Die zehnte Plage - Clive Cussler - E-Book

Die zehnte Plage E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Der 25. Dirk-Pitt-Roman: Ein skrupelloser Konzern setzt eine tödliche Seuche frei, um mit der Heilung Milliarden zu verdienen!

Der Öltanker Mayweather sinkt unter ungeklärten Umständen bei der Einfahrt in den Hafen von Detroit. Dirk Pitt und die NUMA werden beauftragt, das Unglück zu untersuchen und den Tanker zu bergen. Noch kann er sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie dieser Vorfall mit der Seuche in Zusammenhang steht, die sich in Südamerika ausbreitet und nur Jungen befällt. Licht ins Dunkel bringen könnte eine Entdeckung, die Pitts Kinder – der Marineingenieur Dirk Pitt jr. und die Ozeanografin Summer Pitt – in Ägypten gemacht haben. Doch die beiden werden bereits von den Killern eines skrupellosen Konzerns gejagt!

Sie lieben Action? Es warten noch viele weitere Abenteuer von Dirk Pitt auf Sie! Alle Bücher sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 587

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Clive Cussler & Dirk Cussler

Die zehnte Plage

Ein Dirk-Pitt-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Celtic Empire« bei Putnam’s Sons, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with

Peter Lampack Agency, Inc.

551 Fifth Avenue, Suite 1613

New York, NY 10176-0187 USA

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (freedarst; foxaon1987; Roland Shainidze; Cozyartz Digital Media; StockStudio; ifong; Alexyz3d; Wead; StockStudio; Photos SS)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-24248-0 V003

HANDELNDE PERSONEN

1333 v. Chr.

Meritaton – Ägyptische Prinzessin, Tochter des Pharaos.

Gaythelos – Meritatons Ehemann.

Osarsiph – Prophet, der von Meritaton unterstützt wird.

Ahrwn – Osarsiphs Bruder.

2020

NUMA-TEAM

Dirk Pitt – Direktor der National Underwater and Marine Agency.

Al Giordino – Direktor der Abteilung für Unterwassertechnologie bei der NUMA.

Rudi Gunn – Stellvertretender Direktor der NUMA.

Zerri Pochinski – Dirk Pitts langjährige Sekretärin.

Michael Cruz – Schiffsingenieur und Bergungsexperte bei der NUMA.

Dr. Rodney Zeibig – Meeresarchäologe bei der NUMA.

Summer Pitt – Direktorin der Abteilung für Sonderprojekte bei der NUMA und Tochter von Dirk Pitt.

Dirk Pitt jr. – Direktor der Abteilung für Sonderprojekte bei der NUMA und Sohn von Dirk Pitt.

Hiram Yaeger – Direktor für den Zentralbereich Informatik und Computer-Ressourcen bei der NUMA.

James Sandecker – Vizepräsident der USA und ehemaliger Direktor der NUMA.

REGIERUNGSBEAMTE, POLITIKER UND GESCHÄFTSLEUTE

Loren Smith-Pitt – Dirk Pitts Ehefrau und Kongressabgeordnete aus Colorado.

Senator Stanton Bradshaw – Als Vorsitzender des US Senate Committee on Environment and Public Works zuständig für Umweltgestaltung, Infrastruktur und öffentliche Bauten.

Evanna McKee – CEO von BioRem Global Limited.

Audrey McKee – Field Manager bei BioRem Global Limited und Tochter von Evanna McKee.

Rachel – Assistentin von Evanna McKee.

Ross – FBI-Agent mit dem Auftrag, Elise Aguilar zu beschützen.

Abigail Brown – Ehemalige Premierministerin von Australien.

Gavin – Mitarbeiter Evanna McKees.

Ainsley – Mitarbeiter Evanna McKees.

Irene – Mitarbeiterin Evanna McKees.

Richards – Mitarbeiter Evanna McKees.

HISTORIKER, EXPERTEN UND MEDIZINER

Elise Aguilar – Wissenschaftlerin und Mitglied der United States Agency for International Development in El Salvador.

Phil – Wissenschaftler und Mitglied der United States Agency for International Development in El Salvador.

Rondi – Dorfbewohner in El Salvador und Helfer des amerikanischen Wissenschaftlerteams.

Dr. Stephen Nakamura – Epidemiologe an der Universität von Maryland.

Dr. Susan Montgomery – Direktorin des Environmental Health Laboratory, einer Abteilung der Centers for Disease Control and Prevention (CDC).

Dr. Miles S. Perkins – Wissenschaftler am Inverness Research Laboratory.

Dr. Harrison Stanley – Emeritierter Professor für Ägyptologie an der Universität Cambridge.

Riki Sadler – Biochemikerin und Archäologin, Tochter von Evanna McKee.

Dr. Frasier Smyth McKee – Biochemiker und verstorbener Ehemann von Evanna McKee.

Aziz – Mitarbeiter des ägyptischen Staatsministeriums für Altertumsangelegenheiten.

St. Julian Perlmutter – Seefahrtshistoriker und langjähriger Freund von Dirk Pitt.

Byron – Leiter des Forschungslabors der Centers for Disease Control and Prevention.

Dr. Eamon Brophy – Ehemaliger Leiter der archäologischen Abteilung an der Universität Dublin.

ANDERE

Manjeet Dhatt – Vater eines erkrankten Jungen in Mumbai.

Pratima Dhatt – Mutter eines erkrankten Jungen in Mumbai.

Ozzie Ackmadan – Inhaber des Hotels Abu Simbel Inn.

Bruder Thomas – Mitglied des Franziskanerordens in Killarney, Schottland.

Kapitän Ron Posey – Kapitän der Mayweather.

Gauge – Zweiter Offizier der Mayweather.

PROLOG

FLUCHT AUF DEM NIL

MEMPHIS, ÄGYPTEN

1334 v. Chr.

Der Chor inbrünstig klagender Stimmen schwebte wie eine dunkle Wolke über der Stadt. Das Unglück ihrer Einwohner durchtränkte die Lehmziegelmauern der Behausungen und wehte in die nächtliche Wüste hinaus. Aber der Wind beförderte mehr als nur ihre Trauergesänge.

Er trug auch den Hauch des Todes in sich.

Eine geheimnisvolle Plage geißelte das Land und hatte bereits in fast jedem Haushalt zugeschlagen. Vor allem die Kinder und Jugendlichen waren davon betroffen, aber nicht ausschließlich sie. Der Tod hatte noch nicht einmal die königliche Familie verschont und den Pharao selbst mit seinen kalten Klauen dahingerafft.

In den Schatten zwischen den Säulen des Aton-Tempels kauerte eine junge Frau und bemühte sich, die vielstimmigen Totenklagen und den Odem der Krankheit und des Verfalls so gut wie möglich aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Während der Mond hinter einer Wolke hervortrat und sein fahler Schein die Landschaft in ein geisterhaftes Licht tauchte, rieb sie mit dem Daumen und Zeigefinger der einen Hand über ein schweres goldenes Amulett, das an einer ebenfalls goldenen Halskette hing, und lauschte in die Dunkelheit hinein. Anfangs hörte sie nichts, was auf eine verräterische Bewegung in ihrer Nähe hingedeutet hätte, dann jedoch glaubte sie, das Scharren von Ledersohlen auf Stein zu vernehmen, und sie wandte sich um. Ihre Ohren hatten sie nicht getäuscht. Eine vertraute Gestalt kam mit eiligen Schritten über den Vorplatz des Tempels auf sie zu.

Ihr Ehemann, Gaythelos, hochgewachsen und breitschultrig, hatte dunkles lockiges Haar, dessen Strähnen nach dem anstrengenden Lauf zum Tempel auf seiner Stirn klebten. Als er ihre Hand ergriff und sie auf die Füße hochzog, war seine Haut von der schwülheißen Nachtluft schweißfeucht. »Der Weg zum Fluss ist frei«, berichtete er ihr mit leiser Stimme.

Suchend blickte sie an ihm vorbei. »Wo sind die anderen?«

»Sie halten bei den Booten Wache. Komm, Meritaton, wir dürfen nicht länger warten.«

Sie wandte sich um, blickte in das Dunkel zwischen den Säulen hinter ihr und nickte. Drei männliche Gestalten, bewaffnet mit Wurflanzen und schweren Chepesch-Schwertern, lösten sich aus dem Schatten der Tempelmauer und bildeten einen lebendigen Schutzwall um sie, während sie ihrem Ehemann folgte.

Die Route, die Gaythelos wählte, führte vom Tempel weg und eine Seitenstraße hinunter, deren Staub, der von den Sandalen der Flüchtenden aufgewirbelt wurde, ihre Schritte dämpfte. Trotz der späten Stunde drang aus vielen Häusern der matte Schein brennender Öllampen durch die Spalten der Fensterläden. Die Gruppe hatte es eilig, und niemand sagte ein Wort, während sie das Straßengewirr der ehemaligen Hauptstadt durchquerten.

Der Weg senkte sich sanft zum Flussufer hinab, wo reihenweise kleine Handelsschiffe an einer Mole vertäut waren. Als sie am Ufer entlanggingen, tauchten zwei Männer aus dem Schilfdickicht auf. Sie hatten lange graue Bärte und trugen schäbige Leinengewänder. Obwohl sie – wie ihre Körperhaltung verriet – unterschiedlich alt waren, war die Ähnlichkeit zwischen ihnen so frappierend, dass sie hätten Zwillinge sein können.

Die drei Leibwächter hoben ihre Wurflanzen und machten Anstalten anzugreifen.

»Wachen! Einhalt!«, rief Meritaton.

Die bewaffneten Krieger hielten inne und ließen die Lanzen sinken.

Meritaton ging an ihnen vorbei und begrüßte die beiden Männer. »Osarsiph, Ahrwn, was tut ihr hier? Warum habt ihr diesen unglückseligen Ort nicht verlassen?«

Ahrwn, der jüngere der beiden, trat vor. Ein entschlossener Ausdruck lag in seinen Augen, die so gar nicht zu dem verwitterten Gesicht passen wollten. »Meritaton«, sagte er, »es ist uns unmöglich gewesen, uns unserer Freiheit zu erfreuen und sie auszukosten, ohne dir unseren Dank auszusprechen. Dein Einfluss auf den Pharao war für den Erlass seiner Verordnung von entscheidender Bedeutung. Mit tiefer Anteilnahme hörte ich die Nachricht von seinem Tod in Amarna.«

»Ob ich wirklich so großen Einfluss auf seine Entscheidung hatte, weiß ich gar nicht«, erwiderte die Frau. »Was jedoch außer Frage steht, ist die Tatsache, dass die Hohepriester des Pharaos nun die Herrschaft über das Land an sich gerissen haben – und dass sie der königlichen Familie die Schuld an all dem Leid geben, das Ägypten zurzeit heimsucht.«

»Das Einzige, dessen du dich schuldig gemacht hast – wenn man es überhaupt so nennen kann –, ist, dass du ein großes Herz für die Unterdrückten bewiesen hast«, sagte der Ältere, Osarsiph, und ergriff einen Beutel aus Ziegenleder, den er an einer Schnur um den Hals trug, und legte ihn in ihre Hände. »Du hast uns vor dem vergifteten Wasser des Nils gerettet. Ich bitte dich, jetzt ist für dich der Moment gekommen, an deine eigene Rettung zu denken.«

»Ihr seid vorsichtig und wachsam gewesen – der Pharao war dies nicht. Eigentlich müsst ihr euch bei Gaythelos bedanken, nicht bei mir.« Sie nickte in Richtung ihres Ehemanns. »Er war es, der die Wirkung und Kraft des Apiums kannte.«

Osarsiph wandte sich um und deutete eine Verbeugung vor dem Mann an. »Kommt ihr mit uns?« Er wies mit einer ausholenden Armbewegung auf das gegenüberliegende Ufer, wo der flackernde Schein zahlloser Lagerfeuer den Horizont erhellte.

»Nein«, antwortete Meritaton. »Wir suchen unser Heil auf dem Meer.«

Der alte Mann nickte, dann sank er vor ihr auf die Knie. »Mein Bruder und ich, wir werden die Erinnerung an dich und deine guten Taten in unseren Herzen tragen. Mögest du in Frieden leben, solange die Sterne am Himmel stehen.«

»Das Gleiche wünsche ich auch dir, Osarsiph. Lebewohl.«

Die beiden Männer kletterten auf ein kleines Floß aus Holz und Papyrus, stießen sich vom Ufer ab und paddelten über den dunklen Fluss zum anderen Ufer hinüber.

»Vielleicht sollten wir uns ihnen doch anschließen«, murmelte Meritaton nachdenklich.

»Die Wüste hält nichts als Mühsal und Entbehrung bereit, Geliebte«, sagte Gaythelos. »Auf uns warten gastlichere Gestade. Aber wir sollten nicht länger herumtrödeln, sondern uns lieber beeilen.«

Er führte die Reisegruppe am Flussufer entlang bis zu der befestigten Anlegestelle der Stadt, ließ die Handelsschiffe hinter sich und nahm dann ein Stück weiter flussabwärts Kurs auf drei Boote, die im Schilf versteckt lagen. Kurz bevor sie sie erreichten, wurden sie von bewaffneten Wachtposten angehalten, die sie nach einem kurzen Wortwechsel an Bord der Boote geleiteten.

Meritaton und Gaythelos ließen sich auf einer Bank unterhalb des einzigen Masts nieder, während die Leinen gelöst wurden und das Boot seinen Liegeplatz verließ. Von den Rudern mehrerer Mannschaftsmitglieder angetrieben, entfernte sich das Boot vom Ufer und folgte den beiden anderen Schiffen in die Mitte des Nils.

Mit einem Gefühl des Unbehagens schaute sich Meritaton auf dem Schiff um. Es war nicht länger als dreißig Meter und hatte ein offenes Deck. Bug und Achtersteven waren hochgezogen. Tonkrüge und Körbe, gefüllt mit großen Mengen Reiseproviant, hatte man auf dem Deck verteilt. Soldaten saßen oder standen an den Dollborden und tauchten kurze Ruder ins Wasser. Die beiden anderen Boote – altgediente Frachtschiffe, die das Mittelmeer mehrmals überquert hatten – lagen genauso tief im Wasser wie das Boot der Prinzessin und ihrer Begleiter.

Quadratische Hauptsegel waren teilweise gehisst und an Bug und Heck aufgeriggt, um die Schiffe zu steuern, während sie von der Flussströmung nach Norden getragen wurden. Kleine Öllampen hingen an den Bugs und erhellten mit ihrem matten Lichtschein die dunklen Fluten vor den Schiffen. Während die Stadt Memphis hinter ihnen in der Nacht zurückblieb, folgten die Schiffe nahezu lautlos ihrem Kurs. Die einzigen Geräusche waren das Plätschern des Wassers gegen ihre Rümpfe und das rhythmische Eintauchen der Ruder in den Fluss.

Nach zweieinhalb Stunden Fahrt flussabwärts – sie hatten etwa zwanzig Kilometer zurückgelegt – wurde auf den Schiffen besorgtes Gemurmel unter den Insassen laut. In nicht allzu großer Entfernung erschien eine Kette von Laternen. Sie gehörte zu einem Schiff, das unbeweglich in der Flussmitte ankerte.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Meritaton es. Allem Anschein nach war es ein Frachtschiff. Taue spannten sich von seinem Deck zu beiden Ufern des Flusses, sodass es tagsüber seinen Dienst als Fähre ausüben konnte. Während der Nachtstunden diente es als schwimmende Mautstation für passierende Handelsschiffe. Laute Warnrufe auf dem Schiff verrieten jedoch, dass es in dieser Nacht eine andere Aufgabe hatte, als lediglich Mautgebühren zu kassieren.

»Löscht die Laterne!«, rief der Kapitän von Meritatons Boot, ein vierschrötiger Mann mit kahl rasiertem Schädel, und winkte den vorausfahrenden beiden Frachtschiffen ihrer kleinen Flotte.

Zu spät. Alle drei Schiffe waren bereits gesichtet worden. Ein Trupp Bogenschützen, die sich auf dem Frachtkahn in der Flussmitte in Position begeben hatten, schickte eine Salve von Pfeilen auf die tödliche Reise.

Gaythelos stieß Meritaton von der Bank aufs Deck hinunter. Ein Matrose schrie auf und griff sich an den Hals, der von einem Pfeil durchbohrt worden war.

»Bleib liegen!« Während zwei Leibwächter die Prinzessin in die Mitte nahmen, um sie zu beschützen, schleifte Gaythelos einen Sack Getreide über die Holzplanken und deckte seine Frau damit zu.

Unter dem Sack konnte sie nur hören, wie ein heftiger Kampf entbrannte. Die drei Boote schlugen die Richtung zum gegenüberliegenden Ufer ein und bemühten sich, den Abstand zwischen ihnen und dem Frachtschiff in der Flussmitte so schnell wie möglich zu vergrößern. Als das erste Boot eines der Taue erreichte, die den Frachtkahn im Fluss in Position hielten, lehnten sich mehrere Männer mit Schwertern über den Bug, um es zu durchtrennen. Mehrere von ihnen wurden von den Bogenschützen getroffen, anderen jedoch gelang es, die schwimmende Barriere zu beseitigen.

Nun setzten die drei Boote ihre Fahrt flussabwärts fort, aber von dem Frachtkahn löste sich ein kleines Boot, auf dem sich Schwertkämpfer und Bogenschützen drängten, und nahm die Verfolgung des nächsten Handelsschiffs auf. Es war dasjenige, auf dem sich Meritaton und Gaythelos befanden. Die Jäger holten es sehr bald ein und gingen längsseits. Die Krieger, die nur mit wenig Gegenwehr rechneten, enterten das Boot der Flüchtenden.

Gaythelos sprang mit der bewaffneten Schutztruppe aus den Schatten zwischen den Frachtstücken auf, und gemeinsam empfingen sie die Verfolger mit ihren Bronzeschwertern. Ein mörderischer Kampf Mann gegen Mann entbrannte, um die Angreifer abzuwehren. Bogenschützen auf dem Verfolgerboot zielten blindlings ins Kampfgetümmel und töteten so Krieger beider Parteien. Die Toten stürzten über Bord und wurden von den Fluten des Nils mitgenommen. Hin und her wogte der Kampf, bis es schien, als gewännen die Angreifer die Oberhand. Meritaton, die ahnte, dass ihren Getreuen eine Niederlage drohte, schlängelte sich aus ihrem Versteck und hob das Schwert eines gefallenen Kriegers auf.

»Der Sieg gehört uns!«, feuerte sie die Begleiter an und stieß ihre Klinge in den Leib eines Angreifers.

Ihr Anblick stachelte die Verteidiger an. Sich formierend drangen sie todesmutig auf die Angreifer ein, trieben sie vor sich her zum Achterschiff und töteten sie unbarmherzig. Dann kam das Boot der Angreifer an die Reihe. Vom Blutrausch getrieben, sprangen die Schwertkämpfer der Prinzessin auf das Verfolgerboot und metzelten zunächst die restlichen Bogenschützen nieder, dann stießen sie mit vereinten Kräften das Boot mit seiner blutigen Fracht toter Krieger in die Strömung.

Meritaton tastete sich zum Bug des Schiffes vor, um ihren Ehemann zu suchen. Das Deck war mit Blut getränkt, überall lagen Tote und Verwundete. Gaythelos kam ihr entgegen, in der Hand einen blutigen Dolch. Er schlang die Arme um seine Ehefrau.

»Die Gefahr ist gebannt. Jetzt sind wir sicher«, sagte er. »Du hast uns zum Sieg geführt.« Er wandte sich zu dem Kapitän um, der am Steuerruder saß. Ein Pfeil ragte aus seiner Schulter. »Ist es nicht so?«

Der Mann nickte. »Jetzt wird es keine Hindernisse mehr geben. Wir haben das Delta schon fast erreicht und damit die freie Auswahl unter den zahllosen Wegen zum Meer. Bei Anbruch des Tages wird Ägypten hinter uns liegen.«

Die kleine Flotte ruderte durch die Nacht und folgte einem Seitenarm des Nils, der auf beiden Seiten von Feldern gesäumt wurde, auf denen die Gerste heranreifte. Schon bald lockte am Horizont das Mare Mediterraneum, und es dauerte nicht mehr lange, bis die drei Schiffe auf das türkisblaue Meer hinausglitten. Im strahlenden Licht der aufgehenden Sonne wichen sie einem Konvoi schwer beladener Frachtschiffe aus der Levante aus.

Meritaton saß mit Gaythelos auf der Bank vor dem Schiffsmast und verfolgte mit gemischten Gefühlen, wie die Küste Ägyptens immer winziger wurde. Sie presste den kleinen Beutel aus Ziegenleder gegen ihre Brust und dachte darüber nach, was die Zukunft für sie bereithalten mochte. Während sie einerseits unzählige Leben hatte retten können, hatte sie andererseits auch alles geopfert, das ihr lieb und teuer war.

TEIL I

WASSERFALL

1

MAI 2020

COPAPAYO, EL SALVADOR

Mit düsterem Blick verfolgte Elise Aguilar, wie die Begräbnisprozession den staubigen Dorfplatz überquerte. Die vier Männer, die den Sarg trugen, hielten die Köpfe gesenkt und folgten mit schwerfälligen Schritten dem Geistlichen, der den Leichenzug anführte, während sie den weißen Kindersarg auf den Schultern balancierten. Ein kleines Gebinde aus gelben Orchideen verbarg die mit der Hand gemalte Darstellung eines Fußballs, die den Deckel zierte.

Die Eltern und anderen Angehörigen des verstorbenen Kindes folgten dem Sarg. Trotz der halblaut geäußerten Trostworte der restlichen Dorfgemeinschaft schluchzten vor allem die Frauen hemmungslos.

Elise Aguilar blickte der Trauergesellschaft nach, bis sie hinter einer Biegung des Waldwegs verschwand und ihre Totenklage von dem dichten Laubwerk der Bäume verschluckt wurde. Der Friedhof des Dorfes lag auf der Kuppe eines kleinen Hügels jenseits des Waldes.

Sie achtete nicht auf einen schwarzen Jeep, der sich im Schritttempo an dem Trauerzug vorbeischlängelte, während sie kehrtmachte und einem ausgetretenen Fußweg in die entgegengesetzte Richtung folgte. Sie ging an ein paar schlichten einstöckigen Bauernhäusern mit weißem Gipsverputz vorbei, in denen die dreißig Einwohner des Dorfes wohnten. Der Weg führte bergab und verbreiterte sich zu einem Aussichtsplatz mit ungehindertem Blick auf einen im Licht der Morgensonne schillernden tiefblauen See.

Cerrón Grande lautete der Name des Gewässers. Er war der größte Stausee in El Salvador und angelegt worden, um die Region mit elektrischem Strom zu versorgen. Hunderte von Familien hatten umgesiedelt werden müssen, als der Rio Lempa im Jahr 1976 aufgestaut worden war. Einige der Familien hatten in dem überstürzt aufgebauten Dorf Copapayo eine neue Heimat gefunden. Elise Aguilar ließ den Blick über den See schweifen. Ein Fischer in einem Kanu und ein kleines Arbeitsboot kreuzten auf dem Wasserreservoir, das auf Landkarten auch als Suchitlán-See bezeichnet wurde. Auf der rechten Seite markierte eine grau-blaue Betonbarriere die Krone des Cerrón-Grande-Staudamms, der den See geschaffen hatte.

Elise machte sich an den Abstieg und folgte dem Pfad fast bis zum Seeufer. Dort, vor einem ausladenden Schutzdach aus knorrigen Baumwurzelsträngen, die mit Palmzweigen und Palmblättern bedeckt waren, blieb sie stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein halbes Dutzend roter Zelte war vor der gegenüberliegenden Seite des Schutzdachs mit den Eingängen zu einem schattigen Bereich unter dem Dach im Halbkreis angeordnet. Auf beiden Seiten dieses Camps erstreckten sich Felder, auf denen sich dichte Reihen sattgrüner Maisstängel in einer sanften Brise wiegten.

Unter dem Schutzdach saßen Mitarbeiter der United States Agency for International Development an provisorischen Arbeitstischen und führten Experimente oder Computerberechnungen durch. Aufgrund des feuchtheißen Klimas bestand die Arbeitskleidung der Wissenschaftler nahezu ausnahmslos aus Shorts und T-Shirts.

Ein schlaksiger Mann mit dicken Brillengläsern und einem wild wuchernden Bart schaute von einem Mikroskop hoch. »Warum dieses lange Gesicht?«, fragte er mit einem Akzent, der seine Bostoner Herkunft verriet.

»Heute findet im Dorf eine Beerdigung statt. Ich bin gerade dort gewesen und habe die Prozession gesehen.«

»Der kleine Junge?«

Elise Aguilar nickte.

»Es ist unendlich traurig. Rondi hat mir vor Kurzem erzählt, dass ein kranker Junge aus dem Dorf in der Klinik in Suchitoto läge. Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm um ihn stand.«

Der Mann schaute zu einem halbwüchsigen einheimischen Jungen hinüber, der gerade Maisstängel aus einem Blecheimer zog und auf einem Tisch sortierte, und rief: »Rondi, was ist mit dem kleinen Jungen passiert?«

Eilig kam der Teenager zu dem Wissenschaftler herübergelaufen. »Er war kurze Zeit enfermo. Letzte Woche kam ein Arzt, untersuchte ihn und nahm ihn mit ins Krankenhaus, aber sie konnten ihm nicht mehr helfen.«

»Weißt du vielleicht, wie die Diagnose des Arztes lautete?«, fragte Elise Aguilar.

Rondi zuckte die Achseln. »Un misterio. Ich habe gefragt, aber die Ärzte wollten nichts sagen. Es war genauso wie bei den anderen.«

»Bei welchen anderen?«

»Drei andere Kinder aus dem Dorf sind in den letzten paar Monaten gestorben. Es war die gleiche Sache. Sie werden enfermo, und wenn die Ärzte kommen, um ihnen zu helfen, ist es zu spät.«

Elise Aguilar sah ihren Kollegen an. »Phil, was meinst du, hältst du es für möglich, dass diese Todesfälle irgendwas mit den Feldfrüchten zu tun haben?« Sie deutete auf den Eimer mit den Maisstängeln, die Rondi kurz zuvor sortiert hatte.

»Denkst du an das genetisch optimierte Saatgut, das wir im vergangenen Jahr an die Bauern verteilt haben?« Er schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Diese Variante ist nur geringfügig verändert worden, um längere Trockenperioden zu überstehen, und wird überall auf der Welt ohne Beanstandungen eingesetzt.«

Sie nahm seine Information mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. »Ich weiß, aber es bricht einem das Herz, hilflos mit ansehen zu müssen, wie Kinder plötzlich krank werden und ihnen nicht geholfen werden kann.«

Er zuckte die Achseln. »Aber wir sind Landwirtschaftsexperten, Elise, und keine Ärzte.« Er warf einen Blick auf das blühende Maisfeld. »Und morgen müssen wir alles zusammenpacken und zehn Meilen weiter nördlich unsere Zelte aufschlagen.«

Er sah den enttäuschten Ausdruck in Elises Augen. »Okay, vielleicht können wir doch etwas mehr tun. Ich schicke unserer für El Salvador zuständigen Country-Managerin eine E-Mail und bitte sie, sich mit der World Health Organization in Verbindung zu setzen. Letztere unterhält hier in El Salvador eine ständige Vertretung. Ich bin sicher, dass sie jemanden herschicken können, um der Sache auf den Grund zu gehen.«

»Vielen Dank im Voraus. Ich finde, die Menschen hier verdienen zu erfahren, was diese offenbar tödliche Krankheit auslöst.«

Er nickte. »Bis wir mehr wissen, brauche ich dich und Rondi aber, damit ihr die Ertragsquote auf Prüffeld 17 berechnet.« Er deutete auf eine schematische Zeichnung von den in Parzellen aufgeteilten Ackerflächen rund um das Dorf. Prüffeld oder Parzelle 17 war ein schmaler Feldstreifen dicht am Stausee.

»Si, ich weiß, welches Prüffeld Sie meinen«, sagte Rondi. Er schnappte sich einen Leinensack und schwang ihn sich über die Schulter.

Elise Aguilar folgte ihm auf einem schmalen Trampelpfad durch ein benachbartes Maisfeld. Während sie zügig ausschritten, musste sie ständig an die Begräbnisprozession und an den kleinen weißen Sarg denken.

»Rondi, hat es unter den Kindern in den anderen Dörfern auch schon ungewöhnliche Krankheitsfälle gegeben?«

Er nickte. »Ein Cousin von mir, der Francisco heißt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass er gestorben ist. Er wohnte in San Luis del Carmen. Das Dorf liegt auf der anderen Seite des Stausees.«

»Wie alt war er?«

»Vier Jahre, glaube ich.«

»Ich kann mich an den Namen dieses Dorfes nicht erinnern. Weißt du, ob wir auch an die Bauern dort Saatgut verteilt haben?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben da seit jeher starke Pflanzen und fahren immer gute Ernten ein. Aber in der vergangenen Woche habe ich dort die cientificos gesehen.«

»Welche Wissenschaftler?«, fragte Elise Aguilar verwundert. »Unser Team ist doch erst vor vier Tagen am Cerrón Grande eingetroffen.«

Er hob die Schultern. »Ich weiß. Ich glaube auch nicht, dass sie Amerikaner waren. Als ich mich nach ihnen erkundigt habe, wusste anscheinend niemand, woher sie kamen.«

»Was wollten sie denn dort?«

Wieder zuckte er die Achseln. »Sie haben alle möglichen Fragen nach den niños gestellt und einige Feldfrüchte und Wasserproben eingesammelt.« Er blieb an einer Markierungstafel stehen, die aus dem Erdreich ragte. Sie war mit der Zahl 17 beschriftet. »Das ist unser Prüffeld.«

Elise holte eine gelbe Schnurrolle aus Rondis Leinentasche und ging ein paar Schritte in das Maisfeld hinein. Hier wickelte sie ein Stück Schnur ab und spannte sie zu einem Quadrat um ein Büschel Maisstängel auf. Mit Rondis Hilfe kontrollierte sie jeden Stängel innerhalb des Quadrats und notierte die Anzahl der Knospen und Ähren, die sich an jedem Stängel befanden, auf einem Klemmbrett. Dann hob sie die Schnur auf und ging ein paar Schritte weiter ins Feld hinein und wiederholte die Prozedur. Im Camp würde sie dann mithilfe der ermittelten Zahlen den voraussichtlichen Ernteertrag des gesamten Maisfelds berechnen.

»Um zum Camp zurückzukehren, können wir auch den Weg am Seeufer entlang nehmen«, schlug Rondi vor, sobald sie ihre Zählungen beendet hatten. Er ging durch das Maisfeld voraus, um Elise den Weg zu zeigen.

Nach einiger Zeit gelangten sie zu einem nicht besonders hohen Felsvorsprung oberhalb des Stausees. Weniger als eine Meile zu ihrer Rechten erstreckte sich die achthundert Meter lange Betonmauer des Cerrón-Grande-Staudamms. Sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein und folgten dem Uferverlauf zum Camp der Entwicklungshelfer.

In der Nähe des Punktes, wo der Pfad zum Dorf abzweigte, blieb Elise stehen, um erstaunt ein kleines Windrad aus Aluminium zu betrachten, das auf einem Betonwürfel nicht weit von dem Seeufer entfernt installiert war. Ein achtflügeliger Propeller rotierte in der leichten Brise, und Wasser plätscherte unterhalb des Betonwürfels. »Ich kann mich nicht entsinnen, diese Anlage im vergangenen Jahr hier schon gesehen zu haben.«

»Der Wasserstand im Dorfbrunnen war beträchtlich gesunken, daher hat uns die Regierung diese Apparatur zum Geschenk gemacht. Jetzt bekommen wir das Wasser aus dem See. Mr. Phillip hat im vergangenen Jahr kräftig beim Bau mitgeholfen. Das war, nachdem Sie abgereist waren.«

»Werden mit dem Wasser aus dem See auch die Felder versorgt?«

»Si, und das Dorf ebenfalls. Es erhält sein Wasser aus einem Rohr, das weit in den Stausee hineinragt. Wir können es dann entweder auf die Felder leiten oder über einen Filter eine Zisterne damit füllen, von wo es dann mithilfe einer Pumpe ins Dorf fließt.«

Elise betrachtete den Propeller noch einige Sekunden länger, dann sah sie Rondi fragend an. »Du hast doch ein Boot, nicht wahr?«

»Ja. Es ist hinter der nächsten Biegung am Seeufer festgemacht.«

»Kannst du mich ein Stück auf den See hinausbringen? Ich würde gern in der Nähe des Einlassrohrs einige Wasserproben nehmen.«

»Ich geh es holen und bin gleich wieder zurück.«

Elise joggte zum Camp und deponierte dort den Leinensack mitsamt den Daten für die Ernteertragsberechnung und ergriff eine Reißverschlusstasche mit einem halben Dutzend Teströhrchen, die in einem Schaumstoffbett mit Klettband gesichert waren. Dann kehrte sie zum Seeufer zurück und wartete dort, bis Rondi in einem kleinen motorisierten Aluminiumboot erschien.

»Tut mir leid«, sagte er und zeigte mit einem entwaffnenden Lächeln die Zähne. »Der Motor hat nicht immer Lust, sofort anzuspringen.«

Das zerbeulte, von den Unbilden der Witterung gezeichnete Boot war mit einem sechs PS starken Motor ausgestattet, der älter war als Rondi und im Leerlauf dicke Qualmwolken ausstieß. Elise legte die Tasche mit den Teströhrchen auf die Sitzbank, schob den Bug des Bootes vom Ufer weg und schwang sich hinein. Rondi manövrierte das Boot im Rückwärtsgang in tieferes Wasser, dann wendete er und nahm Kurs auf die Mitte des Stausees. Sie legten jedoch nur eine kurze Strecke zurück, ehe der Teenager den Motor ausschaltete und das Boot treiben ließ.

Rondi bestimmte ihre Position relativ zum Windrad. »Die Rohröffnung müsste sich genau unter uns befinden.«

Elise holte zwei Teströhrchen aus der Tasche, entkorkte sie und tauchte sie in das klare kalte Wasser. Während sie die Behälter verschloss, entdeckte sie einen toten Fisch, der in ihrer Nähe im Stausee trieb. »Kommt es öfter vor, dass du im See verendete Fische findest?«

Auch für diese Frage hatte Rondi nur ein Achselzucken übrig. »In der Nähe des Damms habe ich schon mehrere gesehen.«

»Würdest du mir genau zeigen, wo?«

Roni musste mindestens ein Dutzend Mal an der Starterschnur des Außenbordmotors ziehen, bevor er knatternd ansprang. Er hielt auf den Staudamm zu und passierte auf dem Weg dorthin einen betagten Fischer in seinem Kanu, der gerade damit beschäftigt war, ein Ringwadennetz einzuholen. Sie näherten sich der Sicherheitssperre des Damms, die aus nichts anderem bestand als einem simplen Stahlseil, das dicht über der Wasseroberfläche aufgespannt war. Rondi schaltete den Motor wieder aus und ließ zu, dass der Bootsrumpf an dem Seil entlangrutschte. Dutzende von toten Fischen, deren aufgedunsene weiße Bäuche himmelwärts schauten, tanzten träge im Wasser.

Elise Aguilar schoss mit ihrem Mobiltelefon einige Fotos und verspürte einen heftigen Brechreiz bei der Vorstellung, dass die Dorfbewohner nicht aufbereitetes Wasser aus dem See tranken. Sie entnahm dem See zwei weitere Wasserproben, dann ließ sie den Blick über den Stausee wandern.

»Lass uns noch ein Stück weiter nach Norden in Richtung San Luis del Carmen fahren. Ich würde gern eine weitere Wasserprobe in der Nähe des Dorfes nehmen.«

Während Rondi nickte, ertönten auf der dem See abgewandten Seite des Staudamms drei scharfe, tiefe Donnerschläge. Elise und der Junge sahen einander erschrocken an, und dann wurde unter ihnen ein dumpfes Grollen laut. Wie bei einem Erdrutsch geriet der mittlere Abschnitt des Staudamms in Bewegung und zerbröckelte mit einem lauten Krachen, das die Luft vibrieren ließ.

Elise Aguilar stieß einen Schrei aus, während Rondi hektisch versuchte, den Außenbordmotor zu starten. Er erwachte hustend zum Leben, und Rondi schob den Fahrtregler auf Vollgas. Das kleine Boot strebte von dem berstenden Staudamm weg, legte ein paar Meter zurück, ehe es rapide an Tempo verlor. Der kleine Motor heulte gepeinigt auf. Aber das Boot rührte sich nicht vom Fleck.

»Was ist los?«, rief Elise.

»Die Strömung … sie ist zu stark.« Rondi starrte sie mit großen Augen an. Seine Hand, die auf der Ruderpinne lag und sie hin und her schwenkte, zitterte.

Hinter ihnen regneten die Trümmer des Staudamms auf den Grund der Schlucht gut einhundert Meter unter ihnen hinab, während der Sog des Wassers immer stärker wurde.

Den Fahrthebel nach vorn drückend, bis seine Knöchel schneeweiß hervortraten, starrte Rondi hinter sich auf die Lücke im Staudamm, durch die die Wassermassen des Stausees in die Tiefe stürzten, und schüttelte den Kopf.

Er und Elise konnten nur noch untätig zusehen, während das Boot mit unwiderstehlicher Gewalt rückwärts von der sich verbreiternden Lücke in der Betonmauer und dem tödlichen Wasserfall dahinter angesaugt wurde.

2

Das Rumpeln rollte hallend wie ein Echo aus einer anderen Welt über die nach wie vor fast spiegelglatte Oberfläche des Stausees.

»Was war das?« Dirk Pitts Kopf kam hinter zwei Computermonitoren hoch, auf denen er ein Sonarbild vom Grund des Stausees betrachtet hatte. Er blickte zu dem Mann hinüber, der das Schiff lenkte. Er war gut einen Kopf kleiner als er und schien mit seiner untersetzten Statur viel besser in die drangvolle Enge zu passen, die im Steuerhaus des Arbeitsbootes herrschte.

»Jedenfalls kein Gewitterdonner.« Al Giordino blickte durch das Seitenfenster zum blauen Himmel hinauf. »Oder mein Magen – trotz unserer mageren Verpflegung, die ›Mittagessen‹ zu nennen eine krasse Übertreibung ist.« Er zerknüllte eine leere Kartoffelchipstüte und warf sie aufs Armaturenbrett. Dann blickte er wieder durch die Windschutzscheibe.

Und richtete sich abrupt kerzengerade auf. »Oh Mann, sieh dir das mal an. Es ist der Staudamm.«

Pitt erhob sich, streckte seine Ein-Meter-neunzig-Statur und schaute zum Schiffsbug. Weniger als eine Viertelmeile vor ihnen markierte der Cerrón-Grande-Staudamm die Grenze des Stausees. Aber dieses imposante Bauwerk hatte nun in der Mitte eine riesige Lücke. Zwei kleine Boote waren vor dem Damm zu erkennen, die vom Sog der abfließenden Wassermassen dem Abgrund entgegengerissen wurden.

»Der Damm hat nachgegeben«, sagte er, »und diese Boote nimmt er gleich mit in den Abgrund.«

Giordino schob den Fahrthebel nach vorn. Das Dreißig-Fuß-Arbeitsboot machte einen regelrechten Satz vorwärts, als seine beiden 250-PS-Außenbordmotoren ihre volle Leistung entfalteten. Aber anstatt sich vor der drohenden Gefahr in Sicherheit zu bringen, steuerte Giordino mit Vollgas mitten in das Chaos hinein.

Er drehte sich um und blickte über das offene Achterdeck. Sein Interesse galt einem straff gespannten blauen Kabel, das in ihrer schäumenden Kiellinie verschwand. Einhundert Meter weiter hinter ihnen erschien ein gelber Sonarfisch an der Wasseroberfläche und pflügte durch die Gischt.

»Wir haben jetzt keine Zeit, das Gerät einzuholen«, sagte Pitt, der genau wusste, was Giordino in diesem Augenblick dachte. Er ging zur hinteren Kabinentür. »Versuch, so nahe wie möglich heranzukommen.«

Pitt trat aufs offene Achterdeck hinaus, nahm einen Rettungsring aus einer Wandhalterung und verband ihn mit einer langen Leine, die aufgeschossen in einem Eimer bereitstand. Er ging mit dem Eimer zum Heckspiegel und verknotete das freie Ende der Schnur an einer Belegklampe. Dabei fragte er sich nach einem prüfenden Blick auf den geborstenen Staudamm, ob ihre Bemühungen im Grunde nicht vergeblich waren und sie auf jeden Fall zu spät kämen.

* * *

Elise Aguilar bekam von dem Vermessungsboot, das in voller Fahrt auf sie zuhielt, nichts mit. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf den Fischer im Kanu, der um sein Leben kämpfte. Trotz seiner angestrengten Bemühungen, paddelnd ans Seeufer zu gelangen, war der Sog des Wassers, das aus dem Staubecken abfloss, einfach zu stark. Es war nur eine Frage der Zeit, wann das schmale Holzboot durch die Lücke in der Betonmauer in die Tiefe katapultiert würde. Ganz gleich wie gleichmäßig und kraftvoll die sehnigen Arme des Mannes das Paddel auch durchs Wasser zogen, gegen die reißende Strömung hatte er keine Chance.

»Rondi, kannst du ihm nicht helfen?«

Sie musste schreien, um sich gegen das Tosen der Wassermassen durchzusetzen. Der Junge zuckte zusammen, dann veränderte er die Position der Ruderpinne so, dass er mit dem Boot den Kurs des Fischers kreuzte.

Elise streifte sich die Tragschlaufe der Tasche mit den Wasserproben über den Kopf, damit beide Hände frei waren, dann packte sie den Rand des Kanus und zog, sodass beide Boote dicht nebeneinanderlagen. Der Fischer nickte dankbar und setzte seinen Kampf gegen die Strömung mit dem Paddel auf der anderen Seite seines Kanus fort.

Doch es war ein Kampf, den er verlieren musste. Beide Boote behielten ihren Kurs in Richtung Abgrund bei, der mittlerweile nur noch höchstens dreißig Meter entfernt war.

Über dem Getöse des Wasserfalls glaubte Elise, ganz andere Töne zu hören: das aggressive charakteristische Röhren von leistungsstarken Bootsmotoren. Das Vermessungsboot rauschte mit Höchsttempo in Richtung Staudamm.

Das Boot beschrieb einen weiten Bogen und zog ein blaues Kabel hinter sich her, dann drosselte es sein Tempo, während es sich zwischen sie und den Staudamm setzte. Ein hochgewachsener Mann mit schwarzem Haar stand am Heck und warf ihnen eine Leine zu.

»Binden Sie eins der Boote an!«, rief er. »Wir nehmen Sie in Schlepp!«

Die Leine landete auf dem Bug des Aluminiumboots, und der Fischer konnte sie ergreifen. Anstatt sie an einem der Boote zu befestigen, schlang er sie mehrmals um sein Handgelenk und sprang ins Wasser.

Elise Aguilar traute ihren Augen nicht. Sie drehte sich um und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass ihr Abstand zu der Lücke im Staudamm nur noch höchstens fünfzehn Meter betrug. Der Sog des abfließenden Stauseewassers wurde zunehmend stärker, selbst während sie das Kanu losließ und sich von diesem Ballast befreite.

Aber das Arbeitsboot folgte dem Aluminiumboot, wobei sein Steuermann die beiden Außenbordmotoren mit erstaunlichem Fingerspitzengefühl bediente, sodass sich die Lücke zwischen ihnen um keinen Deut vergrößerte. Der schwarzhaarige Mann am Heck zog so schnell wie möglich Hand über Hand die Rettungsleine ein, bis der Kopf des Fischers neben dem Dollbord auftauchte. Er bückte sich und hievte den alten Mann aus dem Wasser und befreite ihn schnellstens von der Rettungsleine. Nachdem er einige Meter zusammengerafft hatte, schleuderte er sie abermals zum Aluminiumboot hinüber.

»Binden Sie das Boot an!«, rief er.

Während die Leine durch die Luft flog, drehte sich das Aluminiumboot in der stetig zunehmenden Strömung. Die Leine segelte über das Boot hinweg, aber Rondi schaffte es, sie zu angeln. »Ich hab sie!« Dabei beugte er sich weit über den Bootsrand.

Elise Aguilar, die auf derselben Bootseite stand, war seinem Beispiel gefolgt. Da sich beide Bootsinsassen an Steuerbord befanden, bekam das Boot entsprechende Schlagseite, und das Seitendeck geriet unter Wasser.

Elise erkannte die Gefahr und versuchte, mit einem verzweifelten Sprung nach hinten das drohende Unheil zu verhindern, aber es war schon zu spät. Wasser strömte in einem breiten Schwall ins Boot und brachte es zum Kentern.

Elise klammerte sich instinktiv an das Boot, aber es begann zu sinken und zog sie mit nach unten. Sie ließ es los und ruderte mit den Armen, um zur Wasseroberfläche aufzusteigen. Nach Luft schnappend nahm sie wahr, wie Rondi, der die Leine ergriffen hatte, an ihr vorbeiglitt. Mit namenlosem Entsetzen erkannte sie, dass nicht er sich vom Fleck bewegte, sondern sie von der Strömung davongetragen wurde.

Erneut von panischer Angst angetrieben und mit rasendem Herzschlag, der ihre Brust zu sprengen drohte, machte sie verzweifelte Schwimmbewegungen. Aber ihre Kräfte erlahmten, und sie hörte und spürte das Getöse des Wasserfalls, dem sie sich unaufhaltsam näherte.

Ihre wild rudernden Arme stießen plötzlich gegen ein Hindernis. Jemand anders befand sich neben ihr im Wasser. Für einen kurzen Moment keimte in ihr die Hoffnung auf, Rondi und das Rettungsseil erreicht zu haben. Ein flüchtiger Blick zur Seite sagte ihr jedoch, dass sie sich getäuscht hatte. Stattdessen sah sie den schwarzhaarigen Mann aus dem Arbeitsboot neben sich.

Er schlang einen Arm um ihre Taille, zog sie zu sich heran und presste sie gegen seinen Körper. Verwirrt setzte sie ihre verzweifelten Bemühungen fort, gegen die Strömung anzukämpfen. Dann hörte sie seine ruhige Stimme. Sie hielt inne und sah ihn an.

»Halten Sie sich an mir fest und holen Sie tief Luft.« Er zwinkerte ihr mit den grünsten Augen zu, die sie je gesehen hatte.

Ein Adrenalinstoß verhinderte jeden Versuch, die Situation zu verstehen, und nun kam sie widerspruchslos seiner Aufforderung nach. Als sie über die Kante des Staudamms gespült wurden, gab es nichts mehr, was sie hätte tun können.

Er streckte einen Finger in die Luft und führte eine Kreiselbewegung aus, während sie die Arme um ihn schlang und einen letzten Atemzug machte.

Dann übernahm die Schwerkraft die Kontrolle und zog sie in die Tiefe.

3

Elise Aguilar hatte, umgeben von dem herabstürzenden Wasser des Stausees, die Empfindung des freien Falls. Mit fest geschlossenen Augen und angehaltenem Atem klammerte sie sich an Pitt. Seine Arme umschlangen sie, die Beine hatte er angewinkelt und presste sie zusammen, um beim Eintauchen in das Tosbecken am Fuß der Staumauer so wenig Widerstand wie möglich zu bieten. Innerhalb des Wasserschwalls spürte Elise, wie etwas über ihre Beine und an ihrem Rücken entlang aufwärtsglitt.

Ihr kam es vor, als dauerte der Absturz eine Ewigkeit. Sie wappnete sich für den Aufprall auf die Felsen an der Basis des Staudamms. Aber dazu kam es nicht. Stattdessen spürte sie einen Ruck, der von ihrem Retter ausging und sie beinahe aus seiner Umarmung rutschen ließ. Irgendetwas hatte ihren Fall gestoppt.

Sie krallte eine Hand in sein Hemd und zog sich wieder dicht an ihn heran. Sie musste sämtliche Kraftreserven mobilisieren, um dem Druck der Fluten, die unaufhörlich auf sie herabprasselten, standzuhalten. Es war, als ob das gesamte Empire State Building auf sie herabfiel, und zwar jedes Stockwerk einzeln.

Pitt presste sie wieder an sich, und sie versuchte, sich vor der Wasserlawine zu schützen, indem sie den Kopf senkte und die Schultern hochzog.

Sie wagte nur für einen kurzen Moment, die Augen zu öffnen, und sah schäumendes Wasser in breiter Bahn herabrauschen. Während sich ihr rasender Herzschlag ein wenig beruhigte, wurde ihr bewusst, dass sie unbedingt weiteratmen musste. Zwar waren nur wenige Sekunden verstrichen, seitdem sie über die Kante des Staudamms geschwemmt worden waren, aber der Luftmangel wurde zu einer unerträglichen Qual.

Ihre Gedanken rasten. Was würde mit ihnen geschehen, wenn es ihnen nicht gelänge, sich aus dem Wasserfall zu befreien? Niemals würde sie unter Wasser einatmen, sagte sie sich, ganz gleich wie sehr sie nach Luft lechzte. Sie würde den Atem anhalten, bis sie das Bewusstsein verlöre, und sich ihrem Schicksal ergeben.

Die Wucht der Wassermassen, die über sie hinwegrauschten, zerrte an ihren Gliedmaßen und verdrängte ihre Angst zu ertrinken. Ihre Arme schmerzten von der enormen Anstrengung, aber ihren Griff zu lockern, mit dem sie sich an Pitt festhielt, hätte den sicheren Tod bedeutet. Dabei deutete keinerlei Anzeichen darauf hin, dass der sehnige Mann, der sie vor dem Abstürzen bewahrte, mit zunehmender Erschöpfung zu kämpfen hatte. Trotz des zusätzlichen Gewichts der Wasserflut, die auf ihn herabprasselte, hielt er sie unerschütterlich mit seinem Arm fest.

Der Wasserfall stieß sie hin und her und schleuderte sie gelegentlich auch gegen die Betonmauer des Staudamms. Während einer solchen Kollision hatte sie den Eindruck, an der Staumauer entlangzurutschen. Dabei verlor sie zunehmend den Kontakt zu der rauen Oberfläche. Irgendwie schien es, als bewegten sie und ihr Retter sich an der Mauer entlang aufwärts.

Und noch einmal machte sich der Luftmangel bemerkbar. In ihrem Kopf hatte ein dumpfes Pochen eingesetzt, und nun war es, als ob ihre Lunge nach Luft schrie. Die Vorstellung, sich einfach fallen zu lassen, erschien Elise immer verlockender. Dann schrammten ihre Beine über die schartige Kante des Staudamms, und der Druck des Wassers ließ merklich nach.

Sie riskierte es, die Augen zu öffnen, und stellte erstaunt fest, dass sie ein paar Meter weit blicken konnte. Noch stürzte das Wasser aus der Höhe hinab zum Fuß der Staumauer – jedoch nicht mehr mit der ursprünglichen Heftigkeit. Die Gischtwolken, die die Luft vor der Staumauer gesättigt hatten, waren nicht mehr so dicht. Elise erkannte nun, dass Pitt ein blaues Kabel umklammerte, das um sein Bein geschlungen war und in einem gelben wie eine Röhre geformten Objekt dicht unter seinen Füßen endete. Die Nase dieses Objekts hatte ihren Absturz aufgehalten, und ihr Retter stützte sich mit einem Fuß darauf ab.

Elise Aguilar hatte das Gefühl, als würde ihre Lunge jeden Moment explodieren. Sie blickte zu ihrem Schutzengel hoch. Er hatte ein kantiges, aber attraktives Gesicht, dem man ansah, dass es ausgiebig den Strahlen der Sonne ausgesetzt worden war. Seine Augen waren weit offen, und ihr Ausdruck vermittelte sowohl Intelligenz als auch ein ausgeprägtes Selbstvertrauen. Erneut zwinkerten sie ihr zu, und ihr grünes Funkeln sagte ihr, dass sie nicht mehr lange durchhalten müsse und sie beide schon bald in Sicherheit seien.

Der Wasserstrom von oben wurde spärlicher, und Pitt befreite sein Bein von dem blauen Kabel und dem Sonarfisch, vollführte einige kräftige Beinstöße, bis sie durch die Wasseroberfläche brachen. Elise keuchte und füllte ihre Lunge mit frischer Luft, während das dumpfe Pochen in ihrem Kopf allmählich nachließ. Der Wasserfall übte noch immer einen gewissen Druck auf ihre beiden Körper aus, und sie hielt sich weiterhin an Pitt fest, dessen Hände das blaue Kabel in festem Griff hatten.

Elise sah sich um und entdeckte das Vermessungsboot. Auf seinem Achterdeck stand ein Mann mit krausem Haar und südländischen Gesichtszügen, der mit seinen kräftigen Händen und Armen das blaue Kabel einholte. Im Wasser neben dem Boot war Rondi zu sehen, der sich an der Rettungsleine festhielt, die am Heck des Bootes verankert war.

»Das war eine Dusche, die für ein ganzes Leben ausreichen dürfte«, stellte Pitt fest. Er schaute zu ihr hinab und grinste. »Sind Sie okay?«

Immer noch keuchend und nach Luft schnappend nickte Elise und brachte den Anflug eines mühsamen Lächelns zustande.

Giordino zog sie zu dem seitlich angebrachten Heckspiegelausleger, wo sie nicht Gefahr liefen, mit den Propellern der Außenbordmotoren, die das Vermessungsboot in Position hielten, schmerzhaft Bekanntschaft zu machen. Er fasste über den Bootsrand und hob Elise so mühelos ins Boot, als wäre sie leicht wie eine Feder. Pitt kletterte aus eigener Kraft an Bord und winkte dem alten Fischer zu, der den Platz am Ruder übernommen hatte. Dann barg er das restliche Kabel mitsamt dem Sonarfisch.

Giordino empfing Pitt mit einem erleichterten Grinsen. »Ich empfehle dir, ein Fass zu benutzen, wenn du mal wieder Lust verspüren solltest, dich einen Wasserfall hinabzustürzen.«

»Fässer sind was für Weichlinge«, erwiderte Pitt. »Aber danke fürs Abschleppen.«

Giordino ging zur anderen Heckseite und begann, Rondi an Bord zu holen. »Ich hatte gehofft, dass du nicht bis zum Ende rutschst. Ein Glück, dass der Sonarfisch das Kabel im Griff behalten hat.«

»Das gilt aber auch für dich und mich«, meinte Pitt. »Ich fürchte nur, dass das Kabel nun um einiges länger ist als zu Beginn unserer Testfahrt.«

»Ich glaube, für heute dürfte unsere Arbeit beendet sein.« Giordino nickte Elise Aguilar und dem alten Mann zu, dann half er Rondi, ins Boot zu steigen.

Triefnass stand der Junge da, zitterte vor Kälte und stammelte: »Miss Elise … ich dachte, es wäre Ihr Ende … als sie durch die Lücke stürzten … und ich würde Sie nie wiedersehen.«

»Das habe ich auch gedacht.« Elise wandte sich zu Pitt um. »Ich weiß nicht, wie ich mich bei Ihnen bedanken soll.«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu und drückte ihm unbeholfen die Hand. »Mein Name ist Elise Aguilar, ich arbeite in der U.S. Agency for International Development. Ich war gerade dabei, dem Stausee einige Wasserproben zu entnehmen, als der Damm brach.«

Rondi, der sich mittlerweile ein wenig beruhigt hatte, folgte Elises Beispiel und schüttelte Pitt und Giordino die Hand. »Ich glaube nicht, dass es ein Dammbruch war. Ich glaube, er wurde gesprengt.«

Elise sah den Jungen entgeistert an. »Ich bitte dich, Rondi, wer sollte denn hier auf die Idee kommen, einen Staudamm zu sprengen?«

Sie alle wandten sich nach achtern und betrachteten die Überreste der Staumauer. Der Wasserspiegel im Staubecken war um gut sechs Meter gesunken, sodass die zerklüfteten Ränder der breiten Lücke der Betonmauer frei lagen und ungehindert betrachtet werden konnten. Die ausströmende Wasserflut hatte sich deutlich verringert, aber dass Rondis Verdacht begründet war, stand außer Zweifel. Große Schlammbrocken bedeckten das Ufer des Stausees. Als der Sog des Wasserfalls nachließ, glitt das Vermessungsboot langsam vorwärts.

Giordino zauberte eine Thermosflasche aus einem Gerätefach im Ruderhaus hervor und versorgte Elise und Rondi mit heißem Kaffee, dann löste er den Fischer am Ruder ab. Den Fahrtregler behutsam nach vorn schiebend, brachte er das Boot auf sichere Distanz zur Staumauer.

Elise trank einen Schluck Kaffee aus dem Thermosbecher und gab ihn an Rondi weiter. Dann inspizierte sie den Sonarfisch, der auf dem Achterdeck lag. Sie wandte sich an Pitt. »Was hat Sie ausgerechnet zum Cerrón-Grande-Stausee verschlagen?«

»Wir nehmen zurzeit an einer Konferenz über Unterwassertechnologie teil und hatten einen freien Nachmittag. Wir wollten ein neuartiges Sonarsystem ausprobieren und bei dieser Gelegenheit nachschauen, ob auf dem Grund des Sees irgendwelche Monster oder Schiffswracks zu finden sind.«

»Monster oder Schiffswracks?«

»Al und ich arbeiten für die National Underwater and Marine Agency.«

Elise Aguilar war die NUMA – die wohl bedeutendste amerikanische wissenschaftliche Organisation, die sich dem Schutz der Weltmeere verschrieben hatte – nicht fremd, und sie wusste über ihre vielfältigen Aktivitäten bestens Bescheid. Pitt war der Direktor dieses behördenähnlichen Apparats, während sein langjähriger Freund und Kampfgefährte, Al Giordino, die Abteilung für Unterwasser- und Tiefseetechnik dieser Organisation leitete. Pitt war studierter Schiffsingenieur und hatte seit einem kurzen Gastspiel bei der Air Force eine unsterbliche Liebe zur See entwickelt und nutzte jede Gelegenheit, sich aktiv an ozeanografischen Forschungsprojekten zu beteiligen.

»Ja, ich kenne die NUMA«, sagte Elise, »allerdings glaube ich nicht, dass Sie in diesem See irgendwelche Monster oder Schiffswracks finden werden. Übrigens, soweit ich weiß, konnte man bisher alle Wasserfahrzeuge der NUMA an ihrer türkisfarbenen Lackierung erkennen. Hat sich daran etwas geändert?« Sie klopfte mit der Hand auf die weiße Wand des Ruderhauses.

»Wir haben das Boot von einer örtlichen Technikfirma ausgeliehen oder – genauer gesagt – gemietet«, sagte Pitt. »Zu unserem Glück haben sie, was die Motorisierung betrifft, offenbar keine Kosten gescheut.«

Er blickte über die Reling auf einige mit Schlamm bedeckte Autoreifen, die auf dem freigelegten Uferstreifen lagen. »Aber was hatten Sie und der Junge eigentlich auf dem See zu suchen?«

»Ich gehöre zu einem wissenschaftlichen Team, das die hiesigen Bauern bei der Optimierung ihrer landwirtschaftlichen Erträge berät. Außerdem helfen wir bei Fragen des Fruchtwechsels, der Bewässerung und der Anwendung von Düngetechniken. Gleichzeitig bieten wir ihnen neue oder bereits im Einsatz befindliche genetisch modifizierte Getreidesorten an, die eine höhere Produktivität versprechen. Unser Team betreut vorwiegend Bauern in El Salvador und Guatemala.«

Sie deutete auf mehrere Maisfelder in einiger Entfernung. »Die Ernteerträge verschiedener Dörfer in dieser Region haben sich in nur drei Jahren mehr als verdoppelt.«

»Das klingt nach einem Unterfangen, das sich offenbar in jeder Hinsicht lohnt«, sagte Pitt. »Aber ich kann beim besten Willen nicht erkennen, dass sich daraus die Notwendigkeit ableiten lässt, mit einer Nussschale von einem Boot vor einer berstenden Staumauer herumzuschippern.«

»In den letzten Monaten kam es in dieser Region zu unerklärlichen Todesfällen unter Kindern. Rondi erzählte, dass einige Dörfer ihr Trinkwasser aus dem Stausee erhalten, daher kam ich auf die Idee, ein paar Wasserproben zu nehmen und untersuchen zu lassen.« Sie klopfte auf die durchnässte Ledertasche, die immer noch an einer Schnur um ihren Hals hing.

Giordino stand im Ruderhaus und blickte über die Schulter. »Wo möchten Sie abgesetzt werden?«

»So nahe bei diesem Windrad wie möglich.« Rondi deutete auf das Westufer des Stausees.

Giordino wendete das Boot und drosselte das Tempo, als die Wassertiefe abnahm. Als er den Seegrund sehen konnte, unterbrach er die Zündung, klappte die Propellerwellen hoch und ließ das Boot treiben, bis ein lautes Knirschen verkündete, dass es Grundberührung hatte. »So nah wie möglich. Näher geht’s nicht. Achten Sie auf Treibsand.«

Elise, Rondi und der Fischer bedankten sich, dann kletterten sie über den Bootsrand und wateten an Land. Elise blieb stehen, sobald sie den freigelegten Uferstreifen erreichte, und winkte dem NUMA-Boot, dann folgte sie ihren Leidensgenossen über fast fünfzig Meter Schlamm- und Sandwüste zum Festland.

Pitt und Giordino warteten, bis das Trio sicheren Grund erreicht hatte. Elise und Rondi wandten sich nach Süden, während sich der alte Fischer in nördlicher Richtung entfernte. »Sollen wir Feierabend machen?«, fragte Giordino mit einem prüfenden Blick zur Sonne, die mittlerweile dicht über dem Horizont stand.

»Natürlich«, sagte Pitt. »Kann gut sein, dass auch wir uns durch tiefen Morast wühlen müssen, wenn wir zum Kai wollen.«

Er ließ sich über den Bootsrand ins Wasser gleiten und schob das Boot in tieferes Wasser, während Giordino die Propeller wieder herunterklappte und die Motoren startete. Sobald Pitt wieder an Bord zurückgelehrt war und sie die Untiefen in Ufernähe hinter sich gelassen hatten, gab Giordino Vollgas. Aber schon nach kurzer Fahrt tippte Pitt ihm auf die Schulter.

»Schalt die Motoren aus!«, rief Pitt.

Giordino erfüllte ihm die Bitte augenblicklich. Das Boot, dessen Bug aufgrund seiner hohen Geschwindigkeit hoch aus dem Wasser ragte, sank langsam zurück, sobald die Motoren verstummten. Er wollte Pitt fragen, weshalb er die Heimfahrt unterbrochen hatte, als er es mit eigenen Augen sehen konnte.

Dort, wo sie Elise Aguilar und die anderen abgesetzt hatten, loderten Flammen, und schwarzer Qualm stieg zum Himmel. Außerdem hallte das stakkatohafte Knattern von Maschinenpistolen über den See.

Jemand griff das Lager der amerikanischen Landwirtschaftsexperten an.

4

Elise Aguilar und Rondi hatten den trockenen Uferbereich gerade erreicht und waren noch damit beschäftigt, mit Grasbüscheln den Morast von ihren Füßen abzuwischen, als eine laute Explosion die Erde erschütterte. Am fernen Rand eines angrenzenden Maisfeldes wallte eine pilzförmige Wolke schwarzen Qualms in die Luft.

»Das ist im Camp passiert«, sagte Elise. »Wir müssen uns beeilen.«

Sie rannte den Pfad hinunter, gefolgt von Rondi, der sich dicht hinter ihr hielt. Aber ihre Kräfte ließen nach den überstandenen Strapazen rapide nach, und als sie das Ende des Feldes erreichten, war sie völlig außer Atem. Der Anblick des Lagers, bis zu dem es nicht mehr weit war, versetzte ihr einen Schock und ließ sie abrupt stehen bleiben.

Das mit Palmwedeln bedeckte Schutzdach oder das, was davon noch übrig war, stand in hellen Flammen. Von den Sitzbänken und den Klapptischen mitsamt den Computern und den sonstigen Arbeitsutensilien waren nur noch verkohlte und schwelende Reste übrig. Fast alle in der Nähe aufgeschlagenen Zelte waren bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt.

Phil taumelte hinter einer der Zeltruinen hervor, seine Shorts und sein T-Shirt waren mit Brandflecken übersät. Blutflecken sprenkelten sein Gesicht, wo ihn herumfliegende Trümmer von der Explosion getroffen hatten. Er bemerkte Elise nicht, sondern hob eine Hand, als versuchte er, jemanden auf der anderen Seite des Camps aufzuhalten.

Zwei Gestalten standen jenseits des Kraters, den die Explosion hinterlassen hatte. Sie gehörten nicht zum Team der Entwicklungshelfer, und sie waren auch keine Dorfbewohner. Beide trugen dunkle Overalls, tief ins Gesicht gezogene Baseballmützen und schwarze Sonnenbrillen, die ihre Gesichter verbargen. Aber es war nicht ihre Kleidung, die Elise ins Auge fiel. Es waren die Sturmgewehre, die sie lässig in Hüfthöhe hielten.

Eine der Waffen spuckte Feuer, und eine blutige Naht legte sich quer über Phils Oberkörper. Der Wissenschaftler wurde zurückgeschleudert, stolperte über einen Zelthaken und stürzte zu Boden, wo er reglos liegen blieb.

»Phil!« Elise wollte ihm zu Hilfe kommen. Aber irgendetwas hielt sie auf. Es war Rondi, der ihren Arm packte und sie in die entgegengesetzte Richtung zerrte.

»Rennen Sie, Miss Elise, rennen Sie!« Der Junge zog sie hinter sich her, dann stieß er sie weiter in Richtung Maisfeld.

Benommen gab Elise seinem Drängen nach, machte kehrt und rannte auf das Maisfeld zu. Aus dem Augenwinkel nahm sie einen Lichtblitz auf dem Stausee wahr, aber dann fielen weitere Schüsse, und sie dachte nur noch daran, sich vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Sie und Rondi erreichten den dichten Wald voller grüner Maisstängel, als die erste Salve abgefeuert wurde. Rondi schubste sie weiter, während die Kugeln das Erdreich vor ihren Füßen aufwühlten. Dann fanden sie ihr Ziel.

»Schnell! Rennen Sie!«, keuchte Rondi, als ein halbes Dutzend Kugeln seinen Rücken zersiebte.

Elise spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Arm wie von einer zornigen Hornisse, während sie weiterstolperte. Sie sah, wie Rondis Knie nachgaben und er nur noch einen einzigen unsicheren Schritt machen konnte, ehe er zusammensackte. Sie rannte weiter, angetrieben vom Rattern der Maschinenpistolen und ihrem wild klopfenden Herzen. Für einen kurzen Moment verstummten die Schüsse, als einer der Schützen den Explosionskrater zur Hälfte umrundete und dann stehen blieb, um noch einmal zu feuern. Kugeln sirrten über Elises Kopf hinweg und zerhäckselten die noch unreifen Maiskolben in ihrer unmittelbaren Nähe.

Sie taumelte durch die Pflanzenreihen, vollkommen benebelt, während Blut an ihrem Arm herabsickerte. Sie war jetzt nicht in der Verfassung für eine Verfolgungsjagd, bei der sie das Wild war, das es zu erlegen galt. Als sie über einen schmalen Bewässerungsgraben sprang, entdeckte sie auf einer Lichtung einen Haufen getrockneter Maiskolben. Wie eine in die Enge getriebene Ratte wühlte sich Elise dort hinein, nahm eine fetale Haltung ein, machte sich dabei so klein wie möglich und erstarrte zu vollkommener Reglosigkeit.

Aus der Ferne drangen die Schreie ihrer Kollegen und Kolleginnen zu ihr, begleitet von weiteren Feuerstößen. Aber es war das Geräusch raschelnder Maisstängel in ihrer nächsten Nähe, das sie den Atem anhalten ließ. Jemand betrat mit schweren Schritten die Lichtung und hielt dann inne. Das Knistern von zertretenen Maiskolben verriet Elise, dass ihr potentieller Mörder den Maiskolbenhaufen umrundete.

Ein schriller Pfiff ertönte aus der Richtung des Camps. Ihr Verfolger zögerte, dann jagte er einen kurzen Feuerstoß in den Haufen. Er wartete einige Sekunden lang auf eine verräterische Reaktion, ehe er kehrtmachte und zum Camp zurückrannte.

Unter den Maiskolben hatte Elise Mühe, ein Zittern zu unterdrücken. Praktisch vor ihrer Nase waren einige getrocknete Stängel bei dem Feuerstoß zerbröselt worden. Irgendeine geheimnisvolle Macht hatte offenbar dafür gesorgt, dass sie nicht ernsthaft zu Schaden kam. Die Schritte hatten sich entfernt. Lauerte der Killer vielleicht im Schutz der Bäume? Sie konnte nichts anderes tun, als so still wie möglich liegen zu bleiben und sich auf kurze, flache Atemzüge zu beschränken.

Mehrere Minuten verstrichen. Sie hörte, wie der Motor eines Autos angelassen wurde. Dann entfernte sich das Motorgeräusch. Elise wartete noch einige weitere Minuten, dann begann sie, sich aus dem Haufen Maiskolben herauszuarbeiten. Schwindelig vom Blutverlust, kämpfte sie gegen eine drohende Ohnmacht an. Sie hatte sich schon fast ganz aus dem Abfallhaufen herausgegraben, als sie ein Rascheln vernahm. Sie wollte sofort wieder in ihre Deckung zurückkehren, aber es war zu spät.

»Elise?«

Sie wandte sich um und sah, wie Pitt auf die Lichtung kam. Mit wenigen schnellen Schritten war er bei ihr und zog sie vollends aus ihrem Versteck.

»Sieht so aus, als hätten Sie einen Kratzer abgekriegt.« Er riss sich sein Hemd vom Leib und wickelte es um ihren Arm, um die Blutung zu stoppen.

»Zwei bewaffnete Männer haben das Lager angegriffen«, sagte sie heiser. »Sie haben Phil und die anderen erschossen.«

»Wer waren die beiden?«

Elise schüttelte den Kopf, und ihre Augen wurden glasig. Pitt bückte sich, schob einen Arm unter ihre Achselhöhlen und hievte sie behutsam auf die Füße. Sie fand ihr Gleichgewicht wieder, und er geleitete sie zum Seeufer, wo nun auch Giordino erschien, nachdem er sich im Camp der Entwicklungshelfer umgesehen hatte.

»Hast du noch jemanden gefunden?«, fragte Pitt.

Giordino schüttelte bedauernd den Kopf.

»Rondi! Was ist mit Rondi?«, erkundigte Elise sich mit banger Miene.

Giordino blickte wortlos zu Boden.

»Oh nein …«, stöhnte sie, während ihr die Tränen in die Augen traten. Kraftlos lehnte sie sich gegen Pitt.

»Sie braucht ärztliche Hilfe«, sagte er. »Das Beste wäre, sie mit dem Boot so schnell wie möglich nach Suchitoto zu bringen.«

Elise schüttelte mühsam den Kopf. »Die Wasserproben.«

Pitt und Giordino musterten sie fragend, während sie sich die Schnur mit der Tasche über den Kopf streifte und sie Giordino reichte.

»Bitte nehmen Sie die Tasche an sich. Und bewachen Sie sie wie Ihren Augapfel.« Sie konnte das letzte Wort nur noch kraftlos hauchen, ehe sie ohnmächtig wurde und Pitt in die Arme sank.

* * *

Eine halbe Meile entfernt saß eine Frau auf dem Beifahrersitz eines schwarzen Jeeps, der mit laufendem Motor auf einer staubigen Landstraße stand, und beobachtete durch ein Fernglas das Geschehen auf der Lichtung.

»Offenbar sind sie keine Polizisten. So wie es aussieht, sind sie noch nicht mal bewaffnet.« Dann stieß sie einen Fluch aus. »Die Frau hat überlebt und ihnen gerade etwas übergeben … eine kleine Tasche.«

»Ich habe sie auf dem Maisfeld aus den Augen verloren«, sagte der Fahrer, ein Mann mit kantigem Kinn und kurz geschorenem schwarzen Haar. »Sie haben mich zurückgerufen, ehe ich sie aufstöbern konnte.«

»Ich habe einen Lichtblitz auf dem Boot gesehen. Ich dachte, sie gehörten zur Polizei.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich hatte mich getäuscht.«

»Wir haben immerhin ihre Computer – alle.« Er deutete mit einem Daumen über die Schulter. Auf dem Rücksitz stapelten sich von der Hitze verformte und teilweise geschmolzene Laptops. »Wenn es so wichtig ist, sollten wir zurückkehren und den Job beenden.«

»Dafür ist es jetzt zu spät. Sie kommen schon zum Boot zurück. Aber es scheint, als sei die Frau verwundet.«

»Es gibt nur einen Ort, wo sie ärztliche Hilfe bekommen kann. Suchitoto.«

»Ja.« Die Frau ließ das Fernglas sinken und nickte ärgerlich. »Aber wenn wir dort auf sie warten wollen, um sie gebührend zu begrüßen, sollten Sie jetzt lieber Gas geben.«

5

Von seinen beiden Außenbordmotoren, deren Propeller das Wasser mit höchster Drehzahl aufwühlten, vorwärtsgepeitscht, raste das Arbeitsboot mit knapp vierzig Knoten über den erheblich geschrumpften Stausee. Kurz nachdem Pitt sie an Bord des Arbeitsbootes gebracht hatte, hatte Elise das Bewusstsein wiedererlangt. Er öffnete einen Erste-Hilfe-Kasten und versorgte ihre Wunden mit Verbänden, während Al Giordino Kurs auf Suchitoto nahm und per Funk ärztliche Hilfe anforderte.

Wenige Minuten später erreichten sie das Seeufer vor der Stadt. Dank eines tieferen Kanals, der die Zufahrt zu dem Yachthafen der Stadt erlaubte, konnte Giordino das Boot nur wenige Meter von dem einsamen Pier entfernt auf Grund setzen. Pitt schwang sich über den Bootsrand hinaus, und Giordino reichte ihm Elise über die Reling. Er trug sie zum Holzpier, wo schon ein blassgrüner Pritschenwagen mit entsprechendem Aufbau und einem roten Kreuz auf der Hecktür bereitstand. Zwei junge Männer in weißen Leinenanzügen kamen Giordino mit einer Krankentrage im Laufschritt entgegen, betteten Elise darauf und luden sie in den Wagen.

Ehe der Fahrer sich hinters Lenkrad setzte, sagte Pitt zu ihm: »Sie braucht schnellstens einen Arzt.«

Der Mann nickte. »La clinica está justo en la ciudad.«

Pitt verfolgte, wie der Ambulanzwagen wendete, den schmalen Kai verließ und sich schwankend in Richtung Stadt entfernte. Was ihm allerdings vollkommen entging, war ein schwarzer Jeep, der in der Nähe des Piers versteckt hinter einem großen Bootsanhänger parkte. Ein dunkelhaariger Mann stieg aus, und dann folgte der Jeep dem Krankenwagen in die Stadt.

Giordino überquerte den Kai und klimperte mit den Zündschlüsseln des Arbeitsbootes, als er auf Dirk Pitt traf. »Ich hoffe, es hat sie nicht allzu heftig erwischt, und sie kommt bald wieder auf die Beine.«

Pitt nickte. »Sie hat offenbar ziemlich viel Blut verloren, aber ich glaube nicht, dass die Wunde lebensgefährlich ist.«

»Sie macht einen freundlichen Eindruck.«

»Wir können sie besuchen, nachdem wir das Boot zurückgegeben haben.«

Sie folgten einer Uferstraße, wo Anwohner jetzt mit großen Augen auf den Stausee starrten, dessen Wasserstand dramatisch gefallen war. Sie erreichten einen Holzbau am Seeufer und betraten ihn durch eine Tür, über der ein großes Schild verkündete DARIEN HOCH- UND TIEFBAU. Ein korpulenter Mann, der an einem überladenen Schreibtisch saß, legte soeben den Hörer des altmodischen Telefons auf die Gabel.