Politik macht Ohmacht - Stefan Blankertz - E-Book

Politik macht Ohmacht E-Book

Stefan Blankertz

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Beschreibung

Der Rechtspopulismus fordert die etablierte, konservativ gewendete Linke heraus. Dabei nutzt er Ideen, Konzepte und Taktiken, die die Linke ab den 1960er Jahren einsetzte, um die politische Macht zu erobern. Das vorliegende Buch analysiert die Scheingefechte der beiden Feinde der offenen Gesellschaft und legt Wert besonders darauf, auch die Vorgeschichte auszuleuchten, wie es zur Konstellation zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus gekommen ist.

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Inhalte

Vorab geklärt

I

Unterwerfung unters Verhängnis

II

Die anti-kapitalistische Mentalität

III

Das Lied der Linken. (Und der Rechten.)

IV

Dialektik der Freiheit: Aus den Gründungsakten der USA

V

Dialektik der Demokratie

VI

Von der Schuld der Unschuldigen

VII

Große Koalition gegen Toleranz

VIII

Ein hegelrechter Staat?

IX

Gegen das Elend im Sozialstaat

Anhang

Karl Marx, ein Freund des Kapitalismus?

Linksammlung

Schriftenreihe
Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik
in der edition g.
Stefan Blankertz
101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge
104 Das libertäre Manifest: Zur Neubestimmung der Klassentheorie
105 Pädagogik mit beschränkter Haftung: Kritische Schultheorie
106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele
107 Die Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie
109 Widerstand: Aus den Akten Pinker vs. Anarchy
108 Politik macht Ohnmacht: Demokratie zwischen Rechtspopulismus und Linkskonservativismus
110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt
111 Mit Marx gegen Marx
123 Die neue APO: Gefahren der Selbstintegration
Murray Rothbard
102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 1: Staat und Krieg
103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt, Band 2: Soziale Funktionen
Stefan Blankertz | 1956 | »Wortmetz« | promoviert in Soziologie, habilitiert in Pädagogik … Anarchist seit 1970. Seither Lyrik und Politik für Toleranz und gegen Gewalt.

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Stefan Blankertz
Politik macht ohnmacht
Demokratie zwischenRechtspopulismus undLinkskonservativismus
edition g. 108
originalausgabe
108 edition g.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand, Norderstedt
Copyright © 2017 Stefan Blankertz
Wollankstraße 133, 13187 Berlin
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7448-9221-6
»… ein abstrakter Frieden, der nach Beständigkeit in den Gewalten des Staates sucht, in der Politik, die durch Gewalt den Gehorsam gegenüber dem Gesetz sichert. Folglich ein Rückgriff der Gerechtigkeit auf die Politik, auf ihre Kunstgriffe und Listen: rationale Ordnung, die um den Preis der eigenen Notwendigkeiten des Staates erlangt wird, die in ihr impliziert sind. Diese bilden einen Determinismus, der so streng wie derjenige der gegen den Menschen gleichgültigen Natur ist, auch wenn anfänglich die Gerechtigkeit […] als Zweck oder Vorwand für die politischen Notwendigkeiten gedient hat.« Emmanuel Levinas 1985*
* Die Menschenrechte & die Rechte des jeweils Anderen, in: ders., Verletzlichkeit und Frieden: Schriften über die Politik und das Politische, Zürich 2007, S. 105. Die beiden ersten Sätze sind unvollständig und schließen an einen Ausruf an: »Bleibt nicht der Frieden, den [das durch Gerechtigkeit begrenzte Menschenrecht] errichtet, ein […] prekärer Frieden? Ein schlechter Frieden, aber gewiss besser als ein guter Krieg! Doch ein abstrakter …«
Vorab geklärt
1
Die Machtfrage. — »Je mächtiger der Staat, je politischer daher ein Land, um so weniger ist es geneigt, im Prinzip des Staates […] den Grund der sozialen Gebrechen zu suchen und ihr allgemeines Prinzip zu begreifen. Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er innerhalb der Schranken der Politik denkt. Je geschärfter, je lebendiger, desto unfähiger ist er zur Auffassung sozialer Gebrechen.« Karl Marx, 18441
2
Das vorliegende Buch ist ein Bericht aus meiner aktuellen Theoriewerkstatt. Ich bin damit befasst, drei Stränge der Theorie zusammenzuführen, die üblicherweise eher als getrennt, ja als gegensätzlich angesehen werden: Ludwig von Mises (1881-1973), Karl Marx (1818-1883), die mehr gemein haben, als Mises wahrhaben wollte und als Marxisten lieb ist,2 sowie Kurt Lewin (1890-1947),3 dessen Ansätze ich für geeignet halte, im Bereich der Psychologie das Programm der Praxeologie nach Ludwig von Mises umzusetzen. Die leitenden Gedanken des Buches verweisen auf Murray Rothbards (1926-1995) posthum erschienenes grundlegendesWerk zur politischen Zeitgeschichte der USA, »The Betrayal of the American Right«.4 Als Rothbard 1964 mit dem Slogan »beyond left and right« die libertäre Bewegung aus der Taufe hob, gab es bei der linken und rechten Opposition gegen das zentristische Establishment Anknüpfungspunkte. Heute scheint mir die Wendung »weder links noch rechts« und schon gar nicht auf halber Strecke zwischen diesen nahezu identischen Polen des Etatismus weitaus zutreffender zu sein. Die Gedanken formulierte ich zuerst in meinen Kolumnen für »eigentümlich frei« sowie Vorträgen der letzten Jahre.
3
Null Engels der Freiheit. — Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Bourgeoisie Europas sich in einem Akt politischer und ökonomischer Selbstvernichtung dem Staat überantwortet, von Karl Marx meisterhaft analysiert. Marxisten verbündeten sich, angeführt von dem »Realo« Friedrich Engels, mit den Staatssozialisten von Wilhelm Liebknecht.5 Aus der so entstandenen Sozialdemokratie gingen, wohlgemerkt, auch der Bolschewismus und Lenins »demokratischer [!] Zentralismus« hervor. Während die Liberalen im Bündnis mit den Konservativen sich im Besitz der Macht wähnten, standen die Anarchisten ohne Koalitionäre da, unterstützten dann ohne Begeisterung die (Staats-)Kommunisten, sogar noch nachdem die Bolschewisten sie in Russland in den Jahren 1917 bis 1922 liquidierten. Von Stalin 1936 in Spanien endgültig verraten, verloren sie sich in politischer Bedeutungslosigkeit. Wenn die Freiheit eine Zukunft hat, dann nicht im Verein mit dem Rechtspopulismus, für den der Abbau von Bürokratie dafür steht, dass er den Staat effizienter macht, also stärkt, sondern im Bund aus Anarchisten, Liberalen und Marxisten im Sinne des Anarchokapitalisten Karl Marx.6
4
Post coitum tristia: Anti-Kapitalisten sind täuschend echte Revolutionäre. Enttäuschend. — Fällt der Begriff Kapitalismus, beginnt ein Wortgeheul, in dessen Verlauf zahllose Beispiele der weltweiten Untaten von Staaten, staatlichen Armeen, staatlichen Geheimdiensten, staatlichen Institutionen, von staatlichen oder subventionierten und privilegierten Unternehmen wie etwa den Banken genannt werden, um das absolut Böse des Kapitalismus zu belegen. In der Umsetzung des Anti-Kapitalismus geht es dann regelmäßig darum, die türkischen Gemüsehändler per vorgehaltenen Maschinenpistolen dazu zu zwingen, ihren Angestellten den Mindestlohn zu zahlen oder den kriminellen Sumpf des Netzwerks von Nachbarschaftshilfe brachzulegen. Mit einem Verbot von Bargeld bekämpft man nicht die Rüstungskonzerne, die eh schon lange bargeldlos verkehren, sondern die Schwarzarbeit, die zahlreiche arme Familien ernährt. Stets und von Anfang an richtet Anti-Kapitalismus sich gegen die Armen, nicht gegen die Reichen. In der Ukraine hungern während des Holodomors 1931 nicht die Funktionäre. In Venezuela stehen 2017 nicht Erben von Hugo Chávez Schlange für eine Rolle Klopapier. Kein Randalierer bei einem Gxxl-Gipfel macht irgendwem mit Macht Kummer.
5
Apropos Venezuela. Sobald eine anti-kapitalistische Politik scheitert, macht man das »kapitalistische Ausland« hierfür haftbar. Augenscheinlich ist es erfolgreicher! Insofern das kapitalistische Ausland und der Weltmarkt selbst die anti-kapitalistischen Staaten aushungern können, die über viele Arbeitskräfte, fruchtbares Land und reiche Bodenschätze verfügen, ist es um die ökonomische und »verschwendungsfreie« Produktion in der Planwirtschaft des Anti-Kapitalismus schlecht bestellt. Die Versorgungsengpässe, die Anti-Kapitalisten dem Kapitalismus anlasten, haben sie selber produziert. ¿Hätten Anti-Kapitalisten recht, dass der Wohlstand sich von allein reproduziere, warum produzieren sie dann derartige Versorgungsengpässe? Der Kapitalist schafft sich ein wohlhabendes Umfeld, das ihn am besten gedeihen lässt. Der Anti-Kapitalist gedeiht am besten in der Armut, die er verschuldet. Anti-Kapitalismus wird im gleichen Maß populär, wie er stärker wird und mehr Menschen unter dem entmannten Markt leiden.
6
24. September 2017. — Im Westen nichts Neues. Mit Alternative, die keine ist, für Enttäuschtland … Exklusive Nichtwähler: Zweitstärkste Kraft, trotz beispielloser hate speech in sowohl den etablierten als auch den »alternativen« Medien. Stolze 24,4 Protzent (kaum weniger als die stärkste Partei).
7
Kein Spiel. — Das Spiel Monopoly versinnbildlicht perfekt den Anti-Kapitalismus: Es wird nichts produziert. Den Austausch erzwingen die Regeln gleichunwohl.
I
Unterwerfung unters Verhängnis
1
»Unterwerfung« lautet der Titel eines ebenso umstrittenen wie erfolgreichen Romans von Michel Houellebecq.7 Der Plot ist leicht skizziert: François, ein trostloser französischer Hochschullehrer, vegetiert zwischen wechselnden Affären mit Studentinnen des ersten Semesters, Suff und Lebensüberdruss vor sich hin. Außer François bleiben alle anderen Personen Randfiguren; selbst François – der Ich-Erzähler – zeigt wenig Kontur. Im Hintergrund seiner ausgedehnten Weltschmerz-Prosa zeichnet sich ab, dass Sozialisten und Linkskonservative den Präsidentschaftskandidaten von der Moslembruderschaft unterstützen. Nur auf diese Weise wäre zu verhindern, dass Marine LePen vom »Front National« die Wahl gewinne; und das gilt als der größte denkbare Schrecken. Sofort nach der Wahl treibt der neue Präsident, dem Wahlabkommen mit den Sozialisten und den Linkskonservativen Hohn sprechend, eine Islamisierung voran. Schlagartig ändert sich das soziale Klima, besonders augenfällig in der Bekleidung der Frauen. Die Hochschule, an der François lehrt, kaufen die Saudis auf. François wird von allen Lehrverpflichtungen entbunden, kriegt allerdings weiter sein Gehalt. Hinter der großzügigen Gewährung von Gehalt an freigestellte Dozenten vermutet er den Plan der neuen Machthaber, keinen Unmut unter den Akademikern hochkochen zu lassen. Am Ende dieses Romans erhält François durch den Rektor der Universität das Angebot, bei erheblich gesteigerten Bezügen wieder Professor zu werden, vorausgesetzt, er konvertiere zum Islam. Zuvor gehörte der Rektor den Identitären8 an und ist bereits zum Islam konvertiert, um sich im Amte zu halten. Der Roman endet offen, denn François stellt sich vor, wie sein Leben als Konvertit aussehen werde, alles in der Möglichkeitsform. Doch es findet sich kein triftiger Grund, warum er den Schritt zur Unterwerfung nicht tun sollte.
Islam als Aphrodisiakum? — Houellebecqs Roman sei eine in ihrer Radikalität nicht zu überbietende »Kritik am Grundprinzip der westlichen Kultur« schrieb der »Spiegel«.9 Doch was bildet den Maßstab für Houellebecqs Kritik? Der Maßstab findet sich nicht in der mangelnden Wehrhaftigkeit gegenüber dem Bestreben nach Unterwerfung durch den Islam. Denn wenn dies der Maßstab der Kritik wäre, müsste das Grundprinzip der westlichen Kultur ja gerade als bewahrenswert gekennzeichnet und könnte bloß bedauert werden, dass eben die Kraft zur Bewahrung erlahmt sei.
Ein solcher Maßstab jedoch lässt sich nicht aus dem Roman erschließen. Denn die Hauptfigur François lebt in einer Welt von größter äußerer und innerer Dürftigkeit; der Roman stellt François nicht als Ausnahme- oder Einzel-, vielmehr als Regelfall dar. Die westliche Freiheit, in der François lebt, genießt er nicht. Er und seine Kollegen beschäftigen sich mit gesellschaftlich belanglosen akademischen Fragen, die auch sie selber eher langweilen. Ihre Gehälter nehmen sie als gegeben, ohne erkennen zu geben, dass sie ihre ökonomisch privilegierte Position überhaupt wahrnehmen, geschweige denn schätzen. Auch fühlt sich keiner von ihnen zum Lehrer berufen. Die Beziehungen zu den Studentinnen prägt nicht ein pädagogischer Eros, sondern der sexuelle Überdruss und das lustlose Einerlei. Auch sekundären Lustgewinn wie etwa ein patriarchales Machtempfinden gegenüber Studentinnen oder Freude an dem gesellschaftlichen Status, ein Frauenheld zu sein, zieht jedenfalls François, soweit beschrieben, nicht aus seinen amourösen Abenteuern. Da fragt man sich doch, was ihn denn überhaupt antreibe. Ja mehr noch, vielfach wird wähnt, dass er eine Erektion habe. Wie mag das ohne Lust geschehen? Auf diese Frage bleibt der Autor uns die Antwort schuldig.10 Ich sehe nicht, woher François überhaupt sinnliche Energie beziehen kann. Als François nach seiner Beurlaubung von der Lehrtätigkeit keine Möglichkeit mehr hat, Beziehungen zu Studentinnen zu knüpfen, versucht er es mit Prostituierten. Irgendetwas muss ihm gefehlt haben.
Erst die Machtergreifung durch die Islamisten bringt wieder Bewegung in die Bude. Wenn er das Angebot annähme, nach vollzogener Unterwerfung unter den Islam wieder ein hoch dotierter Hochschullehrer und ein Ehemann etlicher junger Frauen zu werden, dann wäre es »die Chance auf ein zweites Leben«, lautet der vorletzte Satz des Romans. »Ich hätte nichts zu bereuen«, der letzte.11 Der, dessen Beziehungen zuvor als fast völlig wahllos beschrieben werden, macht im entscheidenden Gespräch mit dem Rektor der islamischen Universität darüber sich Sorgen, wie die Auswahl der zu Ehefrauen erklärten Gespielinnen von statten gehen möge, wo er doch die in Frage stehenden Frauen nur verhüllt zu Gesicht kriege. Die Frauen, nach der islamistischen Machtergreifung plötzlich devot geworden, wären »glücklich und stolz«, von ihm auserwählt worden zu sein, »sie wären es wert, geliebt zu werden. Und auch mir würde es gelingen, sie zu lieben.« Was will man mehr? Der Islam führt, buchstäblich über Nacht, wieder zu Leben, Lust und Liebe.
Status und Geld erhalten auf ebenso mystische Weise ihren Glanz zurück. Nach seiner Beurlaubung begegnet François seinem früheren Kollegen Steve. Steve war wohl ein Linker, denn am Beginn des Romans warnte er François vor dem Universitätsrektor Rediger; er sei einer der »Identitären«. Jetzt erfährt François, dass Steve sich unterworfen habe. François fragt Steve, warum; denn auch ohne Konversion würden die vollen Bezüge doch weiter gezahlt. Steve aber rechnet François vor, dass er nun das dreifache in der Tasche habe. Der Autor hatte aber nicht berichtet, dass einer seiner Protagonisten materielle Wünsche hege, die er aus Geldmangel sich nicht erfüllen konnte. Beim Universitätsrektor, dem zum Islam konvertierten ehemaligen Identitären, liegt das materielle Motiv zwar weniger deutlich zu Tage; jedoch tritt es sicherlich hinzu zu dem Motiv, im Islam schließlich seine Identität und seine Heimat gefunden zu haben.
Sogar ihre jeweiligen Themen können die Wissenschaftler nach der islamischen Wende ungehindert weiterverfolgen, sofern sie sich dem Islam unterwerfen. François findet inzwischen offenbar gewisse Lust an seinem Thema. Soweit er zu einer emotionalen Reaktion fähig ist, zeigt er sich erfreut, als er (noch vorm Angebot, nach vollzogener Unterwerfung wieder als Professor tätig sein zu können) den Auftrag erhält, eine wissenschaftliche Edition des Schriftstellers zu betreuen, mit dem er sich sein Leben lang beschäftigt hat, der ihm jedoch während der Zeit der noch intakten westlichen Kultur vorgeblich so wenig Befriedigung verschaffte.
Nocheinmal: Was könnte Houellebecqs Maßstab der Kritik sein, wenn wir »Unterwerfung« nicht als eine Apologie des Islams, als eine insgeheim islamistische Utopie lesen wollen? Eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln in einer repressiven Religion käme in Frage, weil die westliche Kultur nichts als Dekadenz und Lebensüberdruss hervorbringe. Als Alternative für Frankreich stünde da der Katholizismus bereit. Dass dann unter dem Regime einer Zurückgekehrten christlichen Staatsreligion ein Buch wie das von Houellebecq, in welchem es von heute bloß noch kaum tabuisierten Worten wimmelt, der Zensur ebenso anheimfallen würde wie unter einem islamischen Regime, das versteht sich von selber.
Oder ist »Unterwerfung« in der Tat eine islamische Utopie? Als völlig unrealistisch empfinde ich, dass die Islamisierung anscheinend sich ganz ohne jeden Widerstand vollzieht. Über Nacht fügen sich Frauen, ja offensichtlich alle Frauen in Frankreich den neuen Bekleidungsvorschriften, der Verhüllung, der Polygamie, dem Hinausdrängen aus Beruf und Alltag. Das ist allerdings das kleinere Mysterium am Ende des Romans. Denn die fast fünfzig Prozent der Wähler, die den »Front National«, also Marine LePen gewählt haben, leisten auch nicht im geringsten Widerstand. Kann man das anders erklären als: Houellebecq geht von einem Islam aus, der so attraktiv ist, dass er nicht bloß Feministen und Sozialistinnen verzaubert, vielmehr auch die Herzen der Identitären und Nationalisten im Sturm erobert. Die einzige Erwägung, dass es zu Widerstand kommen könnte, steht im Zusammenhang mit der Bezahlung der Hochschullehrer. Die vom Amt entfernten Professoren kriegen ihr Gehalt weiter, damit sie nicht zu Speerspitzen des Widerstands werden. Ob diese Angst der neuen Machthaber überhaupt begründet ist, bezweifelt François. Aber es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Alle anderen unterwerfen sich von selber dem anscheinend ach so herrlichen Islam. Dass das als »Islamkritik« dient, bezeichnend, bezeichnend …
2
»Wir schaffen das!« — Houellebecq hat aber bloß die halbe Story erzählt. Es fehlt die Vision, was geschehen wäre unter einer Präsidentin Marine LePen.12 Ich präsentiere in einer Fiktion nun diese andere Seite, garantiert nicht in Romanlänge, und der Einfachheit halber spielt meine Episode in Deutschland und nicht in Frankreich.
Unmittelbar nach der Bundestagswahl findet ein verheerender islamistischer Anschlag mit vielen Toten statt. Ausgeübt wurde er durch eine Gruppe Migranten, die sich illegal in Deutschland aufhielten. Aber nicht nur das. Es stellt sich heraus, dass die islamistische Gruppe ihre Waffen dadurch erbeutete, dass sie vorher Besitzer von legal registrierten Waffen überfallen hatte. Völlig folgerichtig ist also die erste Maßnahme, um den Terrorismus zu bekämpfen, welche die neue Regierung ergreift, ein sofortiges und ausnahmsloses Verbot jeglichen privaten Waffenbesitzes. Denn es leuchtet ja jedem Kind ein, dass das Attentat nicht hätte stattfinden können, wenn die bestohlenen Personen keine Waffen zu Hause gehabt hätten. Die Toten des Attentats sind »ihre Toten« oder »die Toten des liberalen deutschen Waffenrechts«, wie es unisono heißt. Einem Gesetz zum totalen Waffenverbot stimmen fast alle Abgeordneten zu; Gegenstimmen gibt es selbstredend keine, nur ein paar verschämte Enthaltungen. Die Namen derer, die sich enthalten haben, werden ruchbar. Sie gehören der oppositionellen »Linken« und der in der Regierungskoalition beteiligten FDP an. In der Presse und in den sozialen Medien überhäuft man diese Islamapologeten, Terroristenhelfer und Volksverräter, gar Mörder, mit Diffamierungen; in der Öffentlichkeit werden sie angespuckt; sie erhalten Morddrohungen. »Wir schaffen das!«,13 zitiert die neue Bundeskanzlerin ihre Vorgängerin verschmitzt lächelnd, »obwohl uns einige wie diese Abweichler Steine in den Weg legen. Den Terrorismus werden wir besiegen und mit Stumpf und Stiel ausrotten.« Ab sofort gilt jeder als illegaler Migrant, der nach dem 01. 01. 2015 deutschen Boden betreten hat.
Das ist natürlich erst der Anfang. Jedermann sieht ein, dass es absolut notwendig zur Bekämpfung des Terrorismus ist, den Sumpf der Illegalen trocken zu legen. Verschärfungen des Melderechts und Kontrollen der Personalien bei jedem Betreten eines Einkaufszentrums sind da Ehrensache, gegen die niemand einen Widerspruch geltend macht. Weil die Attentäter ihre Aktion per Kommunikation mit anonymen Prepaid-SIM-Karten koordinierten, ist es das mindeste, jede Möglichkeit anonymer Kommunikation zu verbieten.
Allerdings gibt’s da draußen in unserm schönen Burgunderland, also »mitten unter uns«, einige gierige Kapitalisten, die die Illegalen ausbeuten, sie schwarz arbeiten lassen, und zwar, Gipfel ihres verbrecherischen Wirkens, zu Entgelten unterhalb des Mindestlohns. Eine landesweite Polizeiaktion gegen die Ausbeuter setzt diesem Treiben ein Ende. Andere unpatriotische Elemente unterstützen, wie der Staatsschutz ermittelt, Illegale mit Spenden. Was liegt da näher, als umgehend den Gebrauch von Bargeld zu verbieten, das einer solchen Form der Finanzierung des islamistischen Terrors Vorschub leistet? Sachspenden und Essenseinladungen sind nur im engen Familienkreis erlaubt. Niemand kann sich der Einsicht in die Weisheit dieser Maßnahme entziehen.
Ihrer Möglichkeit beraubt, sich zu ernähren, suchen viele der Illegalen, die der Polizei noch nicht ins Netz gegangen sind, in Kirchen Zuflucht, um ihrer Abschiebung zu entgehen. Ohne das Kirchenasyl aufzuheben, wird es also nicht möglich sein, dass wir über den Terrorismus triumphieren. Seitdem patrouilliert Polizei rund um die Uhr in Kirchen und auf kircheneigenen Grundstücken. Zunächst regt sich auch kein Widerstand gegen diese Maßnahme. Als jedoch Berichte durchsickern, dass Abgeschobene in ihren Heimatstaaten hingerichtet wurden, droht die Stimmung zu kippen. Kirchenvertreter protestieren gegen die permanente Anwesenheit von Polizisten ihn ihren Räumen. Ihnen schließt sich der Papst an. Daraufhin erhält er eine harsche Note der Bundesregierung, er möge sich nicht einmischen; außerdem fragt sie süffisant, wievielen Muslimen er wohl im Kirchenstaat Asyl gewährt habe? Man würde alle in Deutschland lebenden Muslime gern ihm überstellen. Die Süffisanz nutzt nichts. Piloten weigern sich, Flugzeuge mit abzuschiebenden Personen unter den Passagieren zu starten. In ihrer Not trommelt die Bundesregierung die Vertreter von Presse und sozialen Medien zusammen, um sie zu »bitten«, die Verbreitung »postfaktischer Nachrichten« zu unterlassen; sich auf solche »Fake News« beziehende »Hate Speech« sei in allen Kommentaren und Posts zeitnah zu löschen.
An der Vertrauenskrise, die den Nachrichten über die Hinrichtungen aus Deutschland abgeschobener Flüchtlinge in ihrer Heimat folgte, sieht die Bundesregierung, dass sie über die Sofortmaßnahmen hinaus sich auch den Fundamenten widmen muss. Flugs wird ein verpflichtendes Fach »Staatsbürgerkunde« eingerichtet; dies Fach aber unterliegt nicht dem bildungspolitischen Föderalismus, vielmehr gehen die Lehrpläne sowie die Überwachung ihrer Umsetzung direkt von dem Familienministerium des Bundes aus. Alle Schulen, auch die privaten, müssen das Fach in der vorgeschriebenen Weise und im vorgeschriebenen Umfang unterrichten. Zudem stärkt die Bundesregierung energisch den Kampf gegen das Schwänzen. Bis zum Alter von 12 Jahren werden bei Verstoß gegen die Schulpflicht die Eltern, dann die Jugendlichen selber mit empfindlichen Strafen belegt. Darüber hinaus wird Deutsch als Umgangssprache vorgeschrieben, auf dem Pausenhof ebenso wie zu Hause am Mittagstisch. Das Denunziantentum blüht.
Als Berater der Regierung für den Bereich »Kampf gegen den Islamismus« fungierte übrigens anfangs auch ein bekannter arabischer Islamkritiker. Als »durchsickert«, dass er nicht »nur« Araber ist, sondern auch als Muslim geboren wurde, da muss er abdanken und wird deportiert. In seinem Heimatland exekutiert man ihn postwendend. Darüber aber berichten die deutschen Medien nicht, um keine Unruhe in die Bevölkerung zu bringen.
Der Versuch der Bundesregierung, die nach ihrer Definition illegalen Migranten in die sicheren Nachbarländer, über die sie nach Deutschland gelangt sind, abzuschieben, wird von diesen binnen kurzer Zeit blockiert, indem sie ihrerseits die Grenzen nach Deutschland hin schließen. An den Grenzen entstehen Lager. In diesen Lagern kursieren Drogen und, allen Verboten zum Trotz, Waffen, in ihnen herrscht eine polizeilich geduldete islamistische Mafia, von ihnen strahlt Kriminalität in die Umgebung aus. Da die Lagerbewohner jeglicher Hoffnung beraubt sind, gelingt es durch keinerlei Strafverschärfungen, sie irgendwie zu disziplinieren.
All diese von der Bundesregierung ergriffenen Maßnahmen zusammengenommen führen zu schweren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen. Immer mehr Menschen, besonders diejenigen, die es sich leisten können, vor allem die gut ausgebildet sind, verlassen Deutschland. Diese Undankbaren nehmen, wie es aus Regierungskreisen verlautet, ihre ihnen von uns in Deutschland geschenkte Ausbildung mit. Schließlich muss gegen solch einen Exodus, gegen solch ein Ausbluten des deutschen Volks eine Mauer gebaut werden. Nun entsteht der weltberühmte »anti-islamistische Schutzwall«.14
An dieser Stelle höre ich auf, denn natürlich hat niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen, und überhaupt, es gibt ja wohl keinen Staat der Welt, der eine Mauer baut, um die eigenen Leute daran zu hindern, Republikflucht zu begehen, schon gar nicht einer, der einstmals hier auf treudeutschem Boden geherrscht hat. Doch eins gilt es noch nachzutragen in der skizzierten Geschichte. Bei den ganzen Anstrengungen um Grenzschließung, Re-Migration illegaler Ausländer, Durchsetzung der Verbote von Waffen und Bargeld und so weiter ist versäumt worden, dass man die Attentäter dingfest macht, die den Politikwechsel in Deutschland schließlich auslösten. Sie entfleuchten in ihre Heimatländer, wo die Gesinnungsgenossen sie als Helden feiern. Die Bundesregierung sendet einen diplomatischen Protest, geharnischt, aber ohne jede Bedeutung. Und wenn sie nicht gestorben ist, regiert sie uns noch heute & bis ans Ende aller Tage.
3
Der Teufel zieht Grenzen. — In den gegenwärtigen Debatten um die Migrationspolitik werden von denen, die für eine Schließung der Staatsgrenzen eintreten, eine große Zahl von unterschiedlichen Argumenten genannt, aber es gibt ein gemeinsames Vielfaches, das sich in fast allen Argumenten wiederfindet. Und das gemeinsame Vielfache in den Argumenten für geschlossene Staatsgrenzen ist der Verweis auf die Folgen der ungehinderten Migration unter den gegebenen Bedingungen. Diese »gegebenen Bedingungen« werden als, realistisch betrachtet, unveränderlich proklamiert bis eben auf den einen Punkt, nämlich dass es sehr wohl durchsetzbar sei, die Staatsgrenzen zu schließen. Jeder Gegner von geschlossenen Staatsgrenzen gerät durch jene Argumentation mit den angeblichen Folgen von Migration in die missliche Lage, sich ständig verteidigen zu müssen mit Floskeln wie »das will ich ja auch nicht«, »nein, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt« oder ähnlichen Formulierungen.
Mit meiner kurzen Geschichte einer Grenzschließung und weiteren drastischen staatlichen Maßnahmen, die angeblich geeignet seien, den Terrorismus zu bekämpfen, drehe ich den Spieß herum. Sicherlich haben sich während des Lesens die Protagonisten geschlossener Staatsgrenzen ständig gedacht, »das will ich ja auch nicht«, »nein, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt« oder ähnliche Formulierungen. Aber es kommt, realistisch betrachtet, gar nicht darauf an, was der eine oder andere, der es gut meint, will oder sich vorstellt. Mit Absicht habe ich in meiner Geschichte anders als in Houellebecqs Roman mit keinem Wort erwähnt, welche Parteien an der Koalition der Regierung beteiligt sind. Ich halte jede im Bundestag vertretene und in den Bundestag strebende Partei für fähig, einen solchen Plan zu realisieren. Alle einzelnen Maßnahmen in meiner Geschichte wurden bereits in Staaten realisiert oder zumindest von wichtigen politischen Kräften vorgeschlagen. Sie ist in keiner Hinsicht phantastisch oder an den Haaren herbeigezogen.
Die staatliche Repression entwickelt sich in einer Logik, die von den Intentionen derer, die bei der Lösung sozialer Probleme auf den Staat hoffen, gänzlich abgetrennt ist, ebenso von Wahlprogrammen oder Bekenntnissen der jeweiligen politischen Lager. Jedes Problem, das der Staat lösen soll, dient ihm zur Verschärfung der Repression. Dies kann gar nicht anders sein, denn das Wesen des Staats ist die Gewaltausübung.
Der Zirkel der Repressionssteigerung läuft folgendermaßen ab: Man diagnostiziert ein »gesellschaftliches Problem«. Schnell wird klar, dass es ein Problem ist, das der Staat selber geschaffen hat oder jedenfalls bisher mit politischen Mitteln nicht hat lösen können. Diejenigen, die das infrage stehende Problem betrifft, und alle, die über das Problem empört oder, wie man heute sagt, aufgrund des Problems »besorgt sind«, üben nun in kritischer Distanz zu den gegenwärtigen Vertretern des Staats Druck aus. Bei diesem Druck bedienen sie sich klarerweise politischer Mittel; was sollen sie denn sonst tun? Mit zunehmendem Erfolg beeinflussen sie eine bestehende Partei oder gründen eine neue Partei. Sobald die Partei an der Ausübung der politischen Macht in einer Koalition beteiligt ist oder gar die politische Macht allein inne hat, verflüchtigt sich die vormalige Distanz zum Staat, weil man ihn ja jetzt nutzen kann, um die eigenen, selbstredend richtigen Vorstellungen gegen Widerstand durchzusetzen. Die Durchsetzung des oppositionellen Programms gestaltet sich nahezu immer so, dass zu allen bestehenden Repressionen, die die Staatsgewalt eh schon ausführt, neue hinzutreten, und das ganz unabhängig davon, ob das Programm der Opposition die Aufhebung bestimmter alter Repressionen enthalten hat oder nicht. Der Mechanismus dahinter ist: Die Aufhebung irgendeiner bestehenden Repression, die die Vorgänger an der politischen Macht durchgesetzt haben, würde deren Pfründe auf eine Weise schmälern, dass schärfster Widerstand zu erwarten wäre. Auf jeden Fall ist der leichtere Weg für die neuen Machthaber, diese Pfründe so wenig wie möglich anzutasten. Meist erfordert das bestehende »Gleichgewicht der Macht« eine solche Rücksichtnahme auf die Pfründe der Gegner. Es gibt nur einige Beispiele von echtem Staatsabbau durch politisches Handeln, und sie fanden in Situationen statt, in denen es für die Aufrechterhaltung der bestehenden staatlichen Struktur unbedingt notwendig war, einen Abbau des Staats herbeizuführen.
Angetrieben wird der Zirkel der politischen Repressionssteigerung durch das, was der »Zeitgeisterjäger« Matthias Heitmann Alarmismus nennt.15 Natürlich ist das Grundmuster des Alarmismus die politische Instrumentalisierung des Klimawandels: Die Welt stehe am Abgrund und wer jetzt nicht sofort und kopflos sich auf die richtige Seite stelle, der beschleunigt den Untergang. Doch der Rechtspopulismus16 benutzt genau das gleiche Muster, bloß eben bezogen auf einen anderen Inhalt: Der Bestand der Sozialsysteme oder gar des eigenen Volks stehe wegen der Masseneinwanderung auf dem Spiel und ein jeder müsse jetzt Farbe bekennen; alle anderen seien Volksverräter. Nun wird bei klarem Kopf wohl niemand an der Auffassung festhalten, dass kopfloses, von Angst getriebenes Verhalten ohne Sinn und Verstand dazu geeignet sei, die besten Lösungen hervorzubringen, ja überhaupt Lösungen umzusetzen; wahrscheinlich ist es eher so, dass die Probleme auf die eine oder andere Weise verschärft werden. Insofern verursacht der Alarmismus genau das, vor dem er Angst schürt.
4
Die Sozialfalle: Anti-Kapitalismus ist die primäre Ursache für Armut. — Der Wirtschaftsflüchtling wird so gehasst, dass jene, die für offene Grenzen, für Asylrecht und für die Aufnahme von Flüchtlingen eintreten, immer wieder beteuern, die zu uns kommenden Menschen befänden sich bloß zu einem geringen Teil aus wirtschaftlichen Gründen auf der Flucht. Nein, sie seien »echte« Flüchtlinge, aus legitimen Gründen. Die Ursachen für ihre Flucht seien politische oder religiöse Verfolgung oder Krieg in ihrer Heimat.
Dabei ist der abwertende Begriff »Wirtschaftsflüchtling« relativ neu. Bis lange nach dem zweiten Weltkrieg war klar, dass vornehmlich die wirtschaftlichen Nöte die Migrationsbewegungen antreiben.Ein kleinerer Teil derjenigen, die ihr Land verlassen, flieht vor unmittelbarer politischer oder religiöser Verfolgung. Die Gründe für eine ganze Landstriche oder Nationen befallende Not wurden und werden immer noch meist natürlichen Ursachen wie Missernten und Dürre zugeschrieben. Allerdings gab es besonders bei Flüchtlingen aus den sogenannten »Ostblockstaaten«, allen voran bei Flüchtlingen aus der DDR, und bei den sogenannten »Spätaussiedlern«, die aus der ehemaligen UdSSR stammten, ein deutliches Gespür für den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wenige der vor dem Kommunismus hinter dem Eisernen Vorhang flüchtenden Menschen waren persönlich von politischer Verfolgung betroffen. Die meisten suchten nach wirtschaftlicher Freiheit, entweder hauptsächlich oder zumindest zusätzlich zur politischen Freiheit. Dass fehlende wirtschaftliche Freiheit zu Mangel, oft auch zu Not und Elend führen, war bezogen auf den (Staats-)Kommunismus eine anerkannte Tatsache. Stellen wir uns vor, DDR-Flüchtlinge oder Spätaussiedler seien in der Bundesrepublik Deutschland mit den folgenden Parolen empfangen worden:
»Ihr seid doch selber daran schuld, dass es euch so schlecht geht. Warum habt ihr eure Regierung denn nicht schon längst zum Teufel gejagt?« — »Politisch Verfolgte? Macht uns nichts vor. Ihr habt West-Fernsehen geguckt und gehört, dass ihr hier Begrüßungsgeld und andere Vergünstigungen kriegt. Nur zum Abkassieren seid ihr gekommen.« — »Was kommt ihr hier her zu uns. Bleibt lieber zu Hause und sorgt dort dafür, dass sich die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse bessern!«
Schauen wir uns nun die Länder an, aus denen die meisten Flüchtlinge derzeit stammen, dann wird schnell erkennbar, dass der Zusammenhang von fehlender Freiheit und wirtschaftlicher Not nach wie vor gültig ist. In Syrien und Irak leiden die Menschen nicht nur unter einer verfehlten Interventionspolitik der Weltpolizisten USA und Russland sowie unter der Geißel des Islamismus, sondern auch unter den Spätfolgen der staatssozialistischen Regime von Baschar al-Assad17 und Saddam Hussein.18 Bezogen auf die Länder des ehemaligen Ostblocks stammen die meisten Flüchtlinge aus denen, in denen nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums die Wirtschaftsliberalisierung am wenigsten gelungen ist.
Erst in den späten 1970er Jahren kam der nun abwertende Begriff des »Wirtschaftsflüchtlings« auf. Zwar wurde er hin und wieder bereits in der »Abstimmung mit den Füßen«, der Fluchtbewegung aus den kommunistischen Staaten, verwendet, er erlangte allerdings nicht die Suggestivkraft, um die Aufnahme der Flüchtlinge zu stigmatisieren, denn, wie gesagt, es gab bei vielen Bundesbürgern ein lebendiges Bewusstsein davon, dass die wirtschaftlichen Probleme im Ostblock politische Ursachen hatten. Nun jedoch, in den späten 1970er Jahren, fanden die Flüchtlinge aus der Dritten Welt leider eine ganz andere Situation in der Bundesrepublik vor. Es zeigten sich die ersten wirtschaftlichen Wirkungen einer sozialdemokratischen Politik,19 die die ohnehin bereits beschnittene wirtschaftliche Freiheit immer noch weiter durch Interventionen reduzierte. Der wirtschaftspolitische Interventionismus führt als erstes stets dazu, dass die Wirtschaft nicht mehr fähig ist, neue Arbeitskräfte aufzunehmen. Es ist klar, dass von diesem Moment an es für die Politik zur ent-
scheidenden Aufgabe gehört, das Angebot an Arbeitskräften konstant zu halten – oder besser noch: leicht rückläufig zu gestalten. Migranten stören dies ökonomische Kaltkühl. Um dennoch als human und mitfühlend gelten zu können, musste genau zu diesem Zeitpunkt zwischen den relativ wenigen politisch Verfolgten sowie der Masse der Wirtschaftsflüchtlinge unterschieden werden. Wirtschaftsflüchtlinge werden zu Betrügern gestempelt, die das Asylrecht missbrauchen.
Gunnar Heinsohn kommt das zweifelhafte Verdienst zu, die Auswirkungen der inflexiblen interventionistischen Wirtschaftspolitik zu einer Art Naturgesetz erhoben zu haben. Er spricht von der Gefahr einer »Jugendblase« (youth bulge). Sein »Kriegsindex«20 misst das Verhältnis von 55- bis 59-jährigen Männern, die sich der Rente nähern (mithin »eine Position frei geben«), zu den 15- bis 19-jährigen Männern, die den Lebenskampf aufnehmen. Je größer der Überhang von jungen Männern – eben die »youth bulge« – in diesem Index, umso höher steigt die Kriegsgefahr (sowie der Druck zur Migration).
Schon allein die Formulierung, ein alter Mann »macht eine Position frei«, spricht Bände. Sie setzt nämlich voraus, dass es eine festgelegte Zahl von »Positionen« (Arbeitsplätzen) gebe. Wer legt sie fest? Der liebe Gott? Der Kapitalismus des 18. und 19. Jahrhunderts hat eine »youth bulge« mit Arbeit, Einkommen, Positionen sowie mit Wohlstand versorgt, die den Index von Heinsohn nachgerade sprengen würde. Also, wenn wir schon vereinfachen wollen, dann bitte nicht nach den Ideen von Gunnar Heinsohn, sondern nach denen von Hernando de Soto: Die Sicherheit des Eigentums ist Indikator dafür, ob Menschen Wohlstand produzieren können, das heißt, ob sie für sich eine lohnende Zukunftsperspektive in einem produktiven Leben sehen.21 Je geringer die Sicherheit des Eigentums, um so attraktiver werden andere Formen der Sinnfindung, wie etwa das Ausweichen auf politischen oder religiösen Fanatismus und Migration.
Dass dann vor allem junge Männer sich auf den Weg begeben, sei es in die Ferne, sei es in den Terrorismus, hat den Grund darin, dass sie zum einen beweglicher sind, hungriger nach Sinnfindung, und zum anderen noch keine familiäre Verantwortung tragen. Dennoch liegt ihre Bewegung nicht in ihrer Natur oder ihrem Übergewicht gegenüber den Alten einer Region, vielmehr in mangelnder Aufnahmefähigkeit der Wirtschaft für ihre Kraft und ihre Imagination. Anti-Kapitalisten aber glauben, dass Zwang produktiver sei und die Produkte gerechter verteile als Freiwilligkeit. Was für ’ne öde Utopie!
5
Vorsicht! Anarchistische Gewalttäter! — »Ludwig von Mises war kein Anarchist.« 1979 hielt Peter Muthesius es für notwendig, dies in einem 1seitigen Vorwort zur Neuauflage von »Die Wurzeln des Anti-Kapitalismus« als ersten Satz zu betonen.22 1979, sei erinnert, war der »Deutsche Herbst ’77« gerade erst frisch vorüber. Unter »Anarchisten« fasste die Öffentlichkeit die Mitglieder der marxistisch-leninistischen Terror-Organisation »Rote Armee Fraktion« (»RAF«).23 Kaum jemand kannte Ludwig von Mises, und wer von ihm gehört hatte, hätte einen konsequent liberalen Ökonomen in Deutschland damals wohl gewiss nie als »Anarchisten« identifiziert. Jene Bemerkung von Muthesius im Vorwort drückte eine Angst vor einer Entwicklung aus, die sich noch gar nicht auf Deutschland bezog. In den USA nämlich entwickelten eine Reihe von Mises-Schülern, unter ihnen ganz besonders Murray N. Rothbard, dessen Lehre zum Anarchokapitalismus weiter: Wenn, so die These, es keinen Platz für den Staat in der Wirtschaft gebe und die freie Wirtschaft alle Güter in der Lage sei, effektiv und bedürfnisgerecht zur Verfügung zu stellen, wie Ludwig von Mises es ihnen gelehrt hatte, dann ergibt hieraus sich politisch, dass es keinen Platz für einen Staat im gesellschaftlichen Leben allgemein geben könne.
Kein Zweifel, Ludwig von Mises selber verstand sich in der Tat nicht als Anarchist. Er distanzierte in einigen wenigen Bemerkungen24 sich ausdrücklich von dem ihm bekannten Anarchismus, nämlich dem europäischen kollektivistischen Anarchismus.25 In einigen wenigen Bemerkungen beteuerte er gar die Notwendigkeit des Staats.
Der »Zwangs- und Unterdrückungsapparat«26 des Staats, sagt Mises aber 1927 in dem Essay »Liberalismus«, müsse »zum Liberalismus durch die Macht der einmütigen Volksüberzeugung gezwungen [!] werden«.27 Ohne Widerstand regiert Gewalt unangefochten. Widerstand ist aller Ethik Anfang. Allerdings, »Liberalismus« ist jenes Buch, in dem er die unglückliche Bemerkung fallen ließ, der italienische Faschismus habe die »europäische Gesittung« gerettet;28 eine Einschätzung, die er 1944 revidierte (wenn auch etwas halbherzig).29 Und in dem er zugleich das uneingeschränkte Sezessionsrecht forderte. Allein dies ist eine bemerkenswerte Konstellation, denn offensichtlich hat der Faschismus nie sich zum Sezessionsrecht bekannt. Mag es faschistische Kräfte geben, die in einer konkreten historischen oder geografischen Konstellation irgendeinen Landesteil abspalten wollen, entweder weil das Land von verschiedenen Völkern bewohnt wird oder weil sich ihr Einfluss bloß regional erstreckt, niemals aber in der Weise, dass Sezession als Recht eines »jeden beliebigen Dorfes« angesehen wird, wie Mises es konzipiert.30
Realpolitisch also passte im Buch »Liberalismus« von 1927 einiges nicht zusammen. Denn der italienische Faschismus war bereits 192731 eine Bewegung der Staatsgewalt und als solche gedacht. Er ließ keinen Raum für die Formierung der »einmütigen Volksüberzeugung«, welche den Staat auf ein liberales Maß zurechtstutzen könnte, worauf Mises hoffte. Die einmütige Volksüberzeugung, auf die der italienische Faschismus sich bezog, war die Existenz eines nicht durch liberale »Rücksichtnahmen« behinderten Staats. Und ganz sicher duldete er keinerlei Sezessionsbestrebungen irgendeines Teils der Nation. 1944 rechnete Mises in »Omnipotent Government« mit dem Totalitarismus ab. Zu den Konzepten des totalen Staats zählte er nun neben dem sowjetrussischen Kommunismus und dem großdeutschen Nationalsozialismus den italienischen Faschismus. Jedoch kennzeichnete er diesen unter den dreien als einen weniger totalitären.
Der Staat sei, so Mises 1944, »das nützlichste Instrument im menschlichen Streben nach Schaffung des Glücks für den Menschen«,32sofern er vor dem Wuchern bewahrt werden könne. Das »nützlichste Instrument« steht in der klassisch liberalen Konzeption für Nachtwächterdienste: Der Staat macht nichts weiter, als Freiheit und Eigentum zu schützen. Auch 1944 bleibt Mises – wie bereits 1927 – die Antworten schuldig,
1) warum der Staat über die Funktion als Nachtwächter hinauswächst und
2) wie, d.h. mit welchen Mitteln, er auf seine Nachtwächterdienste zu beschränken sei.
Obzwar Mises dem Wortlaut seiner Texte nach tatsächlich nicht Anarchist war, steht doch ganz deutlich geschrieben, dass er die Verhinderung von Migration durch Grenzschutz nicht zu den Aufgaben des Nachtwächterstaats zählte: »Die Versuche, die Politik der Einwanderungsbeschränkung vom wirtschaftlichen Standpunkt aus zu rechtfertigen«, schrieb er 1927,33 »sind von vornherein ganz aussichtslos. Die Einwanderungsbeschränkungen verringern, darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen, die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit. Wenn die Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten oder in Australien die Einwanderung behindern, so kämpfen sie nicht nur gegen die Interessen der Arbeiter der übrigen Länder der Erde, sondern auch gegen die Interessen aller übrigen Menschen, um sich einen Sondervorteil herauszuschlagen. Dabei bleibt es noch durchaus ungewiss, ob nicht die Steigerung der allgemeinen [sic] Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit, die durch die Herstellung der vollen Freizügigkeit bewirkt werden könnte, so groß wäre, dass sie auch für die Mitglieder amerikanischer und australischer Gewerkschaften die Einbuße, die sie durch Zuwanderung der fremden Arbeiter erfahren könnten, vollkommen wettmachen müsste.«
Nun pflegen die heutigen rechtspopulistischen Verteidiger »geschlossener Grenzen« an dieser Stelle einzuwerfen, die Flüchtlinge seien doch wohl nicht die erwarteten und eventuell in Deutschland fehlenden, staatlich gut ausgebildeten und lizenzierten Ärzte und Ingenieure. Aber von Ärzten und Ingenieuren hatte Mises nicht gesprochen, von staatlicher Lizenzierung schon gar nicht. Und selbst wenn es Ärzte und Ingenieure wären, würde man ihnen in Deutschland nicht die Lizenz erteilen, dass sie ihr Können einbringen, genau aus dem Grund, den Mises bezogen auf die Gewerkschaften genannt hat, also um wegen berufsständischer Rücksichten Sondervorteile zu erhalten. Es ist also ganz unzweideutig der planwirtschaftliche Ansatz und es sind die wirtschaftlichen Interventionen, die dahin führen, dass die Zuwanderung als wirtschaftlich nachteilhaft angesehen werden kann. Die Behauptung, Mises habe diesen Standpunkt in einer Situation vertreten, in welcher es noch gar keinen Sozialstaat gab, trifft ebenso wenig zu wie die, er habe ihn bloß vertreten, sofern der völlig freie Markt bereits erreicht sei.
Weniger bekannt als die wirtschaftspolitische Verteidigung der Freizügigkeit ist die intensive und differenzierte Auseinandersetzung mit dem Nationalismus, die Ludwig von Mises in vielen Schriften leistet, so auch in »Liberalismus«. Der Liberalismus verbinde sich zunächst, analysierte Mises, mit dem nationalen Gedanken und zwar gerichtet gegen einen Staatsbegriff, der seine Legitimität aus den Gegebenheiten militärischer Eroberungen oder fürstlicher Heiratspolitik ableite. Gegen Staatsgrenzen, die sich an den Interessen der »fürstlichen Despoten« orientieren und die den »militärischen und rechtshistorischen Erwägungen« entspringen,34 setze der Liberalismus das Selbstbestimmungsrecht. Mises schränkte ein, das »Selbstbestimmungsrecht, von dem wir sprechen, ist jedoch nicht Selbstbestimmungsrecht der Nationen, sondern Selbstbestimmungsrecht der Bewohner«.35
Den Unterschied verdeutlichte Mises am Sezessionsrecht: »Wenn die Bewohner eines Gebietes, sei es eines einzelnen Dorfes, eines Landstriches oder einer Reihe von zusammenhängenden Landstrichen, durch unbeeinflusst vorgenommene Abstimmungen zu erkennen gegeben haben, dass sie nicht in dem Verband jenes Staates zu bleiben wünschen, dem sie augenblicklich angehören, sondern einen selbstständigen Staat bilden wollen oder einem anderen Staate zuzugehören wünschen, so ist diesem Wunsche Rechnung zu tragen. Nur dies allein kann Bürgerkriege, Revolutionen und Kriege zwischen den Staaten wirksam verhindern.«36 Mises schränkte hier das Sezessionsrecht ausdrücklich nicht ein bezogen auf die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Zugehörigkeiten. Das heißt, »es handelt sich nicht um das Selbstbestimmungsrecht einer national geschlossenen Einheit«.37 Weder dürfe ein Nationalstaat die Sezession eines Gebietes unterbinden, auch wenn es zur gleichen geschichtlichen, ethnischen, sprachlichen oder religiösen Einheit gehöre, noch dürfe er »Teile der Nation, die einem anderen Staatsgebiet angehören, wider ihren Willen aus ihrem Staatsverband loslösen und dem eigenen Staat einverleiben«.38 Die Bewohner müssen entscheiden können, zu welchem Staat sie gehören; der Staat dürfe nicht entscheiden, wer zu seinem Gebiet gehöre oder nicht gehöre, selbst der Nationalstaat nicht. Die Radikalität dieses Sezessionsrechts bei Mises ist es, die konsequent weitergedacht zu dem Anarchokapitalismus von Murray Rothbard führte.
Auch dem Problem von Wanderungsbewegungen widmete Mises sich. Wie er gezeigt hatte, sind bereits bislang kaum ethnisch homogene Siedlungsräume erhalten geblieben und durch den Kapitalismus sowie den durch ihn erzeugten allgemeinen Wohlstand werden, wie er voraussagte, diese Bewegungen verstärkt. Allerdings meinte Mises 1927, dass bei völliger Freizügigkeit »sich von Europas übervölkerten Gebieten die Einwanderer in dichten Scharen nach Australien und Amerika ergießen« werden.39 Er sah die Ängste voraus,40 die heute sich in Vokabeln wie Integration und Umvolkung41 zeigen: »Sie werden so zahlreich kommen, dass mit ihrer nationalen Assimilation [!] nicht mehr zu rechnen sein wird.« In der Analyse von Mises brauchen wir, um sie auf Heute zu übertragen, bloß wenige Worte auszutauschen: »Auf der einen Seite stehen Dutzende, ja Hunderte von Millionen Europäer und Asiaten, die gezwungen sind, unter ungünstigeren Produktionsbedingungen zu arbeiten, als es jene sind, die sie in den verschlossenen Gebieten finden können. Sie verlangen Öffnung der Grenzen des verbotenen Paradieses, weil sie sich davon Erhöhung der Ergiebigkeit ihrer Arbeit und damit höheren Wohlstand versprechen.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die so glücklich sind, das Land mit den günstigeren Produktionsbedingungen bereits ihr eigen zu nennen. Sie wollen – soweit sie Arbeiter und nicht Besitzer von Produktionsmitteln sind – den höheren Lohn, den ihnen diese Stellung gewährleistet, nicht fahren lassen. Einmütig aber fürchtet die ganze Nation die Überflutung durch die Fremden.«42 Eine exakte Beschreibung, wenn wir an die Stelle der Europäer (und Asiaten), die an die Tore von Australien und von (Nord-) Amerika klopfen, die Migranten aus dem afrikanischen Kontinent setzen, die vor den Toren der Festung Europa stehen.
Mises erhob sich nicht über diese Ängste, rückte aber auch nicht ab von der Grundforderung des Liberalismus, dass jeder Mensch das Recht habe, »sich dort aufzuhalten, wo er es wünscht«.43 »Bei der Machtfülle, die dem Staate heute zu Gebote steht, muss die nationale Minderheit von der andersnationalen Mehrheit das Schlimmste [!] befürchten.«44 Im Rahmen von Etatismus gibt es keine Lösung. Diese Einsicht jedoch rechtfertigt keine Begrenzung von Migration durch den Staat, weil mit ihr es »so scheint«, als ob es »eine andere als die gewaltsame Lösung durch Krieg« nicht gebe.45 Versuche, die Einwanderungsbeschränkung zu rechtfertigen, sind Mises zufolge also nicht nur vom wirtschaftlichen, vielmehr auch vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen »von vornherein ganz aussichtslos«. Eine »Durchführung des Liberalismus würde es« indessen »ermöglichen, das Wanderproblem, das heute unlösbar erscheint, zum Verschwinden zu bringen.«46 Anti-Kapitalismus ist Gier nach Herrschaft. Der Hunger folgt auf dem Fuß. Kapitalismus mag ungerecht sein. Anti-Kapitalismus aber endet tödlich.
6
Die im Zuge von »Ethnopluralismus«47 und »identitärer Bewegung« wieder aufgeworfene Problematik der Wahrung der ethnischen Homogenität eines historisch angestammten Siedlungsraums, durch in Umvolkung mündende Migration bedroht, ist damit allerdings noch nicht zu erledigen. In der Flüchtlings- und Migrationsfrage verlagert sich die Debatte zunehmend von der Frage, wie die wirtschaftlichen Folgen zu bewältigen seien, hin zu Auffassungen, dass es ein Recht auf soziale Homogenität gebe. Mit der Behauptung des »Rechts auf soziale Homogenität« meine ich die Auffassung, in einem Gebiet, das ein Nationalstaat oder eine supranationale staatliche Organisation wie die Europäische Union beherrscht, gebe es das Recht oder den Anspruch der Bevölkerung darauf, dass etwa hinsichtlich ökologischer und juristischer Standards, hinsichtlich der Verteilung von Wohlstand, hinsichtlich der ethnischen und religiösen Zusammensetzung der Mitmenschen eine weitreichende Einheitlichkeit mittels Staatsgewalt hergestellt werde. Die Formulierung habe ich bewusst so gewählt, dass sie beiden Seiten der Debatte gleich
schlecht schmecken wird. Beide Seiten vertreten ihre Rechts-Auffassungen mit zunehmender verbaler Härte, begleitet von der Drohung, dass man die jeweils andere Seite nach Möglichkeit mundtot macht.48
Kritik an Bestrebungen nationaler Homogenisierung finden wir schon bei Mises ausformuliert, vor allem den Passagen, in denen er sich mit nationalen Minderheiten befasst. Dem ärgsten Nationalisten könne es nicht verborgen bleiben, dass selten eine natürliche ethnische Homogenität vorliegt. In allen Staaten, auch denen, die sich als Nationalstaaten konstituieren, sind entweder Minderheiten eingeschlossen oder die Grenzlinien stehen nicht fest. Mises verortete das Problem vor allem in der Sprache, vermutlich weil er die belgischen und andere Sprachenkonflikte Europas im Blick hatte. Nicht etwa die von den Minderheiten sich bedroht fühlenden Mehrheiten erheischten das Mitleid von Mises, vielmehr die Drangsale der Minderheiten. »Es ist fürchterlich, in einem Staate zu leben, in dem man auf Schritt und Tritt der – sich unter dem Scheine der Gerechtigkeit verbergenden – Verfolgung durch eine herrschende Mehrheit ausgesetzt ist.«49 Zentrales »Mittel der nationalen Vergewaltigung« ist für Mises die staatliche Zwangsschule,50 in der die Mehrheitskultur (bei ihm: Sprache der Mehrheit) gelehrt werde. Hier wird klar ersichtlich, dass Mises nicht nur keine Angst vor Parallelgesellschaften hatte, sie im Gegenteil in das Recht auf Sezession mit einschloss. Ohne Schulpflicht müsste »keine Sprachinsel es sich« mehr »gefallen
lassen, sich bloß darum national vergewaltigen zu lassen, weil sie mit dem Hauptstamm des eigenen Volkes durch keine von Volksgenossen besiedelte Landbrücke in Verbindung steht«.51 An die Stelle des Sprachenkonflikts in national gemischten Ländern können hier ebensogut die Konflikte über Religion oder Kultur eingesetzt werden: Zwangsbeschulung ist mit Frieden inkompatibel, egal um welchen Konflikt es inhaltlich geht.
Der Linkskonservativismus sieht sich als der Sachwalter der Toleranz, der Vielfalt, der Buntheit, des Multikulti und der größeren Bandbreite als bloß zwei Geschlechter, der Ehe nicht nur mit einem gegengeschlechtlichen Partner. Diese Regenbogen-Rhetorik verdeckt allerdings das Streben des Linkskonservativismus nach Homogenität in vielerlei Hinsicht. Regulierungen. Anti-Diskriminierungsgesetze. Keine Vertragsfreiheit. Zwangsschule für alle. Auf diese Homogenität habe der abstrakte Bürger der Europäischen Union ein Recht, sagt der Linkskonservativismus, darum müsse es gegen jeden einzelnen konkreten Bürger mit Staatsgewalt durchgesetzt werden. Kein Demokrat dürfe das je in Frage stellen. Die beschworene Vielfalt des Linkskonservativismus reduziert sich letztendlich darauf, dass jemand unter mehr als zwei Geschlechtern auswählen darf, wenn er die Strafe für Schulverweigerung kassiert oder irgendeinen der über sein Leben entscheidenden Online-Anträge bei irgendeiner wuchernden Bürokratie stellt. Der EU-Amtsschimmel staubt nicht mehr, dafür aber kennt er auch kein Pardon bei Abweichungen. Der Rechtsgrund sowohl für die geforderte Homogenität als auch die »Vielfalt« im Sinne des Linkskonservativismus ist die angebliche Legitimierung durch die Mehrheit, auch und gerade wenn fraglich ist, ob die Mehrheit tatsächlich noch hinter der linkskonservativen Agenda steht: »Das Wir entscheidet.«52
Der Rechtspopulismus lehnt die Reklame für Multikulti, für die »bunte Republik« und die Gender- und Ehevielfalt dagegen ab. Er erklärt es für das Recht des abstrakten Volks, ethnisch und religiös homogen zu bleiben oder wieder zu werden. Hier hält er eine staatlich forcierte Homogenität für Recht, auf anderen Gebieten, wo der Linkskonservativismus auf Homogenität besteht, weist er diese teils zurück.
Beide Seiten der Debatten haben demnach Politikbereiche, in denen sie Vielfalt fordern, in anderen fordern sie indessen Homogenität. Das zentrale Motiv bei den Homogenitäts-Forderungen beider Seiten ist die durch Ludwig von Mises so bezeichnete anti-kapitalistische Mentalität.53 Sie fordern nämlich den Einsatz von Staatsgewalt genau dort, wo sich ihre Vorstellungen nicht durch freiwillige Kooperation auf dem Markt durchsetzen lassen.
Nehmen wir einen konkreten Fall: Ein Hausbesitzer lehnt es ab, einen Wohnungssuchenden mit Migrationshintergrund als Mieter zu akzeptieren. Linkskonservative werden aufschreien, es müsse ein Anti-Diskriminierungsgesetz her, um den Hausbesitzer an dieser skandalösen Diskriminierung zu hindern. Der Rechtspopulismus hingegen wird das Recht dieses Hausbesitzers verteidigen, seine Mieter nach den ihm genehmen Kriterien auszusuchen. Doch verteidigt er ebenso das Recht eines Hausbesitzers, der Wohnungssuchende mit Migrationshintergrund nicht abweist oder gar bevorzugt an sie vermietet? Nein, hier zieht der Rechtspopulismus es vor, nicht auf die Diskriminierungswilligkeit der Hausbesitzer zu vertrauen, sondern die Migranten bereits an der Staatsgrenze abzuweisen und die Hausbesitzer hiermit der Wahl der ihnen genehmen Mieter zu entheben.
Werfen wir nun einen Blick auf die Mieter. Wenn ein Mieter es lieber hätte, in einem ethnisch homogenen Haus oder gar in einem ethnisch homogenen Viertel zu leben, so müsste er, sofern sein Vermieter einen ethnisch fremden Wohnungssuchenden als Mieter akzeptiert, ausziehen und sich einen Hausbesitzer suchen, der ein ethnisch homogenes Umfeld zusichert. Wer das nicht auf sich nehmen will oder befürchtet, einen solchen Hausbesitzer nicht zu finden, kann dann eine Partei wählen, die verspricht, per Grenzschutz erst gar keine Migranten mehr ins Land zu lassen.
7
Eine feine Unterscheidung: Anti-Kapitalismus braucht Führer. Kapitalismus Unternehmer. — Zwar ist eingetreten, was ich vorausgesagt habe,54 allerdings rascher: Die rechte außerparlamentarische Opposition wandelte mit den unerwartet großen Wahlerfolgen der AfD sich in eine parlamentarische. So wurde sie zum vielbeschworenen »Rechtspopulismus«. Oppositionelle Kräfte werden auf die Parteiarbeit und die Unterstützung der Partei konzentriert. Doch nicht bloß das. Mit dem Näherrücken der Möglichkeit des Machtgewinns verändern sich auch Inhalte und Forderungen. Sie werden vor allem realistischer. Und realistisch bedeutet innerhalb des bestehenden politischen Systems stets, dass sie den staatlichen Strukturen angemessen werden.
Die Parallele zur Partei der »Grünen« ist unverkennbar. Sie kanalisierte und absorbierte den Protest, welcher sich außerparlamentarisch durch Demonstrationen und durch Bürgerbewegungen Ausdruck verschaffte. Wesentliche Forderung der – damals – sogenannten »neuen sozialen Bewegungen« war eine Veränderung oder wenigstens eine Erweiterung der parlamentarischen Demokratie durch Volksentscheide und andere emanzipatorische oder partizipatorische Elemente von Basisdemokratie. Damals stellten diese eher der Linken zugerechneten Bewegungen die der politischen Klasse verhassten »Populisten« dar, die alles, was in der Nachkriegszeit so wohlgeordnet worden war, durcheinanderwürfeln.
Populismus ist ein überaus populärer Begriff im Kampf um die politische Macht. Heute sieht man »den« Populismus stramm rechts stehend. Das war nicht immer so. Unter dem Begriff »Rechtspopulismus« wird eine Vielzahl politischer Bewegungen, Parteien oder auch einzelner Kandidaten in der ganzen Welt zusammengefasst, die bereits bei oberflächlicher Betrachtung nur wenig gemein haben. Wenn sie jedoch unter einen gemeinsamen Oberbegriff gefasst werden sollen, muss es auch etwas geben, das ihnen gemeinsam ist, andernfalls wäre der Begriff völlig inhaltslos.
Im Wikipedia-Artikel wird als die erste Gemeinsamkeit des Rechtspopulismus genannt, dass er sich »gegen politisches Establishment und Obrigkeit« richte.55 Das sollte eigentlich jedem Linken, der sich seiner »emanzipatorischen« und »partizipatorischen« Wurzeln erinnert, den Magen umdrehen. Sind nicht die Rechten das Establishment und treten nicht sie für den Obrigkeitsstaat ein? Des Weiteren wird in dem Artikel ausführlich beschrieben, wo alles die Rechtspopulisten regieren oder an der Regierung beteiligt sind. Genau im gleichen Moment müssen sie per Definition aufhören, gegen Establishment und Obrigkeit zu sein, weil sie doch nun selber etabliert sind und die Obrigkeit stellen. Der Gründer des »Front National« in Frankreich, Jean-Marie LePen, hat seit 1956 politische Mandate. Wenn das nicht etabliert ist, was soll das Wort »Establishment« dann bedeuten? Mit ihrer Etablierung hören die Rechtspopulisten nach dieser Wikipedia-Definition auf, Populisten zu sein.
Auch die Politologin Karin Priester zählt auf einer Seite der »Bundeszentrale für politische Bildung« zu den »Wesensmerkmalen des Populismus« die »Antipolitik«.56 Merkwürdig, dass der Begriff des »Populismus« allenthalben auf Politiker angewendet wird, die wie Donald Trump mit aller Gewalt in höchste politische Ämter streben.
»Populismus ist eine Form des Opportunismus, bei der ein Politiker oder auch eine ganze Partei dem Volk das verspricht, was dieses seiner Meinung nach hören will«, erklärt Alexander Dilger,57 zeitweilig FDP, zeitweilig AfD. Für ihn ist Angela Merkel der Inbegriff des Populismus. Das kann man so definieren; wenn man sich bei seinen Definitionen aber zu weit von dem Gebräuchlichen entfernt, wird man unverständlich. »Der Gegenentwurf zum Populismus ist der Paternalismus, der das (vermeintlich) Beste fürs Volk auch gegen dessen eigene Vorstellungen durchzusetzen versucht«, schreibt Dilger weiter und schließt: »In einer guten Demokratie wird ein Mittelweg zwischen Populismus und Paternalismus gesucht, wobei auch Paternalismus populär sein kann.« Damit ist nun maximal wenig ausgesagt, nichts Genaues weiß man nicht. Jedoch hat er das Adjektiv »gute« vor »Demokratie« setzen müssen, damit man merkt, dass er seinen Gedanken als für die Demokratie sprechend gewertet wissen will. Mir kommt’s wenig anziehend vor, einen mittleren Weg zwischen Opportunismus (»50,000,000 Elvis Fans Can’t Be Wrong«) und Obrigkeitsstaat (»blinder Gehorsam führt alle Lemminge ins Glück«) zu suchen.
In einem Vortrag über »Was ist Populismus?« unterscheidet der Politologe Jan-Werner Müller erst gar nicht zwischen Links- und Rechtspopulismus.58 Schon das Cover der Buchform59 zeigt neben den »üblichen Verdächtigen« wie etwa Geerd Wilders, Donald Trump und Marine LePen niemand geringeren als Aló Presidente … Hugo Chávez persönlich.60