Politik / Therapie - Günter von Hummel - E-Book

Politik / Therapie E-Book

Günter von Hummel

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Beschreibung

Politologie und Geschichtswissenschaften vermitteln immer mehr und mehr Wissen, aber nicht Wahrheit. Über keine Zeit ist so viel bekannt wie über das Dritte Reich, dennoch haben wir die damaligen Geschehnisse nicht begriffen. Entsprechend dem Slogan "Wanted reformers not of others but of themselves" bedarf es somit zuerst einer Selbstanalyse, bevor man mit objektiven Fakten operiert. Der Autor versucht, mit eigenen Thesen aus seiner Tätigkeit als Psychoanalytiker und mit Zitaten kompetenter Zeitzeugen, zu einem derartigen selbstanalytischen Verfahren zu führen.

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Inhaltsverzeichnis

TEIL I, Zeitgeschichte

1.1 Die ‘Transsubstanziation’

1.2 Gibt es überhaupt passende Worte?

1.3 Der symbolische, imaginäre und reale Vater

1.4 Das

Strahlt

und das

Spricht

1.5 Der verfälschte Diskurs

TEIL II, Gegenwart

2.1 Die Natur des Politischen als Wahrheit des

Anderen

2.2 Politik / Theologie

2.3 Identität und Genetik

2.4 Adam und Obersalzberg

Anhang

Literaturverzeichnis

I.TEIL I, Zeitgeschichte

1. 1 Die ‘Transsubstanziation’

Es gibt immer so etwas wie eine erste Erinnerung. Es muss im Frühjahr 1945 gewesen sein, dass einige Tiefflieger über unseren Garten schossen. Ich war zu diesem Zeitpunkt etwa vier Jahre alt und lief in Panik in den Hauseingang zurück. Da standen vor mir die Gespenster wieder auf, die man aus dunklen Geschichten kannte, aus Albträumen, oder auch aus kranken Fantasien. Plötzlich war das Böse hinter mir her. Plötzlich war – ganz bedrohlich – ich gemeint.

In Wirklichkeit war dies alles nicht so schlimm gewesen. Die Schreckensgeräusche sind zwar in mir noch wach, und erst mit den Jahren habe ich gelernt, dass das Böse viel komplizierter ist. Hannah Arendt hat – speziell in und nach ihrem Eichmann-Buch – darüber geschrieben: das Böse ist differenzierter, subtiler, komplexer und vor allem viel banaler, als man denkt. Es ist überhaupt nicht definierbar. Es besteht nicht darin, dass die Menschen böse Gesichter haben oder Waffen in der Hand halten oder gar Bestien sind. Ein Massenmörder, schrieb Hannah Arendt, kann ein „Hanswurst“ sein, auf jeden Fall ist er eher ein „weltloser Mensch“ und nicht als der durchtriebene Bösewicht erkennbar.1 Das Böse besteht vielleicht vordergründig darin, dass etwas in unserem Gedächtnis selbst diesen Schrecken des Bösen mitprogrammiert. Manchmal pflanzt das Unbewusste selber uns die Geräusche des Krieges ein, des Wahnsinns, der Gewalt, der Depression. Manchmal braucht man ein ganzes Leben, um dieses Programm so zu verändern, dass es einigermaßen der Wahrheit entspricht und sichtbar wird, was das Böse ist und wie man es behandeln kann.

Später habe ich auch gelesen, dass von den Alliierten wirklich auf Kinder geschossen wurde. T. Chorherr, Chefredakteur und Lektor am Institut für Publizistik in Wien beschreibt solche Szenen und auch von gleichaltrigen Freunden habe ich dies gehört.2 Oder schreibe ich dies jetzt nur, um auch den Alliierten eine verbrecherische Schuld an diesem Krieg zuzuschieben? M. Heinlein, ein Autor, der sich mit den Malaisen der Kriegskinder besonders auseinandersetzte, diskutiert ebenfalls die Frage, ob nicht das Spiel „Täter zu Opfern“ zu stilisieren, dabei mitwirkt.3 U. März schreibt in der ZEIT vom 12. 5.10 von dem „auf Symmetrie bedachten Sortieren von Schuld und Gegenschuld“ und über „das Buchhaltungsprinzip der ausgeglichenen Summe“ was die Kriegsverbrechen von Deutschen und ihren Gegnern betrifft. Ja, vielleicht mache ich das jetzt auch ein bisschen, aber die Literatur zu den halbverkohlten Leichen der 600000 Brandbombenopfer hierzulande ist einfach zu bedrückend und die wohl zweihunderttausend Toten von Hiroshima und Nagasaki mit Zigtausenden von lebenslang Strahlengeschädigten wirken auf mich so abstrakt und grauenhaft kalt, dass es gar nicht zu sagen ist.

Doch vielleicht spiele ich gar nicht „Buchhalter der ausgeglichenen Summe“, wenn ich eigentlich nur sagen will, dass es entsetzliche Dinge wohl auf allen Seiten gab, und dass vom Krieg, von Vernichtung, von Bombennächten und dem Holocaust zu schreiben fürchterlich ist und gleichzeitig auch problematisch.4 Es ist mir eigentlich unmöglich. Gar nicht zu reden davon, dass es in den letzten hundert Jahren auch sonst weltweit so ungeheuerlich Grausames und Schreckliches passiert ist, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen sollte. Man könnte eigentlich nur ständig verzweifeln. Im Washingtoner Holocaustmuseum werden (2016) neben einer Ausstellung über die Shoah auch Bilder und Dokumente über den Völkermord an den Tutsi, über den Völkermord in Dafur, über die Verbrechen der Roten Khmer, über den Genozid in Bosnien und über die Verbrechen des IS im Nahen Osten gezeigt. Die andauernden Gräuel in Syrien und im Kongo (3 - 5 Millionen Tote) sowie die noch schlimmeren im Jemen (2018) waren noch nicht dabei.

Ich liege doch nicht falsch, wenn ich behaupte, dass Menschen jeder Art immer zum Massenmord fähig waren und auch heute noch sind. Trotzdem haben wir für den Holocaust die Hauptverantwortung, auch wenn wir – wie es der frühere Bundeskanzler H. Kohl einmal ausdrückte – über die ‚Gnade der späten Geburt‘ verfügen. So haben wir als Kinder von nichts gewusst. Erst in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in Schule und Studium, fingen wir an mehr und mehr zu wissen. Es war ein langwieriger Prozess. Aber selbst was wir nunmehr wissen, haben wir bis heute noch nicht begriffen. Da liegt das Problem.

„Das Selbstverständnis der Menschheit wird [nach 1945] nie wieder das sein, das es einmal gewesen ist“, schreibt R. A. C. Parker im 34. Band der Fischer Weltgeschichte. „Die Zeit des Nationalsozialismus ist in den letzten Jahrzehnten so detailliert und gründlich untersucht worden wie wohl kein anderer Abschnitt der neueren Geschichte. Die Quelleneditionen, Monographien, Aufsätze sind inzwischen Legion. . . Jeder Stein wurde umgedreht, jede Einzelheit geprüft, jedes Problem erörtert.“ Wir wissen nun fast alles über das Dritte Reich, so scheint es – und jeder, der will, kann sich mühelos über diese Zeit und ihre Forschungsgeschichte unterrichten. Das historische Material ist immens.

Aber verstehen wir nun besser, was der Nationalsozialismus, der 2. Weltkrieg und all die vorherigen und erneuten Kriegsverbrechen eigentlich waren? War es der Appell an einen mythischen ‚Heilbringer‘ (Romano Guardini) – oder einfach eine primitive ‚Ersatzreligion‘ (George Mose)? Fakten sind nie deutungsfrei gegeben – man braucht, um sie zu interpretieren, einen Rahmen. Wie kommt man . . . an den Kern der Sache, wie lernt man zu begreifen, was man schon weiß“? fragt der ehemalige bayerische Kultusminister H. Meier.5 Denn begreifen, was man schon weiß, heißt seit jeher das Jenseits dem Diesseits erklären, das Vorher dem Nachher zu vermitteln, die Eltern den Kindern verständlich zu machen. Es heißt für die Väter ihre Erfahrungen, ihr Wissen wirklich zu vererben und für die Söhne bedeutet es, dieses Erbe dann auch tatsächlich anzunehmen und verarbeiten zu können. Es heißt das Ganze einer Generation ebenso der ganzen nächsten Generation zu überbringen. Ein scheinbar unmögliches Unterfangen. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds hat es dennoch versucht (wenn auch mehr im Individualbereich) und hierfür den Begriff der Übertragung (besonders positive Einstellung zum Therapeuten und Übertragung inadäquater und verjährter Bedeutungen auf ihn) geschaffen.

Die unbewussten, verdrängten und abgespaltenen Erfahrungen der Kindheit (und auch späterer Jahre, wie z. B. gerade die Erfahrungen im Krieg) werden durch diesen vereinheitlichenden Dialog-Mechanismus der Übertragung auf den Analytiker wieder aktualisiert. Die verwickelten und durchschlungenen zwischenmenschlichen Bedeutungen des menschlichen Subjekts werden in dessen Person konzentriert und so – indem sie intensiv besprochen werden – entwirrt. Weil man subjektbezogen dem Analytiker alle Einfälle preisgibt, alle Träume erzählt, alle Phantasien beichtet, hat er die Möglichkeit, die auf ihn ‚übertragenen‘ Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit zu deuten und sie sich so neu ordnen zu lassen. So wird das Ganze eines Zeit-Raums gänzlich in das Ganze eines anderen Zeit-Raums übertragen, enthüllt, gedeutet und übersetzt und danach als inadäquate Übertragung aufgelöst. Ich habe in diesem Zusammenhang den Begriff der Übertragung in Richtung auf eine Ur-Übertragung erweitert.

Solch ein erweiterter Begriff des psychoanalytischen Vorgehens ist nämlich für das generationsübergreifende Geschichtsverständnis zutreffender. Man spricht auch von ‚transgenerationaler Weitergabe traumatischer Erfahrungen oder von ‚vererbten Wunden‘, die tiefer liegen als schlichte Verdrängungen. Das Wort Ur-Übertragung erinnert an eine Art von ‘Transsubstanziation’ (lat.: Wesensverwandlung).6 Zumindest sollte es das sein. Der Begriff selbst stammt aus der Theologie und bezeichnet in der christlichen Messe die Wandlung von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu. Die Substanz (griechisch οὐσία) ist im aristotelischen Sinne das an sich selbst nicht sinnlich wahrnehmbare Wesen eines Dinges oder Geschehens. Gerade in dem Fall, mit dem wir es hier bezüglich der Geschichte und genereller auch generationsübergreifender Beziehungen zu tun haben, nämlich mit Übertragungsvorgängen, die also nicht im Sprechzimmer eines Analytikers stattfinden, sondern außerhalb dieses therapeutischen Rahmens und die mehr politische, geschichtliche Dimensionen haben, eignet sich der Begriff der Ur-Übertragung als einer Form von ‘Transsubstanziation’ eigentlich ganz gut.

Man muss ihn freilich von dem ‚spirituellen’ Überbau und auch von der psychoanalytischen Alltagstherapie trennen. Ich will diesen sicherlich etwas hochangesetzten Begriff der ‚Transsubstanziation’ nur auf die ‚wesenhaften‘ Zusammenhänge beschränken, die in einem umfassenderen Rahmen stattfinden, als er in der klassischen Psychoanalyse besteht. Deswegen auch der Hinweis auf die Ur-Übertragung, die in der Psychoanalyse auch oft als ‚wilde Übertragung‘ bezeichnet wird, weil sie überall im Leben stattfindet. Überall, denn man überträgt auf jeden, dem man Fähigkeiten oder Wissen unterstellt – abgesehen von den zutreffenden Bedeutungen – eben auch nicht passende, verschobene, projizierte Bedeutungen, die manchmal geklärt werden, aber auch so – ungelöst und problemlos – bestehen bleiben können.

Kurz zusammengefasst: Man kann das Wissen, selbst das fundierteste, nicht einfach lehren, man müsste es vollkommen kommunizieren, sozusagen sachlich und emotional zugleich verinnerlichen, damit man es ganz begreifen kann. Wissen kommunizieren heißt eben mit der enthüllenden Psychoanalyse oder gar der ‘Transsubstanziation’ zu arbeiten, in der alle subjektbezogenen Komponenten, alle Bildpixels, alle Wortsilben durch Klärung eine neue Bedeutung und Ordnung bekommen können: eine Bedeutung im Gut / Bösen, im Krieg / Frieden, im Vater / Sohn, kurz: in einem generellen interpretativen Rahmen, in dem es darum geht, das Wissen der und über die Väter, über den Logos der ‚Bestimmer‘ in das Begreifen der Söhne, der zur Nachfolge Bestimmten, zu transferieren. Freilich spielen auch Frauen und Töchter die gleiche Rolle Rolle, wenn auch mit anderen Schwerpunkten. Darauf käme es an, damit in der Geschichte nicht immer wieder die gleichen Fehler passieren. Die öffnende Ur-Übertragung und die enthüllende ‘Transsubstanziation’ sind also in diesem Fall nichts anderes als eine generelle Metapher der ‚Paternität‘, ein Nomen der Bestimmungslogik als solcher, der – wenn ich es einmal anders und etwas skurril sagen darf – Zeuger / Wort – Ordnung.

Diese direkte Art realer Symbol-Übertragung wird auch in der Apokalypse des Johannes beschrieben. Dort heißt es, Johannes soll „das Buch essen“. Es genügt nicht, dass er es liest und dann Wissen davon hat. Seine Ur-Übertragung richtet sich auf Gott, der ihm die Wort-Ordnung dadurch deutet, dass er sich zur Einverleibung, zur ‚Transsubstanziation’ selbst als Buch anbietet. Somit handelt es sich um eine mythisch-mystische Ur-Übertragungs-Deutung, die man damals Offenbarung nannte. Und auch den Leib von Christus in der Hostie zu essen, bedeutet ja das Gleiche, nämlich sein Wesen und Wissen perfekt zu verinnerlichen. Heute kann man ein solches Vorgehen nicht mehr in dieser Weise nutzen, wir brauchen wissenschaftliche Methoden, und so will ich im Rahmen dieses Buches ein Verfahren vorstellen, das aus der Psychoanalyse abgeleitet ist, aber aus einem mehr meditativen, selbstanalytischen Zugang zum ‚Transsubstanziativen‘ besteht.

Damit will ich auf den Boden des Möglichen zurückkehren, denn gerade der meditative Anteil dieses Verfahrens beinhaltet neben der Ur-Übertragung auch eine besonders direkte Deutung aus dem Unbewussten, die helfen kann, das Wissen z. B. von Geschichte und Politik zu begreifen. Ich will nicht irgendwelchen Vergangenheits/Zukunfts-Erklärungen verfallen, wie sie der Historiker J. Radkau zu Recht deutlich kritisiert,7 sondern jeden selbst die Erfahrung dieses noch etwas rätselhaften ‚Transsubstanziativen’ machen lassen. Damit wird freilich noch kein Ganzes einer Generation vollständig der nächsten überbracht, es sei denn, viele Einzelne nehmen sich dieses Verfahrens an und wirken so als Kollektiv. Sie geben nicht eine Hostie weiter, der wir das Wesen Christi unterstellen, auch keine sich streitenden Historikermeinungen, sondern das ‚transsubstanziierende‘ Verfahren selbst (mit der Hoffnung, dass es dem Einzelnen hilft und nicht im Epigonentum untergeht).

„Wir leben in einer besonderen historischen Phase,“ schreibt diesbezüglich auch der Philosoph Byung-Chul Han, „in der die Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze, das Kann hat dagegen keine. . . Wir befinden uns somit in einer paradoxen Situation. . . Die psychischen Erkrankungen wie Depression oder Burnout sind der Ausdruck einer tiefen Krise der Freiheit.“8 Unsere heutige digitalisierte, globalisierte, durch Hyperkommunikation und Informationsflut mehr und mehr undifferenziert, geglättete und pauschalierte Welt bringt tatsächlich Gefühle von Freiheit hervor, deren inneres Diktat wir gar nicht mehr bemerken können. Es hat etwas damit zu tun, was der gerade zitierte Autor den „Neoliberalismus und die neunen Machttechniken“ nennt. Ich komme auf diese grundlegenden Bemerkungen zur gesellschaftlichen und politischen Situation unserer Zeit noch zurück. Ich will jedoch schon hier, auf den ersten Seiten, darauf verweisen und auch herausstellen, dass dies ein ganz anderer Bereich ist als der der Geschichtsschreiber und Vergangenheitsbewältiger, aber auch der herkömmlichen, mehr und mehr scholastisch gewordenen Psychoanalytiker, mit denen ich in dieser Einleitung begonnen habe. Es ist nämlich im Kontrast zur Historie und deren Darstellungsmethoden das Unmittelbare des Menschseins viel bereichernder, und es macht auch den Lösungsvorschlag meines analytisch/meditativen Verfahrens, das ich Analytische Psychokatharsis nenne, glaubwürdiger. Vorausgesetzt, dass – wie betont – etliche es anwenden, denn auch wenn ich mit zwei oder drei ernsthaften Anwendern schon glücklich bin: in der Politik braucht es Mehrheiten.

Historiker und Zeitzeugen

Damit aber nochmals zurück zu J. Radkau, der schreibt, dass „die Historiker Menschen vergangener Zeiten verstehen sollen.“ „Das sei kaum möglich,“ rezipiert W. Luef Radkaus Buch, „wenn sie nur retrospektiv nach Ursache und Wirkung suchen. Vielmehr müsste man sich auch dafür interessieren, wovor die Menschen Angst hatten und worauf sie hofften, um ihnen wirklich nahe zu kommen.“9 Doch wie sollen Historiker so intensiv und empathisch in eine frühere Zeit hineinwachsen, dass sie deren wesentlichen Gehalt und deren Essenz perfekt in die Gegenwart herüberbringen? Erneut zugegeben, meine Intention dafür ein übergreifend therapeutisches Verfahren, eine Ur-Übertragungs-Ordnung zur Verfügung zu stellen, klingt utopisch. Im Grunde genommen geht es aber neben all dem, was die Eckpunkte der Familie, der Gesellschaft, der Politik, der Kultur etc. aus der Vater-Perspektive für den Sohn ausmachen, auch um eine übergeordnete Metapher, wie sie vielleicht für Jahrtausende durch Religion und Philosophie vermittelt wurde und heute durch die Psychoanalyse neue Akzente bekommen hat. Diese mit dem Vater- oder Bestimmer-Namen verbundene Metapher ist etwas anders als das, was der individuelle Vater darstellt und auch ganz verschieden von dem, was Elternfiguren, Erzieher und Lehrer oder die leibliche Mutter repräsentieren.

Gerade die Mutter – oder besser einfach nur Mutter, aus der man ja wie deren zweites Ich hervorgegangen ist, steht mehr für die natürliche Ordnung, die Fühl-, Spür- und ganz primäre Begreifensordnung. Für diese Ordnung braucht es weniger enthüllende Übertragung, weil sie ohnehin schon direkt, von Sein zu Sein, von du zu du, von Fleisch zu Fleisch vermittelt wird und worden ist. Dies betrifft nicht das komplexhafte ‚mütterliche Objekt‘, wie es in der Psychoanalyse als in sich konfliktbezogen gehandhabt wird. Denn hier trägt die Mutter eben auch verborgen das auf den Vater bezogene und von ihm symbolisierte Begehren in sich. Auch kann eine alleinerziehende Mutter natürlich Vaterfunktionen mitvermitteln und kann es Väter geben, die in dieser ureigentlichen Vaterfunktion voll versagen.10 Aber in dem, von dem ich hier schreibe, geht es um den Signifikanten dessen, in dem das Symbol V.a.t.e.r auch der Vater des Symbols ist. Nicht umsonst habe ich zu so einem Begriff wie dem der ‘Transsubstanziation’ greifen müssen, um dies begrifflich besser festzulegen, und ich will es im Folgenden noch weiter präzisieren.

Die Historiker, schreibt Radkau also, muss auch Ängste und Hoffnungen der Menschen früherer Zeiten berücksichtigen, und sich nicht nur auf die Retrospektive stürzen und sich in diese weiter und weiter hineinsteigern. Die Gesichtsschreiber metaphorisieren uns ihr Wissen folglich nicht so wahrheitsgemäß. Sie vermitteln es nur durch ihre prognostische Lust (indem sie aus der Retrospektive die Zukunft deuten) und durch ihr universitäres, objektbezogenes savoir pour savoir, durch ihre Gelehrsamkeit, in der sie sich als Subjekte der Wissenschaft selbst ausschließen. Sie verhalten sich also wie grandiose Schulmeister, die einem das Wissen minutiös einpauken wie der französische Psychoanalytiker J. Lacan es generell vom universitären Diskurs und zeitweise auch von der herkömmlichen Psychoanalyse sagte. Der Lehrer weiß immer mehr als der Schüler und dies bis in alle Ewigkeit. Und wenn die Schüler ständig wieder Lehrer werden müssen, dann geschieht dies eben nicht wahrheits- sondern nur sachbezogen, weshalb T. Becker die gerade zitierte Veröffentlichung Radkaus ein ‚Anti-Besser-Wisser-Buch‘ nannte.11 Von daher darf ich vielleicht doch die ‘Transsubstanziation’ weiter theoretisieren., denn ich überlasse in meinem Verfahren ja das Besser-Wissen jedem Einzelnen.

Doch es gibt noch eine weitere Gruppe im Gesamtgeschehen detr Vergangenheitsbewältigung, in dem es um Wissen, Wahrheit und ums ‚transsubstanziieren‘ geht, die direkten Zeitzeugen. Sie sind subjektbezogener und authentischer. Ihnen liegt die Wahrheit am Herzen, es fehlt ihnen dafür aber meist die mehr fachbezogene Übersetzungsmöglichkeit. Kurz: wir brauchen zwar eine ‘Transsubstanziation’, damit die Geschichtsvermittlung gerechter und wahrheitsbezogener würde, Zeitzeugen können jedoch mindestens so viel dazu beitragen wie Historiker. Nur so lässt sich durch eine Zusammenfassung von beiden vielleicht doch Ausreichendes ur-übertragen und deuten, wissen und auch begreifen..

Ich hatte in meiner Arztpraxis eine relativ große Anzahl jüdischer Patienten in Behandlung, darunter nahmen die, die im KZ waren und besonders eine ältere Dame, die auch den ‚Todesmarsch‘ von Auschwitz nach Theresienstadt erlebt und überlebt hatte, eine ganz besondere Rolle ein. Aber auch in Presse und Fernsehen sowie auf Tagungen, die ich besuchte, kamen und kommen auch heute noch jüdische oder andere im Dritten Reich Verfolgte als Zeitzeugen zu Wort, und so kann ich hier einen Kunstgriff anbieten, indem ich zusätzlich zur reinen Historie auch jüdische Zeitzeugenberichte einfüge. Ich will nicht gezielt nur über die NS-Zeit schreiben (Teil I), sondern mehr über psychologisch-historische Zusammenhänge auch neuerer Menschheitskonflikte (Teil II). Dennoch wird die Beziehung dieser umfassenden Bestimmer-Metapher, von Lacan auch einfach als die Logik der Signifikanten bezeichnet, zu dieser Zeit wichtig sein, denn ich bin noch ein bisschen in und dann nach ihr aufgewachsen.

Und so kann ich – quasi konträr-ergänzend zu den jüdischen Zeitzeugen – auch die aufgeschriebenen Erinnerungen meines eigenen Vaters zitieren, der Zeitzeuge und Kenner der NS-Machtverhältnisse war. So hat er Hitler persönlich gekannt, war in der Position eines Ministerialrats im Wirtschaftsministerium und später im Wirtschaftsbereich am Obersalzberg tätig gewesen (Ich betone schon im Voraus, dass mein Vater nicht in NS-Verbrechen verwickelt war und seine Hauptaufgabe in der Beschaffung von Wirtschaftsgütern z. B. für die geplante Kunst-Stadt Linz bestand). Ich stelle also neben der Referenz auf etliche Historiker auch Zeitzeugen recht unterschiedlicher Couleur in den Vordergrund meiner Arbeit. Ich sage unterschiedlicher Art, denn diese pauschale Pro- und Anti-Sichtweise in Geschichte und Politik täuscht. Natürlich sind persönliche Blickwinkel oft gegensätzlich, aber gerade dadurch und durch zusätzliche wissenschaftliche begründete Argumentation will ich ein undifferenziertes Pro und Contra überwinden. Ich füge die Texte meines Vaters im Folgenden immer wieder in meinen Text ein ohne stets einen gezielt logischen Zusammenhang zu meinem Schreiben herzustellen. Zur Frage des Geschichtsverständnisses in seiner Kind- und Jugendzeit schrieb mein Vater (1910-2012) zum Beispiel: 12

Wie soll ein Angehöriger der heutigen Generation Menschen, Entwicklungen, Ereignisse von damals werten und „bewältigen“? Er soll das Negative und Verbrecherische erfahren, ungeschminkt und nicht beschönigt. . . Ich will das Unbekannte, nicht Erwähnte ergänzend nachtragen. Nur die Kenntnis des Ganzen macht eine Wertung, eine „Bewältigung“ möglich. . . . Ich möchte versuchen an meinem Lebenslauf, an meinen Erkenntnissen, und Erfahrungen darzulegen, wie meine Generation seinerseits dachte, wie sie empfand und wie es kam, dass sie so handelte.

Bezeichnend für meine damalige Geisteshaltung ist, . . dass ich es im Gymnasium abgelehnt hatte französisch zu lernen. . . Ich wollte auf diese Weise meine Ablehnung gegenüber den Franzosen dokumentieren, deren Willkür und Arroganz wir auf dem linken Rheinufer Jahre hindurch ausgesetzt waren. So töricht ein solches Verhalten war, es zeigt, wie die damaligen politischen Umstände auf die heranwachsende Jugend wirkten. . . .Man wird es heute nicht verstehen, dass die deutsche Bevölkerung in der französisch besetzten Zone es ablehnte, mit der Eisenbahn zu fahren, weil die Franzosen in den besetzten Gebieten die Reichsbahn gewaltsam übernommen und durch eigene Kräfte in Betrieb genommen hatte, um auf diese Weise dem Streik der deutschen Eisenbahner zu begegnen. . . Wir empfanden es als schmachvoll, dass [neben Franzosen] Marokkaner und Senegalesen zum Herrn über uns gemacht worden waren. Man muss sich an diese Jahre erinnern, die vielen . . Vorfälle berücksichtigen, . . . um zu verstehen wie Hass und Chauvinismus in der heranwachsenden Jugend wuchsen. . . Wir lasen Bücher wie Stegemanns „Geschichte des Krieges“, in denen die Leistungen des deutschen Heeres von 1914 bis 1918 ergreifend, aber sachlich dargestellt waren.

Diese Sätze passen durchaus zu den Ereiferungen, die man sich heute, hundert Jahre später, über den ersten Weltkrieg macht. Denn der Chauvinismus ist heute hinsichtlich dieser Zeit noch genau so lebendig wie damals. Jetzt, 2014,13 sind zahlreiche Bücher über die Vorgänge zum Beginn, zur Ursachen- und Verantwortungsforschung des ersten Weltkrieges erschienen. Und sie sind, was die Wahrheitsfindung angeht, trotz profunder Recherchen noch genau so widersprüchlich wie damals. Hervorzuheben ist das Buch des australischen Historikers C. Clark, der feststellte, dass vielleicht auf ganz Europa verteilt zweihundert sogenannte „decision makers“ (besonders aus England, Frankreich, Deutschland, Russland und Österreich) sich mehr und mehr in Kriegstreiberei hineinziehen ließen, bis es schließlich im August 1914 zum ersten Weltkrieg kam.14 Alle seien gleichermaßen idiotisch in den Krieg getaumelt. Ähnlich argumentierte H. Münkler und J. Leonhard.15 Ganz anders H. A. Winkler und H. U. Wehler, die nach wie vor in den Mittelmächten die Hauptschuldigen des ersten Weltkrieges sehen.16 Winkler verteidigt dies auch gegenüber dem Schriftsteller M. Walser, den ich noch später zitieren werde.17 Der amerikanische Historiker S. McMeekin dagegen macht fast isoliert Russland und Frankreich zu den Hauptverantwortlichen,18 und belegt auch diese eher ungewöhnliche These erstaunlich gut. Ich werde im Laufe des Buches noch auf viele dieser typisch universitären Ungereimtheiten zurückkommen. Hier nochmals eine Stellungnahme meines Vaters zur Geschichtsbetrachtung.

Man kann geschichtliche Vorgänge nur verstehen, wenn man willens und in der Lage ist, sich in die Zeit hineinzuversetzen, um die es geht. Man kann nicht mit den Erfahrungen, den Kenntnissen, der Mentalität der letzten Jahre des 20. [oder gar des 21.] Jahrhunderts begreifen, was Menschen ein halbes [oder inzwischen dreiviertel] Jahrhundert zuvor gedacht haben. Man muss sich vielmehr mit aller Kraft und mit ehrlichem Herzen bemühen, sich in diese Zeit hineindenken. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich eine Auseinandersetzung mit einem Bekannten, der es ablehnte, Friedrich den Großen als „den Großen" zu bezeichnen. Er sprach stets nur von „Friedrich II.“, begründete seine Einstellung damit, Friedrich der Große sei ein „Aggressor“ gewesen, ähnlich wie Hitler, und es sei daher falsch, ihm den Beinamen „der Große" zu verleihen. Er verkannte, dass die Menschen in der Mitte des 18. Jahrhunderts anders dachten und empfanden als wir Ende des 20. Jahrhunderts. Ein Krieg war damals nichts Unehrenhaftes, vor allem nichts Verbrecherisches. Der Krieg war, wie Clausewitz es bezeichnete, die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln". Auch Alexander der Große, Cäsar, die großen Kaiser des deutschen Mittelalters, auch Napoleon, hatten Angriffskriege geführt und waren doch große Männer und nicht in erster Linie Verbrecher [auch wenn sie nicht gerade Vorbilder sind].

Man kann also das, was in meiner Jugend geschehen ist, was wir empfanden und dachten, nur verstehen, wenn man die damaligen Verhältnisse kennt, wenn man die innere Größe besitzt, die eigene Ansicht, die eigenen Gedanken und Empfindungen einmal zurückzustellen und sich ganz in die Vorstellungen der Menschen der damaligen Zeit hineinzuversetzen. Dieser Gesichtspunkt erscheint mir so wichtig, dass ich ihn an den Anfang meiner Ausführungen stelle.

Nicht immer also geht das Faktische, Biologische, das S e i n als solches (das ich mehr mit dem Weiblich-Mütterlichen in eins setzen will) in den Blüten und Früchten der Worte, des Gesagten und der ‚Gesätze‘ auf (die ich jetzt mehr mit der Bestimmer- oder Vater-Metapher verbunden habe und deswegen so schreibe).19 Schon im Wort, im Satz und gar erst imgesetzten Wort (generell und vielschichtig verstanden) gibt es – so die Psychoanalyse – eine versteckte Wendung, Verknotung, die nicht zulässt, dass das einfache Reden eineindeutige Aussagen erlaubt.20 Im Gegensatz dazu gilt also wie erwähnt die Mutter – vereinfacht psychologisch gesprochen – als das Symbol der direkten, der unisono- Vermittlung. Sie ist das Verstehensobjekt, das ‚Verstehchen‘, also das, was Verstehen einfach so, so mir nichts dir nichts, vermittelt. An ihr verstehen wir schon als Kleinkind im Sinne eines noch primär-primitiven Begreifens, eines Verstehens mit der Hand, mit dem Tastsinn, mit dem Fühl-Mund, der Wärmebrust und der Blick- und Augenliebe, um es etwas poetisch zu sagen. Doch es wird auch ersichtlich, dass das Begreifen bei ihr meist nicht präzise genug geklärt ist. Das Verstehen ist bei ihr eben unmittelbar sinnenhaft, vorschnell, erlebnisartig und manchmal eben zu gut. Dann kann nicht wirklich im komplexen Sinne begriffen werden, so sehr die Griffe dabei auch im Spiel sind.

Die Psychoanalytikerin Zienert-Eilts argumentiert, dass der „Verzicht auf psychoanalytische Erkenntnisse und deren Methodik bei der Erforschung historischer Phänomene . . . zu eklatanten Einseitigkeiten in deren Bewertung führen kann“.21 Wenn es also darum gehen soll, im komplexeren, im vollen Sinne zu begreifen, was man schon weiß, kann man nicht einfach nur mit der mütterlichkindlichen Intuition oder mit den üblichen Standardsätzen irgendwelcher angepasster individueller Väter vorangehen. Ja, man kann auch nicht mit dem Wissen der Vergangenheit als fertigen Stoff arbeiten, als abgeschlossener Lehre oder perfektem Buch, wie ich es vom Universitätslehrer, vom reinen Dokumentarwissenschaftler und also speziell vom Historiker schon zitiert habe. Auch nicht so wie es der Dichter handhabt, indem er uns durch seinen besonderen Stil, seine Wortwahl, seine Phantasie, sein blumiges Sprachgefühl das Wesen der Dinge ganz plastisch und lebensecht herüberbringt.

Alle diese kulturell gehandhabten oder mythisch-wissenschaftlichen Wege genügen nicht für das, was ich mit dem Titel dieses Buches aussagen will. Und natürlich genügen auch die Zeitzeugen nicht. Ich will das universelle Begreifen der Zusammenhänge selbst dem profundesten Wissen und den idealsten Verstehensobjekten gegenüberstellen und die Antwort auf die Frage: kann man nicht Politik (samt der ihr innewohnenden Geschichte) so handhaben, dass sie wie eine Therapie, wie eine heilanbietende Wissenschaft zur Anwendung kommen kann? So sehr dies nach wie vor etwas befremdlich klingen mag, ich kann wie gesagt über den 2.

Weltkrieg (vor allem im Osten), über Bombennächte, Holocaust, und das derzeitige Abschlachten in Syrien und im Jemen eigentlich nichts Definitives sagen. Es ist zu furchtbar, zu grauenvoll und oft auch zu verwirrend. Ich kann nur im Verstehen innehalten und im Wissen erstarren, aber das eigentlich Wesenhafte des Ganzen nicht fassen. Mein Vater hat – dies ist schon zu sehen – nur eine Seite sehr deutlich gesehen, wenn er dann auch im Alter von über hundert Jahren einen ausgeglicheneren und übergeordneteren Standpunkt einnahm. So erklärte er mir, dass eine positive Bewertung der französischen Revolution auch den Terror der Jahre 1793/94 ständig einschließen müsse. Auch dieser Fortschritt war voller Grauen. Damit wird alles nicht zu einer Frage, wie man Historie und Politik psychologisch, ja psychoanalytisch zu erfassen habe, sondern umgekehrt, wie das Erfassen selbst psychologisch, psychoanalytisch, zu erreichen und persönlich zu erfahren wäre.

Sind wir also mit der Geschichtsschreibung nicht genauso in der Bredouille wie mit der digitalen Kontrollgesellschaft und ihrer Facebook-Überwachung der heutigen Zeit? Es ist der moderne Konsumstaat, in dem niemand mehr genau weiß, warum er genau das konsumiert, das ihn eigentlich selbst ausbeutet. Heutzutage ist „das Leistungssubjekt, das sich frei wähnt, in Wirklichkeit ein Knecht. Es ist insofern ein absoluter Knecht, als es sich sogar ohne den Herrn freiwillig ausbeutet.“22 Aber nicht nur das tut das Subjekt als Unternehmer seiner selbst – wie der Autor weiter schreibt – sondern es ist auch gleichzeitig sein eigener Überwacher. „Das selbstausbeutende Subjekt führt ein Arbeitslager mit sich, in dem es gleichzeitig Opfer und Täter ist. Als selbstausleuchtendes, selbstüberwachendes Subjekt führt es ein Panoptikum mit sich, in dem es Insasse und Aufseher zugleich ist. Das digitalisierte, vernetzte Subjekt ist ein Panoptikum seiner selbst. So wird die Überwachung an jeden Einzelnen delegiert.“ Genau aus dieser Perspektive heraus halte ich eine übergreifendere, selbstanalytische, therapie- und theoriegeleitete Methode wie die Analytische Psychokatharsis (die ich noch beschreiben werde) für wichtig.

Selbst der Universitätslehrer also – Lacan hat dies in seinem Seminar Nr. XVII deutlich herausgehoben – mischt in diesem Spiel mit.

Er stellt das Wissen wie erwähnt nicht vollkommen an den Platz der Wahrheit, sondern an den eines ständigen Immer-Mehr-Wissens, eines Lernzwanges, einer Einpauckdivise, und das ist nun weiß Gott kein heilanbietendes Vorgehen. Der Professor benutzt nicht die enthüllende Ur-Übertragung und ihre Deutung, er trichtert uns eher das Wissen direkt ein, er kommuniziert es nicht voll, er vermittelt es nicht so, als käme es – wie ‚transsubstanziiert‘ – aus uns heraus.23 Auf jeden Fall kommt keine Therapie zustande und kein tiefes Begreifen. Aber auch der Zeitzeuge genauso wie der Historiker, wenn ich nur sie alleine höre, vermitteln mir keine ausreichende ‘Transsubstanziation’ der Geschichte. Der eine hat die Dinge so erlebt, der andere anders, der eine jene Theorie in den Vordergrund gestellt, der andere die gegenteilige.

In ihren Büchern ‚Der lange Schatten der Täter‘ und ‚Schweigen tut weh‘ versucht A. Senfft etwas ‚Transsubstanziatives‘, indem sie mit Menschen über deren Nazi-Eltern ausführliche Gespräche führt. Sie versucht ein Narrativ zu entwickeln, in dem das Schweigen der Eltern über die NS-Zeit zur Sprache kommt und das gegensätzliche Standpunkte bei den Kindern über Opfer-Täter-Verhältnisse Offenheit, Verständnis und Klärung bewirkt. 24 Doch um nur in einer einzigen Familie solche eine substanzielle Vermittlung zu erreichen, benötigt die Autorin sehr viel Zeit und ein geradezu familientherapeutisches Vorgehen. So wichtig ihr Vorhaben auch ist, wie sollte man sehr vielen Familien etwas Derartiges zukommen lassen können? In der Analytischen Psychokatharsis würde der Einzelne das Narrativ selbst entwickeln, was die Sache (auch nicht problemlos) vereinfacht, wie ich es noch zeigen will.

Auch heute gibt es bei uns auch immer noch reichlich tatsächlichen Antisemitismus, und umgekehrt fehlt es nicht an jüdischen Schriftstellern wie etwa Tony Judt oder Avram Berg, die ihre israelischen Mitbürger kritisieren, weil sie ihre Identität selbst in der dritten Generation nach dem 2. Weltkrieg immer noch aus der Holocaust-Opferrolle beziehen. Wir Deutsche haben andererseits oft die aus einem kollektiven Schuldgefühl heraus gewachsene Assoziation: wie erkläre ich meinem jüdischen Gegenüber, dass ich nicht antisemitisch eingestellt bin? Oder bin ich es vielleicht doch noch? Umgekehrt haben mir jüdische Zeitzeugen und meine Patienten, erstaunlich abgeklärt, reif und oft fast ‚väterlich‘ vermittelt, dass sie den Deutschen gegenüber kein Rachegefühl hegten. Speziell die oben genannte ältere Dame, die zuerst in Auschwitz und dann zum Schluss des Krieges in Theresienstadt war, deutete mir alles eher als eine ‚schlimme Krankheit‘ und ein unheilvolles Schicksal. Allerdings war diese Patientin noch in jungen und gesunden Jahren nach Auschwitz gekommen und konnte sogar eine Zeit lang außerhalb des Lagers arbeiten und wohnen.

Sie ging aber dann doch wieder freiwillig in das Lager zurück, weil auch ihre Schwester noch dort untergebracht war, und zudem kümmerte sie sich engagiert um andere Insassen. Vom Morden will sie nichts mitbekommen haben. Einmal fragte sie mich sogar: „Für was gibt´s eigentlich Juden“, was mich schockierte. Sie war in einer sehr streng orthodoxen Familie aufgewachsen, und hatte diese Kindheit und die Rituale ihrer sehr orthodoxen Familie gehasst.25 Sie konnte mit ihrer Religion nicht viel anfangen und hat später für ihre eigene Familie und für ihr kaufmännisches Talent gelebt. Als ihre Kinder größer waren ging sie nach Amerika und war dort eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Ich habe sie als eine starke Persönlichkeit erlebt, die interessant – wenn damit auch altersbedingt schon zunehmend schwerer zurechtkommend – erzählen konnte. Sie hatte viel durchgemacht und dies mit erstaunlichem Ernst bewältigt. Ich fühlte mich von ihrer Frage nach der Notwendigkeit des ‚Semitismus‘ überrumpelt, und habe ihr geantwortet, dass es Juden braucht, weil die Juden und ihre Intellektualität ein wesentlicher Grundbaustein unserer abendländischen Kultur sind.

Abb. 1 Der Autor mit seiner Familie in Haifa, lsrael, vor dem Schrein des Bab, Gründer Bahai-Religion

Ich muss dazu noch erwähnen, dass ich 1984 in Israel war und auch dort positive Erfahrungen gemacht habe. Ich habe dort Bekannte besucht, mit denen wir herumreisten und habe mit meiner Familie in einem Kibbuz .(Nascholim) gewohnt, wo wir mit etlichen Personen Kontakt hatten. Wir hatten viele Gespräche mit den Mitgliedern des Kibbuz, die damals noch von der Idee dieser Art des Zusammenlebens sehr überzeugt waren. Die Kinder kamen bald nach der Geburt in ein Kinderhaus und wuchsen dort mehr oder weniger getrennt von ihren Eltern auf. Es war ein sozialistischer Gemeinschaftstraum, alles wurde geteilt und gemeinsam erwirtschaftet. Auch andere Israelis kamen zu Ferienzwecken an diesen Ort, der am Meer lag. Mit diesen saßen wir oft zusammen, sie waren sehr an den Verhältnissen – vor allem auch wirtschaftlicher Art – in Europa interessiert. Deutschland war damals bereits Wirtschaftswunderland, und das bewunderten sie. Schon damals allerdings ging das Interesse an der Kibbuz Idee stark zurück. Andere Lebensverhältnisse, moderne Lebensweisen, ökonomische Verbesserungen ließen dort wieder europäische Lebensformen zum Zuge kommen.26 Auf jeden Fall konnte ich nicht irgendetwas problematisch Jüdisches erkennen und auch als Deutschen kamen mir die Israelis positiv entgegen. Trotzdem ist das Problem des anti- / prosemitischen Komplexes nicht klar genug und auch noch nicht wirklich gelöst.

Ich verstehe unter dem Jüdischen einen sehr alten Diskurs, der sich auf eine genetisch-sozial-kulturelle und religiöse Mischstruktur des früheren Palästina stützt und der quasi ein Losungswort für dieses semitische oder judaistische Pro darstellt. Aber das Pro dieser – Ismen liegt möglicherweise noch tiefer. Es ist vielleicht selbst den meisten Juden unbewusst, dass es um so etwas wie ein besonders starkes Identitätswort geht, weil es – wie man in der Psychoanalyse sagt - überdeterminiert ist. Es ist überdeterminiert durch die oben genannten Diskursgründe einer Mischstruktur. Wie ich feststellen konnte, wissen viele Juden aus unbewussten Gründen nicht, wie man das Judentum klar definieren könnte. Unbewusst heißt, dass die überdeterminierte Identität trotzdem als Wissen da ist, aber nicht bewusst und umfassend begriffen wurde. Ich werde versuchen, das nachzuholen.

Sicher hat sich in unserer modernen, hektischen Veränderungen ausgesetzten Gesellschaft manches geändert, auch manches Wichtige und Grundsätzliche. Der ältere Mensch ist nicht mehr der Verbindungsmann zu dem Früheren, von dem jüngere Menschen lernen, dessen Kenntnisse und Erfahrungen sie übernehmen sollen. Ohne den alten Handwerksmeister des Mittelalters hätte der Lehrling und Geselle in seinem Beruf nichts beginnen, aufbauen und vollenden können. Er war auf das angewiesen, was ihm der Ältere übermittelte. Heute kann die jüngere Generation nicht nur das gespeicherte Wissen früherer Generationen auf andere Weise, aus Büchern und sonstigen Lehrmitteln kennenlernen. Sie steht der rasanten, modernen Entwicklung neuer wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, technischer Erfahrungen näher als der alte Mensch, auf den sie mitunter geradezu mit etwas Mitleid, Spott oder Verachtung herabsieht, weil er hier "nicht mitkommt". Darf ich als Beispiel die moderne Elektronik, den Computer in allen seinen Möglichkeiten anführen? Hier ist es so, dass der Junge nicht mehr vom Alten, sondern allenfalls der Alte vom Jungen lernen kann, wenn er sich für diese neuesten Entwicklungen interessiert.

Früher war jedoch das Verhältnis Jung zu Alt nicht nur durch diese äußeren Faktoren bestimmt. Es war entscheidend in erster Linie beeinflusst durch die innere Haltung, durch den Respekt des Jüngeren vor dem Älteren. Wir hatten im Elternhaus, in der Schule und im gesellschaftlichen Leben gelernt, dass wir einer älteren Frau, ganz gleich welcher Gesellschaftsklasse sie entstammte, und einem älteren Mann, gleichgültig, welche Stellung er bekleidete, mit Achtung und Respekt gegenüberzutreten hätten. Es war eine pure Selbstverständlichkeit, dass wir in der Straßenbahn vor älteren Menschen aufstanden und unseren Sitzplatz zur Verfügung stellten, dass wir älteren Menschen bei sonstigen Gelegenheiten den Vortritt ließen, ihnen behilflich waren.

Sicher, das sind Äußerlichkeiten, aber jedes äußere Verhalten geht zurück auf eine innere Einstellung. Diese dem Menschen wohl innewohnende, durch die Erziehung geförderte innere Haltung kam nicht nur der älteren Generation zugut, die auf diese Weise etwas belohnt wurde für das, was sie in einem langen Leben geleistet und erlitten hatte. Sie war nicht nur ein Ansporn für die Jugend, die aufgrund dieses "Generationenvertrags", um einen heute überall gebrauchten Ausdruck zu verwenden, die Überzeugung, das Empfinden hatte, selbst einmal so behandelt zu werden, wenn sie alt geworden ist. Sie beeinflusste überhaupt das Verhältnis Mensch zu Mensch und diente dem inneren Frieden in der Gesellschaft. Es war zu meiner Zeit schlechthin unmöglich, dass . . . Studenten einen alten Professor mit Tomaten und Eiern bewarfen, wie es heute . . . vorkommt. Ich möchte an einen Vorfall erinnern, als der frühere CDU-Generalsekretär Geißler vor Frankfurter Studenten einen Vortrag hielt, dessen sachlicher Inhalt den jungen Herren nicht passte und die ihn daraufhin nicht nur mit Tomaten und faulen Eiern bewarfen, sondern mit ätzenden Flüssigkeiten zu besprengen suchten, so dass er ihnen schließlich zurief: "Ihr benehmt euch als Rabauken so, wie eure Väter und Großväter als SA-Männer."

Sicher war mein Vater ein Antisemit gewesen und erklärte dies auch oft mit einer nicht weiter hinterfragbaren Einstellung der damaligen Zeit. Vor einiger Zeit traf ich einen jüdischen Bekannten, der mir erzählte, in einem bestimmten Lokal seien viele Antisemiten und er rücke denen wohl ohne Erfolg den Kopf zurecht. Ich sagte zu ihm: „Warum tust du dir das an? Diese bedeutungslosen Leute haben doch nichts mehr zu sagen, du machst dir so viel sinnlose Mühe! Vor siebzig Jahren konnten diese Typen leider sehr viel sagen und da hätte man ihnen den Kopf zurechtrücken müssen. Was redest du mit Leuten, Antisemiten, die nichts zu sagen haben“? Ich denke, dass mein Bekannter unter diesem anti- / prosemitischen Komplex litt. Er war ein begnadeter Erzähler jüdischer Witze, aber ich hatte oft das Gefühl, dass er die Witze deswegen erzählte, weil er genau umgekehrt wie wir, die wir danach strebten besonders judenfreundliche Deutsche zu sein, einen ebenso besonders deutschfreundlichen Juden abgeben wollte. Wir waren uns jedenfalls einig, in unserer Identität nicht sehr unterschiedlich zu sein, und so denke ich, dass das Jüdische vielleicht ein Losungswort ist, ein Signifikant, der dem ‚transsubstanziieren‘