Poltern - Ulrike Sick - E-Book

Poltern E-Book

Ulrike Sick

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Beschreibung

Das einzige deutschsprachige Fachbuch zum Poltern bietet Hintergründe und Methoden der qualifizierten logopädischen Diagnostik, Strategien für eine mehrdimensionale störungsspezifische Therapie und vermittelt das Wissen zur hypothesengeleiteten, symptomorientierten Behandlung von Poltern. Neu in der 2. Auflage: - enthält die zurzeit erfolgreichsten Methoden zur logopädischen Diagnostik und Therapie von Poltern - komplett überarbeitetes Diagnostikmaterial - erweiterter Therapieteil: jetzt mit neuen Übungen - strukturierter Behandlungsplan für die Kernproblematik von Poltern, individuell einsetzbar für Kinder, Jugendliche und Erwachsene - Diagnostik- und Therapiematerialien als kostenloser Download im Netz abrufbar

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Seitenzahl: 479

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Poltern

Theoretische Grundlagen, Diagnostik, Therapie

Norina Lauer, Dietlinde Schrey-Dern

Ulrike Sick

2., vollständig überarbeitete Auflage

31 Abbildungen

Vorwort der Herausgeberinnen zur 2. Auflage

Über die Diagnostik und Therapie des Polterns finden sich in der Fachliteratur nur wenige aktuelle Veröffentlichungen, die über eine Auflistung von differenzialdiagnostisch relevanten Symptomen und generellen Behandlungsansätzen hinausreichen. Dieser Befund gilt auch 9 Jahre nach der Erstveröffentlichung der Publikation.

Obwohl in der Medizingeschichte Poltern bereits seit dem 18. Jahrhundert als Störungsbild dokumentiert ist und Deso Weiss bereits 1964 bei Prentice Hall in den USA eine erste Publikation veröffentlicht hat, ist Poltern im Gegensatz zum Stottern nicht nur in der klinischen Praxis, sondern auch in der empirischen Forschung unterrepräsentiert.

Diesem Mangel versucht die im Jahre 2007 gegründete ICA (International Cluttering Association, http://associations.missouristate.edu/ica/) zu begegnen, deren primäres Ziel es ist, das Störungsbild bei Betroffenen und Behandlern bekannter zu machen, ihr Wissen darüber zu vergrößern und damit zu einer effektiveren Behandlung beizutragen. Dementsprechend veranstaltete die ICA bereits 2007 eine erste internationale Konferenz in Bulgarien, die eine Bestandsaufnahme zu empirischen Forschungsprojekten, Diagnoseverfahren und Therapiemethoden in 18 Ländern vornahm.

Wie die Autorin überzeugend vermittelt, führen das mangelnde Wissen über die Symptome des Polterns, deren Wirkungszusammenhänge mit kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sowie fehlende Behandlungskompetenzen der Therapeuten dazu, dass Poltern häufig unbehandelt bleibt. Polternde Jugendliche und Erwachsene und deren Angehörige wissen zudem meist nicht, dass die Störung logopädisch behandelbar ist.

Ziel des Buches ist es, eine praxisrelevante Darstellung des Forschungsstandes zu vermitteln. Die Autorin stellt Definitionen und Konzepte zum Poltern vor, beschreibt die Symptomatik ausführlich und grenzt sie vom Stottern ab. Neben Diagnostikmaterial enthält das Buch im Therapieteil eine Vielzahl von symptomspezifischen Übungen, die von eigenen Erfahrungen und Überlegungen der Autorin geprägt sind oder sich anderweitig in der therapeutischen Praxis bewährt haben. In die 2. Auflage wurden aktuelle wissenschaftlich und berufspraktisch fundierte Informationen eingearbeitet.

Die Veröffentlichung ist sowohl für Studium und Ausbildung von Logopäden und Sprachtherapeuten geeignet, als auch für in den schulischen und klinischen Berufsfeldern tätige Therapeuten.

Wir hoffen, dass das Buch zur Verbesserung der effektiven Diagnostik und Therapie des Polterns beiträgt und Anstoß für vertiefte empirische Forschungen bietet.

Aachen und Idstein, August 2013

Dietlinde Schrey-Dern

Norina Lauer

Merke

Wichtiger Hinweis für den Leser

Möchten Sie Ihr eigenes Repertoire um Diagnostik- und Therapiematerialien zu Poltern erweitern?

Erprobte Materialien zum Einsatz in der Praxis finden Sie im Anhang und als kostenlosen Download als Kopiervorlage im Internet unter www.thieme.de/go/Forum-Logopädie/Sick.

Auf dem hinteren Innendeckel des Buches finden Sie eine Anleitung, wie Sie mit Ihrem persönlichen Zugangscode zu den Online-Materialien gelangen.

Vorwort

Bereits im Jahr 2004 erschien die erste Auflage dieses Buches. Seitdem habe ich viel positive Resonanz zu diesem Buch erhalten, über die ich mich sehr gefreut habe. Dennoch war es an der Zeit, die erste Auflage komplett zu überarbeiten und zu aktualisieren. In der zweiten Auflage habe ich versucht, die Waage zu halten zwischen weiterhin ausführlicher theoretischer Information und klarer Strukturierung des praktischen Teils. Neue derzeit im Deutschen, Englischen und Niederländischen zugängliche wissenschaftlich und berufspraktisch fundierte Informationen wurden in diese zweite Auflage eingearbeitet. Die zweite Auflage ermöglicht ausgebildeten Sprachtherapeuten und Logopäden eine qualifizierte logopädische Diagnostik und Therapie von Poltern bei Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern nach dem neuesten Wissensstand. Für Studium und Ausbildung liefert dieses Buch alle nötigen Wissens- und Handlungsgrundlagen zum Thema Poltern. Rückfragen, Kommentare und Anregungen sind jederzeit per E-Mail erwünscht an: [email protected].

Offenbach, im Herbst 2013

Ulrike Sick

Danksagung

Ausführliche Danksagungen sind mir wichtig, denn ohne Unterstützung, Feedback und Anregungen ist es nicht möglich und wäre es nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben, von dem polternde Personen, deren Umfeld und Therapeuten bestmöglich profitieren sollen.

An erster Stelle danke ich meinem Mann Oliver für all die Zeit, die er alleine mit unseren Kindern Leif, Lara und Anna in den „heißen Monaten des Schreibens“ – gerade auch am Wochenende – verbracht hat, um mich an den Schreibtisch zu entlassen und mir so ein zusätzliches konzentriertes, effizientes und effektives Arbeiten zu ermöglichen. Leif, Lara und Anna danke ich für ihr Verständnis, dass ich in dieser Zeit weniger als sonst für sie da war, und ihr Interesse an dem Thema „Buch“. Meiner Mutter Helga Kähler danke ich für diverse Extrakinderbetreuungen und ihre Hilfe, was mir den Rücken frei gehalten hat, um neben meiner Berufstätigkeit schreiben zu können. Meinen beiden Eltern, Helga und Gunther Kähler, danke ich allgemein für ihre Liebe und Unterstützung. Sie haben dazu beigetragen, dass ich die nötige Energie und Freude für derartige Projekte habe. Markus und Tanja Tacker danke ich für die Verwirklichung des Coworking-Projektes „Offenraum“, das mir am Wochenende – wann immer ich es brauchte – die Möglichkeit bot, einen Schreibtisch in ruhiger Umgebung mit „free coffee“ in Offenbach zu mieten.

Ich danke all meinen Kolleginnen und Kollegen sowie meinen zahlreichen Seminarteilnehmern für fruchtbare Gespräche, deren Ergebnisse und Essenzen auch in dieses Buch eingeflossen sind. Meinen polternden Patienten danke ich für ihr direktes und indirektes Feedback zu meiner Arbeit mit ihnen, das zu einer Weiterentwicklung von Diagnostik und Therapiemethoden führte. Ich danke Prof. Norina Lauer für die fachliche Durchsicht des Manuskripts.

Mein abschließender Dank gilt dem Thieme Verlag, der mir die nötigen zeitlichen Freiräume gab, das Projekt „Neuauflage“ zu verwirklichen, und der mich immer freundlich unterstützt hat.

Einleitung

„Über Poltern wissen wir sehr viel mehr als nichts, aber noch lange nicht genug.“ Mit diesem Satz begann die Einleitung zur ersten Auflage dieses Buches im Jahr 2004. Seitdem hat sich die Forschung zum Thema Poltern jedoch weiterentwickelt. Durch die Gründung der „International Cluttering Association“ (ICA) im Jahr 2007 sind Forscher und Therapeuten nun weltweit vernetzt. Wir wissen genug, um erfolgreiche logopädische Therapien durchführen zu können, obwohl auch diesbezüglich noch Optimierungsbedarf besteht. Wir wissen, trotz deutlichen Fortschritten in der Forschung, noch nicht genug über die theoretischen Hintergründe von Poltern, um zu verstehen, welche Defizite zur Entstehung einer Poltersymptomatik führen, welche Symptome wirklich dem Poltern und welche assoziierten Störungen zuzuordnen sind.

Ziel dieses Buches ist es, den aktuellen Wissensstand, inklusive historischer Entwicklungen, wiederzugeben, um darauf aufbauend die derzeit erfolgreichsten Methoden zur Diagnostik und Therapie vorzustellen. Im Bereich Diagnostik wurden in dieser zweiten Auflage Diagnostikmethoden präzisiert und das gesamte Diagnostikmaterial (Kap. ► 10) überarbeitet.

Im Therapieteil werden zu den zahlreichen Symptomen von Poltern praktische Übungen vorgestellt, die sich entweder durch eigene Erfahrung, in Gesprächen mit anderen Therapeuten, Seminarteilnehmern oder in der Literatur als sinnvoll erwiesen haben. Im Vergleich zur ersten Auflage wurden einige Übungen herausgenommen, dafür neue hinzugefügt. Der Therapieteil liefert nun auch einen strukturierten Behandlungsplan für die Kernsymptomatik von Poltern.

Das Buch richtet sich an alle, die sich mehr oder weniger intensiv mit Poltern befassen, und vermittelt in Kombination mit logopädischem Unterricht Studierenden das nötige Wissen für eine hypothesengeleitete, symptomorientierte logopädische Behandlung von Poltern.

Ich habe in diesem Buch keine einheitliche Kennzeichnung von männlichen und weiblichen Personengruppen eingehalten, sondern die Form genommen, die ich spontan als erstes zu Papier gebracht habe. So habe ich beispielsweise Therapeutinnen geschrieben, auch wenn damit männliche Therapeuten selbstverständlich ebenfalls angesprochen sind. Die Schreibweise TherapeutInnen mit einem großen „I“ wollte ich vermeiden.

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Poltern

Geschichtlicher Überblick

Die Geschichte der Beschreibungen von Poltern beginnt mit einer Überlieferung aus der Antike, wenn man sich wie Weiss der Meinung anschließt, dass Demosthenes vor seiner Selbstbehandlung mit Kieselsteinen eher gepoltert als gestottert hat → [Weiss, 1964]. Demnach wurde er nach Überlieferung von Plutarch (ebd.) als eine Person mit „exzessivem Temperament, undeutlicher Aussprache, Dyslalien, schwacher Stimme, Kurzatmigkeit und der Unfähigkeit auf den Punkt zu kommen“ beschrieben. Eine weitere Anekdote berichtet von dem libyschen König Battaros, der schnell und unorganisiert gesprochen haben soll, sodass Menschen, die ähnlich wie er sprachen, als unter Battarismus Leidende benannt wurden → [Weiss, 1964].

Weiss bezeichnet die Geschichte des Polterns als eine offene und verdeckte Geschichte → [Weiss, 1964]. Die offene Geschichte beschreibt die tatsächliche Geschichte, nämlich die der Klinik des Polterns, die verdeckte Geschichte beinhaltet Beschreibungen über vermeintliches Stottern, das nach heutigem Wissensstand als Poltern oder eine Mischform beider Störungen hätte bezeichnet werden müssen.

In der Antike und im Mittelalter wurde Poltern noch nicht als eigene Störung beschrieben, obwohl einige Arbeiten Symptome von Poltern erwähnen, wie beispielsweise Aetius im 6. Jahrhundert und Hieronymus Mercurialis (→ [Aetius, 1649]→ [Mercurialis, 1584], beide in: → [Weiss, 1964]). David Bazin (→ [Bazin, 1717], in: → [Luchsinger, 1963]) liefert eine Symptombeschreibung von Poltern in seinem Werk De lingua et eius vitiis morbosis.

Er schreibt unter anderem:

„Hierher gehört auch die Überstürzung der Sprache, bei der die Menschen aus allzu großem Sprechdrang nicht genügend Zeit auf die Aussprache der Wörter verwenden. Bei solchen eilt die Sprache oft den Gedanken voraus, sie versuchen zumeist noch unverbundene oder verworrene Gedanken auszudrücken. Dies ist eine Störung, die mehr mit dem Geist als mit der Zunge zusammenhängt und deshalb mehr der Psychologie (Ethica) als der Medizin zugehört; ihre Heilung liegt in den 2 Worten festina lente – eile mit Weile!“ (vgl. → [Luchsinger, 1963], S. 10).

Colombat verwendete 1830 drei Begriffe für Symptomenkomplexe bei Poltern → [Colombat, 1830]: Bredouillement (exzessive Schnelligkeit, die zu auffälliger Artikulation führt), Balbutiement (Unflüssigkeiten durch Wortfindungs- oder Formulierungsstörungen) und Bafoillement (Unfähigkeit, auf den Punkt zu kommen (vgl. → [Weiss, 1964]→ [Weiss, 1968]). Luchsinger hebt eine damals wenig beachtete Schrift von Serre (1841) hervor → [Luchsinger, 1963]. Dieser betrachtete Poltern als ein Stottern, das in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist, und empfahl als Therapie, dass „jede Silbe die ihr zukommende Aussprachezeit bekomme“. Zusätzlich setzte er den adäquaten Gebrauch von Gestik in der Therapie ein. Zu gleicher Zeit berichtete der Pariser Arzt Dr. M. Miguel von erfolglosen Zungenoperationen nach der Methode von Dieffenbach bei 2 polternden Sprechern: „Ich habe zwei Kranke operiert, die anstelle eines echten Stotterns eine Unordnung der Rede La parole confuse aufwiesen. Man verstand nur schwer und unvollständig die Worte, welche sie aussprachen.“ (→ [Luchsinger, 1963], S. 12) 1877 stellte Adolf Kussmaul dar, dass Poltern zwar leicht mit Stottern verwechselt werden kann, sich die beiden Störungen aber unter anderem deshalb unterscheiden lassen, weil sich Poltern verbessert, wenn der Patient seine Aufmerksamkeit auf die Symptome lenkt, Stottern hingegen verschlechtert (in: → [Luchsinger, 1963]). Gutzmann (1892, in: → [Luchsinger, 1963]) sah die Ursache von Poltern in einer Unaufmerksamkeit, einem Fehler im ideogenen Centrum (S. 13). Seiner Ansicht nach bestand ein „Missverhältnis zwischen Sprechlust und Geschicklichkeit der Sprechmuskulatur, die vor allem bei 12–14-jährigen Kindern hervortreten“ (ebd.). Im deutschsprachigen Raum widmete erstmals Albert Liebmann mit seinen Vorlesungen über Sprachstörungen – Poltern dieser Störung einen eigenen Band → [Liebmann, 1900]. Er bezeichnet Poltern auch als Paraphrasia praeceps. 1916 beschrieb James Sonnet Greene einen Fall von Poltern, dessen Symptomkomplex er Agitophasia nannte und der mit auffälliger Handschrift einherging → [Greene, 1916]. Fröschels stützte noch die These von Bazin, indem er schreibt, dass die Ursache von Poltern in einer mangelhaften Übereinstimmung von Sprechenwollen und Sprechenkönnen liegt, da die Gedanken dem Sprechen vorauseilen → [Fröschels, 1931]. Florensky erwähnte erstmals, dass ein erhöhtes Sprechtempo beim Poltern ein Symptom der Störung und nicht deren Essenz darstellt → [Florensky, 1933].

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Stottern spielte Poltern eine Rolle, weil der Hypothese nachgegangen wurde, dass die Ursachen von Stottern im Poltern zu suchen sind (→ [Freund, 1952]→ [Weiss, 1950], in: → [Luchsinger, 1963]). Freund (→ [Freund, 1952], in: → [Van Riper, 1970]) grenzte erstmals Stottern und Poltern tabellarisch voneinander ab und schrieb beiden Störungen charakteristische Persönlichkeitstypen zu. Dies führte aber weniger zu einer wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit der Symptomatik von Poltern, sondern vielmehr zu einer Stigmatisierung polternder Menschen. 1950 stellte Weiss erstmalig sein Konzept der Central Language Imbalance (vgl. Kap. ► 1.1) vor. Im deutschsprachigen Raum erschien 1963 ein kompletter Band zum Poltern von Luchsinger. Deso Weiss fasste 1964 in den USA den damaligen Wissensstand über Poltern in seinem Buch Cluttering zusammen. Er sprach von Poltern als „orphan in the family of speech language disorders“ → [Weiss, 1964]. Schon er kritisiert die für diese komplexe Sprach- und Sprechstörung zu geringe Anzahl empirischer Untersuchungen: „We regret that the systematic research cited here is unduly meager, but this mereley reflects the regrettable lack of attention accordes to cluttering“ (→ [Weiss, 1964], preface xii). Gleichzeitig setzte schon er seine Hoffnung auf weitere Forschung und bezeichnete Poltern als „to be the most promising chapter of modern logopaedics“ ([→ Weiss, 1967], S. 258).

1970 erschien eine vollständige Ausgabe der Folia Phoniatrica zu Ehren von Deso Weiss mit 13 Artikeln zum Thema Poltern. In den 1970er und 1980er Jahren wurden immer wieder einige Artikel veröffentlicht, darunter 2 zu Poltern bei neurologischen Erkrankungen → [DeFusco u. Menken, 1979]→ [Hanson et al., 1986]. Von einer wirklichen Weiterentwicklung der Forschung zum Thema Poltern in dieser Zeit kann aber nicht gesprochen werden. Iven kritisierte, dass in der gesamten Literatur über Poltern Traditionen, Meinungen und Annahmen gegenüber den objektiv empirisch ermittelten Daten überwiegen → [Iven, 1998].

Fazit

Bis Anfang der 1990er Jahre sind einige empirische Forschungsergebnisse zustande gekommen, im Vergleich zu anderen Sprach- und Sprechstörungen ist die Zahl der Ergebnisse jedoch erstaunlich gering.

Im Jahre 1992 versuchten Myers und St. Louis mit ihrem Buch Cluttering: A Clinical Perspective das Interesse an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von Poltern wiederzubeleben. 1996 wurde eine vollständige Ausgabe des Journal of Fluency Disorders der Thematik des Polterns gewidmet. Diese Ausgabe beinhaltet neben einer kritischen Auseinandersetzung mit der früheren Forschung neue Forschungsergebnisse aus den Bereichen der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung → [Molt, 1996] sowie Kommunikation und Pragmatik → [Teigland, 1996]. Eine empirische Auseinandersetzung mit Spontansprache bei Poltern im Vergleich zum Schnellsprechen wurde von Sick durchgeführt → [Sick, 1999]. Im Jahr 2000 veröffentlichten Blood et al. ebenfalls einen Artikel zu auditiven Verarbeitungsstörungen bei Poltern, der sich auf die Ergebnisse von Molt (s. o.) bezieht → [Blood et al., 2000].

Derzeitiger und zukünftiger Stand von Poltern in Wissenschaft und Praxis

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches ist die wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit Poltern deutlich fortgeschritten.

Nach der Veröffentlichung des Buches Stuttering and Cluttering → [Ward, 2006] initiierten im Jahr 2007 die US-amerikanischen Forscher und Therapeuten um Kenneth O. St. Louis und Florence Myers in Kooperation mit den bulgarischen Forscherinnen bzw. Therapeutinnen Dobrinka Georgieva und Katya Dionissieva in Razlog (Bulgarien) die „First World Conference on Cluttering“. Dort präsentierten Kliniker und Forscher aus vielen Ländern ihre Forschungsergebnisse zum Thema Poltern. Darüber hinaus wurde dort die „International Cluttering Association“ (ICA) gegründet, auf deren Website zahlreiche aktuelle Informationen zum Thema Poltern zu finden sind. Yvonne van Zaalen-opʼt Hof veröffentlichte 2009 im Rahmen ihrer Dissertation zusammen mit Kollegen neue Forschungsergebnisse → [Van Zaalen-opʼt Hof, 2009]. Per Alm entwickelte 2011 eine neurologische Hypothese zur Erklärung von Poltern → [Alm, 2011]. Das im Jahr 2011 von David Ward und Kathleen Scaler Scott herausgegebene Buch Cluttering: A Handbook of Research, Intervention and Education fasst neuere Forschungsergebnisse, Berichte und allgemeinere Überlegungen zum Störungsbild Poltern zusammen. Seit der ersten Auflage dieses Buches hat sich somit nicht nur der Wissensstand zum Thema Poltern weiterentwickelt, sondern die Forschung auch professionalisiert. Therapeuten und Forscher, die sich intensiv mit dem Thema Poltern auseinandersetzen, stehen über die ICA weltweit in Kontakt. Der von der ICA ins Leben gerufene Cluttering Awareness Day am 14. Mai eines jeden Jahres bietet eine Plattform, um Poltern in der Öffentlichkeit weiter bekannt zu machen.

Hat das Thema Poltern nun in Forschung, Ausbildung, logopädischer Praxis und der Öffentlichkeit eine ausreichende Präsenz erhalten?

Fakt ist, dass Poltern in der Forschung auch heute noch immer unterrepräsentiert ist. Zwar definiert die International Cluttering Association Poltern anhand einer Arbeitsdefinition von St. Louis und Kollegen → [St. Louis et al., 2007], dennoch besteht weiterhin keine sichere Übereinstimmung in der Definition dieser Redeflussstörung. Studien müssten repliziert oder fortgesetzt werden. Häufig fehlen größere Probandengruppen oder es ist sehr zeitaufwendig, diese zusammenzustellen, sodass Ergebnisse nur eingeschränkt repräsentativ sind.

Höchste universitäre Instanzen und Drittmittelgeber müssen deshalb überzeugt werden, finanzielle Mittel zur Forschung im Bereich Poltern bereitzustellen, da diese Forschung nicht allein der Verbesserung therapeutischer Behandlungsmethoden dient, sondern auch zur Grundlagenforschung über Sprachproduktion beitragen kann.

Mangelndes Hintergrundwissen zur Komplexität des Themas Poltern hat direkte praktische Auswirkungen. So hat der Gemeinsame Bundesausschuss bei der Erstellung der Heilmittelrichtlinien für Poltern weiterhin nur 20 Behandlungseinheiten in Folge erlaubt.

In Studium und Ausbildung ist das Thema Poltern in Deutschland im weltweiten Vergleich im Mittel zwar gut repräsentiert (vgl. → [Reichel u. Bakker 2009]), ob dies in jedem Fall ausreichend ist, ist mit dieser Aussage aber nicht gesichert. Das Angebot an Fortbildungsmöglichkeiten zum Poltern ist gestiegen. Das deutliche Interesse daran zeigt, dass Poltern in der logopädischen Diagnostik und Therapie mittlerweile eine feste Rolle spielt.

Durch zunehmende Aufklärung kann dies in Zukunft noch verstärkt werden. Poltern ist als eine nach ICD-10 und ICF anerkannte Erkrankung (vgl. Kap. ► 1.6) in der breiten Öffentlichkeit noch immer weitgehend unbekannt. Erfahrungen aus Gesprächen zeigen, dass, sobald man eine Person über das Störungsbild Poltern informiert, diese häufig antwortet: „Ich kenne da auch jemanden...“. Es ist also davon auszugehen, dass mehr polternde Menschen logopädische Therapie aufsuchen würden, wenn sie wüssten, dass ihre Symptome nicht in ihrem Charakter begründet, sondern zumindest zum Teil Symptome einer medizinisch klassifizierbaren Kommunikationsstörung sind.

Merke

Da Poltern zu massiven Kommunikationsstörungen und damit verbunden auch zu persönlicher Ablehnung der polternden Person führen kann, ist eine qualifizierte logopädische Therapie das Mittel der Wahl zur Besserung dieser gestörten Kommunikation.

Daraus folgt:

Wir brauchen eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Forschung zum Thema Poltern mit dem Ziel, Therapie und Diagnostik zu optimieren.

Wir brauchen weiterhin Mittler, die Informationen zum Thema Poltern in die Öffentlichkeit und in die Institutionen tragen, um möglichst viele Personen zu erreichen, die von einer logopädischen Therapie profitieren können.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeberinnen zur 2. Auflage

Vorwort

Danksagung

Einleitung

Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Poltern

Geschichtlicher Überblick

Derzeitiger und zukünftiger Stand von Poltern in Wissenschaft und Praxis

Teil I Theoretische Grundlagen

1 Definitionen und Konzepte von Poltern

1.1 Definition und Konzept von Weiss

1.2 Definition und Konzept von Daly und Burnett

1.3 Definition und Konzept von Myers

1.4 Definition von Van Zaalen → [Van Zaalen et al., 2008]

1.5 Arbeitsdefinitionen von St. Louis et al. und St. Louis und Schulte

1.6 Poltern in der ICD-10 und ICF

2 Symptomatik und theoretische Hintergründe zu einzelnen Symptomen

2.1 Einleitung

2.2 Erhöhtes und/oder irreguläres Sprechtempo

2.2.1 Erhöhtes Sprechtempo

2.2.2 Irreguläre Sprechgeschwindigkeit

2.2.3 Theoretische Hintergründe zum Sprechtempo

2.3 Phonetische Auffälligkeiten

2.3.1 Beziehungen zwischen Sprechmotorik und phonetischen Auffälligkeiten

2.3.2 Theoretische Hintergründe zu phonetischen Auffälligkeiten

2.4 Unflüssigkeiten

2.4.1 Theoretische Hintergründe zu Unflüssigkeiten

2.5 Sprachstörungen bei Poltern

2.5.1 Eingeschränktes Sprachverständnis

2.5.2 Morphologisch-syntaktische Symptome

2.5.3 Störungen im Bereich Lexikon/Semantik

2.5.4 Störungen der sprachlichen Strukturierung

2.6 Störungen im Bereich Kommunikation und Pragmatik

2.6.1 Theoretische Begriffsklärung und Hintergründe zur Kommunikation und Pragmatik bei Poltern

2.7 Prosodische Auffälligkeiten

2.8 Sprechpausen

2.8.1 Theoretische Hintergründe zu Sprechpausen bei Poltern

2.9 Poltern und Musikalität

2.10 Atmung und Stimme

2.11 Schriftsprachliche Auffälligkeiten

2.11.1 Störungen des Lesens

2.11.2 Störungen der Schreibfähigkeit bei Poltern

2.12 Selbstwahrnehmung und Sprechkontrolle (Monitoring)

2.12.1 Theoretische Hintergründe zu Monitoringfunktionen bei Poltern

2.13 Aufmerksamkeit und Konzentration

2.14 Auditive Wahrnehmung und Verarbeitung

2.15 Visuelle Wahrnehmungsstörungen und Poltern

2.16 Kognition und Poltern

2.16.1 Intelligenz und Schulleistungen bei Poltern

2.16.2 Beziehung zwischen Denken und Sprechen bei Poltern

2.17 Grob- und Feinmotorik

2.18 Verhalten und Persönlichkeit

2.18.1 Sprechängste

3 Poltern: Entität oder Untergruppen?

3.1 Einleitung

3.2 Neurogenes Poltern

4 Auftretenshäufigkeit und Verlauf

4.1 Auftretenshäufigkeit

4.2 Verlauf

5 Hypothesen zur Ätiologie

5.1 Poltern und Heredität

5.2 Erklärungsansätze

5.2.1 Ausgewählte ältere Erklärungsansätze

5.3 Neurophysiologische Befunde und Erklärungshypothesen

5.3.1 Aktuelle neurologische Ergebnisse und Hypothesen

6 Beziehungen und Abgrenzungen zu anderen Störungen

6.1 Einleitung

6.2 Poltern und Stottern

6.2.1 Abgrenzung von Stottern

6.2.2 Gemeinsamkeiten zwischen Poltern und Stottern

6.3 Beziehung und Abgrenzung von Lernbehinderung

6.4 Abgrenzung von reiner Tachylalie

6.5 Beziehung und Abgrenzung zur verbalen Entwicklungsdyspraxie

6.6 Abgrenzung zur Dysarthrie

6.7 Poltern und Sprachentwicklungsstörung

6.8 Poltern und Jugendsprache/Ethnolekt

6.9 Poltern und Nuscheln

6.10 Poltern bei anderen Grunderkrankungen oder Behinderungen

6.10.1 Poltern bei Down-Syndrom und anderen geistigen Behinderungen

6.10.2 Beziehungen von Poltern zum Fragilen-X-Syndrom

6.10.3 Poltern und Autismus

Teil II Diagnostik

7 Logopädische Diagnostik von Poltern

7.1 Einleitung

7.2 Ziele logopädischer Diagnostik bei Poltern

7.3 Diagnosestellung von Poltern

7.3.1 Checklisten zur Diagnosestellung von Poltern

7.4 Ablauf und Methoden einer logopädischen Diagnostik bei Poltern

7.5 Diagnostikbereiche

7.5.1 Anamnese – Erstdiagnostik

7.6 Spontansprachanalyse – Erstdiagnostik

7.6.1 Methoden der Spontanspracherhebung

7.7 Ressourcenorientiertes Diagnostikverfahren – Erstdiagnostik

7.7.1 Material und Methoden

7.7.2 Hypothesenbildung

7.8 Untersuchung von Phonologie und Phonetik

7.8.1 Analyse von phonetischen Auffälligkeiten in der Spontansprache – Erstdiagnostik

7.8.2 Deutliche Artikulation - weiterführende Diagnostik

7.8.3 Überprüfung phonetischer Auffälligkeiten bei Lesetexten

7.8.4 Überprüfung der oralen Diadochokinese auf Silbenebene

7.8.5 Überprüfung der oralen Diadochokinese auf Wort- und Satzebene

7.8.6 Mundmotorik

7.8.7 Orale Stereognose

7.9 Untersuchungen des Sprechtempos

7.9.1 Untersuchung des Sprechtempos in der Spontansprache – Erstdiagnostik

7.9.2 Untersuchungen zu Variationen des Sprechtempos – Erstdiagnostik

7.10 Untersuchung von Unflüssigkeiten

7.10.1 Untersuchung von Unflüssigkeiten in der Spontansprache – Erstdiagnostik

7.10.2 Unflüssigkeiten beim Lesen – Erstdiagnostik

7.10.3 Automatisiertes Sprechen – weiterführende Diagnostik (fakultativ)

7.11 Sprachsystematische Fähigkeiten

7.11.1 Untersuchung sprachsystematischer Fähigkeiten in der Spontansprache – Erstdiagnostik

7.11.2 Weitere Untersuchungen zur sprachlichen Strukturierung

7.12 Kommunikation und Pragmatik – Erstdiagnostik

7.12.1 Material und Methoden

7.12.2 Auswertung und Hypothesen

7.13 Untersuchung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung

7.13.1 Überprüfung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung bei Kindern – Erst- und weiterführende Diagnostik

7.13.2 Logopädische Überprüfung der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung bei Jugendlichen und Erwachsenen – Erst- und weiterführende Diagnostik

7.14 Untersuchung der Schriftsprache

7.14.1 Untersuchung des Lesens – Erst- und weiterführende Diagnostik

7.14.2 Untersuchung der Schreibfähigkeit – weiterführende Diagnostik

7.15 Untersuchung der Selbstwahrnehmung

7.15.1 Diagnostik der Selbstwahrnehmung bei Kindern bis ca. 11 Jahre – Erstdiagnostik, ggf. weiterführende Diagnostik

7.15.2 Diagnostik der Selbstwahrnehmung bei Jugendlichen und Erwachsenen – Erstdiagnostik

7.16 Prosodie

7.16.1 Untersuchung von Betonung, Satzmelodie oder Sprechlautstärke in der Spontansprache und beim Lesen von Texten – Erstdiagnostik

7.16.2 Untersuchung von Sprechpausen in der Spontansprache und beim Lesen von Texten – Erstdiagnostik

7.17 Stimme und Atmung

7.18 Untersuchung der visuellen Wahrnehmung

7.19 Entwicklungspsychologische und neuropsychologische Untersuchungen

7.20 Grob- und Feinmotorik

7.21 Weitere Verhaltensbeobachtung

7.22 Logopädischer Befund

7.22.1 Muster eines logopädischen Befundberichtes

Teil III Therapie

8 Logopädische Therapie von Poltern

8.1 Einleitung

8.2 Behandlungskonzepte bei Poltern

8.2.1 Historischer Ansatz: Behandlungsansatz von Liebmann

8.2.2 Behandlungsansatz von Katz-Bernstein

8.2.3 Aktuelle Behandlungsansätze

8.3 Therapiestudien

8.4 Grundlagen zur logopädischen Behandlung von Poltern

8.4.1 Grundlegende Therapieziele

8.4.2 Grundlegende Therapieprinzipien (SMART-Kriterien)

8.4.3 Therapie- und Übungsprinzipien bei polternden Kindern im Vorschul- und frühen Grundschulalter

8.4.4 Übungsprinzipien in der logopädischen Behandlung polternder Kinder im Vorschul- und Grundschulalter

8.4.5 In-vivo-Arbeit

8.4.6 PC, Smartphone und Internet

8.4.7 Therapiemappe und -tagebuch

8.4.8 Üben zuhause

8.4.9 Dokumentation und Evaluation

8.5 Grundstrukturen logopädischer Behandlung von Poltern

8.5.1 Schema zum grundlegenden Therapieablauf

8.5.2 Symptomspezifische Arbeit nach dem synergistischen Prinzip

8.5.3 Behandlung von Mischformen aus Poltern und Stottern

8.5.4 Behandlung von Poltern mit Sprachentwicklungsstörungen

8.5.5 Behandlung von Poltern bei Mehrsprachigkeit

8.6 Abstimmungen und Vereinbarungen zum Therapiebeginn

8.6.1 Klärung der Rahmenbedingungen

8.6.2 Problem- und Bedingungsanalyse

8.6.3 Abklärung von Therapiezielen

8.6.4 Klärung des Therapieauftrags und der gegenseitigen Erwartungen

8.6.5 Therapiemotivation

8.7 Logopädische Beratung

8.7.1 Logopädische Kurzberatung nach der Diagnosestellung

8.7.2 Therapiebegleitende logopädische Beratung von Eltern polternder Kinder

8.7.3 Beratung polternder Erwachsener und ihrer Angehörigen

8.8 Therapie und Übungsplanung

8.8.1 Behandlungsplan zur Arbeit an der Kernsymptomatik

8.8.2 Behandlungsplanung bei polternden Kindern im Vorschul- und Grundschulalter

8.9 Therapiemotivation – Poltern thematisieren

8.10 Körperarbeit

8.10.1 Entspannungsübungen in der logopädischen Behandlung von Poltern

8.11 Symptomwahrnehmung – symptomübergreifende Methoden und Prinzipien

8.11.1 Übergereifende Methoden zur Verbesserung der Selbstwahrnehmung des Sprechens

8.11.2 Verbesserung der Aufmerksamkeit

8.12 Poltermodifikation

8.12.1 Poltermodifikation bei Kindern im Vorschulalter oder frühen Grundschulalter

8.12.2 Modul 1: Alarmzeichen und Pseudopoltern

8.12.3 Modul 2: Sprechpause in der Poltermodifikation

8.12.4 Modul 3: Modifiziertes Sprechen

8.13 Behandlung phonetischer Auffälligkeiten

8.13.1 Symptomwahrnehmung phonetisch-temporaler Auffälligkeiten

8.13.2 Methoden zur Verringerung phonetisch-temporaler Auffälligkeiten

8.14 Modifikation des Sprechtempos

8.14.1 Metakommunikation und Wahrnehmung von situativer Abhängigkeit von Sprechtempo

8.14.2 Wahrnehmungsübungen zum Sprechtempo

8.14.3 Wahrnehmungsübungen zum Thema „Tempo“ im nonverbalen Bereich

8.14.4 Variationen des Sprechtempos

8.15 Behandlung von Sprachstörungen

8.15.1 Behandlung von semantisch-lexikalischen Störungen

8.15.2 Behandlung syntaktisch-morphologischer Störungen

8.15.3  Behandlung von Störungen der sprachlichen Strukturierung

8.16 Behandlung von Unflüssigkeiten

8.17 Verbesserung der Prosodie

8.17.1 Arbeit an Sprechpausen

8.17.2 Arbeit an der Betonung

8.17.3 Sprechlautstärke

8.18 Behandlung kommunikativ-pragmatischer Störungen

8.18.1 Methoden zur Verbesserung des intentionalen Verhaltens

8.18.2 Metakommunikation und Verbesserung der Selbstwahrnehmung bei kommunikativ-pragmatischen Störungen

8.18.3 Blickkontakt, Nähe und Distanz

8.18.4 Gesprächseröffnung und Beendigung eines Gesprächs

8.18.5 Sprecherwechsel

8.18.6 Zuhörerverhalten

8.18.7 Verständnissicherung und Reparaturverhalten

8.18.8 Training von Sprechakten/-handlungen und sozialen Routinen

8.18.9 Begleiten der Rede durch Gestik

8.19 Arbeit an Atmung und Stimme

8.19.1 Verbesserung der Sprechatmung

8.20 Arbeit an der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung

8.21 Veränderung von Persönlichkeit und Einstellungen

8.21.1 Abbau von Sprechängsten

8.21.2 Akzeptanz eines veränderten Sprech- und Kommunikationsverhaltens

8.21.3 Aufbau eines positiven Selbstbildes

8.21.4 Reduzierung von Stress

8.21.5 Poltern und Ordnung

8.22 Transfer in die Spontansprache

8.22.1 Rahmenbedingungen zum erfolgreichen Transfer

8.22.2 Erarbeitung individueller Möglichkeiten zur Sprechkontrolle

8.23 Therapieende

8.23.1 Nachsorge

8.23.2 Umgang mit Rückfällen

8.24 Evaluation von Behandlungsergebnissen

8.25 Poltern und Selbsthilfe

Teil IV Anhang

9 Literatur

10 Anamnese- und Diagnostikmaterialien

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

Teil I Theoretische Grundlagen

1  Definitionen und Konzepte von Poltern

2  Symptomatik und theoretische Hintergründe zu einzelnen Symptomen

3  Poltern: Entität oder Untergruppen?

4  Auftretenshäufigkeit und Verlauf

5  Hypothesen zur Ätiologie

6  Beziehungen und Abgrenzungen zu anderen Störungen

1 Definitionen und Konzepte von Poltern

In diesem Kapitel werden verschiedene Definitionen und Konzepte zum Poltern, einschließlich der derzeit von der International Cluttering Association (ICA) verwendeten Definition → [St. Louis et al., 2007], vorgestellt. Es folgt eine ausführliche Darstellung der Symptomatik. Anschließend werden die Themenbereiche der Diskussion um Subgruppen, sowie Häufigkeit und Verlauf der Störung beschrieben. Nach der Darstellung von Hypothesen zur Ätiologie folgen Beziehungen und Abgrenzungen zu anderen Sprach- und Sprechstörungen oder sprachlichen Eigenarten mit dem Schwerpunkt der Beziehungen von Poltern und Stottern. Die Beschreibung von Erkrankungen oder Behinderungen, bei denen ebenfalls Symptome von Poltern auftreten, bilden den Abschluss der theoretischen Grundlagen.

Merke

Eine einheitliche Definition von Poltern, die aus der systematischen Erforschung der Symptome resultiert → [St. Louis u. Hinzman, 1986] und von Klinikern und Forschern gleichermaßen akzeptiert wird → [St. Louis u. Daly, 1995], liegt noch nicht vor.

Spätestens seit dem ersten Weltkongress zum Thema Poltern (1st World Congress on Cluttering) in Razlog (Bulgarien) im Jahre 2007 und der damit verbundenen Gründung der International Cluttering Association (ICA) sind sich Forscher und Therapeuten einig, dass sich eine einheitlich akzeptierte Definition von Poltern auf die Beschreibung der möglichen Kernsymptome von Poltern beschränken muss (vgl. → [St. Louis et al., 2007]), um Poltern sicher von anderen Sprach-, Sprech- und Redeflussstörungen abgrenzen zu können. Der größte Konsens bezüglich einer Definition von Poltern besteht in der ICA derzeit für die Arbeitsdefinition von St. Louis und Mitarbeitern → [St. Louis et al., 2007], die 2011 von St. Louis und Schulte noch einmal präzisiert wurde (→ [St. Louis u. Schulte, 2011], s. u.). In diesem Kapitel werden exemplarisch einige weitere Definitionen von Poltern vorgestellt.

1.1 Definition und Konzept von Weiss

Im Jahr 1964 fasste der während des zweiten Weltkrieges in die USA emigrierte österreichische Phoniater Deso Weiss – ein Schüler Fröschels – in seinem früher häufig zitierten Buch Cluttering den damaligen Wissensstand über Poltern zusammen. Er versteht Poltern als eine mehrdimensionale Störung:

Definition

Poltern ist eine Sprechstörung (speech disorder), die durch mangelndes Störungsbewusstsein, verkürzte Aufmerksamkeitsspanne, Störungen der Wahrnehmung und Artikulation sowie Formulierungsstörungen gekennzeichnet ist und oft mit einer exzessiv hohen Sprechgeschwindigkeit einhergeht. Es ist eine Störung der das Sprechen vorbereitenden Denkprozesse und basiert auf erblicher Disposition. Poltern ist die sprachliche Manifestation einer zentralen sprachlichen Unausgeglichenheit (Central Language Imbalance), die alle Modalitäten der Sprache (Lesen, Schreiben, Rhythmus, Musikalität) und das Verhalten im Allgemeinen betrifft (→ [Weiss, 1964] S. 1, Übers. d. Verf.).

Nach Weiss bildet eine zentrale sprachliche Unausgeglichenheit die gemeinsame pathologische Basis für verschiedene Arten von Kommunikationsstörungen wie Poltern, Dyslalien oder Störungen des Lesens und Schreibens (vgl. ► Abb. 1.1). Deshalb wird Poltern häufig mit den eben erwähnten Störungen assoziiert.

Weiss unterteilt die bei Poltern auftretenden Symptome in obligatorische, fakultative und assoziierte Symptome→ [Weiss, 1964]→ [Weiss, 1967]→ [Weiss, 1968]. Obligatorische Symptome sind die Symptome, die vorhanden sein müssen, um die Diagnose Poltern zu stellen. Fakultative Symptome gehören zum Poltern, müssen aber nicht auftreten. Assoziierte Symptome können Poltern begleiten, gehören aber nicht zur Störung.

Obligatorische Symptome → nach Weiss [Weiss, 1968]:

Mangel an Störungsbewusstsein

kurze Aufmerksamkeitsspanne und daraus folgend schlechte Konzentration

exzessive Anzahl von Wiederholungen (überwiegend Silben-, Wort- und Satzteilwiederholungen beim Sprechen, wobei der Begriff exzessiv nicht näher erläutert wird (Anm. d. Verf.)

Wahrnehmungsstörungen in jedem sensorischen Bereich (Er lässt offen, ob Wahrnehmungsstörungen ein weiteres obligatorisches Symptom darstellen oder den Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen zugeordnet werden müssen.)

schlecht organisiertes Denken

Merke

Das Modell von Weiss ist nach dem heutigen Wissensstand veraltet.

Abb. 1.1 Modell der Central Language Imbalance nach → [Weiss, 1964].

1.2 Definition und Konzept von Daly und Burnett

Daly übernahm über ein Jahrzehnt die meisten Betrachtungsweisen des Polterns von Weiss. In seiner mit Burnett → [Daly u. Burnett, 1999] verfassten Publikation wird ein Paradigmenwechsel vollzogen. Poltern wird nicht mehr in obligatorische und fakultative Symptome unterteilt, sondern als Syndrom bezeichnet.

Definition

Ein Syndrom ist ein Symptomenkomplex, eine Gruppe gleichzeitig auftretender Krankheitszeichen → [Pschyrembel, 1986].

Auch andere Autoren bezeichnen Poltern aufgrund seiner komplexen Symptomatik als Syndrom (vgl. → [Tiger et al., 1980]→ [Diedrich, 1984]. Diesbezüglich entwickelten die Autoren das Linguistic Disfluency Model.

Dieses besteht aus 5 sogenannten Dimensionen der Kommunikation: Kognition, Sprache, Pragmatik, Sprechen und Motorik. Zu jedem dieser Oberbegriffe haben Daly und Burnett (s.o.) zahlreiche Unterpunkte angegeben, die im Folgenden aufgelistet sind:

Kognition

Wachsamkeit (Awareness)

Zuhörerverhalten

Selbstwahrnehmung

Aufmerksamkeitsspanne

Organisation der Gedanken

Sequenzierung

Kategorisierung

Gedächtnis

Impulsivität

Sprache

rezeptiv

Hören/Richtungshören

Leseschwäche

expressiv-verbal

Organisation der Gedanken

mangelhafte Sequenzierung von Ideen

unzureichende Fähigkeiten im Erzählen von Geschichten

Formulierung

Revisionen und Wiederholungen

fehlerhafte linguistische Strukturen

Vertauschung von Silben oder Wörtern

fehlerhafter Gebrauch von Fürwörtern

fehlerhafte Benennungen, Wortfindungsstörungen

Füllwörter, Worthülsen

Expressiv-schriftlich

Bandwurmsätze

Auslassungen und Vertauschungen von Buchstaben, Silben, Wörtern

Satzfragmente

Pragmatik

inadäquate Einleitung, Aufrechterhaltung und zeitliche Abfolgen von Themen,

inadäquate Sprecherwechsel

eingeschränkte Fähigkeiten zum Zuhören; impulsive Antworten

eingeschränkte Fähigkeiten, sich in die Perspektive des Gesprächspartners hinein zu versetzen

inadäquate Wahrnehmung nonverbaler Signale

langatmige, wortreiche oder das Thema tangierende Rede

eingeschränkter Blickkontakt

Sprechen

Sprechflüssigkeit

exzessive Wiederholungen von Wörtern und Phrasen

Vertauschungen von Wörtern und Silben

Prosodie

Sprechtempo (erhöht/irregulär)

eingeschränkter Sprechrhythmus

lautes oder versandendes Sprechen

wenig Sprechpausen

stimmliche Monotonie

undeutliche Aussprache

Lautauslassungen

Silbenauslassungen

/r/ und /l/- Vertauschungen

dysrhythmische Atmung

inadäquate Pausen/ Beschleunigungen

Motorik

auffällige motorische Kontrolle

undeutliche Aussprache

dysrhthmische Atmung

Unflüssigkeiten

exzessive Wiederholungen von Lauten und Wörtern

stille Pausen, Beschleunigungen

prosodische Auffälligkeiten

Sprechtempo (schnell/irregulär)

eingeschränkter Sprechrhythmus

ungeschickt, unkoordiniert

auffällige Handschrift

Impulsivität

Definition

Folgende Definition für Poltern entstand aus dem Linguistic Disfluency Model:

Poltern besteht dann, wenn ein Individuum eine oder mehrere Störungen in jeder von 5 breit gefächerten Dimensionen von Kommunikation zeigt, die kognitive, linguistische, pragmatische, sprechmotorische und motorische Fähigkeiten widerspiegeln (→ [Daly u. Burnett, 1999], S. 226, Übers. d. Verf.).

Nach heutigem Forschungsstand erlauben nicht alle möglichen Symptomkombinationen innerhalb des Modells die Diagnose Poltern. Außerdem arbeitet diese Definition nicht die Kernsymptomatik von Poltern heraus, was eine eindeutige Abgrenzung zu anderen Störungen verhindert.

1.3 Definition und Konzept von Myers

Myers geht nicht nur von einer Koexistenz einzelner Symptome aus, sondern nimmt Wechselbeziehungen der Symptome untereinander an (vgl. → [St. Louis u. Myers, 1995]). Die systemische Betrachtung der Symptomatik dient als Basis für neue theoretische Konstrukte, die wiederum neue Ideen zur Therapie liefern sollen → [Myers, 1992].

Definition

„There are coexisting anomalies of speech and language in individuals exhibiting cluttering symptoms. In view of the concomitance of symptoms, it may be worthwhile to consider these speech and language behaviours from a systems approach. That is, aspects of rate, fluency, language, and coarticulation have the potential to function interdependently.“ (→ [Myers, 1992], S. 83)

Diese Definition basiert auf folgenden Grundannahmen, die Myers (ebd.) in Bezug auf Poltern macht:

Polterer zeigen gleichzeitig Auffälligkeiten in Sprache und Sprechen. Dafür verwendet Myers den Begriff Synchronie (ebd).

Das gleichzeitige Auftreten der Sprach- und Sprechstörungen legt nahe, diese systemisch zu betrachten. Dies bedeutet, dass linguistische, artikulatorische und suprasegmentale Auffälligkeiten, einschließlich Sprechgeschwindigkeit und Sprechflüssigkeit, in unterschiedlich starken Wechselbeziehungen zueinander stehen. Myers (ebd.) führt hierzu den Terminus Synergismus ein.

Auch wenn die Definition von Myers heute nicht mehr präzise genug ist, liefert die Idee ihres Konzepts neue Denkansätze zur Bewertung und Behandlung einzelner Symptome. Die synergistische Betrachtungsweise der Symptome von Myers ist ein Element der logopädischen Behandlung von Poltern.

1.4 Definition von Van Zaalen → [Van Zaalen et al., 2008]

Van Zaalen (→ [Van Zaalen u. Winkelman 2009], S. 21) definiert Poltern folgendermaßen:

Definition

Poltern ist eine Form nicht flüssigen Sprechens, in der der Sprecher unfähig ist, sein Sprechtempo an die momentanen sprechmotorischen und linguistischen Anforderungen anzupassen (→ [Van Zaalen u. Winkelman, 2009], Übers. d. Verf.).

Van Zaalen und Winkelman unterscheiden demnach 2 Gruppen von polternden Personen → [Van Zaalen u. Winkelman, 2009]:

Motorisch-phonologisches Poltern tritt auf, wenn das Sprechtempo nicht ausreichend an die phonologisch-motorischen Kapazitäten angepasst wird. Dies zeigt sich vor allem in Zusammenziehungen von Lautfolgen, übersteigerter Koartikulation und schlecht verständlichen Sprechens (vgl. Kap. ► 2.3).

Linguistisch-syntaktisches Poltern resultiert aus der Schwierigkeit, das Sprechtempo an die linguistische Komplexität anzupassen. Dies führt zu Abbrüchen und Revisionen von Äußerungen, Phrasenwiederholungen und semantischen Abweichungen.

Obwohl auch diese Definition recht neu ist, ist sie weniger präzise als die Arbeitsdefinition von St. Louis und Schulte. Sie legt nahe, dass Poltern nur aus einem Anpassungsproblem des Sprechtempos resultiert. Dies ist derzeit jedoch noch nicht erwiesen.

1.5 Arbeitsdefinitionen von St. Louis et al. und St. Louis und Schulte

An dieser Stelle werden beide Definitionen, die von St. Louis und Mitarbeitern → [St. Louis et al., 2007] und die von St. Louis und Schulte → [St. Louis u. Schulte, 2011] vorgestellt: Die Definition von 2007 ist derzeit die von der ICA benutzte Definition. Die Definition von 2011 beschreibt die Symptomatik verständlicher. Die Definitionen stehen im Einklang mit der Definition von Sick (→ [Sick, 1999], in: → [Sick, 2004b]).

Definition

Poltern ist – nach der Arbeitsdefinition von → [St. Louis et al., 2007] – ein Syndrom, das durch eine Sprechgeschwindigkeit charakterisiert ist, die entweder abnorm schnell, irregulär oder beides ist. In gepolterter Sprache ist das Sprechen in einem oder mehreren der folgenden Bereiche beeinträchtigt:

Unfähigkeit, normale Laut-, Silben-, Phrasen- oder Pausenstrukturen aufrechtzuerhalten,

Nachweis von über das normale Maß hinausgehende Unflüssigkeiten, die Mehrheit davon gleichzeitig untypisch für Unflüssigkeiten, die bei Stottern auftreten,

eingeschränkte Verständlichkeit bei übermäßiger Koartikulation (Auslassung von Silben oder Lauten) und unpräziser Artikulation → [St. Louis et al., 2007], Übers. d. Verf.).

Definition

Poltern ist – nach der Arbeitsdefinition von St. Louis und Schulte → [St. Louis u. Schulte, 2011] – eine Redeflussstörung, in der Sprachsegmente der Konversation typischerweise als zu schnell, irregulär oder beides wahrgenommen werden. Die Segmente schnellen oder irregulären Sprechens werden von einem oder mehreren der folgenden Auffälligkeiten begleitet:

exzessiven normalen Unflüssigkeiten,

exzessivem Zusammenziehen oder Auslassen von Silben,

abnormen Pausen, Silbenbetonung oder Sprechrhythmus (→ [St. Louis u. Schulte, 2011], Übers. d. Verf.).

1.6 Poltern in der ICD-10 und ICF

Poltern kann auf allen Ebenen der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) beschrieben werden → [Grötzbach u. Iven, 2009]. Auch in der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (aktuelle Version: ICD-10) ist Poltern existent.

Der internationale Code lautet F98.6. An dieser Stelle sei noch die kritisch zu bewertende Definition von Poltern nach WHO (2007) dargestellt.

Definition

Poltern, nach → [WHO, 2007]: A rate of speech with breakdowns in fluency, but no repetitions or hesitations, of a severity to give rise to diminished speech intelligibility. Speech is erratic und dysrhythmic, with jerky spurts that usually involve faulty phrasing patterns.

2 Symptomatik und theoretische Hintergründe zu einzelnen Symptomen

2.1 Einleitung

In diesem Kapitel werden die für die jeweiligen Symptome theoretischen Hintergründe und Beziehungen zu weiteren Parametern der Sprachproduktion dargestellt. Zum besseren Verständnis werden diese auf der Grundlage des Sprachproduktionsmodells von Levelt→ [Levelt, 1989]→ [Levelt, 1993] beschrieben, welches in ► Abb. 2.1 überblicksartig erläutert wird. Diese theoretischen Hintergründe bilden die Basis für eine hypothesengeleitete logopädische Therapie.

Die Beschreibung der Symptome von Poltern gestaltet sich in der Literatur als inhomogen. Symptome und Hypothesen zu Ursachen werden dabei nicht immer voneinander abgegrenzt.

Folgende Auffälligkeiten werden als Symptome bezeichnet:

sprachliche und nichtsprachliche Auffälligkeiten, die anhand von klinischer oder empirischer Beobachtung beschrieben werden können (z.B. syntaktische Auffälligkeiten, Wiederholungen),

sprachliche und nichtsprachliche Auffälligkeiten, die durch Experimente oder Tests erkannt werden (z.B. eingeschränkte Hörmerkspanne),

nichtsprachliche Auffälligkeiten, die aufgrund von Schlussfolgerungen oder Hypothesenbildung als Symptome bezeichnet werden (z.B. „schlecht organisiertes Denken“).

Nach einer Literaturrecherche von St. Louis und Hinzman wurden 65 Symptome erwähnt, die verschiedene Autoren Poltern zuschreiben → [St. Louis u. Hinzman, 1986]. Mittlerweile hat sich das Wissen um die Symptome von Poltern präzisiert. Unsicherheiten bestehen aber noch in der Abgrenzung von Kern- und Begleitsymptomatik. Beispielsweise ist nicht klar, ob Störungen der Sprechkontrolle zukünftig als weiteres Kernsymptom von Poltern definiert werden können.

Merke

In diesem Buch werden zusätzlich zu den sicher als Kernsyptomen definierten phonetischen Auffälligkeiten und Störungen des Sprechtempos alle relevanten, in der Literatur beschriebenen und in der klinischen Praxis beobachteten weiteren Symptome von Poltern dargestellt.

Merke

Für eine allgemeingültige Definition von Poltern müssen die Kernsymptome von Poltern weiter untersucht werden. Im Gegensatz dazu ist zur Therapieplanung die zusätzliche Erfassung aller begleitenden Symptome notwendig.

Abb. 2.1 Sprachproduktionsmodell mit Monitoringschleifen (nach → [Levelt, 1993]→ [Levelt, 1999]).

Exkurs

Das Sprachproduktionsmodell von Levelt→ [Levelt, 1989]→ [Levelt, 1993]

An dieser Stelle wird das Sprachproduktionsmodell von Levelt (► Abb. 2.1) in vereinfachter Form erklärt, da in den folgenden Kapiteln immer wieder Bezug auf das Modell genommen wird.

Das Sprachproduktionsmodell von Levelt wird als hybrides Modell bezeichnet, weil es serielle und interaktionistische Ansätze vereint → [Tesak, 1997]. Wesentliche Teile des Modells sind der Konzeptualisierer, der Formulator und der Artikulator. Zentrale Größe ist das Lexikon. Levelt nimmt zusätzlich an, dass zwischen Formulator und Artikulator ein artikulatorischer Speicher existiert, in dem temporär artikulatorische Pläne gespeichert werden → [Levelt, 1989]. Durch Monitoring (s. u.) wird die Sprachproduktion kontrolliert. Im Konzeptualisierer wird die Redeabsicht generiert und in Form einer präverbalen Botschaft zum Formulator überführt. Im Formulator wird die präverbale Botschaft grammatisch und phonologisch enkodiert. Grammatische und phonologische Enkodierung interagieren miteinander und stehen in Zusammenhang mit den vom Lexikon in Form von Lexemen und Lemmata gelieferten Informationen. Lexeme und Lemmata sind 2 Aspekte eines Lexikoneintrags:

Lexeme enthalten morphologische und phonologische Informationen.

Lemmata enthalten Konzepte eines Begriffes und syntaktische Informationen.

Bei der grammatischen Enkodierung wird mithilfe der Lemmata eine syntaktische Oberflächenstruktur in Form von hierarchisch organisierten syntaktischen Phrasen geliefert. Im Sprachproduktionsmodell von Levelt steht die phonologische Enkodierung in Beziehung zur grammatischen Enkodierung und zum Lexikon. Die Beziehung zur grammatischen Enkodierung besteht darin, dass die während des grammatischen Enkodierens gebildeten syntaktischen Oberflächenstrukturen den Input zum phonologischen Enkodieren mitbestimmen. Bei der phonologischen Enkodierung wird für die syntaktische Oberflächenstruktur mithilfe der morphologischen und phonologischen Informationen der Lexeme und der Informationen des Prosodiegenerators in verschiedenen Stufen ein phonetischer Plan erstellt, der die artikulatorische Bildung von Lautfolgen ermöglicht → [Levelt, 1989]→ [Levelt, 1993]. Die fertigen phonetischen Pläne bestehen aus phonetischen Plänen für Silben, die Artikulationsmuster spezifizieren. Die Pläne für Silben werden nach Levelt aus einem Silbenlexikon (syllabary) abgerufen. Ein phonetischer Plan enthält morphologische, metrische und segmentale Informationen. Zusätzliche prosodische Informationen werden nach Levelt von einem Prosodiegenerator geliefert. Da nach Levelt das grammatische und phonologische Enkodieren schneller vonstatten gehen als die Artikulationsexekution, geht er von der Existenz eines artikulatorischen Speichers (articulatory buffer) aus, in dem die phonetischen Pläne kurzzeitig gespeichert werden. Im Artikulator werden die phonetischen Pläne in neuromuskuläre Befehle übersetzt (unfold, ebd., S. 27) und vom motorischen System in Sprechbewegungen umgesetzt.

Monitoring

Nach Levelt existieren 3 Monitoringschleifen→ [Levelt, 1989]. Er bezeichnet sie als Schleifen, weil die Botschaft vom Ort ihrer Generierung durch einen Monitor und von dort wieder an ihren Ausgangsort zurückläuft, um korrigiert zu werden.

In der ersten Monitoringschleife findet das Monitoring auf der Stufe der sprachlichen Konzeptbildung statt. Die im Konzeptualisierer generierte präverbale Botschaft wird kontrolliert und wieder in den Konzeptualisierer zurückgeführt.

Die zweite Monitoringschleife wird auch als inneres Monitoring oder inneres Sprechen bezeichnet. Hierbei wird der im Formulator generierte phonetische Plan kontrolliert.

Die dritte Monitoringschleife kontrolliert das offene Sprechen. Hierbei spielt die auditive Kontrolle eine wichtige Rolle.

Für das Monitoring der Sprach- und Sprechproduktion gibt es zahlreiche weitere Theorien und Modelle, die hier nicht dargestellt werden können. Es ist davon auszugehen, dass weit mehr als die hier benannten Monitoringprozesse für einen reibungslosen Ablauf der Sprachproduktion nötig sind (vgl. → [Postma, 1997]).

2.2 Erhöhtes und/oder irreguläres Sprechtempo

2.2.1 Erhöhtes Sprechtempo

Das Symptom, das am häufigsten Poltern zugeordnet wird, ist ein erhöhtes und irreguläres Sprechtempo.

Definition

Sprechgeschwindigkeit: Anzahl gesprochener Wörter, Silben oder Laute pro Zeiteinheit, einschließlich Sprechpausen.

Geißner bewertet Sprechgeschwindigkeiten zwischen 200 und 300 Silben pro Minute als mittelschnelles Sprechtempo im Deutschen → [Geißner, 1975], ca. 250 Silben pro Minute werden als moderates Tempo beschrieben.

Definition

Die Artikulationsrate gibt die Sprechgeschwindigkeit abzüglich der Pausendauer an (vgl. → [Tsao u. Weismer, 1997]).

Butcher maß in deutscher Spontansprache durchschnittliche Artikulationsraten von 342 Silben pro Minute → [Butcher, 1981]. In diesem Buch wird, sofern nicht anders angegeben, der Begriff Sprechtempo gewählt. Dieser Begriff beinhaltet, dass längere Sprechpausen nicht in die Tempoanalyse miteinfließen, da sonst nicht klar wird, ob eine mittlere Sprechgeschwindigkeit aufgrund einer durchschnittlichen Artikulationsrate oder einer hohen Artikulationsrate plus langer Sprechpausen resultiert.

Tatsächlich gibt es nur sehr wenige objektive Angaben über Sprechtempo in der Spontansprache von Polternden → [Lees et al., 1996]. Die meisten Messungen sind innerhalb von Experimenten durchgeführt worden (vgl. → [Hartinger, 2006]→ [Van Zaalen-opʼt Hof, 2009]→ [Bakker et al. 2011]).

In der früheren Literatur wurde Poltern von einigen Klinikern mit dem Begriff Tachyphemie bezeichnet. [→ Arnold 1960] → [Bradford, 1963]. Demgegenüber gibt es Schnellsprecher, die bei hohem Sprechtempo keine Symptome von Poltern zeigen. Diese unterschiedlichen Bewertungen des Parameters Sprechtempo legen eine qualitative Untersuchung zum Sprechtempo bei Poltern nahe. In der Studie von Sick wurde deshalb ein polternder Proband mit einem Schnellsprecher verglichen → [Sick, 1999]. Es wurden für jeden Sprecher 2 Spontansprachproben von 5 Minuten reiner Sprechzeit untersucht.

Dabei zeigten beide Sprecher durchschnittlich erhöhte Artikulationsraten, von denen in der ersten Sprechprobe sogar der Schnellsprecher signifikant schneller war (► Tab. 2.1). Der Polternde zeigte hingegen hochsignifikant mehr phonetische Auffälligkeiten und signifikant mehr Wiederholungen als der Schnellsprecher.

Dies führt zur Hypothese, dass hohe Artikulationsraten bei Poltern im Gegensatz zum unauffälligen Schnellsprechen kein Zeichen von Sprechkompetenz und flüssigen Sprechens sind, sondern als symptomatisch gewertet werden sollten. Hohes Sprechtempo ist folglich symptomatisch, wenn es der Sprecher nicht mehr den Anforderungen und Kapazitäten von Sprache und Sprechen anpassen kann.

Auch neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass es beim hohen Sprechtempo von polternden Menschen weniger um die tatsächlich gemessene Anzahl von Silben pro Minute (oder Lauten pro Sekunde) geht, sondern um die Qualität des Sprechtempos:

Polternde Sprecher sind nicht in der Lage, hohes Sprechtempo gemessen an sprechmotorischen und linguistischen Anforderungen zu bewältigen → [Van Zaalen u. Winkelman, 2009]. Obwohl diverse Autoren ein auffällig hohes Sprechtempo als ein obligatorisches Symptom von Poltern bezeichnen → [Dalton u. Hardcastle, 1989]→ [St. Louis, 1992]→ [St. Louis u. Myers, 1995]→ [St. Louis et al., 2007], ist also weniger das durchschnittlich zu hohe Tempo auffällig, als vielmehr dessen Irregularität.

Polternde Sprecher konnten im Experiment ihr Sprechtempo im Vergleich zu Schnellsprechern und Kontrollpersonen nicht stärker steigern → [Bakker et al., 2011]. Alle Sprecher erreichten ähnliche Höchstgeschwindigkeiten. Da Sprecher ihr Tempo normalerweise immer um ca. 25% steigern können (vgl. → [Tsao u. Weismer, 1997]), gehen die Autoren davon aus, dass ein hohes Sprechtempo symptomatisch für Poltern ist.

Schon früher gingen Forscher davon aus, dass das Sprechtempo von Polternden, gemessen an ihren Fähigkeiten zur Sprachproduktion, nur relativ gesehen zu hoch ist → [Fröschels, 1955]→ [Luchsinger, 1963]→ [Weiss, 1964]→ [Weiss, 1967]→ [Arnold, 1970]→ [Daly, 1996]. Weiss berichtet von Polternden, deren Sprechtempo sich im Normbereich bewegte, wobei dennoch Auslassungen von Silben auftraten → [Weiss, 1964]. Es ist davon auszugehen, dass das Sprechtempo bei Poltern höher wahrgenommen wird als bei einem artikulatorisch unauffälligen Sprecher, da es von Störungen der sprechmotorischen Planung und Ausführung begleitet ist (vgl. auch → [St. Louis et al., 2007]→ [Van Zaalen u. Winkelman, 2009]).

Hartsuiker und Kolk gehen davon aus, dass eine erhöhte Sprechgeschwindigkeit eine Folge schneller Sprachplanungsprozesse bereits auf der Höhe des Formulators darstellt und schnelles Sprechen mit der Fähigkeit, schnelles Sprechen zu verstehen, korreliert → [Hartsuiker u. Kolk, 2001]. Ob dies auf die gesamte Population polternder Menschen zutrifft, darf bezweifelt werden und würde ein weiteres Argument liefern, dass ein hohes Sprechtempo bei Poltern symptomatisch ist.

2.2.2 Irreguläre Sprechgeschwindigkeit

Sowohl in älterer → [Weiss, 1964]→ [Weiss, 1967] als auch in neuerer Literatur → [Diedrich, 1984]→ [Dalton u. Hardcastle, 1989]→ [St. Louis et al., 1992]→ [St. Louis u. Myers, 1995] wird die Sprechgeschwindigkeit von Polternden als unregelmäßig beschrieben. Myers stellt die Hypothese auf, dass die Sprechgeschwindigkeit von Polternden variabler ist als bei Normalsprechern und weniger als sprachliches Ausdrucksmittel eingesetzt wird → [Myers, 1992].

In der Untersuchung von Sick, bei der Schwankungen der Artikulationsrate durch die Messung der Differenzen von Artikulationsraten fortlaufender Sprechabschnitte objektiv gemessen wurden, zeigte der Polternde nur in einer von zwei Sprechproben signifikant stärkere Schwankungen der Artikulationsrate als der Schnellsprecher → [Sick, 1999]. Im Gegensatz zum Schnellsprecher lagen die Schwankungen der Artikulationsrate beim Polterer in beiden Sprechproben ohne signifikanten intraindividuellen Unterschied auf hohem Niveau. Beim Schnellsprecher unterschieden sich die Schwankungen in beiden Sprechproben signifikant (► Abb. 2.2).

Tab. 2.1

 Vergleich Poltern und Schnellsprechen

Polternder

Schnellsprecher

p-Wert

Artikulationsrate (Silben/min)

391465

412443

0,050,53

phonetische Auffälligkeiten (n)

322491

178282

< 0,0001< 0,0001

Wiederholungen (Silben-, Wort-, Laut-, Satzteilwiederholungen; n)

2832

1210

0,0030,002

Abb. 2.2 Intra- und interindividuelle Vergleiche fortlaufender Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen einem Polternden und Schnellsprechenden.

Merke

Die Variabilität des Sprechtempos bei Poltern wird nicht hinreichend als sprachliches Ausdrucksmittel eingesetzt und ist damit als symptomatisch zu bewerten.

2.2.3 Theoretische Hintergründe zum Sprechtempo

Nach Goldman-Eisler ist die durchschnittliche Artikulationsrate bei einem Sprecher relativ stabil → [Goldman-Eisler, 1968]. Miller et al. stellten allerdings in den Befunden von Goldman-Eisler Variationen von bis zu 25% bezogen auf einzelne Äußerungen fest → [Miller et al., 1984]. Demnach können Sprecher zwar in Kategorien wie „schneller Sprecher“, „langsamer Sprecher“ eingeordnet werden, die Artikulationsraten variieren jedoch intraindividuell.

Die Sprechgeschwindigkeit von Normalsprechern liegt im oberen Bereich ihrer linguistischen und sprechmotorischen Kapazitäten → [Starkweather, 1987]. Gestützt wird dieser Befund durch ein Experiment von Tsao und Weismer → [Tsao u. Weismer, 1997]. Darin lagen sowohl bei durchschnittlich schnellen und durchschnittlich langsamen erwachsenen Sprechern die mittleren durchschnittlichen Artikulationsraten ungefähr 25% unter den maximalen.

Die Sprechgeschwindigkeit nimmt vom Kindes- zum Erwachsenenalter zu → [Kowal et al., 1975]. Dies hängt von der Entwicklung der linguistischen und sprechmotorischen Fähigkeiten des Kindes ab → [Starkweather, 1987]. Nach Tsao und Weismer trägt die neuromuskuläre Entwicklung zur Erhöhung der Sprechgeschwindigkeit bei → [Tsao u. Weismer, 1997].

Van Zaalen gibt an, dass das Sprechtempo nach einer Beschleunigungsphase in der Jugend nach der hormonellen Umstellung wieder abnimmt → [Van Zaalen u. Winkelman, 2009]. Die habituellen Sprechgeschwindigkeiten unterscheiden sich bei Erwachsenen deutlich (ebd.). Die neuromuskuläre Hypothese besagt, dass die habituelle Sprechgeschwindigkeit auf einer neurologischen Disposition beruht → [Tsao u. Weismer, 1997]. Dalton und Hardcastle schreiben diesbezüglich, dass physiologische Faktoren wie individuelle Fähigkeit zur Geschwindigkeit von Artikulationsabläufen oder Übertragungszeit für motorische Impulse zur Artikulationsmuskulatur die Sprechgeschwindigkeit beeinflussen → [Dalton u. Hardcastle, 1989]. Das Experiment von Tsao und Weismer legt nahe, dass die habituelle Artikulationsrate in hohem Maße von neuromuskulären Parametern bestimmt wird. Die mittleren habituellen Artikulationsraten variieren bei einer Person aus verschiedenen Gründen. Sie werden durch linguistische Faktoren, phonetische Anforderungen, kognitive Anforderungen, unterschiedliche Sprechsituationen, Selbstbild des Sprechers, dessen Motivation und affektive Zustände beeinflusst. Auch die Gesprächspartner beeinflussen das Sprechtempo → [Hall u. Yairi, 1997]. Guitar und Marchinowski konnten nachweisen, dass fünf von sechs 3-jährigen, normal sprechenden Kindern ihr Sprechtempo signifikant senkten, nachdem ihre Mütter ihr Sprechtempo reduzierten → [Guitar u. Marchinowski, 2001].

Die unterschiedlichen Einflussfaktoren auf das Sprechtempo sind in ► Abb. 2.3 dargestellt.

Abb. 2.3 Einflussfaktoren auf das Sprechtempo.

Linguistische Faktoren Zahlreiche linguistische Faktoren haben Einfluss auf die Sprechgeschwindigkeit. Erwähnt werden grammatische Kategorien (→ [Lehiste 1982]→ [Lieberman et al., 1985], vgl. → [Tsao u. Weismer, 1997]) oder Positionen von Phrasen im Satz (→ [Huggins, 1978], vgl. → [Starkweather, 1987]. Wird eine gleiche Phrase am Satzanfang bzw. am Satzende gesprochen, ist die Sprechgeschwindigkeit derselben Phrase am Satzende langsamer. Längere Phrasen werden durchschnittlich schneller gesprochen als kürzere (→ [Kelly u. Conture, 1992]→ [Malécot et al., 1972], vgl. → [Starkweather, 1987]).

Phonetische Anforderungen Auch phonetische Anforderungen haben Einfluss auf die Artikulationsrate → [Hall u. Yairi, 1997]. Silben in längeren Wörtern werden häufig schneller artikuliert als Silben in kürzeren Wörtern, Segmente am Silbenanfang sind länger als gleiche Segmente am Silbenende (→ [Huggins, 1978], vgl. → [Starkweather, 1987]). Abhängig von den metrischen Strukturen der Wörter, ist die Dauer betonter Silben eines Wortes länger als die Dauer unbetonter Silben. Je stärker betont eine Silbe ist, desto langsamer wird sie gesprochen (→ [Nakatani et al., 1981], vgl. → [Levelt, 1989]). Betonte Silben dauern zum Ende einer phonologischen Phrase hin länger (ebd.). Starkweather stellt die Hypothese auf, dass die durch Längungen am Phrasenende bedingten Schwankungen des Sprechtempos dem Zuhörer das Verständnis syntaktischer Strukturen erleichtern → [Starkweather, 1987]. Diese typischerweise auftretenden mikroskopischen Temposchwankungen variieren individuell um eine mittlere Sprechgeschwindigkeit und bilden in der Beziehung mit Variationen der Sprechlautstärke und Intonationsverläufen den Sprechrhythmus einer Person.

Kognitive Anforderungen in unterschiedlichen Sprechsituationen In einer Untersuchung von Boutsen und Hood sprachen 6- bis 12-jährige Kinder bei der Beschreibung von Bildern mit niedrigeren Artikulationsraten als in freien Gesprächen → [Boutsen u. Hood, 1997]. Hingegen konnte Faust keine regelmäßigen Veränderungen der Artikulationsrate beim Vergleich von Spontansprache und Lesetexten (die weniger Anforderung an die Sprachplanung als Bildgeschichten erfordern) feststellen → [Faust, 1997]. Diese Ergebnisse zeigen, dass sich Artikulationsraten auch an kognitive Anforderungen anpassen können. Ist ein Sprecher mit einem Diskussionsthema vertraut oder ist es ein für ihn beliebtes Thema, so ist das Sprechtempo tendenziell höher (vgl. → [Miller et al., 1984]).

Selbstbild des Sprechers Durch soziales Lernen wählen Sprecher das Sprechtempo aus, welches ihre Persönlichkeit am besten repräsentiert. Als Beispiel für soziales Lernen nennen Tsao und Weismer, dass hohe Sprechgeschwindigkeit einen Sprecher als engagiert und kompetent charakterisieren kann, langsameres Sprechen dafür als professionell → [Tsao u. Weismer, 1997]. Es ist anzunehmen, dass solche Einflüsse das Sprechtempo erst später im Erwachsenenalter beeinflussen.

Motivation/Emotionen Zusätzlich zu hohen kognitiven Anforderungen während des Sprechens können sich auch emotionale Zustände auf die Sprechgeschwindigkeit auswirken (ebd.). Niedergeschlagenheit oder Langeweile gehen tendenziell mit niedrigerer Sprechgeschwindigkeit einher, Aufregung oder Ärger oft mit erhöhter Sprechgeschwindigkeit.

Dialogische Sprechsituation Auch die dialogische Situation beeinflusst das Sprechtempo. Bei Nachfragen des Gesprächspartners zur Verständnissicherung reduziert der Sprecher seine Sprechgeschwindigkeit (→ [Longhurst u. Siegel, 1973] vgl. → [Starkweather, 1987]). Sprecher können darüber hinaus ihre Sprechgeschwindigkeit den sprachlichen Kapazitäten ihrer Gesprächspartner anpassen → [Kelly u. Conture, 1992].

Psychiatrische, neurologische und endokrine Erkrankungen Bei hirnorganischen, neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen kann eine erhöhte Sprechgeschwindigkeit auftreten. Dies betrifft die Parkinson-Krankheit, manische Phasen bei manisch-depressiven Erkrankungen oder auch Wernicke-Aphasie→ [Jaffe et al., 1973]. Freund erwähnt zusätzlich symptomatische Tachylalie, beispielsweise bei Angstneurosen und Phobien sowie bei Schizophrenie→ [Freund, 1970]. Auch bei Hyperthyreose beobachtete er Tachylalie, wobei diese Beobachtung besonders kritisch bewertet werden muss. Freund kritisiert an seiner Untersuchung selbst, dass er keine Informationen über das Sprechtempo vor den Erkrankungen hat.

Sprachlich-kulturelle Aspekte Gebhard (2012) untersuchte, dass sich das durchschnittliche Sprechtempo zwischen Sprachen (z.B. Deutsch – Spanisch) unterscheidet.

2.2.3.1 Auswirkungen schnellen Sprechens

Bei hoher Sprechgeschwindigkeit werden normalerweise weniger Pausen gesetzt als bei normaler Sprechgeschwindigkeit → [Levelt, 1989]. Untersuchungen des lauten Lesens zeigten, dass zusätzlich zur Anzahl der Pausen auch die Dauer der Pausen bei hoher Sprechgeschwindigkeit abnimmt → [Grosjean u. Collins, 1979]→ [Butcher, 1981].

Eine Zunahme der Sprechgeschwindigkeit wurde in früheren Untersuchungen hauptsächlich auf eine Reduzierung von Pausenanzahl und Pausendauer zurückgeführt (vgl. → [Goldman-Eisler, 1968]). Miller und Kollegen → [Miller et al., 1984] stellten in einer Reanalyse einer früheren Untersuchung von Grosjean und Deschamps auch deutliche Zunahmen der Artikulationsraten fest → [Grosjean u. Deschamps, 1973]. Schnelles Sprechen führt zu Veränderungen auf verschiedenen Ebenen des Sprachproduktionsprozesses → [Levelt, 1989]. Umgekehrt können sich Vorgänge auf verschiedenen Ebenen der Sprachproduktion auf die Artikulationsrate auswirken. Je höher die Artikulationsrate ist, desto höher sind die Anforderungen in allen Ebenen der Sprachproduktion.

Die häufige Verwendung von umgangssprachlichen und phonologischen Wörtern bei schnellem Sprechen beinhaltet Veränderungen auf lexikalischer Ebene.

Störungen verschiedener Prozesse des phonologischen Enkodierens können zu einer Reduzierung, möglicherweise auch zu einer Erhöhung der Artikulationsrate beitragen.

Auf phonetisch-artikulatorischer Ebene führt eine hohe Sprechgeschwindigkeit hauptsächlich zu Reduktionen und Assimilationen von Phonemen und Silben → [Levelt, 1989]. Häufig werden kurze, unbetonte Wörter oder Silben reduziert. Wenn diese Reduktionen mit phonotaktischen Regeln vereinbar sind (z.B. „give'm attention“, → [Levelt, 1989], S. 369), finden sie während des phonologischen Enkodierens statt. Verletzen sie phonotaktische Regeln (z.B. „p'tato“, ebd.), entstehen sie erst nach Generierung der phonetischen Pläne.

Assimilationen treten in schnellem Sprechen häufiger auf als bei normaler Artikulationsrate. Koartikulation, die physiologisch-artikulatorische Interaktion benachbarter Phoneme, nimmt bei hoher Artikulationsrate ebenfalls zu.

Nach Gay und Hirose (→ [Gay u. Hirose, 1978], vgl. → [Starkweather, 1987]) werden bei schnellem Sprechen betonte Silben weniger stark betont. Damit übereinstimmend schließt Jäncke aus Experimenten, dass die auditive Rückmeldung des eigenen Sprechens stärker bei betonten als bei unbetonten Silben stattfindet und bei hohem Sprechtempo schwächer ist als bei niedrigem Sprechtempo → [Jäncke, 1992].

Demzufolge kann erhöhtes Sprechtempo die auditiven Monitoringprozesse einschränken. Ein hohes Sprechtempo kann verstärkt zu Unflüssigkeiten, häufig Laut- und Silbenwiederholungen, führen → [Postma u. Kolk, 1993].

Überblick

Auswirkungen eines überhöhten Sprechtempos nach dem Sprachproduktionsmodell von Levelt

Es können Planungsprobleme auf der Ebene der sprachlichen Konzeptbildung auftreten.

Hohes Sprechtempo wirkt sich auf verschiedene Stufen der phonologischen Enkodierung aus und kann zur Erstellung fehlerhafter phonetischer Pläne führen.

Möglicherweise können beim Abruf der phonetischen Pläne Störungen des Timings die Artikulationsrate erhöhen.

Hohes Sprechtempo verändert die Artikulation.

Auf der Ebene des Artikulators können sprechmotorische Störungen die Artikulationsrate beeinflussen.

Hohe Artikulationsraten erschweren das Monitoring des Sprechens auf allen Ebenen.

2.3 Phonetische Auffälligkeiten

Phonetische Auffälligkeiten bei Polternden werden in der gesamten Literatur beschrieben und als obligatorisches Symptom von Poltern bewertet (vgl. auch → [St. Louis u. Schulte, 2011]). Der Terminus phonetische Auffälligkeiten impliziert für dieses Buch, dass diese auch phonologisch bedingt sein können. Da eine phonologische Ursache jedoch nicht immer vorhanden sein muss, werden die Auffälligkeiten, wenn sie nicht ausdrücklich anders bezeichnet werden, nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als phonetische Auffälligkeiten beschrieben. Meistens gehen die phonetischen Auffälligkeiten bei Poltern mit einer kurzzeitigen Beschleunigung des Sprechtempos einher. Deshalb wird in diesem Buch auch häufig der Begriff phonetisch-temporale Auffälligkeiten verwendet.

Phonetische Auffälligkeiten bei Poltern sind nicht phonemspezifisch → [St. Louis u. Myers, 1995]. Sie zeigen sich in Form von Laut-, Silben- und Wortauslassungen, Ersetzung von Lauten und Silben, Hinzufügungen von Lauten, Vertauschungen von Lauten, Kontaminationen (d. h. Verschmelzung von Laut- und Silbenelementen, vgl. → [Bußmann, 1990]), Reduzierung von Konsonantenclustern und Neutralisierung von Vokalen. Das Sprechen kann dadurch bis zur Unverständlichkeit verändert sein. Phonetische Auffälligkeiten weichen qualitativ von denen beim schnellen Sprechen (Kap. ► 2.2.3.1) beschriebenen, üblicherweise auftretenden phonetischen Veränderungen quantitativ und qualitativ ab.

Phonetisch-temporale Auffäligkeiten können auch unvermittelt in Abschnitten mit normalem Sprechtempo auftreten. In der Untersuchung von Sick wurden jeweils 30 Phrasen aus den Sprechproben des polternden Probanden und des Schnellsprechers extrahiert, deren Artikulationsraten in einem normalen Rahmen lagen → [Sick, 1999]. Auch hier zeigte der Polternde hochsignifikant mehr phonetische Auffälligkeiten als der Schnellsprecher (ebd.). Diese Untersuchung stützt die oben genannte Beobachtung.

► Abb. 2.4 zeigt einen qualitativen Unterschied phonetischer Auffälligkeiten anhand der unverständlichen Abschnitte, die beim polternden Probanden einen deutlich höheren Anteil an den gesamten phonetischen Auffälligkeiten als beim Schnellsprecher ausmachen, obwohl der Schnellsprecher in diesem Gespräch sogar signifikant schneller als der Polternde sprach. Die höhere Prozentzahl unverständlicher Abschnitte beim polternden Probanden impliziert, dass die phonetischen Auffälligkeiten qualitativ schwerwiegender als beim Schnellsprecher sind.

Abb. 2.4 Qualitativer Unterschied phonetischer Auffälligkeiten eines polternden Probanden und eines Schnellsprechers → [Sick, 1999].

Zwar treten auch Dyslalien bei Polternden auf (vgl. → [Fröschels, 1955], in: → [Daly u. Burnett, 1999]), diese gehören jedoch nicht zum Störungsbild. Einige Autoren geben an, dass besonders häufig unbetonte Silben ausgelassen werden → [Luchsinger u. Arnold, 1959]→ [Daly, 1996], eine generelle Regelhaftigkeit besteht jedoch nicht. Phonetische Auffälligkeiten verstärken sich bei Zunahme der Wortlänge → [Van Zaalen-opʼt Hof, 2009].

2.3.1 Beziehungen zwischen Sprechmotorik und phonetischen Auffälligkeiten

Auch wenn die nichtsprachlichen mundmotorischen Fähigkeiten unauffällig sind, werden sprechmotorische Auffälligkeiten bei der Entstehung phonetischer Auffälligkeiten diskutiert. Eine Möglichkeit, Aufschlüsse zu sprechmotorischen Störungen zu erhalten, ist die Überprüfung der oralen Diadochokinese (vgl. Kap. ► 7.8.4). Van Zaalen → [Van Zaalen-opʼt Hof et al., 2009a] führte mit den Oral Motor Assessment Scales→ [Riley u. Riley, 1985] und dem Screening Pittige Articulatie (orale Diadochokinese auf Wortebene) einen Vergleich von Personen, die poltern, stottern oder unauffällig sprechen, durch.

Hinsichtlich der artikulatorischen Genauigkeit zeigte sich, dass die Voice Onset Time und die artikulatorische Ausführung, insbesondere bei phonetisch und phonologisch komplexen Wörtern, bei polternden Sprechern im Gegensatz zu den Vergleichsgruppen eingeschränkt sind. In der Kategorie „Koartikulation“ zeigten polternde Sprecher mehr Zusammenziehungen von Silben als Kontrollpersonen und stotternde Menschen.

Zu beachten ist, dass die Leistungen oraler Diadochokinese auf Silbenebene keine vollständigen Rückschlüsse auf die Sprechleistungen zulassen → [Ziegler, 2003].

Merke

Es ist davon auszugehen, dass Einschränkungen der Sprechmotorik eine zusätzliche, aber nicht alleinige Ursache für phonetische-temporale Auffälligkeiten bei Poltern darstellen. Poltern kann von einer verbalen Entwicklungsdyspraxie begleitet werden → [De Hirsch, 1961]→ [St. Louis et al., 1992]→ [Van Zaalen-opʼt Hof, 2009] (vgl. auch Kap. ► 6)

2.3.2 Theoretische Hintergründe zu phonetischen Auffälligkeiten

Um Hintergründe für die unterschiedlichen Arten phonetischer Auffälligkeiten verstehen zu können, wird an dieser Stelle ein kurzer ergänzender Überblick über das phonologische Enkodieren und die Artikulation gegeben (vgl. Exkurs Levelt, Kap. ► 2). Neben der Theorie von Levelt gibt es noch diverse andere Modelle, die in diesem Rahmen nicht beschrieben werden können.

Phonologisches Enkodieren