandern lässt. Ganz nebenbei zieht sie am Strohhalm ihres Latte Caramel. Ihr Blick bleibt an einer jungen Frau hängen, die am Tresen eine Bestellung aufgibt.

»Weißt du überhaupt wer das ist?« Sarah bemerkt, wie sie bei Ava gegen eine Wand redet. Denn diese lässt ihre Augen keine Sekunde von der blonden Frau, die sich mit ihrer Bestellung auf dem Weg zum Ausgang macht. Dass sie dabei an Ava und Sarah vorbei muss, scheint Zufall zu sein.

Wie ein Hund, der einem Leckerli hinterhechelt, dreht und verrenkt Ava den Kopf, nur um die gute Frau im Auge zu behalten.

»Ava! Herrgott, jetzt schiebe deinen Trieb doch mal beiseite und sei für zwei Minuten bei mir. Verdammt, wie kann man nur so notgeil sein?«

Kopfschüttelnd blickt Sarah durch das Schaufenster des Cafès und betrachtet den Grund von Avas geistiger Abwesenheit.

Sobald Ava eine Frau für sich ausgemacht hat, schalten sich sämtliche Synapsen bei ihr aus. Sarah kennt es nicht anders. So ist Ava einfach. Mit ihr kann man die größten und stärksten Pferde stehlen. Ihr Herz ist größer, als die Sonne. Ihre Schulter ist die kräftigste und zugleich zärtlichste und wertvollste die Sarah je erleben durfte. Ava ist einfach ein Mensch, dem man sein Leben anvertrauen kann. Sie ist immer für ihre Mitmenschen da und empfängt jeden mit offenen Armen.

Aber sobald es um Frauen und das Thema Sex geht, verabschieden sich ihre Synapsen winkend und tanzend auf eine bunte Blumenwiese, während Ava einfach einem plumpen Trieb nachgeht und daraus auch keinen Hehl macht. Sie ist nun mal der Typ Frau, die eine gute Nacht braucht, aber lieber alleine frühstückt.

Sarah weiß, dass Ava diese eine Frau sucht. Die Frau, die sie fesselt und an die Leine nimmt. Die Frau, der Ava freiwillig überallhin folgen würde. Es ist nur fraglich, ob Ava diese jemals finden wird. Wenn sie mit ihrem jetzigen Lebensstil so weitermacht, wird sie bald ihr ganz eigenes Beziehungs-Diagramm an eine Kinoleinwand malen können. Jede lesbische Frau in L.A. würde Ava kennen. Die Journalistin könnte sich dann wahrscheinlich vor gebrochenen und enttäuschten Frauenherzen nicht retten.

Sarah hat schon früh angefangen, rechtzeitig den Kopf einzuziehen und Ava einfach machen zu lassen. Schließlich ist ihre Freundin mit ihren knackigen einunddreißig Jahren alt genug um zu wissen was sie tut.

Mit Schwung pfeffert Sarah die Akte von Doktor Jercy auf den Tisch. Erst dadurch erlangt sie Avas Aufmerksamkeit.

»Hä?« Avas Sprachschatz scheint im Urlaub zu sein.

»Bei dir kommt echt nichts zwischen die Beine was nicht blond und schlank ist und blaue Augen besitzt, oder?«, verurteilt Sarah Avas Stereo-Typ Geschmack.

Ava neigt sich zum Fenster und versucht noch einen kleinen Blick auf die blonde Frau erhaschen zu können. Diese ist mittlerweile in den Tiefen von L.A. verschwunden.

»Nope, ich stehe nun mal auf diesen Typ Frau.«

Kein Mensch auf dieser Welt kennt Ava besser, als ihre beste Freundin Sarah. Aus solidarischen Gründen fingt sie damals mit an zu weinen als ein Kind einen Eimer Sand auf dem Spielplatz über Sarahs kleinen Knirps-Kopf ablud. Bis dahin sind sich die beiden Mädchen noch nie begegnet. Aber das Heulkonzert der Mädchen erregte die Aufmerksamkeit der jeweiligen Mütter. Von diesem Tag an, waren die beiden Mädels eine Einheit, eine Seele. Bis heute reiten die Frauen in vertrauter Blindheit ihre ganz eigene Welle.

Sarah hebt die Akte und wedelt damit vor Avas Augen herum.

»Ob du weißt, wer das ist? Kennst du sie? Hast du schon mal etwas von Doktor Jercy gehört? Weißt du auf was du dich da eingelassen hast?«

Noch vor ein paar Stunden saß Ava im Konferenzraum von People & People und starrte wie viele ihrer Kollegen auf die Akte unter der Hand ihres Chefs, die ihrer Karriere einen gewaltigen Schub geben könnte und nun zwischen den Fingern ihrer besten Freundin ruht.

Ava wusste schon früh, dass sie Journalistin werden wollte. Auf der Middle School und High-School nahm sie alles mit, was auch nur annähernd mit dem schreiben zu tun hatte.

Auf der Uni wurde sie sogar zur Chefredakteurin der hiesigen Zeitschrift gewählt. Vom ersten Tag an wusste sie, dass es genau das ist, was sie machen will. Über interessante Dinge schreiben. Egal ob es eigentlich belanglose Storys über irgendwelche bauliche Veränderungen in der näheren Umgebung waren, oder ob es um ein wichtiges Uni-Spiel ging. Ava rannte jeder Story hinterher und trieb ihre Mitschüler zu erstklassigen Berichten heran.

Oftmals berichtigte sie ihre Storys dreimal, bis sie damit soweit zufrieden war, dass es gedruckt werden konnte. Manchmal tuschelten ihre Mitschüler hinter ihrem Rücken, dass sie ein Drache und viel zu ehrgeizig sei. Schließlich sei das hier nur eine Uni-Zeitschrift und nicht die New York Times.

Ava war das alles egal. Sie wollte allen und vor allem sich selbst beweisen, dass sie ihre Arbeit verstand. Dass sie wusste, was sie tat und dass sie das Zeug für eine hervorragende Journalistin hat. Da waren ihr die Gespräche hinter ihrem Rücken egal.

Dass sie gut war und ist, zeigt ihr der Job bei People & People. Immer und immer wieder rutschte sie im Laufe der Jahre in den Positionen weiter nach oben, bis sie erfahren genug war, um nun in die engere Wahl der erwarteten Biografie zu gelangen.

»Neues Jahr, neues Glück, meine Damen und Herren.«

Noch vor vier Stunden marschierte Avas Chef mit deutlichen Schritten durch den Konferenzraum von People & People.

Eine Akte landete auf dem großen Glastisch. Fünf männliche und drei weibliche Augenpaare richteten sich auf die Unterlagen. Jeder wusste, was sich in dieser Akte befand. Die nächste Story. Nein, besser gesagt, das nächste Buch.

Einmal im Jahr schreibt People & People eine Biografie über wichtige Personen der hiesigen Zeit. Keine Promis, nein. Denn damit verdient sich die Firma täglich ihr Brot. Diese Biografien sollen wichtige Personen zeigen, die nicht auf irgendwelchen Bühnen stehen. Sie sind keine Schauspieler, keine Sänger, keine Sportathleten und keine stumpfsinnigen Erbinnen irgendwelcher Hotelketten. Diese Persönlichkeiten sind stumme Helden des Alltags.

Viele kennt man nicht, tragen aber einen großen Teil zur Gesellschaft bei. Es sind die Menschen die People & People für ein ganzes Buch näher unter die Lupe nimmt.

Und mit dem neuen Jahr begann der Wettstreit um diesen Job. Jeder wollte ihn. Jeder war gut genug, um ein Buch über eine wichtige Persönlichkeit zu schreiben. Jeder witterte somit einen weiteren Aufstieg auf der Karriereleiter.

Manch ehemalige Kollegen kündigten nach einer Biografie ihren Job, weil sie mit dem Buch gemerkt haben, dass es ihnen eher liegt, einen ganzen Roman zu schreiben und sich auf eine ausgereifte Geschichte zu konzentrieren, als jeden Tag etwas Neues zu schreiben.

Das würde Ava zwar niemals wollen, aber Interesse daran, eine Biografie zu schreiben, besteht schon. Sie braucht die tägliche Abwechslung einer neuen Story. Sie kann sich nicht vorstellen, über Monate hinweg nur an ein und demselben Thema zu schreiben. Sie braucht verschiedene Persönlichkeiten, Blickwinkel und Storys.

Auch wenn ihr die Abwechslung eher liegt, als die eine große Story, hoffte sie dennoch die Chance zu bekommen, die diesjährige Biografie schreiben zu dürfen. Es wäre für sie in vielerlei Hinsicht ein Lernprozess, der sie auf der Karriereleiter weiter hinauftragen kann. Warum also nicht?

Avas Augen glitten zu den Kollegen, die hungernd, wartend und erwartungsvoll auf die Akte unter der Hand des Chefs blickten. Wem würde diese Akte gereicht werden? Wer würde dieses Jahr die Story schreiben dürfen? Wer zog das große Los? Jeder wollte und jeder hoffte.

Mister Lay verdunkelte den Raum und schaltete den Projektor an. Gleich, gleich würde er wie jedes Jahr die Akte über den Tisch schieben. Gleich würde das gute Stück unter irgendwelchen Händen haltmachen und einem Mitarbeiter eine riesengroße Chance offenbaren. Gleich ist es soweit.

Der eine oder andere Mitarbeiter rutschte nervös von einer Pobacke zur anderen und gierte auf die Akte. Gleich, gleich, gleich.

Finger tippten nervös auf dem Tisch herum. Kugelschreiber wurden hibbelig in den Händen gedreht.

»Glückwunsch, Miss … .« Miss, es würde dieses Mal eine Frau sein. Kein Mann, eine Frau. Avas Chancen auf die Biografie stiegen somit.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Aufgeregt blickte sie zu der Hand ihres Chefs. Diese legte sich auf die Akte und holte Schwung.

»Ramirez, Sie haben das große Los gezogen. Ihre Biografie.« Mit einem schleifenden Geräusch rutschte die Akte über den Tisch und bremste an Avas Fingern ab.

Luftholend blickte Ava hinunter. Da lag sie. Die Akte, der Job, der Auftrag, die Chance, die Biografie. Avas Chance zu beweisen, was sie als Journalistin draufhat.

Schnappend rang Ava nach Luft. Ihr Herz schlug Purzelbäume, während ihr Blick zu einem Tunnel mutierte. Sie hörte und sah nichts anderes, als die Akte unter ihren Fingern.

Das ist deine Chance.

Knurrende und murmelnde Laute drangen in ihre Ohren. Benommen blickte Ava hoch. Die Missgunst, die ihr von ihren Kollegen entgegenschlug, war kaum zu fassen. Jeder drehte sie in diesem Augenblick durch den Fleischwolf. Jeder missgönnte ihr diesen Triumph. Wirklich jeder.

Ava juckte es nicht. Warum sollte es sie auch stören? Jeder hat auf diese Möglichkeit gewartet. Eine Story, neun Mitarbeiter. Es konnte nur einer das große Los ziehen. Weshalb also diese miese Stimmung?

»Miss Ramirez, die diesjährige Biografie wird über Doktor«, Mister Lay tippte auf seinem Notebook herum, schob, drückte und hackte, bis ein Bild auf der Wand erschien »Nora Jercy sein.«

Mit einem Schlag verstummten sämtliche knurrenden Geräusche, kaum dass ein Gesicht auf der angestrahlten Wand erschien. Die Missgunst schwand, weil sie mit einem Schlag von schluckenden Geräuschen und gehässigen Grinsen abgelöst wurde.

Verwirrt blickte Ava um sich. Viele ihrer Kollegen hatten den Kopf eingezogen. Starr blickten sie auf die Wand, wechselten einen Blick zu Ava und schauten dann wieder zur Wand.

Konnte Ava in den Augen ihrer Kollegen etwa Entsetzen und Panik erkennen? Sah sie dort sogar Erleichterung? Erleichterung darüber, dass nicht sie die Biografie schreiben mussten?

»Doktor Nora Jercy ist Expertin in Bezug auf mittelalterliche Folterinstrumente und Methoden.« Mister Lay machte einige Schritte vom Konferenztisch weg. Seine Augen lagen auf dem Foto von Doktor Jercy, die von der Wand aus auf alle Anwesenden hinunterblickte.

»Sie ist staatlich anerkannte Psychiaterin und studiert die Motive und Vorgehensweisen von Serienmördern. Mit ihren Beurteilungen, was den psychischen Zustand von Mördern angeht, unterstützt sie gerichtliche Urteile. Sie hält Vorträge für Polizisten und berät sie in schwerwiegenden Fällen.«

Interessiert blickte Ava von der Akte auf und schaute zur Wand. Mit einem Schlag entwich ihr das Blut. Langsam zog sie den Kopf zurück. Erschrocken starrte sie zur Wand hoch und konnte kaum glauben, was sie sah.

Hass. Blinder und gleißender Hass schlug ihr entgegen. Bernsteinfarbene Augen, die mit so viel Hass getränkt sind, dass jeder Anwesende eigentlich tot umfallen musste, blickten brennend in die Kamera.

»Doktor Jercy ist für die westliche Küste so wertvoll wie Hollywood für die Filmindustrie. Ihr Urteilsvermögen wurde noch nie angezweifelt, weil sie sich noch nie geirrt hat. Sofern man nicht mir ihr zusammenarbeiten muss, sollte man sich allerdings einen anderen Staat suchen, um angstfrei atmen zu können. Doktor Jercy empfindet den Menschen gegenüber unermesslichen Hass. Für sie sind wir nur Abschaum und es nicht wert, mit ihr zusammen auf diesem Planeten zu verweilen.«

Mister Lay blickte flüchtig zu Ava hinüber und suchte eine Reaktion seiner Mitarbeiterin. Von dort kam allerdings nichts. Ava starrte noch immer mit großen Augen und offenem Mund zu der Frau hoch, über die sie das Buch schreiben soll.

Bordeauxfarbene Haare fielen über die Schultern und lagen gepflegt auf den Brüsten. Die Arme waren abwertend vor der Brust verschränkt. Der Kopf gesenkt, der Blick gehoben. Ein Blick, der jeden in das nächstbeste Grab befördert. Wie schafft man es bloß, so viel Hass in einen Blick zu setzen, dass man alleine dadurch über eine schöne Grabrede nachdenkt?

Und über die soll ich schreiben? Die frisst mich mit Haut und Haaren und spuckt mich wieder aus.

»Ich habe Sie für diese Biografie ausgesucht, Miss Ramirez«, für einen kurzen Augenblick horchte Ava interessiert auf »weil Sie beide im selben Team spielen.«

»Hä?« Mit einem Schlag schrumpfte Avas Wortschatz beachtlich. Verständnislos schaute sie ihren Boss an.

»Äh, ich spiele mit dieser Frau in keinem Team. Ich kenne sie nicht und bin ihr noch nie in meinem Leben begegnet. Wieso sollten wir also in einem Team spielen?« Mister Lay schmunzelte und blickte zu der Psychiaterin an die Wand.

»Miss Jercy macht keinen Hehl daraus, lesbisch zu sein. Von daher dachte ich, es wäre sinnvoll, wenn Sie mit ihr zusammenarbeiten, weil Sie sicherlich schneller eine Verbindung zu ihr aufbauen können, als manch anderer.«

Enttäuscht richtete sich Ava in ihrem Stuhl auf. Sie warf einen scharfen Blick auf ihren Vorgesetzten, der bis heute große Stücke auf sie hält.

»Und nur weil wir beide auf Frauen stehen, sind wir gleich Leckschwestern, oder was?« Unüberlegt fuhr Ava ihrem Boss über den Mund. Das ist ein Talent von ihr, welches sie manchmal den einen oder anderen Kopf kostet. Sie sagt was sie denkt und denkt erst später darüber nach.

Als ihr bewusst wurde was sie sagte, presste sie die Lippen aufeinander und zog ihren Kopf so tief zwischen die Schultern, dass sie kaum noch zu sehen war.

»Ein weiterer Grund, weshalb ich Sie für diesen Job ausgesucht habe, Miss Ramirez. Sie lassen sich nichts gefallen und können Miss Jercy die Stirn bieten. Jeder andere«, Avas Boss ließ seinen Blick über die restlichen Mitarbeiter gleiten »würde als Miss Jercys Spielball enden.«

***

Schulterzuckend blickt Ava aus dem Fenster, reckt den Hals und hält nach der blonden Frau Ausschau.

»Chef erzählte irgendwas von Psychiaterin, Mittelalter, Polizei und solch einen Kram. Wird bestimmt interessant.«

»Ach und dass sie zufällig Soziopathin ist, hat er natürlich rein zufällig vergessen?!«

»Sollte mich das interessieren?« Mit einem lautlosen Knall fällt Sarahs Kinn auf den Tisch.

»Ava, ich bitte dich. Soziopathen können gefährliche Menschen sein. Viele Mörder, Vergewaltiger und Serienmörder sind Soziopathen. Und dein Chef schickt dich zu so einer kranken Person, damit du eine Biografie schreibst? Weiß er überhaupt, auf was du dich da einlässt? Ist ihm eigentlich bewusst, dass diese Geschichte für dich gefährlich werden kann?« Langsam dreht Ava den Kopf in Sarahs Richtung. Endlich hat sie die Aufmerksamkeit ihrer Freundin.

»Meinst du?« Schnaufend lehnt sich Sarah in den Stuhl zurück. Sie blickt auf die Akte unter ihren Händen.

»Ich denke ehrlich gesagt nicht, dass dein Chef dich zu ihr schicken würde, wenn sie wirklich für ihre Mitmenschen eine Gefahr darstellt. Trotzdem ist sie auf ihre ganz eigene Art gefährlich. Sie hasst die Menschen und kann nichts mit ihnen anfangen. Jedem dem sie begegnet wirft sie solch einen wütenden Blick zu, dass man sich auf der Stelle in den Uterus seiner Mutter zurückwünscht. Sie behandelt die Menschen wie Dreck und lässt jeden in ihrer näheren Umgebung Scheiße fressen.« Sarah beugt sich über die Akte und klappt sie auf. Nachdenklich betrachtet sie das Foto der Doktorin.

»Das haben die Kollegen aus dem Büro auch getratscht, als die Besprechung zu Ende war. Plötzlich ist jeder froh, dass nicht er die Biografie schreiben muss. Ich bin echt mal gespannt, wie das bei ihr wird.« Überrascht blickt Sarah auf.

»Was meinst du?« Ava zieht das Foto unter den Händen ihrer Freundin weg.

»Ich soll für den Zeitraum, wo ich das Buch schreibe, bei ihr wohnen. Es sei wohl schon alles in trockenen Tüchern. Nächste Woche geht es los.« Ein weiteres Mal klappt Sarah das Kinn herunter.

»Du sollst was?«, keucht sie fassungslos.

»Du sollst bei ihr wohnen? Du sollst tatsächlich«, mit einem Ruck reißt Sarah das Foto der Doktorin aus Avas Händen »bei Doktor Nora Jercy wohnen, die dich zum Frühstück auffrisst, zum Mittag ausspuckt und zum Abendessen den letzten Rest auf der Toilette rauslässt? Bei der sollst du wohnen? Und du hast dem zugestimmt? Hast du sie nicht mehr alle?«

»Na vielen Dank für deine tatkräftige Unterstützung«, brummt Ava und schaut Nora Jercy intensiv an.

Sie kann nicht behaupten, dass ihr als Lesbe diese Frau gefällt. In dieser Hinsicht kann ihr also nichts passieren. Sie wird die Frau nicht anfassen und somit auch nicht ihre Karriere gefährden. In erster Linie steht das Buch im Vordergrund. Und weil Ava keinerlei Interesse an dieser Frau hat, dürfte es kein Problem werden, dieses zu schreiben.

»Süße, du hast doch gar keine Ahnung, wie lange du an dieser Biografie arbeitest. Und dann sollst du für diesen Zeitraum auch noch bei ihr wohnen? Das kann Jahre dauern.« Mit hochgezogenen Augenbrauen blickt Ava vom Foto auf.

»Traust du mir tatsächlich zu, dass ich solange an einer Story schreibe?« Trotzig schiebt sich Ava ihre brünetten Haare zur anderen Schulter.

»Das ist keine Story, Schatz! Das ist eine Biografie!« Sarahs Hand schiebt sich über den Tisch und umgreift Avas.

»Eine Biografie ist etwas völlig anderes, als der Bericht über einen Hollywoodreifen Überfall. Das ist eine völlig andere Herangehensweise, ein anderer Stil, eine andere Taktik. Du hast so etwas noch nie gemacht und dann sollst du auch noch bei ihr wohnen.«

»Ich schaffe das schon, keine Sorge. Weißt du aber wo sie wohnt?« Als wenn Ava nicht verstehen will, worauf Sarah hinaus will, wedelt sie unbeeindruckt von den Worten ihrer Freundin, mit dem Foto vor ihrer Nase herum.

»Die wohnt in Montana. In Montana! Da fliege ich ja alleine schon vier Stunden und muss dann noch zwei Stunden mit dem Auto fahren, bis ich an ihrer Haustür klingeln kann.«

Bockig schiebt Ava die Unterlippe vor. So hat sie sich das sicherlich nicht vorgestellt. Biografie und Karrieresprung gut und schön. Aber muss sie dafür tatsächlich so weit weg von ihrer Familie und von ihren Freunden sein? Geht das nicht etwas leichter? Kann diese komische Doktorin nicht einfach nach L.A. kommen?

***

»Ist das dein Ernst? Ist das jetzt echt dein scheiß Ernst?« Wütend brüllt Ava das Navigationssystem des Firmenwagens an, der extra für sie nach Helena gebracht wurde, nur damit sie mobil ist.

Nahe dem Bildschirmrand kann Ava ihr Ziel erkennen. Sheep Creek Lane. Aber sie hat keine Möglichkeit dort hinzukommen. Der Weg führt sie weiter über die Interstate fünfzehn. Es gibt keine Brücke, keine Abzweigung, kein Geheimweg. Kein Nichts zum Sheep Creek Lane.

Grummelnd schielt Ava immer wieder auf den Bildschirm und sieht ihr Ziel weiter nach unten rechts zum Bildschirmrand wandern, bis es ganz verschwunden ist. Nun ist sie absichtlich an ihrem Ziel vorbeigefahren, nur weil sie keine Möglichkeit hat, dort hinzugelangen.

Das ist also der Preis dafür in Montana zu wohnen? In der Pampa? Im Nirgendwo?

»Das fängt ja schon super an. Ich habe jetzt ja schon keine Lust mehr.«

Nachdem sie vier Stunden wie eine Sardine im Flieger verbracht hat, stieg sie mit Verrenkungen und chronischen Krämpfen aus dem Flieger, nur um noch geschlagene zwei Stunden auf ihren Wagen zu warten, der am anderen Ende der Stadt geparkt wurde.

»Welcher Hirnverbrannte Esel war dafür verantwortlich?« Schimpfend suchte sich Ava das nächstbeste Restaurant und ließ es sich auf Firmenkosten gutgehen. Das war das Mindeste.

Nun fährt sie die Interstate solange weiter, bis ihr diese nervige Stimme endlich sagt, dass sie auf die Frontage Road fahren soll. Von dort aus nach Cascade hinein, rechts an der Angus Bar vorbei und weiter über die Central Avenue Richtung Ziel.

Weil das ja aber noch nicht genug Pampa ist, muss sie nach unzähligen Malen rechts und links abbiegen. Diese Gegend soll ihr also wohl noch mal verdeutlichen, dass es hier nicht an jeder Straßenecke einen Starbucks gibt. Nein, staubige Straßen, Bäume die Ava noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat und Gerüche, die ihre Nase bisher noch nicht aufnehmen durfte. Alles um sie herum wirkt surreal. Befindet sie sich eigentlich noch im guten alten Amerika, oder hat sie versehentlich den Kontinent gewechselt, ohne es mitbekommen zu haben?

Entlang am Missouri River, unterdrückt Ava ihr wütendes grummeln, als sie zu ihrer rechten Seite die Interstate fünfzehn sehen kann.

»Ja ja, gib mir ruhig diese Ironie. Zuerst muss ich Richtung Arsch der Welt fahren, um dann wieder dieselbe Richtung zurückzufahren, nur weil der Mensch vergessen hat, hier irgendwann eine bekloppte Brücke zu bauen. Schon klar. Gib es mir ruhig.«

Nachdem sie einige Meilen durchs Nichts gefahren ist, weil sie rechts und links von sich nichts anderes als gähnende Leere erblicken konnte, kurvt sie nun durch ein Waldstück.

»In zwei Meilen links abbiegen.« Da war das Navi seit ewigen Zeiten still, erschrickt Ava nun aber so sehr, dass sie tatsächlich vor Schreck kurz quiekt.

»Herrgott, kann es eigentlich noch besser werden?« Murmelnd schaut Ava nach vorne und sucht die Straße, in die sie einbiegen muss. Sie befindet sich zwar schon auf der Sheep Creek Lane, aber das Ziel liegt noch etwas vor ihr.

»Links abbiegen. Jetzt links abbiegen.«

»Äh.« Entgeistert blickt Ava auf das Navi, zur Straße und dann wieder auf das Navi.

»Wo soll ich denn abbiegen? Hier ist nichts.« Suchend schaut Ava um sich. Nichts. Sie sieht nicht den Hauch einer Möglichkeit irgendwo abzubiegen. Hier sind nur Bäume. Keine Straße, kein Nichts. Wo soll sie denn hinfahren?

Zur Sicherheit blickt Ava nochmal auf das Navi, schiebt die Karte etwas hin und her und schüttelt den Kopf.

»Hier ist nichts.« Plötzlich beginnt das Navi zu piepen.

»Kein GPS Signal. Kein GPS Signal.«

»Och nö, komm schon.« Wie eine Wilde tippt Ava auf dem Display herum, kann die Technik aber nicht dazu überreden, ein Signal zu suchen.

»Super. Mitten in der Pampa verlassen. Das hat mir jetzt grade noch gefehlt.« Fluchend steigt Ava aus und blickt sich um.

»Hier ist nichts, Herrgott. Hier ist absolut nichts. Mein Gott, wie kann man bloß in so einer beschissenen Gegend wohnen? Hier will doch keiner begraben sein.« Schimpfend wirbelt Ava einige Male um die eigene Achse, bis sie einen Fluss plätschern hören kann. Oder vielleicht ist es auch nur ein Bach. Sie weiß es nicht. Auf jeden Fall fließt hier irgendwo Wasser.

Ava nähert sich dem Geräusch und kann zwischen einigen Bäumen Reifenspuren erkennen. Eine kleine Sandspur wurde zwischen den Bäumen auf die Straße getragen. Entgeistert blickt Ava zwischen die Bäume und kann tatsächlich in einiger Entfernung einen Fluss sehen. Eine Brücke läuft dort drüber hinweg, die aussieht, als wenn sie bei der nächsten Windböe sofort zusammenbricht.

»Da soll ich lang? Ist das echt dein Ernst?« Brüllend blickt Ava zum Himmel hinauf und verflucht ihren Chef.

»Ich könnte jetzt so schön in meinem Büro, in meinem bequemen Stuhl sitzen und über die Peinlichkeiten der A Promis schreiben. Aber nein, ich muss ja unbedingt diese scheiß Biografie schreiben wollen. Und dann auch noch über eine Person, vor der mich unzählige Menschen gewarnt haben. Super gemacht, Ava, super super super.«

Stampfend kehrt Ava zum Wagen zurück, wendet und lenkt das Auto vorsichtig zwischen die Bäume. Angespannt richtet sie sich im Sitz auf und behält das Klettergerüst genau im Auge, das eine Brücke darstellen soll. Meter für Meter steuert sie ihren Wagen dort drüber und meint Holz unter dem Gewicht knacken zu hören.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hat Ava diese Hürde geschafft und fährt ein kleines Stück zwischen Bäume hindurch, bis sie glaubt, in einiger Entfernung das Dach eines Hauses erkennen zu können.

»Heilige Scheiße, hier wohnt ja tatsächlich jemand.« Plötzlich schüttelt es den Wagen so sehr durch, dass Ava fast aus dem Sitz fällt. Ruckartig bleibt das Auto stehen.

»Was?« Irritiert schaut Ava um sich und gibt Gas. Der Wagen heult auf, rührt sich aber keinen Millimeter.

»Nein, nicht.« Der Gedanke, dass sie irgendwo steckengeblieben ist, erwacht in Ava. Sie gibt nochmal Gas, verbleibt aber an Ort und Stelle.

»Wie scheiße soll der Tag eigentlich noch werden?« Fluchend steigt Ava aus, marschiert um den Wagen und sieht den rechten Hinterreifen bis zur Hälfte in einem Loch versunken. Wenn sie weiter Gas gibt dreht sie sich noch tiefer in das Loch. Sie hat also keine andere Möglichkeit, als das Auto stehen zu lassen und zu Fuß weiter zu gehen.

»Hervorragend.«

Mit schlechter Laune ausgestattet, steuert Ava auf ein Gebäude zu, dass ein Haus darstellen soll. Blockhütte trifft es wohl eher.

Mitten auf einer Lichtung, die Fleckenweise mit Wildblumen überwuchert ist, befindet sich ein Haus … eine Hütte, oder was auch immer es darstellen soll. Dahinter befindet sich eine weitere Hütte. Daneben eine Scheune, oder irgendetwas in der Art. Ava wird im Laufe der Zeit schon noch herausfinden, um was es sich dabei handelt.

»Ok, bis hierhin hast du es schon geschafft. Den Rest packst du auch noch.« Mit straffen Schultern steuert Ava auf die Hütte zu, betritt die Veranda und blickt auf eine Holztür, die sie bisher so nur in irgendwelchen Filmen gesehen hat.

Kapitel 2

Erst nach dem dritten Klopfen, kann Ava Schritte von drinnen vernehmen.

Na endlich bewegt sich da mal was.

Die Tür wird quietschend einen kleinen Spalt geöffnet. Zwei bernsteinfarbene Augen mit grüner Umrandung starren Ava an. Ava lehnt sich etwas vor und lächelt freundlich.

»Guten Abend, Miss Jercy. Mein Name ist Ava Ramirez. Ich bin die Journalistin die die Biogr… .« Die Tür öffnet sich ein weiteres Stück. Ava kann nun mehr von dieser Frau sehen, die sich im Schutz ihrer Hütte befindet.

Avas Augen gleiten flüchtig über bordeauxfarbene Haare, die in einem unkoordinierten Dutt auf dem Kopf geschlängelt sitzen. Ein ovales Gesicht mit strengen, gradlinigen Zügen und einigen altersbedingten Falten richtet sich auf sie. Der Piercingring im linken Nasenflügel passt irgendwie nicht so recht in dieses etwas ältere Gesicht. Ebenso das gelochte und vollständig gepiercte rechte Ohr.

Aus der Akte von Miss Jercy, weiß Ava, dass die Doktorin tatsächlich schon stolze neunundvierzig Jahre auf dem Buckel hat. Der ganze Schmuck an ihrem Kopf verdeutlicht allerdings etwas anderes. Ist diese Frau etwa eine von denen, die ihr Alter nicht akzeptieren und sich jünger machen, als sie eigentlich sind?

Eine umgeschlagene und offensichtlich gehäkelte Couchdecke verhindert einen gänzlichen Blick auf den schlanken Körper der Frau, die sich vor allem zu verstecken scheint, was es zu bieten gibt.

»Damit eines klar ist«, grunzt Miss Jercy rücksichtslos »ich will Sie nicht hierhaben. Aber mein Boss glaubt, dass diese Idee mit dem scheiß Buch richtig gut wäre.«

Was für eine nette Begrüßung. Gut, schön, ich will nämlich eigentlich auch nicht hier sein. Dann haben wir ja schon etwas gemeinsam. Kann also nur noch besser werden.

»Ok, ich ähm«, Ava buttert ihre offensichtlich ungebetene Anwesenheit professionell unter und zeigt über ihre Schulter »ich bin mit meinem Wagen leider stecken geblieben und … .« Miss Jercy reckt den Hals und schaut an Ava vorbei.

»Man ist ja auch nicht so blöd und fährt mit so einem Wagen über Felder«, kritisiert sie Avas Entscheidung.

Das habe ich dann auch gemerkt. Man, das kann ja heiter mit der werden.

Ava schafft es nicht die Aussage von Miss Jercy zu kommentieren, da wird ihr auch schon die Tür vor der Nase zugeschlagen.

»Ähm, hallo? Miss Jercy?« Stille.

»Ganz toll.« Fluchend dreht sich Ava um und schaut sich die Gegend an. Sie sucht etwas, womit sie sich und ihren Wagen aus dieser miserablen Lage befreien könnte. Aber bis auf das Haus von Miss Jercy, kann sie im Umkreis von geschätzten tausend Meilen nichts ausmachen, das ihr helfen könnte.

»Was stehen Sie da noch so nutzlos herum? Bewegen Sie sich!«

Verwundert schaut Ava in die Richtung, aus der eine weibliche Stimme kommt. Auf einem braunen Pferd sitzend, taucht die Doktorin hinter der Hütte auf und hat die Couchdecke gegen eine dicke Jacke und eine blaue Jeans eingetauscht. Ihre Kopfbewegung bedeutet Ava, dass sie ihr zum Wagen folgen soll.

Geht es vielleicht noch etwas freundlicher? Meine Güte, was hatte die heute zum Frühstück? Saure Milch?

Auch wenn Ava keinerlei Bedürfnis verspürt, der Psychiaterin zu gehorchen, denkt sie an den Wagen und trottet der erfahrenen Frau hinterher. Als sie diese fast einholt, gibt die Doktorin ihrem Pferd einen Stoß in die Seite und regt es somit zum Galopp an. Ungeachtet lässt sie Ava zurück, die sich mit ihren hochhackigen Schuhen über die Wiese quält.

Memo an mich selbst: Keine hochhackigen Schuhe bei Wald und Wiese.

Als sie einige Zeit später schnaufend und abgekämpft bei ihrem Wagen ankommt, macht sich Miss Jercy an dem Abschlepphaken zu schaffen.

»Der Wagen ist auf neutral gestellt?«, hört Ava sie murmeln, während sie damit beschäftigt ist, ein Seil an den Hacken zu binden.

»Kleinen Moment. Augenblick.« So schnell, wie Avas Schuhe es zulassen, stolpert sie zur Fahrertür, greift durch das offene Fenster und setzt den Wagen auf die Stellung N.

»Jetzt.« Die Doktorin schaut sie finster an.

»Da hätten Sie auch selbst draufkommen können, oder?«

Hätte ich, ja. Bin ich nach so einem langen Tag aber leider Gottes nicht. Herrgott nochmal. Hoffentlich muss ich nicht allzu lange hierbleiben. Die treibt mich jetzt ja schon in den Wahnsinn.

Ava beobachtet die Psychiaterin wie sie das andere Ende des Seils um das Sattelhorn bindet und dem Pferd gegen die Seite klopft.

»Na komm, Süße«, ermutigt sie die Stute, ihre Pferdestärken in Gang zu setzen. Nach wenigen Versuchen, setzt sich Avas Wagen mit Hilfe des Pferdes langsam in Gang. Stück für Stück zieht die Stute das Auto aus dem festgefahrenen Loch.

Allerdings lässt die Doktorin ihr Pferd das Auto nicht Richtung Hütte ziehen, sondern genau entgegengesetzt. Richtung Straße.

Ava überkommt das Gefühl lieber nicht zu fragen, weshalb ihr Wagen nicht zur Hütte gezogen wird. Ihr Bauchgefühl hält sie aus Sicherheitsgründen davon ab. Es soll auch nicht allzu lange dauern, bis sich dieses Gefühl begründet.

Der Wagen ist sogar über die Brücke bis zur Straße zurückgezogen, als die Doktorin das Seil vom Abschlepphaken bindet.

»Das hast du super gemacht«, klopft sie ihrem Pferd gegen den Hals, blickt flüchtig zu Ava zurück und setzt sich in den Sattel. Die junge Frau schaut ihr entgeistert hinterher, als die Doktorin zur Hütte zurückreitet, ohne ihren Gast oder ein Stück Gepäck mitzunehmen.

»Wie soll ich denn jetzt zur Hütte gelangen?« ruft Ava der Frau hinterher, die ihr mehr und mehr unsympathisch wird. Die ältere Frau blickt abwertend zu ihr zurück.

»Sie haben doch zwei gesunde Füße, nicht wahr?«

Ach und deine fallen gleich ab, oder wie?

»Geht es eigentlich noch besser?« Fluchend wirbelt Ava herum und beginnt ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu rupfen.

»Weiteres Memo an mich: Nie wieder auf irgendwelche Karrieresprünge hoffen, die einen schon in den ersten zwanzig Minuten in den Wahnsinn treiben. Und …«, Ava blickt in den Kofferraum »nicht so viel Gepäck mitschleppen.«

Mit jeweils einem Koffer in jeder Hand, zwei Taschen und einer Handtasche, kämpft sich die junge Journalistin über die Wiese zur Hütte zurück. Wie viele Meilen mag sie gelaufen sein? Gefühlte zwanzig?

Ein kurzer Blick zum Wagen zurück, zeigt Ava, dass dieser vielleicht gerade Mal eine halbe Meile von der Hütte entfernt steht. Dennoch kommt es ihr wie eine halbe Erdumrundung vor.

»Das wird ordentlich Muskelkater geben.«

Doch etwas erstaunt, zieht Ava eine Augenbraue hoch, als sie bei der Hütte ankommt und dessen Haustür weit offensteht.

Wie höflich.

Ava betritt die Hütte und bleibt abrupt stehen, kaum dass ein durchdringender Blick der Psychiaterin sie eiskalt erwischt. Miss Jercy steht mit verschränkten Armen im … im … ähm, was ist das für ein Raum? Flur?

»Haben Sie irgendwelche geistigen Einschränkungen?«, bremst die Doktorin Ava aus, die Hütte weiter zu betreten.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese Frage sehr ungesund für mich wird.

»Nein«, antwortet Ava wahrheitsgemäß. Bei ihr sind noch alle Synapsen vorhanden und jedes Zahnrädchen funktioniert einwandfrei.

»Haben Sie irgendwelche körperlichen Einschränkungen?« Avas Kiefer beginnt zu malen. Hackt diese Frau im Augenblick wirklich auf ihrer Gesundheit herum? Was soll das?

»Nein, ich bin kerngesund.«

»Wenn Sie also Ihrem Alter entsprechend«, der Blick der Doktorin wandert flüchtig über Avas Körper »im vollen Besitz Ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten sind, dann sind Sie also einfach nur ignorant und dumm!?«

»Wie bitte?« Unüberlegt fährt Ava die hoch ausgezeichnete Frau an. Sie kann nicht fassen wie sie sie gerade bezeichnet hat.

Was fällt dieser Schnepfe ein?

Miss Jercy zeigt an Ava vorbei nach draußen.

»Haben Sie draußen auf der Veranda das Schuhregel gesehen?«

Blitzschnell überlegt Ava. Ja, irgendetwas in der Art hat sie gesehen. Sie nahm es wahr, registrierte es aber nicht wirklich. Jetzt weiß sie jedenfalls worauf die Doktorin hinaus will.

»Ja, habe ich.«

»Und weshalb stehen Sie dann mit Straßenschuhen in meinem Haus? Ziehen Sie diese sofort aus! Danach folgen Sie mir.«

Mit einem lauten rumsen und poltern lässt Ava schlagartig sämtliche Gepäckstücke fallen, was die Doktorin dazu verleitet, sie mit einem bissigen Blick zu bestrafen.

Was denn? Du wolltest, dass ich die Schuhe ausziehe. Das mache ich sicherlich nicht mit vollen Händen.

Gehässig in sich hinein grinsend, dreht sich Ava um, zieht draußen ihre Schuhe aus und stellt diese schön brav in das Regal. Danach schnappt sie sich ihr Gepäck, wirft sich jedes einzelne über die Schulter und hofft noch nicht einmal, dass ihr die Doktorin eventuell hilft. Denn diese steht noch immer mit verschränkten Armen vor ihr und beobachtet den Packesel ausdruckslos.

Stramm wie ein Soldat, steht Ava einige Augenblicke später vor ihr und wartet auf weitere Instruktionen. Die Doktorin mustert sie kurz, dreht sich um und setzt sich in Gang. Sie zeigt nach rechts.

»Wohnzimmer. Dort dürfen Sie sich aufhalten.« Ein kurzer Blick von Ava wird in den Raum auf der rechten Seite getan. Fassungslos reißt sie die Augen auf. Ihre Kinnlade klappt herunter.

»Bibliothek trifft es eher«, nuschelt sie baff. Das Wohnzimmer, oder das was es darstellen soll, ist über und über mit Büchern gefüllt. Eine Dreier-Couch, eine Zweier-Couch und ein Sessel dienen als Sitzgelegenheit, wobei nur die Dreier-Couch genutzt werden kann, weil die anderen beiden Möbelstücke mit Büchern überfüllt sind. Nicht ein Zentimeter der Sitzfläche ist noch als solche zu erkennen.

Vom Boden aus sind im Laufe einiger Jahre unzählige Bücherstapel gewachsen. Man sieht keinen Türrahmen mehr, man sieht kaum noch eine Wand. Irgendwie wuchsen einige Stapel sogar mitten im Weg. Es ist unfassbar. Überall in diesem Raum wuchsen Bücherstapel aus dem Boden, die bis zu einer Höhe von fast ein Meter vierzig gezüchtet wurden.

Neben dem Kamin, in dem ein wärmendes Feuer lodert, stapeln sich ebenfalls Bücher und wirken wie Säulen.

»Haben Sie die Bücher etwa alle gelesen?«, stottert Ava erstaunt.

»Jedes einzelne«, antwortet Miss Jercy beiläufig und wandert weiter durch das Haus. Ava schaut ihr stattdessen positiv entsetzt hinterher.

Hast du auch noch andere Hobbys?

»Mein Name ist Doktor Nora Jercy, aber das wissen Sie ja sicherlich. Ich dulde allerdings nur die Anrede Miss Jercy und verbiete Ihnen mich zu duzen«, stellt die Doktorin eiskalt klar und zieht eine imaginäre Grenze, die auch nur im Ansatz etwas mit Menschlichkeit zu tun haben könnte.

Du verbietest es mir? Huch, habe ich dich eben etwa geduzt? Hach, das tut mir aber leid.

Bissig schaut Ava der Psychiaterin hinterher.

Kann mir jemand verraten, wie ich das mit dieserSchreckschraube aushalten soll?

Nora zeigt auf eine Zimmertür zu ihrer rechten Seite.

»Nein!« Die Hand wandert zur linken Seite und gleich darauf wieder zur rechten.

»Nein! Nein!«

Ok ok, ich habe es verstanden. Alles deins, super.

Die Doktorin öffnet eine Tür auf der linken Seite und zeigt auffordernd hinein.

»Ihr Zimmer. Sie werden an der Ausstattung absolut nichts verändern, alles bleibt so wie es ist. Sehe ich auch nur die minimalste Veränderung, misten Sie den Pferdestall mit einer Kuchengabel aus. Haben Sie mich verstanden?«

Jetzt wird es ja richtig gut.

»Aber bewegen darf ich mich noch, oder?« Bevor die Doktorin wegen dieser nuschelnden Aussage nachfragen kann, betritt Ava das Zimmer und möchte am liebsten auf der Stelle wieder kehrtmachen.

Meine Güte, in welcher Zeit ist diese Frau stehengeblieben? 1789?

Schon fast entsetzt, starrt die Journalistin um sich. Ein Metallbett aus dem ersten Weltkrieg, ein Kleiderschrank der bedrohlich erdrückend in dem eigentlich großzügigen Zimmer wirkt, eine Kommode mit fünf Schubladen in denen man jemanden getrost drin verschwinden lassen könnte, ein runder Holztisch aus der Kreidezeit, ein Holzstuhl der seine beste Zeit auch schon hinter sich hat und ein alter Kamin.

»Versorgen müssen Sie sich selbst, schließlich ist das hier kein Hotel. Hier gibt es keinen Strom und kein fließendes Wasser. Ach und ich gebe Ihnen noch einen gut gemeinten Rat: Wenn Sie nachts pinkeln müssen, verkneifen Sie es sich. Noch ist es nachts relativ warm und die Mücken sind dementsprechend aggressiv.«

Mit einem Ruck wirbelt Ava herum. Als sie die Doktorin anstarrt, treten ihre Augen fast aus den Höhlen.

»Was? Wie jetzt? Mücken? Kein fließendes Wasser? Kein Strom?« Avas Stimme quietscht unkontrolliert.

»Wie soll ich ohne Strom das Buch schreiben, oder mir irgendwelche Notizen machen?«

Unbeeindruckt zeigt Nora an Ava vorbei. Diese folgt dem Finger der Doktorin und sieht auf dem Tisch eine mechanische Typenhebel-Schreibmaschine die vor fünfzig Jahren beliebt war. Daneben liegt ein Block mit einem Bleistift. Avas Kinn klappt herunter. Mit offenem Mund keucht sie atemlos.

Das ist ein schlechter Scherz. Das kann doch nicht ihr Ernst sein.

»Ich kann nicht mit Schreibmaschine schreiben.« Avas Gedanken spielen Ping Pong. Noch nie in ihrem Leben hat sie eine Schreibmaschine aus der Nähe gesehen. Und dann soll sie auch noch mit so einem Teufelswerk aus dem Mittelalter ein ganzes Buch schreiben? Das kann man nicht von ihr erwarten.

»Können Sie mit einem normalen PC arbeiten?«

Mechanisch nickt Ava und starrt die Schreibmaschine noch immer fassungslos an.

»Dann können Sie auch mit einer Schreibmaschine arbeiten.« Mit diesen kurzen Worten dreht sich die Doktorin um und lässt ihren ungebetenen Gast im Zimmer zurück.

»Äh«, mit einem Satz hechtet Ava aus dem Zimmer in den Flur hinaus.

»Wo kann ich mich denn frischmachen?«

Oder mir auf diesen Schock die Pulsadern aufschneiden.

Ava sieht wie die Doktorin stehenbleibt, den Kopf ein kleines Stück in den Nacken wirft, genervt schnauft und kehrtmacht. Sie betritt das Zimmer, geht an das Fenster und zeigt hinaus.

Das Bad ist draußen in einer anderen Hütte? Kann es eigentlich noch besser werden? Hat die schon mal etwas von Fortschrittlichkeit gehört?

Ava tritt an die Seite der Doktorin und blickt hinaus. Suchend schaut sie sich um. Nichts, sie sieht rein gar nichts. Keine Hütte, kein nichts. Noch nicht einmal einen kleinen Verschlag, der einer Telefonzelle ähnelt. Nur ein paar Büsche und Sträucher. Sonst herrscht dort draußen Ruhe.

»Ähm, … .« Ohne ein weiteres Wort ausgesprochen zu haben, scheint die Doktorin zu wissen was Ava gerne fragen würde. Sie schnauft und drückt ihren Zeigefinger deutlicher gegen das Fenster.

»Blind sind Sie aber nicht, oder?« Ava drückt ihre Nase an dem Fenster fast platt, kann aber noch immer nichts erkennen, was einer Zivilisation ähnelt.

»Sehen Sie denn nicht den Fluss dort hinten? Dort können Sie sich frischmachen. Einen schönen Abend noch.« Mit diesen Worten verlässt die Doktorin endgültig Avas Zimmer.

Ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten klappt Avas Kinnlade herunter. Starr blickt sie aus dem Fenster.

Natürlich hat sie den Fluss gesehen. Sie hätte nur nicht gedacht, dass dies der Ernst der Doktorin ist.

»Auf gar keinen Fall!«

Nach Luft schnappend schießt Ava herum, hechtet zu ihren Sachen und fischt hibbelig ihr Handy aus der Handtasche. Die Finger zittern als sie den Kontakt ihres Chefs auswählt und die Anruftaste drückt. Das blinkende Antennensymbol zeigt ihr allerdings, dass es mit dem Empfang in dieser Gegend tatsächlich nicht sehr gut bestellt ist.

»Komm schon. Lass mich nicht im Stich.« Fluchend stolpert Ava im Zimmer umher, findet aber keinen Fleck wo der Empfang besser wird. Im Gegenteil, jede Zimmerecke scheint sich gegen sie verschworen zu haben. In einer ist es schlechter, als in der anderen.

»Fuck!« Wütend rennt Ava aus dem Zimmer und hechtet zur Haustür. Sie muss raus, dort wird sie sicher besseren Empfang haben. Sie ignoriert die Doktorin, die mit einer dampfenden Tasse im Türrahmen zum Wohnzimmer steht und ihr offensichtlich amüsiert hinterherblickt.

»Im Umkreis von fünf Meilen werden Sie keinen Empfang kriegen«, ruft sie der Journalistin zu, die mit großen Schritten in Strumpfhose auf die Wiese läuft.

Schnauze!

Ava rennt im zick zack von einer Himmelsrichtung zur anderen. Immer wieder richtet sie das Handy nach oben, schiebt es soweit hoch wie es ihre Körperlänge zulässt und hüpft sogar hin und wieder auf und ab, nur um einen Fetzen Empfang zu erhaschen.

Erst nach fast einer halben Stunde und einer zerrissenen Strumpfhose, muss sie der Doktorin recht geben. Nichts, dieses Fleckchen Erde scheint tot zu sein. Ava kann nicht glauben, dass es in Amerika tatsächlich noch Regionen gibt, die vom technischen Standpunkt aus völlig von der Außenwelt abgeschnitten sind. Wie ist das nur möglich? Wie kann man bloß so verantwortungslos sein?

Erschöpft geht sie in die Hütte zurück. Die Füße sind von der Wiese völlig verdreckt. Ava wird heute also noch Bekanntschaft mit ihrem Badezimmer machen müssen.

»Wie können Sie bloß so leben? So abgeschnitten von der Außenwelt, ohne irgendwelche Kommunikationsmittel?«, stöhnt Ava als sie beim Wohnzimmer stehenbleibt und die Doktorin auf der Couch sitzen sieht. Diese dreht sich um und blickt über eine Lesebrille hinweg zu Ava.

»Ich verabscheue die Menschen. Weshalb sollte ich mir also irgendwelche Geräte anschaffen, mit denen ich Kontakt mit diesen widerwärtigen Wesen halten könnte? Wenn man mich erreichen will, kennt man den Weg zu meinem Haus.«

Wow.

Ava ist nicht mehr im Stande klar zu denken. Doktor Jercy verabscheut die Menschen? Sie will keinen Kontakt zu ihnen? Diese sind widerwärtige Wesen?

Und was bist du dann? Ein Einhorn mit Glitzerfurz, oder was?

»Aaah, Sie können mich schon jetzt nicht leiden. Das gefällt mir.« Lächelnd dreht sich die Doktorin um. Ava weitet die Augen.

Woher … ?

»Ich habe es an Ihren Augen ablesen können. Mich kann keiner leiden und das ist auch gut so. Ich will auch nicht gemocht werden.«

»Wie machen Sie das?«

»Was? Wissen was Sie denken?« Ava nickt, obwohl ihr bewusst ist, dass Miss Jercy das nicht sehen kann, weil diese ihr den Rücken zukehrt.

Die Doktorin dreht sich erneut zu ihr um und schiebt die Lesebrille ihre Nase etwas herunter.

Herrje, das sieht jetzt irgendwie süß aus.

»Sie wollen doch diese beschissene Biografie über mich schreiben, nicht wahr? Dann werden Sie in naher Zukunft sehr viel von mir kennenlernen. Von mir als Person und als Doktorin. Glauben Sie mir, Sie werden mich danach verabscheuen und verachten. Sie werden mich hassen und ich werde mich an diesem hasserfüllten Gefühl laben. Bis dahin werden Sie aber lernen, wie ich an wenigen Gesichtszügen und Reaktionen die Gedanken der Menschen erahnen kann. Und jetzt …«, die Doktorin wendet sich wieder von Ava ab »verschwenden Sie nicht weiter meine kostbare Zeit. Ich wünsche später eine angenehme Nacht.«

Kostbare Zeit? Du sitzt auf der Couch, hast ein kuscheliges Feuer an und machst keine Ahnung was. Kostbare Zeit, schon klar.

»Wo ist denn die Toilette, wenn ich Sie noch einmal belästigen dürfte?« Die Doktorin streckt einen Arm aus und zeigt gegen eine Wand.

»Draußen.« Mit rollenden Augen geht Ava auf nackten und wunden Füßen zu ihrem Zimmer.

Während sie beginnt einige ihrer Sachen aus den Koffern zu holen, spürt sie ein gähnende Leere in ihrem Magen.

Heute wirst du nirgendwo mehr hingehen. Erniedrige dich also und bitte deine nette Gastgeberin um Wasser und Brot.

***

Mit Duschgel und einem Handtuch ausgestattet, trottet Ava um die Hütte herum. Erstens muss sie ihre Blase entleeren und zweitens muss sie ihre Füße waschen. Sie wird mit diesen dreckigen Stelzen unter keinen Umständen schlafen gehen. Und wenn sie in Naturwissenschaften richtig aufgepasst hat, deutet die untergehende Sonne das Ende eines Tages an. Also eben schnell die Toilette aufsuchen, dem durchaus naturbelassenen Badezimmer einen Besuch abstatten und dann zusehen um aus der ganzen Situation das Beste zu machen.

Suchend blickt sich Ava um.

Toilette, Toilette, wo zum Teufel versteckst du dich?

Unsicher schleicht sie zu einer großen Hütte, wo sie das Pferd der Doktorin vermutet. Das Wiehern und der Geruch verraten dies eindeutig.

Langsam betritt Ava den Stall. Er wirkt innen größer, als er von außen aussieht. Als sie an der Box der Stute vorbeistolpert, steckt die Gute ihren großen Kopf heraus und schnaubt.

»Ja ja, bin gleich wieder weg. Ich suche nur die Toilette«, erklärt Ava ihren unangekündigten Besuch und trottet weiter durch den Stall. Nichts. Super.

Genervt verlässt sie den Stall und marschiert zu einer weiteren Hütte. Diese ist aber um einiges kleiner als das Haus und der Stall. Vielleicht hat sie da ja mehr Glück.

Mit vollgepackten Armen rüttelt sie an der Tür. Verschlossen.

»Man oh man. Ist das hier Alcatraz, oder was? Wieso ist das verschlossen? Was ist denn dort kostbares drinnen, dass es vor der Außenwelt versteckt wird?« Ava blinzelt zwischen zwei Holzstreben. Nur mit Mühe kann sie eine große Plane erahnen, die über ein Fahrzeug geschlagen wurde.

»Ah, die tolle Doktorin hat also einen Führerschein? Schön und wie fährst du über Stock und Stein ohne stecken zu bleiben?« Diese Frage beantwortet sich von ganz alleine, kaum das Ava um die Scheune herumgeht. Von dort führt eine plattgefahrene Schotterstraße zu einer weiteren Straße, die in einiger Entfernung etwas abgelegen angelegt wurde.

»Hätte ich das gewusst, hätte ich mir die Blöße nicht geben müssen.« Grummelnd blickt Ava die Schotterstraße entlang. Diese führt tatsächlich von der anderen Straße direkt bis zur Hütte. Es gibt keine Abzweigung, nichts. Eine Strecke die exakt zum Ziel führt.

Ok, ich suche aber noch immer nach der Toilette.