Plötzlich Gutsherrin - Elisabeth Neufeld-Picciani - E-Book
SONDERANGEBOT

Plötzlich Gutsherrin E-Book

Elisabeth Neufeld-Picciani

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Als wir das erste Mal auf das etwas heruntergekommene Haus zufuhren, wollte mein Mann am liebsten gleich wieder umkehren. Aber ich hatte mich sofort in das Haus und den Park verliebt. Ich hatte ein wahnsinnig gutes Gefühl an diesem Ort, es war, wie nach Hause zu kommen in eine Oase der Ruhe.“

Als die Kinder aus dem Haus sind, möchte Elisabeth Neufeld-Picciani noch einmal ganz neu beginnen und fragt sich: Was kann jetzt noch kommen? Wo und wie möchte ich leben? Womit möchte ich meine Zeit füllen?

Das alte Gutshaus in Volzrade ist wie ein Wink des Schicksals. Es ist heruntergekommen, wurde Jahre lang vernachlässigt und zweckentfremdet und ist doch ein Ort mit Herz und Seele. Stück für Stück renovieren Elisabeth und ihr Mann Bruno das alte Haus. Mit viel Liebe zum Detail, einem Blick für die alten Schätze, als Bewahrer eines Ortes mit seiner ganz eigenen Geschichte. Eines Ortes, der zu einer neuen Heimat wird.

In ihrem Buch geht es um Träume und Pläne, ums Aufbrechen und Ankommen, um die Verbindung von Orten und Leben, von Vergangenheit und Zukunft – und nicht zuletzt um den Sinn im eigenen Leben.

  • Spannende Lebensgeschichte voller Nostalgie und Sehnsucht
  • Von der Stadt aufs Land, Leben in einem alten Gutshaus, ein eigenes Café: Elisabeth Neufeld-Picciani macht Mut, Träume zu verwirklichen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 320

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

»Ich hatte ein wahnsinnig gutes Gefühl an diesem Ort, es war, wie nach Hause zu kommen in eine Oase der Ruhe.«

Elisabeth Neufeld-Picciani liebt alte Dinge und deren Geschichten, und als sie mit Anfang vierzig einen Neuanfang sucht, ist das heruntergekommene Gutshaus in Volzrade wie ein Wink des Schicksals. Es ist heruntergekommen, wurde Jahre lang vernachlässigt und zweckentfremdet. Zu DDR-Zeiten war es Gemeindehaus, Wohnhaus für kinderreiche Familien und Dorfladen. Immer wieder wurde es rudimentär renoviert. Es ist ein Ort mit Herz und Seele, verborgen unter vielen Schichten Putz, Tapete und Farbe. Nach und nach bringt sie das Haus zu neuem Glanz, entdeckt verborgene Geschichten und findet selbst eine neue Heimat.

Mit ihrer Geschichte macht Elisabeth Neufeld-Picciani Mut, die Dinge anzugehen, Pläne zu verwirklichen und Träume zu leben.

Über die Autorin:

Elisabeth Neufeld-Picciani, geboren 1973, wuchs in einer religiösen Familie im Rheinland auf. Aus ihrer frühen ersten Ehe hat sie drei inzwischen erwachsene Kinder. Seit 2014 lebt sie mit ihrem zweiten Mann im Gutshaus Volzrade bei Lübtheen in Mecklenburg-Vorpommern, das sie zum Hotel und Café umgebaut hat.

Elisabeth Neufeld-Picciani

mit Oliver Domzalski

Plötzlich Gutsherrin

Vom Anpacken, Neuanfangen und dem guten Leben auf dem Land

Wilhelm Heyne Verlag

München

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 06/2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Brauer.

Redaktion: Sophie Dahmen

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch,

unter Verwendung von Fotos von Pascal Bünning (6) und Privatarchiv Elisabeth Neufeld-Picciani (12)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-30386-0V002

www.heyne.de

Für Mama.

Als Dank für ihre bedingungslose Liebe, Fürsorge, Gebete, Freude, Hilfsbereitschaft, Mut, Tapferkeit und ihre beständige Herzlichkeit. Du bist die stärkste Frau, der ich begegnet bin.

She believed she could, so she did.

Unbekannt

Inhalt

Vorwort

Prolog: Das Sommerfest 2015

Teil 1: Wir finden das Haus – das Haus findet uns

Teil 2:»Nicht anfassen! Sonst wird’s teuer!« – die Sanierung

Teil 3: Willkommen im Gutshaus Volzrade (im Bau) – das Hotel

Teil 4: Das Haus und das Dorf

Teil 5: Angekommen

Danksagung

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

ich begrüße dich herzlich auf Volzrade. Ich lade dich dazu ein, mich ein Stück des Weges zu begleiten, den ich in den letzten Jahren gehen durfte.

Ich habe meine Aufgabe gefunden und angenommen: Ein Fleckchen Erde zu gestalten, auf dem nicht nur mein Mann Bruno und ich ein wundervolles Zuhause gefunden haben, sondern wo auch all unsere Familienmitglieder, Gäste, Freunde und Nachbarn jederzeit herzlich willkommen sind.

Diese Aufgabe erfüllt mich mit tiefer Begeisterung und Dankbarkeit, und ich erfülle sie mit Hingabe und Freude. 24/7 im Einsatz zu sein, ist nicht immer leicht, aber immer schön. Meistens sind die Tage zu kurz, um all meine Punkte auf der To-do-Liste zu erledigen, aber ich habe gelernt, dass das okay ist. Ich bin auf dem Weg, und der Weg ist das Ziel.

Ich genieße den Moment, wenn ich Gäste beim Check-in begrüße, den kurzen Schnack mit den Nachbarn am Gartenzaun während der Gartenarbeit und das zufriedene Lächeln der Gäste im Gartenstuhl in der Abendsonne.

Glücklich tanze ich vor lauter Freude durchs Haus, wenn meine Visionen nach und nach Gestalt annehmen und aus einem traurigen Raum ein Gästezimmer wird, in dem sich jeder wohlfühlen kann.

Ich danke den Ahnen der Familie von Pentz, die diesen Ort vor Jahrhunderten geschaffen haben und deren Energie, Geschichte, Leben und Lieben hier immer noch zu spüren sind.

Komm mit, ich freue mich.

Prolog: Das Sommerfest 2015

»Du, Frau Neufeld, kauf mal nich zu viele Würstchen. Da kommen nur ein paar Leute. Wenn überhaupt.« Rosemarie Müller, genannt Rosi, ist unsere Mieterin und zugleich unser Kontakt ins Dorf. Und sie ist skeptisch. Sie kennt ihre Mecklenburger und deren Zurückhaltung gegenüber Zugewanderten. Vor allem, wenn es Wessis sind.

Im vergangenen Sommer, 2014, sind wir eingezogen. Aber in den ersten Monaten gab es eher wenig Verbindungen zum Dorf. Allenfalls ein vorsichtiges Beäugen. Wir wollten nichts überstürzen, sondern sowohl den Leuten des Dorfs als auch uns selbst Zeit geben, ein Gefühl füreinander zu bekommen. Außerdem mussten wir erst mal unsere Wohnräume im Gutshaus herrichten lassen. Das Leben im Dauerstaub einer Baustelle war keine gute Voraussetzung für gesellschaftliche Aktivitäten irgendeiner Art. Aber vor ein paar Tagen habe ich zu meinem Mann Bruno gesagt: »Jetzt, wo der Sommer kommt, könnten wir uns doch mal dem Dorf vorstellen und von unserer Idee mit der Ferienvermietung erzählen. Damit gar nicht erst irgendwelche Gerüchte entstehen. Die Leute müssen wissen, was wir vorhaben mit … ihrem Schloss.« Bruno grinste. Untereinander sprechen wir immer nur vom »Gutshaus« oder einfach vom »Haus«. Oder von der »Grande Dame«. Aber wie viele mecklenburgischen Dorfbewohner nennen die Volzrader das größte und repräsentativste Gebäude ihres Orts gerne und mit Stolz »dat Schloss«. Und ihre Blicke richten sich – mal skeptisch, mal erwartungsvoll – auf die imposanten alten Gebäude. Auch wenn es in vielen Ortschaften Ruinen sind. Oder Prachtbauten im Dornröschenschlaf.

Doch einfach mal aus Neugier und Interesse vorbeikommen und schauen, so wie meine rheinischen Landsleute es längst getan hätten, ist nicht die Art der Mecklenburger. Wenn ich mich darüber wundere, lacht Bruno nur. »Ich bin Schwabe. Ich versteh die. Würde ich auch nie machen. Aber hinter den Gardinen wird getuschelt, darauf kannst du wetten. Hier schlüpft keine Maus raus, ohne dass alle davon erfahren.« Ich lächle: »Ja, das ist mir klar. Der Dorffunk hier funktioniert eins a.«

Rosi Müller, die frühere Kindergärtnerin des Dorfs, lebt seit fünfzig Jahren in einer der Wohnungen im Gutshaus. Und sie soll selbstverständlich bleiben. Sie ist eine patente, herzliche Frau und weiß viel über die Geschichte des Hauses. »Und außerdem«, habe ich neulich zu Bruno gesagt, »kennt sie uns nun schon lange genug und wird ihren Verwandten …« – »also dem halben Dorf«, warf Bruno lachend ein – … »und Bekannten …« – »also der anderen Hälfte« – »… erzählt haben, dass wir ganz normale Leute sind.«

»Genau«, meint Bruno. »Weder Ökos noch Bios noch Adlige. Und auch nur ein bisschen bekloppt – sonst hätten wir den maroden alten Kasten ja nicht gekauft.«

Ich will jetzt Nägel mit Köpfen machen. »Dann sollen die Leute uns mal persönlich erleben und erfahren, was wir planen. Ich schlage vor, dass wir ein Grillfest machen. Und alle Dorfbewohner einladen. So 120 sind das wohl.«

Passend zur Grillidee ist Bruno sofort Feuer und Flamme – und verlässt sich wie immer völlig darauf, dass ich die Organisation übernehme. Das ist auch in Ordnung so – seine Unternehmensberatung fordert ihn genug, und er ist sehr viel unterwegs. Das Gutshaus ist unser Projekt, aber meine Aufgabe. Mein neuer Beruf. Und meine Leidenschaft. Und so sitze ich an diesem frühsommerlich-frischen Morgen bei einem Kaffee mit der skeptischen Frau Müller zusammen, weil sie mir Tipps geben soll: Welchen Schnaps trinkt man hier, was soll es außer Grillwürsten zu essen geben, wie viele Kinder werden kommen, wo kann ich Tische und Bänke leihen und so weiter? Aber sie wiegt den Kopf und rät zur Planung auf kleiner Flamme. Doch ich antworte ihr fröhlich: »Weißt du, Rosi, ich glaub schon, dass die kommen werden. Und das ist mir auch wichtig. Und wenn ich nachher die Würstchen drei Wochen lang selber essen muss – ich rechne mal mit allen.«

Mit dieser »Wird-schon-klappen«-Art habe ich schon oft Menschen genervt. Aber noch öfter habe ich sie mitgerissen. Ich kann da auch einfach nicht aus meiner Haut. Ich packe gerne an und lege los – das würde sich nicht vertragen mit einer pessimistischen Grundeinstellung.

Aber damit ich mich nicht im Bau von Luftschlössern (oder Luftgutshäusern) verliere, habe ich zum Glück auch ein paar pragmatische Gene von meinen Eltern bekommen. Und mit Bruno als Mann den härtesten Verhandlungspartner, den man sich vorstellen kann. So behält Lissi schön Bodenkontakt, wenn ihre Gedanken losfliegen.

Drei Wochen später laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Morgen ist es so weit. Ich habe die Einladungen persönlich in jedes Haus gebracht und überall ein paar Worte mit den Leuten gewechselt. Sie nahmen den Zettel mit der ortsüblichen Vorsicht entgegen – daraus konnte ich nichts ableiten, was die Besucherzahl angeht. Aber meine beiden Söhne, die ich ebenfalls eingeladen und als Helfer eingespannt habe, transportieren unverdrossen von der Feuerwehr Tische und Bänke für 120 Leute herüber, mähen den Rasen kurz und stellen einen Pavillon auf (obwohl der Wetterbericht eigentlich zu meinem angeborenen Optimismus passt). Und ich bin froh über den Kontakt zur örtlichen Feuerwehr und darüber, dass sie uns so gerne mit Gerätschaften aushilft. Saft, Bier und Korn stehen bereit, ebenso die Würstchen und die Frikadellen.

Inzwischen ist auch Brunos Mama Dina mit ihrem Mann Rolf eingetroffen. Und ich beginne mich gerade zu fragen, ob das eine gute Idee war. Während ich gut gelaunt ein letztes Mal die Planung durchgehe, poltert Rolf plötzlich los: »Du hast doch keine Ahnung, wie man so was macht! Da kommt sowieso keiner!« Ich funkle den badischen Grummelkopp entgeistert und wütend an. Aber er macht ungerührt weiter: »Das wird ein Fiasko. Du blamierst dich doch vor den Leuten!« Offenbar stehen meine Nackenhaare jetzt sichtbar zu Berge, und Dina spürt, dass ihr Mann kurz vor dem Rausschmiss steht, denn sie raunt mir zu: »Nicht ausrasten. Ich hab ihn im Griff.« Um des lieben Friedens willen und vor allem, um Bruno nicht in Verlegenheit zu bringen, atme ich dreimal tief durch und lasse Rolfs Genörgel einfach unkommentiert.

Am nächsten Tag soll er den neuen Grill aufbauen. Und obwohl er auch hier jeden Fehler, den er macht, auf den Hersteller, auf uns oder den lieben Gott schiebt und man aus seiner Richtung permanent hört: »Des passt net! Des geht net! Des wird nix!«, nehme ich Bruno beiseite und zische ihm zu: »Sorg dafür, dass er den ganzen Tag beschäftigt ist. Wenn der sich hier langweilt und nachher schlechte Laune verbreitet, kann ich für nichts garantieren.«

Und dann ist das Fest in vollem Gange. Es ist ein milder Sommerabend, alle sind satt geworden, niemand hat sich geprügelt – und bis auf drei Bewohner sind alle gekommen! Kleinkinder und Greise inbegriffen. Und die drei Abwesenden haben sich ausdrücklich und mit Bedauern entschuldigt.

Die Leute sitzen zusammen an den langen Tischen und plaudern so angeregt, wie ich es Mecklenburgern gar nicht zugetraut hätte. Und dann entdecke ich mittendrin: Rolf. Er ist bester Stimmung und scheint sich wunderbar zu amüsieren. Ich gehe hin, lege ihm eine Hand auf die Schulter und sage: »Na, Rolf? Biste zufrieden? Haben wir doch ein schönes Fest, oder?« Und er brummt zurück: »Na ja. Hat ja geklappt.« Und schüttelt dann den Kopf: »Dass die alle gekommen sind …«

Dasselbe sagt auch Rosi Müller am nächsten Morgen voller Verwunderung. Und sie erzählt, dass einige Gäste sie gefragt hätten, wo denn das Sparschweinchen stehe, damit sie was für die Würstchen reintun könnten. Ich sage: »Die waren wohl neugierig, Rosi, deshalb sind sie gekommen. Und im Übrigen waren sie doch eingeladen. Wie kommen die denn auf die Idee mit dem Sparschwein?« Rosi antwortet: »Na wegen früher. Da war das auch immer so. Wir von der Kinderkrippe haben immer ein Sommerfest organisiert. Aber irgendwann nach der Wende ist das eingeschlafen.«

Bruno nickt: »Jetzt verstehe ich auch, warum ein paar Leute zum Abschied recht forsch gesagt haben: ›Das machen wir jetzt immer, ja? Das war schön!‹ Die haben das Sommerfest vermisst!«

Ich nicke nachdenklich, während Bruno ganz treuherzig sagt: »Na dann … machen wir das jetzt eben jedes Jahr! Ist doch super!«

Ich will kurz aufbegehren und ihn fragen, wer denn das organisieren soll. Aber dann entscheide ich mich doch dafür, lieber zufrieden zu schmunzeln. Was könnten wir Besseres tun, als das Fest, bei dem das ganze Dorf zusammenkommt, mit unserem Haus zu verbinden? Schließlich braucht es nicht nur, wie in dem afrikanischen Sprichwort, ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Auch unser Gutshaus braucht das ganze Dorf, um zu erblühen.

Aber wie sind wir überhaupt hierher geraten? Wie hat das Haus uns gefunden? Alles begann im Jahr 2010.

Teil 1: Wir finden das Haus – das Haus findet uns

Aufgeben oder Aufgabe?

Ich liege auf dem Rücken und starre die Zimmerdecke an. Hier auf den harten Dielen ist es noch am ehesten erträglich. Den Kopf zu drehen, um zur Abwechslung mal die Wände anzugucken, traue ich mich nicht. Jede Bewegung könnte wieder diesen höllischen Schmerz da unten in der Lendenwirbelsäule auslösen.

So also fühlt es sich an, wenn einem mal so richtig der Stecker gezogen wird. Bandscheibenvorfall. Nichts geht mehr. Die dynamische Lissi, die alles im Leben ein paar Jahre früher erledigt hat als andere, ist mal eben auf Tempo null runtergebremst worden. Wenn ich mir jetzt eine Tasse Tee machen wollte, würde allein das Aufstehen etwa zehn Minuten dauern. Und irgendwann würden die Nachbarn die Polizei rufen, weil sie bei den Schreien denken, hier würde eine Frau misshandelt. Und sowieso würde ein Tee nur bedeuten, dass ich irgendwann aufs Klo muss. Allein die Vorstellung, mich auf die Toilette zu hocken, treibt mir Schmerztränen in die Augen. Also lieber nicht bewegen. Ich weiß, ich müsste es tun. »Mobilisierung« hat der Orthopäde das genannt. Aber ich bin heute mal ein Weichei. Ich bleibe einfach liegen und denke über mein Leben nach. Wie bin ich hierhergekommen? Und wo soll es mit mir hingehen? Wenn das Gehen wieder geht?

Ich bin 36 Jahre alt und habe schon manches von dem durch, womit andere Frauen in diesem Alter erst anfangen. Meine Kinder sind achtzehn, siebzehn und vierzehn. Ich war mit achtzehn verheiratet und bin seit zehn Jahren geschieden. Ich bin in Kirgisistan geboren, in Neuwied aufgewachsen, habe in meinen acht Bielefelder Jahren eine Wohnung und ein Haus saniert und lebe jetzt in Köln. Ich arbeite als alleinerziehende Mutter vierzig Stunden pro Woche in einer Werbemittelfirma und habe dort keinerlei Karrierechancen. Ich habe mich früh von meinem Elternhaus gelöst – und bin unendlich froh, meine Eltern zu haben und zu lieben. Ich lasse mich nicht unterbuttern, wenn die Schule meines Jüngsten mir erzählen will, dass mein Sohn ADHS habe und ich als junge, alleinerziehende Mutter ohne Uni-Abschluss der Aufgabe nicht gewachsen sei – aber wie die meisten Mütter frage ich mich trotzdem, ob ich gut genug bin.

Wenn ich an den letzten Elternsprechtag denke, kommen mir die Tränen: »Ach, Frau Neufeld, wir wissen ja, wie schwer es ist für Alleinerziehende. Aber Ihr Sohn ist nun mal recht auffällig im Unterricht.« Da ist mir der Kragen geplatzt: »Moment mal! Bei Marcel ist die Mutter den ganzen Tag zu Hause, es ist genug Geld da, die haben alle Zeit der Welt – und er hat dieselben Ausraster wie mein Sohn. Das hat nichts mit alleinerziehend zu tun. Bleiben Sie bitte bei den Fakten!« Mal wieder war ich in meinem starken Gerechtigkeitsgefühl nicht zu stoppen gewesen und habe mich gewehrt: »Sie sagen, mein Sohn habe ADHS. Ich sage, Sie machen den falschen Unterricht und langweilen ihn.«

Als ich ihnen vorwarf, die Schuld nur bei dem Kind und seinem Zuhause zu suchen statt bei sich selbst, waren sie wirklich angepisst. Aber ich hatte schon die ganze Zeit gespürt, dass sie mir nicht zutrauten, viel über Erziehung zu wissen. Ich war ja wie überall die Jüngste.

War dieser Elternsprechtag der Auslöser für meinen Zusammenbruch, der sich als Bandscheibenvorfall getarnt hat? Mag sein. Aber sicher nicht der eigentliche Grund. Ich spüre: Meine erste Ehe drückt noch immer wie eine tonnenschwere Last. So viel Groll kann auf Dauer kein Rückgrat der Welt tragen. Kein Wunder also, dass mir die Bandscheibe geplatzt ist und seitdem zwei Lendenwirbel auf meinen Rückennerven Walzer tanzen.

Und noch etwas beschäftigt mich: Ich denke ziemlich oft an diesen Mann, den ich neulich kennengelernt habe. Bruno heißt er. Aber wie alle interessanten Männer ist er natürlich verheiratet. Da geht nix. Also bleibe ich erst mal hier liegen. Und suche vergeblich nach dem Sinn des Ganzen. Ich bin Lissi und ich bin stark. Ich bin Lissi und ich weiß nicht weiter.

Einige Wochen später: Frau Segeberg, die Therapeutin, schaut mich etwas ratlos an. So schwierig hatte sie sich ihre Klientin offenbar nicht vorgestellt. Heute ist die vierte Sitzung – und wir stecken in der Sackgasse.

Letzte Woche habe ich ihr erstmals etwas mehr über das Ende meiner ersten Ehe erzählt, und es fiel mir sichtlich schwer. Die Therapeutin zog fragend die Augenbrauen hoch, als ich ihr stockend auch vom Auszug meines ältesten Sohnes erzählte. Dass mir damals schier das Herz gebrochen ist, erwähnte ich nicht, und meine Tränen hielt ich auch jetzt lieber zurück.

Frau Segeberg hat das heute noch mal aufgegriffen – in dem sanften Psycho-Jargon, den ich eigentlich nicht ausstehen kann: »Ich spüre eine große Wut bei Ihnen. Woher kommt diese Wut?« Bei so was stehen mir zwar alle Haare zu Berge, aber ich habe mich ja auf die Therapie eingelassen. Außerdem hat sie recht: Auch zehn Jahre nach der Scheidung bin ich immer noch wütend.

»Es ist schwer zu erklären. Ein verzwickter Mix. Durch die Krankheit und das Verhalten meines Ex-Mannes wurde mein damaliges, recht traditionelles Lebensbild von Ehe – Kindern – Eigenheim zerstört. Wenn ich in der Schule nach meinem Berufswunsch gefragt wurde, habe ich immer geantwortet: ›Ich möchte gern vier Kinder haben.‹ Klar – ich habe ja selbst sogar fünf Geschwister, und ich liebe große Familien. Mein Englisch- und Erdkundelehrer, der trotz Cordsakko mit Lederflicken drauf und oller Ledertasche eine wirklich coole Socke war, sagte darauf: ›Mensch, Elisabeth, du musst mal ein bisschen moderner denken! Du bist klug und talentiert; du musst eine Sprache lernen und Dolmetscherin werden. Oder studieren.‹ Aber ich wusste damals nicht, welcher Beruf mich faszinieren würde. Und eine frühe Ehe mit Kindern bot die Chance, aus der Enge meines Elternhauses auszubrechen und meinen eigenen Weg zu finden.

Aber zugleich bin ich wütend, weil ich mich in die Rolle des Hausmütterchens habe drängen lassen. Mit Mitte zwanzig war mir das zu wenig. Mein Kinderwunsch hatte ja nie bedeutet, dass ich nicht berufstätig sein wollte. Ich wollte alles und dachte, ich schaffe alles. Aber mit meiner Eigenständigkeit und meiner selbstbewussten Art kann nicht jeder umgehen. Ich sah keinen anderen Ausweg mehr, als zu gehen. Zurück nach Neuwied, mit den beiden Kleinen. Mein ältester Sohn kam ein Jahr später nach – er war zuerst bei seinem Vater geblieben, entschied sich dann aber um, weil er seine Geschwister vermisste. Die Trennung und anschließende Scheidung widersprach völlig meinen Träumen, meinen Überzeugungen und meiner Erziehung. Es war eine Niederlage gegenüber meinen Eltern, eine richtig heftige Bruchlandung und der Tiefpunkt meines Lebens.«

Das alles mal so zu erzählen, tut mir gut. Ich merke, dass ich noch immer daran zu knabbern habe. Und nun bin ich gespannt, was Frau Segeberg mir vorschlagen wird, damit ich das alles endlich mal abhaken und nach vorne schauen kann. Aber sie hat leider was ganz anderes im Sinn. Sie will nicht, dass ich nach vorne schaue, sondern erst mal in den Rückspiegel.

»Frau Neufeld, ich denke, wir können jetzt einen Schritt in die Tiefe gehen. Ich möchte mit Ihrer Beziehung zu Ihrer Mutter beginnen. Ich glaube, hier werden wir im Laufe der Zeit auf die versteckten Wurzeln Ihrer Wut stoßen. Also lassen Sie uns …«

Ich kann es nicht fassen. Ja, ich brauche Werkzeuge. Aber sicher keinen Spaten. Ich will nicht graben und offenlegen, sondern abschließen und weitergehen. Und so haue ich mit dem diplomatischen Feingefühl dazwischen, das immer dann zum Einsatz kommt, wenn Lissi etwas partout nicht will: »Das bringt jetzt aber mal gar nix hier. Ich hab keine Zeit für so’n Scheiß.«

Erstarrt schaut sie mich an. Aber ich bin nicht mehr zu stoppen. »Frau Segeberg, ich will das alles nicht noch mal aufarbeiten und alte Wunden aufreißen. Ich will es nach zehn Jahren endlich hinter mir lassen. Vernarbte Wunden soll man nicht öffnen, um drin herumzuwühlen. Ich suche nach einem Weg, den Groll loszuwerden. Weil er mich daran hindert, zu sehen, was das Leben noch für mich bereithält. Aber ich will die Gründe für den Groll jetzt nicht wiederbeleben und monatelang auf kleiner Flamme weiterköcheln lassen. Ich will das Gegenteil!«

So klar dürfte das Missverständnis zwischen einer Therapeutin, die es sicher gut meint, und einer Klientin, die etwas ganz anderes erwartet hat, selten auf den Punkt gebracht worden sein.

Frau Segeberg zuckt ratlos mit den Schultern. Den entscheidenden Satz »Dann beenden wir das hier besser jetzt« überlässt sie klugerweise mir.

Wieder ein paar Wochen später. Ich sitze mit meiner Freundin Uschi in einem Café und blinzle in die Sonne. Uschi redet nicht lange um den heißen Brei: »Dir geht es viel besser, oder? Wie hast du das geschafft?« Ich lächle: »Ja, es geht mir besser. Gott sei Dank.« Die letzten Worte habe ich nicht so beiläufig ausgesprochen, wie man das üblicherweise tut. Uschi hat es bemerkt und schaut mich etwas unsicher an. So reagieren die meisten, wenn das Thema Glaube aufkommt: Als sei es etwas Unanständiges.

Aber sie weiß, wie wichtig die Religion in meiner Familie ist, und traut sich nachzufragen: »Das hat was mit … äh … Gott zu tun?«

»Ja, sicher«, antworte ich, und hoffe, dass ich dabei nicht zu erleuchtet klinge. Schon merkwürdig: Die Leute gehen bedenkenlos zur Therapie und lassen sich durch psychologische Fragen dazu anregen, tief in sich hineinzuhorchen, um sich dann selbst zu helfen. Aber wenn jemand dasselbe tut, indem er über die Fragen eines Seelsorgers nachdenkt oder in der Bibel liest, kommt es den Leuten wie Aberglaube vor.

»Nachdem ich die Psychotherapie abgebrochen hatte, hab ich erst mal ein paar Sachen angepackt. Mich mehr um mich selbst gekümmert, mit dem Rauchen aufgehört, auf meinen Rücken gehört und mit Sport angefangen.«

»Und deine Bandscheibe?«

»Ich habe einen wunderbaren Arzt in Düsseldorf gefunden, der mich umgehend operiert hat. Dann kamen vier Wochen Reha, und danach konnte ich wieder anfangen zu arbeiten. Und ich brauche vor allem keine Schmerztabletten mehr. Zum Glück.«

Uschi schaut mich beeindruckt an. »Aber dir geht es auch mental besser, oder? Wie hast du das hinbekommen?«

»Ach, das war … ich habe Yoga für mich entdeckt, das hatte der Doc mir empfohlen. Das tut mir extrem gut. Und die Yogalehrerin hat mir dann mal so einen Workshop empfohlen, da bin ich hingegangen. Das war echt eine Offenbarung, Uschi. Ein Yin-Yoga-Wochenende mit heilenden Übungen. Danach konnte ich viel klarer darüber nachdenken, was mir fehlt und was mich bedrückt. Ich habe sehr viel gelesen. Und nachgedacht. Und bin so wieder beim Glauben gelandet. Den hatte ich jahrelang vernachlässigt. Das war alles so blöd mit meiner Familie und meiner Ehe verquickt, dass ich Abstand brauchte. Aber damit habe ich mir wahrscheinlich selbst am meisten geschadet.«

»Geschadet? Wirklich?« Uschi, die religiös eher Analphabetin, aber empathisch ist, versucht offenbar gerade zu begreifen, wie ernst der Glaube für gläubige Menschen ist.

»Na okay, sagen wir: Ich habe mir selbst etwas vorenthalten. Eine wichtige Facette des Lebens. Meines Lebens. Meine Seele kann halt nicht ohne Gott.«

Uschi lächelt und sieht dabei fast ein wenig neidisch aus.

Ich traue mich, noch ein wenig mehr zu erzählen: »Mir ist klar geworden, dass Gott sich auch nicht groß anders verhält als eine Freundin, die man vernachlässigt. Nachdem ich mich ewig nicht bei ihm gemeldet habe, hat er irgendwann auch aufgehört, zu kommunizieren. Aber zum Glück war er immer da – auch, als ich ihn wieder … na ja: angerufen habe. Er hat einfach ganz ruhig und geduldig auf mich gewartet.«

»Und seitdem geht es dir besser?«

»Oh ja. Weil ich etwas verstanden habe: Um die Last meiner Wut auf meinen Ex loszuwerden, muss ich ihm vergeben.«

»Vergeben?! Diesem Ar…?« Uschi ist empört. Ihr Blick flattert. Kein Wunder – sie hat sich wirklich oft genug meine Tiraden anhören müssen, war solidarisch mit mir und hat ein entsprechendes Bild von diesem Mann.

»Ja. Ich habe vergeben. Mir, meinem Ex-Mann, dem Schicksal.«

Uschi nickt nachdenklich und wird wieder ruhiger. Sie legt ihre Hand auf meine. »Die Hauptsache ist, dass es dir wieder besser geht. Ich hab mir nämlich echt Sorgen gemacht um dich.«

Ich schaue sie dankbar an: »Wie gut, dass du auch noch da bist. Danke fürs Warten.«

Und nach einer kurzen Pause sinniere ich: »Krisen bringen einen voran. Wenn man es zulässt.«

Worauf Uschi trocken erwidert: »Na ja, du hattest ja auch keine andere Wahl, als es zuzulassen.«

Ich muss lachen: »Touché!«

Uschi fragt: »Du sagst, die Krise habe dich vorangebracht. Wohin denn genau?«

Ich zucke die Achseln. »Ich habe keinen Schimmer. Aber das macht mich nicht mehr so nervös wie früher. Irgendwas muss sich ändern – und wird es auch. Aber was? Weißt du, darauf habe ich noch keine Antwort. Aber ich kenne jetzt immerhin die Frage.«

Gespannt schaut Uschi mich an. »Und?«

»Die Frage heißt: Wo ist meine Aufgabe?«

Vierzig Quadratmeter Küche? Die Suche (2013)

Bruno schenkt uns Wein nach, blickt einen Moment nachdenklich vor sich hin und überrascht mich dann mit einer Frage: »Was würdest du machen, wenn du ganz allein entscheiden könntest?«

Meine Antwort kommt völlig spontan, ohne Nachdenken: »Alte Häuser renovieren und sanieren. Sie retten und schön einrichten.«

Ich bin einen Moment völlig überrumpelt. Und zwar von mir selbst. Und dann bekomme ich eine Gänsehaut. »Die … die Aufgabe! Das ist sie! Ist sie das?«, flüstert eine Stimme in mir.

Seit meiner Krise sind jetzt drei Jahre vergangen. Und es ist viel passiert – einerseits. Meine Kinder sind aus dem Haus. Und vor allem bin ich Ende 2010, nachdem er sich hatte scheiden lassen, mit Bruno zusammengekommen. Und nun sitzen wir in einem gemütlichen kleinen Restaurant in der Kölner Südstadt und überlegen, wie wir nach drei Jahren wunderbarer Partnerschaft aus unserer Fernbeziehung ein echtes Zusammenleben machen können.

Andererseits ist sehr wenig passiert in den drei Jahren. Ich arbeite immer noch recht uninspiriert und immer noch vierzig Stunden pro Woche in der Firma, ich gehe regelmäßig zum Yoga, und ich habe mit meinen vierzig Jahren viel Energie und Kraft, die ungenutzt sind.

Mein erster Vorschlag war trotzdem ein typisch passives Frauending: »Ich ziehe zu dir, Liebster! Ich komme nach Süddeutschland.« Der Moment, mich aus meinem Kölner Leben zu lösen, ist perfekt. Meine Kinder müssen jetzt ihre eigenen Wege finden. Und mich hält hier nichts mehr außer der Nähe zu Neuwied, also meinen Eltern und Geschwistern. Weiter im Büro Papier hin- und herzuschieben ist jedenfalls kein Lebenstraum von mir. Also habe ich vorhin leichten Herzens geflötet: »Ich folge dir dahin, wo du bist.«

Aber zum Glück ist Bruno ganz anders als mein erster Mann. Er weiß genau, dass es mich nicht ausfüllen würde, in einer Wohnung oder einem Haus zu hocken und auf seine Rückkehr zu warten. »Das ist ja lieb vor dir, Lissi. Aber es würde weder dich noch mich auf Dauer zufrieden machen. Du brauchst doch eine eigene Aufgabe!«

Peng! Da ist das Wort schon wieder! Seit fünf Jahren geistert es durch meinen Kopf.

»Außerdem habe ich doch wechselnde Einsatzorte. Wir müssen also gar nicht in der Stuttgarter Gegend wohnen. Da war ich doch nur aus alter Gewohnheit und wegen meiner ersten Ehe. Und meine Frau hockte zu Hause und wurde immer unzufriedener, während ich durch die Weltgeschichte gondelte. Das sollten wir beide uns ersparen, oder? Mir genügt es, wenn ein Flughafen oder ein Bahnhof in der Nähe ist. Also: Wo willst du sein und was willst du machen? Jetzt, wo das Projekt ›Kinder‹ durch ist?«

Mir kommen fast die Tränen. »Womit habe ich diesen Mann nur verdient?«, denke ich kurz. Und haue mir dann innerlich auf die Finger. Ich arbeite daran, nicht in das geringe Selbstbewusstsein zurückzufallen, das ich anfangs ihm gegenüber hatte. Ich war alleinerziehend und hatte einen langweiligen Sachbearbeiterinnen-Job ohne Karrierechancen, während er ein eleganter, erfolgreicher, selbstbewusster Mann war. Aber dieses Gefühl des Defizits hat sich gelegt. Inzwischen weiß ich sehr genau, was er an mir hat. Und dass es mein Tatendrang, mein Selbstbewusstsein und mein Lissi-hafter Kampfgeist sind, die ihn faszinieren. Und nicht meine Bereitschaft, das Muttchen zu geben.

Und nun ist plötzlich das mit den alten Häusern aus mir herausgesprudelt. Eigentlich hatte ich in den letzten Monaten darüber nachgedacht, doch noch ein Studium der Innenarchitektur anzufangen. Das hatte mir der Berufsberater beim Arbeitsamt in Neuwied nach meiner Scheidung empfohlen. Ich hatte damals keinerlei Selbstvertrauen und dachte, er verkohlt mich. Aber er sagte ganz ernsthaft: »Sie müssen Ihr Abi nachholen und dann studieren. Insgesamt dauert das sechs Jahre.«

Sechs Jahre ohne eigenes Arbeitseinkommen, alleine mit drei Kindern – das war damals leider völlig illusorisch. Wie mein Leben sich wohl entwickelt hätte, wenn es möglich gewesen wäre …?

Ich schrecke aus meinen Gedanken, als die Kellnerin an den Tisch kommt und nach Dessertwünschen fragt. Ich kann nicht widerstehen und bestelle mir eine Crème brulée. Das Knacken des karamellisierten Deckels passt irgendwie zu dem Durchbruch, der hier gerade passiert. Bruno beschränkt sich auf einen Grappa.

Ich nicke sinnierend und wiederhole meinen Satz von vorhin: »Alte Häuser renovieren und sanieren. Das macht Spaß, da schafft man was und kann Altes erhalten. Und ich kann das.«

Uiuiui, Lissi, du nimmst den Mund ja ganz schön voll. Aber ich habe nun mal während meiner ersten Ehe zweimal eine Sanierung organisiert und geplant – eine Wohnung und ein Haus. Und die Faszination für alte Gebäude hatte ich schon immer. Die Ausflüge mit der Familie zu den Burgen des Rheintals waren für mich das Schönste. Und genauso hatte ich es noch früher geliebt, wenn ich meine Mutter zu den älteren Leuten begleiten durfte, die sie in deren Zuhause pflegte. Oft waren das herrliche alte Villen. Nachdem ich einen Vorlesewettbewerb gewonnen hatte, entstand die Idee, dass ich den Leuten etwas vorlesen könnte, und ich weiß noch, wie ehrfürchtig ich die alten Möbel und herrlichen Treppenhäuser bestaunte.

Dass ich alte Dinge so mag, hat ein Freund mal damit in Zusammenhang gebracht, dass wir als Aussiedler in der neuen Heimat ohne Familienerbstücke lebten. Von den drei Koffern, die meine Eltern damals mitnehmen durften, ist nur ein einziger in Neuwied angekommen. Sogar die Tischwäsche und das alte Geschirr haben sich die Diebe vom sowjetischen Zoll unter den Nagel gerissen. Es ging uns also so ähnlich wie allen Geflüchteten: Es gab in unserem Zuhause nichts Materielles, das eine Verbindung zu früheren Generationen schuf. Und diesen Phantomschmerz spürte ich möglicherweise, wenn ich Altes bestaunte und erhalten wollte.

In Neuwied gab es während meiner Kindheit noch die alte Rasselstein-Villa, die auf dem Gelände eines Industrieunternehmens stand, an dem wir sonntags auf dem Weg zur Kirche immer vorbeifuhren. Sie war ziemlich heruntergekommen, und ich fragte meine Eltern immer wieder: »Warum wird das Haus nicht renoviert?« Ich habe ein paar Jahre lang sogar dafür gebetet, dass sich jemand findet, der es macht. Eines Tages erfuhr ich, dass die Villa zum Verkauf stand – für eine D-Mark! Ich weiß noch, wie ich meine Eltern genervt habe: »Die eine Mark haben wir doch! Und dann machen wir sie wieder heil.« Damals fehlte mir noch der Blick dafür, dass das Teure nicht der Kauf ist, sondern die Sanierung …

Die Rasselstein-Villa verfiel mehr und mehr und wurde 2002 schließlich abgerissen. Heute ist dort ein Parkplatz. So was tat mir schon immer in der Seele weh.

Einige Monate später verbringen wir das Wochenende in Brunos Wohnung bei Stuttgart.

»Das mit der Biomilch find ich ja schön und gut – aber den Milchschäumer kannst du dann abschaffen.« Ich balanciere das kleine Tablett mit den beiden Kaffeepötten ins Schlafzimmer, wo Bruno gerade allmählich wach wird, und schüttle den Kopf angesichts des kümmerlichen Versuchs einer Schaumkapuze auf dem Heißgetränk. Dabei hat doch genau der italienischstämmige Schwabe, dem ich gerade den Kaffee ans Bett bringe, mir erklärt, dass das Wort »Cappuccino« von dieser »Kapuze« aus Schaum kommt. (Viel mehr Italienisch kann er aber lustigerweise nicht – der italienische Vater spielte keine Rolle in seinem Leben.) Als ich es mir gemütlich gemacht und mein iPad hochgefahren habe, stupse ich den dösenden Mann neben mir an: »Auf, auf! Häuser gucken! Außerdem wird dein Kaffee kalt.« Bruno setzt sich ächzend auf und angelt mit dem Fuß nach einem seiner Hausschuhe. »Erst mal Zähneputzen«, murmelt er. Als er neben dem Bett steht, reckt er sich genüsslich. Ich beschließe, ihn ein bisschen zu schocken: »Weißt du schon das Neueste? Nach meinen aktuellen Berechnungen muss allein die Küche mindestens vierzig Quadratmeter haben.« Kopfschüttelnd verschwindet Bruno ins Badezimmer, taucht aber wenige Sekunden später mit der Zahnbürste im Mund wieder auf. Sein Gesicht ist ein einziges, aufforderndes Fragezeichen. Ich erkläre, was dahintersteckt: »Unsere Kinder sind zwar bald alle aus dem Haus, nehmen aber trotzdem regen Anteil an unseren Überlegungen, wo wir künftig wohnen werden. Weißt du ja. Und das Wichtigste scheint ihnen zu sein, dass wir gemeinsam und gemütlich an einem großen Tisch sitzen können, und zwar dort, wo auch gekocht wird. Haben sie gestern Abend so verkündet. Und wenn ich mal rechne: Fünf Kinder plus je ein Partner, dann wir beide, deine Mutter und ihr Mann, meine Eltern … dann sind das schon sechzehn Leute. Geschwister, Tanten und Onkel sind da noch gar nicht mitgerechnet. Und Enkelkinder auch nicht.« Ich krame im Bücher- und Zeitschriftenstapel, der neben meinem Bett liegt, und fische ein Blatt Papier heraus: »Ich hab mal ’ne Skizze gemacht, wie die Küche aussehen müsste – und kam auf vierzig Quadratmeter. Minimum.« Mit unschuldigem Blick halte ich dem amüsiert dreinschauenden Bruno die Zeichnung hin. Und muss selbst lachen, als mir einfällt, wie groß meine aktuelle Wohnung in Köln ist, in der ich jahrelang mit meinen beiden jüngsten Kindern gewohnt habe: 79 Quadratmeter.

Bruno meint: »Ist doch schön, welche Prioritäten unsere Kinder setzen.« Ich bin nicht ganz sicher, ob das sarkastisch gemeint ist oder ob er sich ehrlich freut – wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Und auch wenn es sich kurios anfühlt, unser künftiges Zuhause ausgehend von den Dimensionen der Wunschküche zu planen und zu suchen, gefällt mir, wie unsere Kinder denken. Zumal ich es überhaupt nicht mag, allein in der Küche zu stehen und das Essen irgendwann ins Esszimmer zu tragen. Kochen und essen gehören zusammen, und beides sollte ein Gemeinschaftserlebnis sein.

Bruno ist schon im Planungsmodus: »Denken wir mal weiter: Wie groß muss ein Gebäude sein, das eine solche Küche verträgt? Und die Familie, die an diesem Riesentisch sitzen und essen soll, muss ja dann auch irgendwo schlafen. Fünf Schlafzimmer brauchen wir also mindestens. Bedeutet: eine Riesenvilla. Oder einen Bauernhof.«

Beim Wort »Bauernhof« überläuft mich ein leichter Schauer und ich kuschle mich an ihn. »Wenn du ›Bauernhof‹ sagst, denke ich sofort ›Masseria‹«, sage ich leise. Einen Moment lang ist das Gefühl wieder da, das mich vor einigen Wochen während unserer Italienreise wie aus dem Nichts überfallen hatte. Wir waren durch Apulien gereist und hatten uns ein paar zum Verkauf stehende Häuser angesehen. Weil wir erst mal nichts ausschließen wollten – auch nicht den »Stiefelabsatz« im fernen Süditalien.

Alte Häuser und Möbel haben ja eine ungeheure Energie und strahlen sie auch aus. Deshalb mag ich sie so. Aber manchmal ist diese Energie auch negativ. An einem der Tage in Apulien haben wir eine verlassene und ausgebrannte Masseria, also ein Gehöft, aufgesucht, das zum Verkauf stand. Schon bei der Anfahrt, beim Blick aus der Ferne, hatte ich plötzlich ein rabenschwarzes Gefühl in mir. Da standen riesige schwarze Palmen – sie waren angesengt. Und als wir um die letzte Kurve bogen und das ausgebrannte Haus vor uns sahen, musste ich anhalten und ganz schnell aus dem Auto aussteigen. Ich fühlte mich, als schnüre mir etwas die Luft ab, und ich bekam einen Heulkrampf wie noch nie. Das Haus hatte so eine negative, traurige Aura. Ich konnte körperlich spüren, wie viel Leid dort geschehen war. Bruno fragte: »Meinst du, das kriegt man wieder hin?« Worauf ich mit zitternder Stimme antwortete: »Ich glaube nicht, dass die Liebe meiner ganzen Familie ausreicht, um diese düstere Aura wieder rauszukriegen. Und ich will jetzt bitte sofort hier weg!« Ich war dann den ganzen Tag fix und fertig, so sehr hat mich diese Atmosphäre des Todes und des Leids mitgenommen. Dabei konnte man noch erkennen, dass es mal ein schönes, rosa gestrichenes Haus gewesen war.

Ich schüttle mich ein weiteres Mal und schiebe die Erinnerung weg. Dennoch frage ich mich, ob ein Bauernhof wirklich eine gute Idee wäre. »Was würde ich denn da machen, wenn die Kinder wieder abgereist sind und du auch unterwegs bist?« Bruno erwidert: »Dann vermietest du die Schlafzimmer eben.« Ich grüble: »Also eine Art Pension? Das ist kein schlechter Gedanke. Aber was erwarten Leute, die auf einem Bauernhof Urlaub machen?« Bruno weiß, was ich meine: »Gackernde Hühner, deren Eier es zum Frühstück gibt. Einen Kuhstall, in dem die Kinder das Melken üben können. Niedliche Ferkelchen. Pferde oder wenigstens Ponys. Stinkende Misthaufen. Alte Trecker.« Ich nicke: »Genau. Und stehst du auf so was? Ich jedenfalls nicht.« Bruno nimmt meine Hand: »Und das genügt schon als Argument. Selbst wenn ich gerne Bauer spielen würde (was nicht der Fall ist) – hier geht es zwar um unser Projekt, aber um deine Aufgabe. Nicht vergessen.«

Das ist das Wunderbare an Bruno: Er schiebt mich immer wieder auf den Pfad zurück, den ich mir allein nicht zugestanden hätte. Er selbst würde durchaus auch neu bauen – aber er weiß, dass mich das nicht zufrieden machen, sondern langweilen würde. Ich schaue ihn an: »Ich finde es großartig, Liebster, wie viel Zeit wir uns genommen und was wir gedanklich alles durchgespielt haben. Aber müssen wir nicht allmählich mal Nägel mit Köpfen machen?«

Ich hatte viel Zeit gehabt, in Ruhe nach dem zu suchen, was ich tatsächlich will. Damit wir nicht in die gleiche Falle tappen wie Leute, die denken »Ach, ich könnte auch gut in Thailand leben«, weil sie Urlaub mit Leben verwechseln. Und dann sind sie dort kreuzunglücklich. Weil sie nicht geklärt haben, ob sie wirklich in Thailand sein wollen – oder nur weg von dem, was sie hatten, weil sie sich einfach nach irgendeiner Veränderung sehnten. Aber so langsam will ich wissen, wo mein Platz ist. Mein Zuhause. »Meine Geschwister spotten ja gerne, dass ich noch nie eine Wohnung zweimal gestrichen hätte. Aber ich habe eigentlich gar kein rastloses Wesen. Und ich hab’s mir keineswegs ausgesucht, so oft umzuziehen.«

Bruno grinst: »Und ich dachte schon, ich sei mit Frau Beethoven verheiratet. Der Ludwig van soll es ja nie länger als ein halbes Jahr irgendwo ausgehalten haben und ist angeblich siebzigmal umgezogen.« Ich schüttle mich: »Gott bewahre! Ein Kollege hat mir mal erzählt, dass er sich eine neue Wohnung sucht, sobald er nachts das erste Mal im Dunkeln aufs Klo gekommen ist, ohne irgendwo gegenzustoßen; dann werde es ihm zu langweilig. Der ist nicht mein Vorbild.«