Die somatoforme Schmerzstörung - Günter von Hummel - E-Book

Die somatoforme Schmerzstörung E-Book

Günter von Hummel

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Beschreibung

Der Autor ist Arzt und Psychoanalytiker und war selbst an der somatoformen Schmerzstörung erkrankt. So bietet er in diesem Buch nicht nur eine fachliche, sondern auch eine aus persönlicher Erfahrung heraus vertiefte Kenntnis dieser Krankheit, deren Ursache bis heute wegen ihrer kaum zu vereinbaren psychischen und physischen Schwerpunkte unklar ist. Nach Schilderung allen bisherigen Wissens gelingt die Darstellung eines übergreifenden Standpunktes, der mittels der Verbindung von Psychoanalyse und Meditation ein neues, wissenschaftlich begründetes Verfahren erreicht, das - nach klarer Anleitung - aus diesem Buch heraus selbst erlernt werden kann.

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Seitenzahl: 185

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Das Umschlagsbild der Malerin T. Heydecker zeigt im gelben Behälter das Physische, das dem Menschen in Form chemischer Medikamente eingeflößt wird, und den Fadenknäuel, der das Psychische darstellt, das ihm auf anderer Weise zukommt. Denn der Mensch besteht hinsichtlich der somatoformen Schmerzstörung aus beiden Komponenten, doch bis heute finden beide keinen klaren Zusammenhang, vielleicht, weil man bisher nur so ein starres, skurriles Bild davon hat.

Inhaltsverzeichnis

1. Somatoform

2. Ein umfassendes Konzept der Somatisierung

3. Diagnose

4. Die vier Diskurse

5. Weitere Erklärungsversuche

6. Therapie

7. Pass-Worte

8. Das Urteil und die Quantenwelt

Anhang I zum Verständnis der Praxis

Anhang II zu Lacans Text der ‚Wellennatur‘ des Unbewussten

Literaturverzeichnis

1. Somatoform

Bevor ich zur Ernsthaftigkeit der somatoformen Schmerzstörung komme, eine kurze, einführende Bemerkung. Denn mein Buch wird nicht immer sehr leicht zu lesen sein, obwohl es darin um etwas sehr Einfaches geht, nämlich um die mehr unbewusst psychische Seite dieser Erkrankung, deren körperlich-neurologische Seite gleichermaßen wichtig ist. Aber wie noch zu zeigen sein wird, hapert es noch von daher sowohl diagnostisch als auch therapeutisch. Was die somatoforme Schmerzstörung nun wirklich verursacht lässt sich ganz genau gar nicht sagen. Denn es findet sich bis heute kein organisches Substrat, keine Schädigung irgendeines Gewebes oder Organs und eben auch nichts bewusst Psychisches, letztlich also einfach nichts Fassbares.

Man hat Schmerzen irgendwo im oder am Körper, oft im Kopf-Kiefer Bereich, manchmal an Armen oder Beinen oder sonst wo, ohne dass sich dort etwas konkret Krankhaftes nachweisen lässt. Sehr klar und einfach beschreibt Wikipedia die Krankheit: Bei einer somatoformen Schmerzstörung (auch Psychalgie) handelt es sich um eine Form der somatoformen Störung, die sich durch einen subjektiv empfundenen, mindestens 6 Monate andauernden, intensiven und quälenden Schmerz in einem Körperteil, der nicht ausreichend durch eine körperliche Störung oder ein physiologisches Geschehen erklärt werden kann, äußert. Das Auftreten dieses Schmerzes ist gekoppelt mit schwerwiegenden emotionalen und/oder psychosozialen Belastungen beziehungsweise Konflikten, die in einem entscheidenden ursächlichen Zusammenhang zu dessen Genese stehen. Verstärkte persönliche Zuwendung und medizinische Betreuung folgen daraus als möglicher Krankheitsgewinn. Verglichen mit Somatisierungsstörungen zeigen sich diese Schmerzen als anhaltend und im Fokus der Aufmerksamkeit des Betroffenen stehend.

Die Schmerzen werden wohl über die peripheren Nervenstränge vom Zentralsystem dorthin geleitet, wo es weh tut, sie strahlen also den Schmerz nach dorthin aus, beziehungsweise Es, das noch unklare Geschehen selbst, projiziert sie nach dorthin. Der Begriff des Es stammt von dem Nervenarzt G. Groddeck, für den alle Krankheiten psychosomatisch waren, also gleichermaßen psychisch und körperlich verursacht.1 Nach Groddecks Auffassung würde die somatoforme Schmerzstörung von diesem mysteriösen Es verursacht werden. Es kann sich auch wie beim Phantomschmerz um eine reine Schmerzprojektion handeln, doch ändert dies nichts am Wesen dieser Erkrankung, die sehr unangenehm sein kann. Sie sitzt jedenfalls nicht unbedingt dort, wo sie schmerzt, obwohl dies äußerst eindrucksvoll so aussieht. Es liegt keine der üblichen Entzündungen, keine degenerative Störung oder eine andere organische Veränderung vor. Auch kein definitiv zu bestimmendes psychisches Syndrom wie eine Neurose oder Psychose lässt sich nachweisen.

Es schmerzt einfach, und es ist unklar warum. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat dieses Es das Reservoir der Eros-Lebens-Triebe genannt, denen er den Todestrieb gegenüberstellte, ein Konflikt der Kräfte, und es könnte ja sein, dass solch ein konflikthaftes, konstantes Geschehen den Schmerz erzeugt und ihn somatoform (Soma heißt altgriechisch Körper), also körperlich, körperhaft ausstrahlt. Die so geformte Störung wurde in den internationalen Diagnoseschlüssel ICD-10 erst im Jahr 2009 aufgenommen, weil man vorher nicht wusste, in welche Krankheits-Kategorie man sie überhaupt einordnen sollte. Etwas Projektives wie beim Phantomschmerz spielt sicher mit eine wesentliche Rolle.

Bekanntlich leiden Menschen nach einer Amputation an Schmerzen und Empfindungsstörungen im gar nicht mehr vorhandenen amputierten Körperteil. Die Ursachen liegen zum Teil im durchtrennten Nervenstrang, aber wohl zum Hauptteil in den basalen Teilen des Gehirns, wo sich auch Nerven von beiden Gehirnteilen – den nach außen gehenden Nervenbahnen und den basalen Gehirnanteilen, kreuzen.2 Damit kann man verstehen wie auch Psychisches aus dem Unbewussten, das speziell projektiv mit dem Gehirn verbunden ist, am Schmerzprozess entscheidend mitbeteiligt sein kann. Nur wie, das weiß man eben bis heute nicht.

Die somatoforme Schmerzstörung hat auch Beziehungen zu dem vielleicht mehr bekannten chronischen Fatigue (Müdigkeit) Syndrom (CFS) und der myalgischen Encephalitis (ME), deren Ursachen ebenfalls unbekannt sind, denn in welchem Organ sollte man die Müdigkeit, die auch mit physischer Schwäche einhergeht, lokalisieren? Und vor allem, wie sollte man diese Störungen verstehen, bei denen ebenso kein Organ eine nachweisbare krankhafte Veränderung aufweist? Auch in den einzelnen Regionen des Gehirns findet man nichts – man muss also den Menschen, die sich ständig wie überfordert fühlen, obwohl unklar ist, in welchem Ausmaß sie es sind, einfach glauben. Die Schilderung ihrer Schmerzen klingt plausibel und nachvollziehbar. Es ist real, auch wenn man sich ihm vorerst nur imaginär (bildhaft) und symbolisch (worthaft) nähern kann.

Trotzdem, noch schwieriger ist zu verstehen, warum viele dieser somatoform Erkrankten eine sogenannte Belastungsintoleranz haben, das heißt, selbst nach ein bisschen Bewegung, zur der man ihnen ja aus gesundheitlichen Gründen geraten hat, geht es ihnen schlechter als vorher. Frauen sind zu dreiundsechzig Prozent, also deutlich mehr betroffen, aber warum? Die meisten Patienten sind seriöse Individuen, die zuvor vieles geleistet haben, psychisch nicht auffällig waren und in allen Lebenslagen funktionierten. Ein Fehler besteht oft darin, dass der Patient oder die Patientin ihre Symptome zu emotional, manchmal geradezu theatralisch schildern, und man das Ganze dann als rein psychisch abtut. Nun dominiert bei der somatoformen Schmerzstörung der körperhafte Schmerz und stellt sich ins Zentrum, ohne dass es ein solches gibt und man ihn nicht messen kann.

Erschwerend für das Verständnis kommt noch dazu, dass die Schmerzen sehr verschieden ausgeprägt sein können, so dass sie oft eher wie Rheuma oder eine klassische verkörperlichte Depression wirken. Ich litt ein paar Jahrzehnte lang selbst unter der somatoformen Schmerzstörung, kam aber aus noch zu erklärenden Gründen relativ gut damit zu Rande, obwohl die Krankheit ja in jedem Moment da ist. Sie war bei mir zwar nicht so extrem behindernd und lebenseinschränkend, wie gerade angedeutet, aber eben doch ständig vorhanden, mal mehr mal weniger spürbar. Doch bevor ich jetzt zu viel Persönliches ins Spiel bringe, zitiere ich ein paar fachliche, klinische Bemerkungen aus dem Deutschen Ärzteblatt zu dieser Form der Erkrankung.

Die Diagnose somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) wird häufig erst nach mehrjähriger Krankheitsdauer und multiplen diagnostischen Abklärungen, teilweise auch iatrogenen Schädigungen gestellt.

Im Vordergrund steht eine schon mindestens sechs Monate lang anhaltende Schmerzsymptomatik (chronischer Schmerz), welche durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt werden kann. Neben dem Ausschluss einer zugrunde liegenden körperlichen Ursache muss gleichzeitig im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn dieser Schmerzsymptomatik eine psychosoziale Belastungssituation (Scheidung, Pflege/ Tod eines nahen Angehörigen, Arbeitsplatzverlust) oder eine innere Konfliktsituation nachweisbar sein.

Bei Exploration der Entwicklung in Kindheit und Jugend fällt auf, dass diese Patienten zunächst dazu neigen, pauschal eine „glückliche“, zumindest jedoch „unproblematische“Kindheit zu vermitteln. Erst bei genauerem Nachfragen wird dann ein erhebliches Ausmaß an emotionaler Deprivation, körperlicher Misshandlung und auch sexueller Missbrauchserfahrungen deutlich, das jedoch selbst dann noch oft bagatellisiert, beziehungsweise verleugnet wird. Das Erwachsenenalter ist auf dem Hintergrund der als Resultat dieser Kindheitsentwicklung entstandenen Selbstwertproblematik von einer permanenten Suche nach Anerkennung und einer hohen Kränkbarkeit geprägt. Eine psychische Verursachung der Schmerzen wird von diesen Patienten deshalb auch aus Angst vor einer damit verbundenen Stigmatisierung meist abgelehnt.

Somatoforme Schmerzen laufen auf einer rein zentralen Ebene ab, werden vom Patienten jedoch peripher lokalisiert. Eine wesentliche Bedeutung scheint dabei der frühen intrapsychischen Verknüpfung von körperlichen Schmerzerfahrungen und affektiven Zuständen in Kindheit und Jugend zuzukommen. Wie bei vielen anderen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen prädisponieren eine Reihe psychosozialer Belastungsfaktoren in Kindheit und Jugend für die spätere Entwicklung einer somatoformen Schmerzstörung. Besonders bedeutsam erscheint dabei die Kombination einer früh gestörten Mutter/Eltern-Kind-Beziehung (das heißt dem primären Bindungsbedürfnis des Säuglings/Kleinkindes wird von der Hauptbezugsperson – sei es in Form eines emotionalen Desinteresses, sei es im Sinne einer überzogenen Einengung seiner Neugier – nicht adäquat begegnet) sowie ausgeprägter körperlicher oder schwerer sexueller Misshandlung.3

Diesen Text des Psychiaters, Prof. Tiber Egle, habe ich erheblich gekürzt. Die Erklärungen sind sehr profund, sehr differenziert und anschaulich, wobei die gemeinten traumatischen Erfahrungen auch schon aus frühester Zeit durchaus plausibel sind. Darüber weiß man speziell aus der psychoanalytischen Forschung noch etliches mehr. Als Arzt und Psychoanalytiker und noch dazu als selbst Betroffener kann ich dennoch sagen, dass die erwähnten Informationen kurz, bündig und gut sind, bin ich doch selbstverständlich auch noch von anderen Patienten aus der eigenen Praxis her informiert und kann das nur bestätigen. Aber ich bin mir auch darüber im Klaren, dass die theoretischen Kenntnisse noch deutlich mehr Praxis brauchen, denn die Psychoanalyse hat ein Problem mit den besonders frühen neurotischen Komplexen, das heißt auch mit dem, was sie das Ur-Verdrängte nennt, also das erste ausgeprägt ins Es Verdrängte.

Doch auch von der körperlichen, somatischen Seite her mangelt es beträchtlich. Vielen Ärzten ist die Krankheit gar nicht bekannt, mangels gut wirksamer Medikamente wissen sie auch nicht, was sie tun könnten. Sollen sie den Patienten zum Neurologen, Psychiater, Internisten, Psycho- oder Physio-Therapeuten schicken? Die somatoforme Schmerzstörung kann eine sehr schlimme Erkrankung sein, bei der man oft an den Tod denkt, der aber nie durch sie eintritt. Sterben kann man daran nicht. Neben den genannten problematischen Krankheiten wie dem ME und CFS, existieren noch das MCS (multiple chemical sensitivity Syndrom) und vor allem das erst neuerlich hinzugekommene Long- und Post-Covid-Syndrom, um ein weitere paar Beispiele dieser Krankheitsform zu nennen. Alle haben sie etwas mit dem Nerven- und Immunsystem zu tun, und auch wenn man dort nichts Manifestes findet, stehen sie wohl doch – und vielleicht sogar vordergründig – mit dem psychisch Unbewussten im Zusammenhang.

Ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte Forscher behaupten, dass die Ursache aller dieser Erkrankungen meistens in einem vorhergehenden Virusbefall, eventuell verbunden mit restlichen Virusbruchstücken abspielt, was sich auch in Veränderungen an den Mitochondrien (Zellorganellen) zeige, die mit Calcium überfrachtet und geschädigt würden oder in entzündlichen Erscheinungen an Gehirngefäßen, die so versteckt ablaufen, dass man sie nicht direkt diagnostizieren kann. Es finden sich ja auch keine Entzündungszeichen im Blut, wohl aber manchmal erhöhte Herpes- oder Epstein-Barr-Virus Titer aus früheren Erkrankungen. Aber hat dies wirklich eine konkrete Bedeutung?

Der Pharmakologe K. Wirth will für all diese Somatisierungsstörungen ein neues Medikament entwickeln, hat dazu extra eine Firma gegründet (Mitodicure) und arbeitet mit der Onko- und Hämatologin von der Berliner Charité, C. Scheibenbogen, zusammen, die sich ebenfalls mit dem Versuch, den Ursache-Mechanismus dieser Erkrankungen auf der Basis biochemischer Mechanismen weiter aufzuklären, beschäftigt.4 Sie wehrt sich dagegen, den Patienten psychische Faktoren als vorwiegenden Grund der Erkrankung zu unterstellen und beharrt auf der naturwissenschaftlichen Ursache. Aber als mit verursachend wird man unbewusst Psychisches nicht ausschließen können. Dieser Eindruck stellt sich doch meist zusätzlich zu allen anderen Symptomen ein.

In einem neuen Artikel der FAS wird über diese Situation ausführlich berichtet. Am Tag zuvor haben nämlich hunderte von ME/CFS Geschädigte vor dem Reichstagsgebäude in Berlin wie todkrank auf der Wiese gelegen und für eine bessere Versorgung der Patienten und mehr Geld für die Forschung demonstriert.5 Auch in anderen Städten haben derartige Demonstrationen stattgefunden, doch bewirken konnten sie nichts. K. Wirth will zwar mit seiner Firma schon bald das angekündigte Medikament herstellen, vorher allerdings auch noch bereits bestehende Medikamente in großem Umfang an diesen Kranken testen, was alles aber mehr als ein paar Millionen kosten würde und eine letztliche Klarheit vielleicht gar nicht erbrächte. Doch die Anstrengungen an diesem mehr herkömmlich pharmakologisch und biotechnisch entwickelten Stoff sind dennoch mehr als einen Versuch wert.

Wahrscheinlich ist es egal, ob man aktuelle Viren oder Gefäßentzündungen als einen Mitverursacher aller dieser Erkrankungen ansieht. Das Gleiche wird für die psychischen Ursachen und die frühkindlichen traumatischen Schädigungen gelten, denn dort gibt es keine objektiven Fakten, sondern eher subjektive Zustände. Doch gerade, weil die meisten Forscher immer wieder das Ursächliche in entweder Physisch-Körperliches oder Psychisch-Geistiges spalten und dabei die eine Seite deutlich mehr als die andere betonen, wird kein einheitliches Ergebnis zu Stande kommen, egal ob etwas objektiv oder subjektiv ist. Es stellt – so aufgefasst – ein nur banales Zusammenkitten aller Phänomene, und keine Lösung dar. Es fehlt einfach ein dritter Zugang. Einen solchen glaube ich jedoch in dem französischen Arzt und Psychoanalytiker Jacques Lacan gefunden zu haben, der diesen seinen Zugang eine Wissenschaft vom Subjekt genannt hat, die aber dennoch einen ‚objekt-haften‘ Charakter besitzt, und zwar exakt durch dieses Es und den Konflikt mit dem Tod, was ich schon angedeutet habe.

Denn Es ist nicht psychisch und nicht physisch, Es ist ein komplexes Geschehen, eine urverdrängte Triebkraft, in der der Tod immanent ist.6 Lacan hat Es als vom Instinkt klar unterschieden, der sicher beim Tier ein objektives Geschehen ist, beim Menschen aber haben sich die gefestigt wirkenden Instinkte in frei und manchmal gar chaotisch wirkende Triebe verwandelt. Das hat damit zu tun, dass das bei den Tieren nur als Signal-Sprache vorkommende Kommunikationssystem, sich in das nunmehr als Symbol-Sprache wirkende System verwandelt hat, das weniger der Kommunikation, als der Enthüllung, der Bedeutungsgebung und der Signifikanz dient. Genau darin steckt Es, das beim Menschen nicht mehr wie ein Instinkt, sondern wie ein sprachstrukturierter Trieb, wie ein unbewusstes Begehren, Wünschen, Drängen samt seinen Gegenstrebungen wirkt.

Na ja, das wird den naturwissenschaftlichen Ärzten wiederum nicht gefallen, weil zu einseitig ausgedrückt. Eine Theorie des Begehrens, die Freud‘sche Sexualtheorie zum Beispiel, gilt ihnen hinsichtlich des Somatoformen, Psychosomatischen, als unbrauchbar. Doch Freud hat in diesem Begehren nicht das Sexuelle der Erwachsenenwelt gesehen, wie oft behauptet wird, sondern etwas, dem lediglich ein derartiger Charakter zukommt. Das in der frühen Kindheit vorherrschende Begehren wirkt sich als ein Lust-Prinzip aus, dem jedoch fordernd und anspruchsvoll ein Realitäts-Prinzip gegenübersteht. Eben darauf, auf diesem Anspruch und dem ihn begleitenden Begehrens-Geschehen beruht Es, das als Einheitliches, als ein Ganzes, weder in der Praxis noch in der Theorie bisher erfasst werden konnte. Es ist immer, wie schon oben erörtert, in Physisch-Körperliches und Psychisch-Geistiges gespalten, so dass an ihm immer dieser Begehrens-Charakter als Konkurrent zur Realität haften bleibt.

Doch bevor ich erneut zu früh mit Theorien zur Ursache der somatoformen Schmerzstörung weitergehe, kehre ich nochmals zu den Stellungnahmen der ärztlichen Fachleute zurück, diesmal zu denen, die aus einer der Fachkliniken stammt, von denen etwa ein Dutzend im Internet ausführlich Auskunft zur somatoformen Schmerzstörung geben. In dem folgenden Artikel der Oberhofkliniken, die sich intensiv mit der somatoformen Schmerzstörung beschäftigen, wird die enge Verknüpfung der Schmerzsysteme auf der neurobiologischen und auch psychologischen Ebene hervorgehoben und es werden hier endlich klare Angaben zur Behandlung gemacht:

Als Hauptrisikofaktoren für die Entstehung einer Somatoformen Störung gelten: Frühe (eigene) Erfahrung von schweren Erkrankungen oder Erkrankungen innerhalb der Familie, außergewöhnlich belastende Lebensereignisse (Arbeitslosigkeit, Trennung, Unfälle, Verlust einer nahestehenden Person, komplizierte Operationen, besonders sorgenvoller Umgang mit körperlichen Beschwerden (auch familiär), neurobiologische und genetische Faktoren.

Psychotherapeutische Ansätze bestehen in Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT), Familientherapie oder in psychoanalytischer und tiefenpsychologisch fundierter Therapie. In letzterer geht es vor allem darum,seelische Konflikte, mögliche Traumatisierungen oder familiäre Belastungen aus der Vergangenheit aufzuarbeiten, die hinter der Störung stecken können. Man geht davon aus, dass solche belastenden Ereignisse bis in die Gegenwart nachwirken und so zur Entstehung und Aufrechterhaltung der körperlichen Beschwerden beitragen können.

Unter bestimmten Voraussetzungen können die Psychotherapien durch Psychopharmaka zeitweise unterstützt werden. Einige dieser Medikamente sind – je nach individueller Absprache und Dosierung – sehr gut geeignet, eine innere Distanz zwischen den belastenden Gedanken und dem körperlichen Beschwerde- und Schmerzempfinden zu schaffen.

Bei einer anhaltenden Schmerzstörung ist es in manchen Fällen sinnvoll, neben einer Psychotherapie auch Schmerzmittel einzusetzen. Dabei eignen sich vor allem Schmerz- und Entzündungshemmer (Schmerzmittel der Stufe 1, die weniger Nebenwirkungen haben) – auf Opioide, die deutlich stärker wirken, sollte möglichst verzichtet werden.

Auch dieser Artikel wurde erheblich gekürzt, denn ich denke, die etwa gleichlautenden Berichte vermitteln zu Genüge die derzeit gängige Theorie und den fachlichen Umgang mit der somatoformen Schmerzstörung und lassen mich zuerst nochmals allgemeine Bemerkungen zum Hintergrund derartiger Krankheiten anfügen. Nicht nur, weil ich selber davon mehr als vierzig Jahre lang betroffen war und zudem ein eigenes, neues Therapieverfahren entwickelt habe, sondern weil die somatoforme Schmerzstörung zu weitreichenden Erklärungen existenzieller, psychoanalytischer und subjektwissenschaftlicher Natur anregen, wie es also auch Lacan hinsichtlich psychischer Erkrankungen generell getan hat.

Natürlich gibt es kein Leben ohne Schmerz. Unter dem Begriff ‚chronisch Schmerzkranker‘ finden sich heutzutage wesentlich mehr Patienten als unter der spezifisch ‚somatoform‘ genannten Schmerzkrankheit. Wahrscheinlich gibt es fließende Übergänge von der einen zur anderen Erkrankung. ‚Chronisch Schmerzkranke‘ weisen allerdings meist effektive Vorerkrankungen, Verletzungen, Rheuma, Arthrose oder Operationsfolgen als Ursache auf, man kann sie also von daher behandeln, trotzdem können auch ihre Schmerzen jahrzehntelang bestehen bleiben. Mir geht es hier jedoch vorwiegend um diejenige Schmerzerkrankung, die aus heiterem Himmel kommt und für die nicht die geringste Ursache zu finden ist.

Hängt die rätselhafte Ursache der somatoformen Schmerzstörung nicht gerade in einer Weise mit Fakten zusammen, in der – um nochmals eine andere Version einer Erklärung einzuführen – nur eine sehr konkrete Auseinandersetzung mit Zukunftsängsten, deutlichen Persönlichkeitsstörungen und mit einem scheinbar drohenden Tod, Klärung und Hilfe zugleich bringen könnte? Kurz: muss man nicht nach dem ‚Werden‘ schauen, anstatt nur im ‚Gewesen-Sein‘, in den Ursachen, zu stöbern? Oder, wo soll man mit einer übergeordneten und nicht nur für Fachleute gültigen Beschreibung dieser Erkrankung anfangen? Es muss doch auch nachvollziehbare Erklärungen für den Einzelnen geben, und zwar exakt auf dem als begehrendem, als eigens unbewusst verlangendem Subjekt.

Denn wie soll das vor sich gehen, dass frühe Erfahrungen von Verlusten, von Deprivation in Folge von Missbrauch, Störung der Mutter-Kind-Beziehung und was alles in den zitierten Artikeln erwähnt wurde, sich in eine derartige Krankheit umgesetzt haben? Oder wie können so viele verschiedene immunologische Prozesse von Virusinfektionen bei den Post-Virus-Syndromen beteiligt sein, dass sie tödlich bedrohend wirken? In der Pharmazeutischen Zeitung berichten Autoren von zurückbleibenden Virusresten, von ‚pathogen molekularen Mustern speziell in Darmepithel-Zellen, von Auto-Antikörpern, von Cortison Verminderung, von veränderten B-T-Zell Funktionen und Zytokinen und weiterem mehr.7 Facharbeiten zu diesem Thema sind inzwischen unübersehbar geworden und überschlagen sich mit neuen Thesen.

Alle gehen im Endeffekt – wie ich es bereits in den ersten Zeilen dieses Buches angedeutet habe – von einem neuro-psychologischen Netzwerk aus, was immer das vorerst heißen mag. Die These vom ‚Netzwerk Menschengehirn‘ wird in einem neueren Werk des bekannten Hirnforschers G. Roth ausführlich dargelegt. Roth postuliert beispielsweise sechs `psychoneuronale Systeme´ (stressverarbeitend, intern beruhigend, intern bewertend und belohnend, impulshemmend, bindungssystemisch und das System des Realitätssinns und der Risikobewertung) und vier entsprechende, mehr oder weniger hierarchische `Ebenen´ (untere limbische, lebenserhaltende Ebene, mittlere limbische emotionsbezogene Ebene, obere limbische Ebene bewusster Gefühle und Motive und die kognitiv sprachliche Ebene).8

Die Vielschichtigkeit und Unklarheit von Roths neuropsychischen Thesen ist ähnlich strukturiert wie bei den Immunologen. Denn Roth beschreibt nicht, was eigentlich das Agens ist, das die Miteinander-Wirkungen der Systeme vollbringt. Er geht von den Genen, von Neurotransmittern und Zellimpulsen elektrischer Natur aus, deren Wirkungen sich in einer Weise überkreuzen, so dass man von den Systemen, die er beschreibt, gar nichts mehr unmittelbar verwenden kann. Roth beschreibt auch nicht, was an seinen Systemen angeboren oder erworben ist und was man damit selbst bewirken kann. Ist hier also auch das Ich beteiligt oder sind es nur die Gene? Wahrscheinlich beides, denn die Gene spielen in Roths Schilderungen eine bedeutende Rolle, aber sicher können durch Fehlentwicklungen und traumatisierende Ereignisse ja auch Neigungen zusätzlich erworben worden sein.9 Doch, wenn sie erworben sind, hat die Seele ja das Gehirn gemacht und nicht umgekehrt, wie Roth es beschreibt. Das Gehirn hat neuesten Forschungen zufolge tatsächlich eine ausgeprägte Plastizität, so dass eine aus sozialen aber auch unbewussten Konflikten berechtigte Wut Einfluss auf das Neuro-Hormon Serotonin haben kann und damit alles anders gesteuert wird. Aber wird man von dieser Erkentnis her gesund?

Letztlich will ich jedoch gar nicht auf eine spezielle Kritik an all diesen Neurowissenschaftlern hinaus. Für mich liegt das Hauptproblem darin, wie unterschiedlich Hirnforscher bezüglich ihrer Untersuchungen die imaginäre Ordnung (Bilder des Gehirns) und die symbolische Ordnung (die oben geschilderte Symbol-Sprache) benutzen. Bei Roth sind die Gehirnareale wenigstens mit den sprachlich-kognitiven Vorgängen „befasst“ (vor allem im Frontalhirn), dennoch existiert kein übergeordnetes Es, das aus dem genannten Psychisch-Geistigem und Physisch-Körperlichem zusammengesetzt ein guter Ansprechpartner wäre, den man fragen könnte, wie nun durch all dies Vorgebrachte der Schmerz entsteht?

Denn warum und wie ist das somatoform? Ich denke, dass vor allem das von den Autoren in Fußnote 3 geäußerte Konzept einer Kreuzreaktion linker und rechter Gehirnteile eine Somatisierung aus neurologischer Sicht gut erklären kann. Mitverursachend können dazu die frühen psychisch unbewussten Strukturen des Es sein, die projektive und topologisch gestaltete Dynamiken enthalten, die sich mit den neurologischen Aspekten in Verbindung bringen lassen. Lacan hat hierzu etliche Modelle wie etwa das Möbiusband oder den Torus herausgestellt. Ich gehe diesen Fragen im nächsten Kapitel genauer nach, denn es ist nötig, für die somatoforme Schmerzstörung ein umfassendes Konzept entwickelt zu haben, mit dem sich somatische und psychische Aspekte vereinen lassen.

Einen ausführlichen Überblick auf dem neuesten Stand zu all diesen somatoformen Erkrankungen findet sich in einer Veröffentlichung der ‚Deutschen Gesellschaft für ME/CFS. Es wird sehr umfassend darauf eingegangen, wie behutsam man mit diesen Kranken umgehen sollte, weil meist „zu früh, zu viel und zu schnell“ etwas getan wird, was die Krankheit eher verschlechtert. Es wird auf die häufigen ‚orthostatischen (kreislauf-betonen) Probleme‘, auf das PEM (post-exertionelle Malaise), auf das sogenannte „Pacing“, das genau abgestimmte „Aktivund-Energie Management“ reichlich eingegangen. Sport oder zu starke körperliche Belastung soll vermieden werden und auch Psychotherapie in „kurativer Absicht“ – also Therapie ohne Bestimmtheit – soll genauso wie Verhaltenstherapie nicht zur Anwendung kommen.

Zahlreich wird auf die möglichen Behandlungen durch Medikamente hingewiesen, die zwar alle keinen großen Durchbruch erreichten, aber dennoch zur Linderung der Beschwerden erwogen sein sollen. So z. B. auf eine Low-Dose Therapie mit Aripipraxol, einem Mittel, das zur Schizophrenie Behandlung eingesetzt wird oder Naltrexon, ein Opinoid-Antagonist – was ich freilich für sehr problematisch halte. Doch man sieht daran, dass es eben nicht wirklich Wirkendes gibt, und dass die genannte Gesellschaft für ME/CFS in Panik darüber ist, wie sie helfen soll. Ähnlich fragwürdig ist die Verwendung von Vericiguat (Herzschwäche Mittel) und Pyridostigmin, das auf die Muskulatur stärkend wirkt.

Ich selbst habe kaum ein Medikament genommen, aber ich hatte auch nicht so ein ganz schweres Ausmaß der somatoformen Schmerzstörung, wie es sie auch bei der myalgischen Encephalitis oder dem Müdigkeits-