Poor Economics - Abhijit V. Banerjee - E-Book

Poor Economics E-Book

Abhijit V. Banerjee

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Beschreibung

Das bahnbrechende Buch der Wirtschaftsnobelpreisträger

Ein unterernährter Mann in Marokko kauft lieber einen Fernseher als Essen. Absurd? Nein. Die Ökonomen Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee erregen weltweit Aufsehen, weil sie zeigen: Unser Bild von den Armen ist ein Klischee. Und wir müssen radikal umdenken, wenn wir die Probleme der Ungleichheit lösen wollen.

Für ihre Forschung zur Bekämpfung der globalen Armut wurden Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee 2019 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.

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Für unsere Mütter,Nirmala Banerjee undViolaine Duflo

Inhaltsverzeichnis

WidmungDie Ökonomie der Armen1 Einmal mehr nachdenken
Die Armutsfalle
TEIL 1 - Das private Leben
2 Eine Milliarde hungernder Menschen?
Copyright

Die Ökonomie der Armen

In einem Bilderbuch über Mutter Teresa hatte Esther als Sechsjährige gelesen, in der Stadt, die damals noch Kalkutta hieß, lebten so viele Menschen, dass jedem nur ein Quadratmeter zur Verfügung stehe. Sie stellte sich die Stadt als riesiges Schachbrett vor, mit auf den Boden gezeichneten Feldern von einem auf einen Meter Länge, auf dem die menschlichen Schachfiguren eng aneinandergedrängt hockten. Und sie überlegte, was sie dagegen tun könnte.

Mit vierundzwanzig, als Doktorandin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), kam sie zum ersten Mal nach Kalkutta. Als sie mit dem Taxi in die Stadt fuhr, fühlte sie leichte Enttäuschung in sich aufsteigen: Wohin sie auch schaute, war nichts als leerer Raum – Bäume, Grasstreifen, leere Gehwege. Wo war all das Elend, das ihr Kinderbuch so eindringlich dargestellt hatte? Wo waren all die Leute?

Mit sechs Jahren wusste Abhijit genau, wo die Armen wohnten. Sie lebten in den baufälligen Hütten hinter dem Haus seiner Eltern in Kalkutta. Ihre Kinder hatten anscheinend viel Zeit zum Spielen, und sie schlugen ihn in jeder Sportart: Wenn er hinunterging, um mit ihnen Murmeln zu spielen, landeten die Murmeln am Ende immer in den Taschen ihrer zerlumpten Hosen. Er beneidete sie.

Dieser Hang, die Armen auf ein paar Klischees zu reduzieren, existiert genauso lang wie die Armut: Sowohl die Soziologie als auch die Literatur stellt sie abwechselnd als faul oder geschäftstüchtig, als edel oder kriminell, als aufsässig oder ergeben, als hilflos oder selbstgenügsam dar. Kein Wunder, dass die politischen Positionen, die auf dieser Einschätzung der Armen beruhen, in ähnlich schlichte Formeln gefasst werden können: »Freie Märkte für die Armen«, »Die Menschenrechte müssen im Vordergrund stehen«, »Legt erst die Konflikte bei«, »Mehr Geld für die Ärmsten«, »Hilfe von außen verhindert die Entwicklung« und so weiter. In all diesen Vorstellungen steckt ein Körnchen Wahrheit, aber so gut wie nie beschäftigen sie sich mit dem armen Menschen selbst – mit seinen Hoffnungen und Zweifeln, mit seinen Grenzen und Zielen, mit seinen Überzeugungen und Unsicherheiten. Arme treten allenfalls als Figuren in komischen oder tragischen Geschichten auf; solche Leute kann man bewundern oder bemitleiden, aber nicht als Quellen für tiefer gehende Erkenntnisse heranziehen oder danach fragen, was sie meinen, wollen oder tun.

Die Ökonomie der Armut wird nicht selten als unergiebige Ökonomie (poor economy) missverstanden. Weil die Armen nur sehr wenig besitzen, glauben viele, an ihrer wirtschaftlichen Existenz könne nichts interessant sein. Dieses Missverständnis behindert leider die Bekämpfung der globalen Armut: Ein einfaches Problem muss eine einfache Lösung haben. Das Feld der Strategien zur Armutsbekämpfung ist übersät mit den Resten wunderbar einfacher Lösungen, die – o Wunder – nicht funktionierten. Wenn wir vorankommen wollen, müssen wir aufhören, die Armen zu Karikaturen ihrer selbst zu machen. Wir müssen uns die Zeit nehmen, ihr Leben in seiner Komplexität und Vielfalt kennenzulernen und zu verstehen. Genau das haben wir in den vergangenen fünfzehn Jahren versucht.

Wir sind Forscher, und wie die meisten Forscher formulieren wir Theorien und starren gebannt auf Datensätze. Doch unsere Art der Arbeit erforderte es, Monate (wenn auch über Jahre verteilt) »mitten im Leben« zuzubringen, mit den Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Regierungsbeamten, Gesundheitshelfern, Mikrokreditgebern und in den Dörfern und Stadtvierteln, wo die Armen leben. Überall haben wir Fragen gestellt und Daten gesammelt. Ohne das freundliche Entgegenkommen der Menschen, denen wir begegnet sind, hätten wir dieses Buch nicht schreiben können. Wir wurden immer mit großer Gastfreundlichkeit aufgenommen, obwohl wir meistens unangekündigt irgendwo auftauchten. Geduldig beantworteten unsere Gesprächspartner unsere Fragen, auch wenn sie ihnen manchmal unsinnig erschienen, und viele erzählten uns ihre Lebensgeschichte. 1

Wieder zu Hause an unseren Schreibtischen waren wir gleichermaßen fasziniert und irritiert, wenn wir an diese Geschichten zurückdachten, unsere Daten analysierten und versuchten, all das mit den einfachen Modellen in Übereinstimmung zu bringen, die professionelle Entwicklungsökonomen und politische Entscheidungsträger üblicherweise verwenden, wenn sie sich über das Leben der Armen Gedanken machen. In den meisten Fällen zwangen uns unsere Daten und Erkenntnisse, die Theorien, von denen wir ausgegangen waren, zu korrigieren oder ganz aufzugeben. Aber wir taten das erst, nachdem wir genau verstanden hatten, warum sie nicht tragfähig waren und wie wir sie besser an die tatsächlichen Gegebenheiten anpassen konnten. Das Buch ist das Ergebnis dieses Austauschs, der Versuch, eine stimmige Beschreibung des Lebens armer Leute abzugeben.

Wir haben uns auf die Ärmsten der Armen konzentriert. In den fünfzig Ländern, in denen die meisten Armen leben, liegt die Armutsgrenze im Schnitt bei 16 indischen Rupien pro Person und Tag. Menschen, die von weniger leben müssen, werden auch von den Regierungen ihrer eigenen Länder als arm betrachtet. Nach dem momentanen Wechselkurs entsprechen 16 Rupien etwa 36 US-Cent. Nachdem die Preise in den meisten Entwicklungsländern jedoch niedriger sind als in den USA, müssten die Armen mehr Geld ausgeben, wenn sie zu amerikanischen Preisen einkaufen würden – nämlich 99 US-Cent.2 Wenn Sie eine Idee davon bekommen wollen, wie Arme leben, dann stellen Sie sich vor, Sie hätten für fast den gesamten täglichen Bedarf (ohne die Miete) nicht mehr als 99 US-Cent am Tag zur Verfügung. Das ist nicht leicht, in Indien bekommen Sie dafür etwa 15 kleine Bananen oder drei Pfund Reis minderer Qualität. Kann man davon leben? Im Jahr 2005 taten dies weltweit etwa 865 Millionen Menschen, 13 Prozent der Weltbevölkerung.

Das Verblüffende ist, dass selbst Menschen, die so arm sind, uns in fast allem gleichen. Wir haben dieselben Wünsche und Schwächen; die Armen sind nicht weniger rational als andere, ganz im Gegenteil. Eben weil sie so wenig haben, denken sie oft viel sorgfältiger nach, bevor sie sich für etwas entscheiden: Sie müssen höchst wirtschaftlich denken, um zu überleben. Und doch sind unsere Leben völlig verschieden. Das hat viel mit dem zu tun, was wir in unserem eigenen Leben für selbstverständlich halten, ohne groß darüber nachzudenken.

Wenn Sie mit 99 US-Cent am Tag auskommen müssen, heißt das, dass Sie nur sehr eingeschränkten Zugang zu Information haben, denn Zeitungen, Fernseher, Bücher kosten Geld. Das heißt, von vielem, was für den Rest der Welt Allgemeinwissen ist, haben Sie noch nie gehört, etwa dass eine Impfung Ihr Kind vor Masern schützen kann. Es heißt auch, in einer Welt zu leben, deren Institutionen nicht für jemanden wie Sie gemacht sind. Die meisten armen Menschen beziehen keinen Lohn, geschweige denn, dass sie eine Rentenversicherung hätten, in die automatisch ein Teil davon fließt. Es bedeutet, Entscheidungen über Dinge zu treffen, die mit einer Menge Kleingedrucktem einhergehen, obwohl Sie noch nicht einmal das Großgedruckte richtig lesen können. Was macht jemand, der die Produktinformation einer Krankenversicherung nicht lesen kann, die eine ganze Reihe von Krankheiten mit unaussprechlichen Namen ausschließt? Es bedeutet, wählen zu gehen, obwohl Sie von Ihrem politischen System nicht mehr mitbekommen als nicht eingelöste Wahlversprechen, und es bedeutet, kein Geld zurücklegen zu können, weil die Bank aus Ihren Ersparnissen nicht einmal genug erwirtschaftet, um die entstehenden Verwaltungskosten zu decken. Und so weiter.

Das Beste aus sich zu machen und für die Familie Vorsorge zu treffen, verlangt armen Menschen also viel, viel mehr Erfindungsgeist, Willenskraft und Einsatz ab. Umgekehrt sind es die kleinen Geldbeträge, die kleinen Hindernisse, die kleinen Fehler, über die die meisten von uns locker hinweggehen, die den Armen das Leben schwer machen.

Es ist nicht leicht, der Armut zu entrinnen, aber das Gefühl, es schaffen zu können, und gezielte kleine Hilfen (etwas Information, ein leichter Anstoß) sind manchmal überraschend wirkungsvoll. Andererseits bringen zu hoch gesteckte Erwartungen, fehlende Zuversicht und kleinere Hürden manchmal alles zum Scheitern. Ein Druck auf den richtigen Knopf kann unglaublich viel bewirken – das Problem ist, den richtigen Knopf zu finden. Und natürlich gibt es nicht den einen Knopf, der alle Probleme löst.

Poor Economics ist ein Buch über die ausgesprochen ergiebige Ökonomie, die zutage tritt, wenn man ein Verständnis für das ökonomische Leben der Armen entwickelt. Es ist ein Buch über die Theorien, die uns helfen nachzuvollziehen, was die Armen selbst erreichen können und wofür sie einen Anschub brauchen. Jedes Kapitel dieses Buches beschreibt eine andere Suche nach den zugrunde liegenden Schwierigkeiten und danach, wie sie überwunden werden können. Wir beginnen mit einem Blick auf die elementaren Dinge im Leben von Familien: Was kaufen sie? Gehen die Kinder zur Schule? Was tun sie für ihre Gesundheit oder die von Kindern oder Eltern? Wie viele Kinder möchten sie haben? Und so weiter. Danach gehen wir der Frage nach, wie Märkte und Institutionen für die Armen arbeiten: Können sie Geld leihen, ansparen und sich gegen Risiken versichern? Was tun Regierungen für sie und wann lassen sie sie im Stich? Wir werden immer wieder auf diese grundlegenden Fragen zurückkommen. Gibt es Möglichkeiten für die Armen, ihr Leben zu verbessern, und was hält sie davon ab, es zu tun? Sind es die Kosten am Anfang, oder ist es zwar leicht, damit anzufangen, aber schwer durchzuhalten? Was macht es so aufwändig? Erkennen die Menschen, was ihnen nützt? Wenn nicht, woran liegt das?

Letztlich geht es in Poor Economics darum, was wir aus dem Leben und den Entscheidungen, die arme Leute treffen, für die Bekämpfung der weltweiten Armut lernen können. Wir verstehen am Ende besser, warum Mikrokredite zwar ein nützliches Instrument sind, aber keine Wunderwaffe, wie man zunächst hoffte, warum Arme häufig bei einer Gesundheitsversorgung landen, die ihnen mehr schadet als nutzt, warum arme Kinder Jahr um Jahr zur Schule gehen, ohne etwas zu lernen, warum Arme keine Krankenversicherung wollen. Es wird klar werden, warum so viele Allheilmittel von gestern im Papierkorb der gescheiterten Ideen von heute gelandet sind. Doch das Buch zeigt auch, wo es Hoffnung gibt: Warum Unterstützung in Form von Gutscheinen unter Umständen mehr bringt, als der Gutschein wert ist, wie man Versicherungen besser vermarktet, warum bei der Schulbildung weniger manchmal mehr sein kann, warum gute Jobs für das Wachstum wichtig sind. Doch vor allem wird deutlich, warum Hoffnung unverzichtbar und Wissen entscheidend ist, warum wir nicht aufgeben dürfen, auch wenn die Herausforderungen gigantisch erscheinen. Der Erfolg ist nicht immer so weit entfernt, wie es scheint.

1 Einmal mehr nachdenken

Alljährlich sterben neun Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag. 1 In Regionen südlich der Sahara stirbt eine von 30 Frauen bei der Geburt eines Kindes, in den entwickelten Ländern eine von 5 600. Es gibt mindestens 25 Länder, die meisten davon im Afrika südlich der Sahara, in denen die durchschnittliche Lebenserwartung weniger als 55 Jahre beträgt. Allein in Indien können 50 Millionen Schulkinder nicht einmal einfachste Texte lesen.2

Wenn Sie Zeilen wie diese lesen, möchten Sie das Buch vielleicht zuklappen und die Geschichte mit der globalen Armut am liebsten gleich vergessen. Das Problem scheint einfach zu groß, schlicht unlösbar zu sein. Wir wollen Sie dazu bringen, genau das nicht zu tun.

An der University of Pennsylvania hat man ein Experiment durchgeführt, das zeigt, wie leicht wir uns von der Größe eines Problems überfordert fühlen.3 Die Forscher gaben Studenten 5 Dollar und baten sie, einen Fragebogen auszufüllen. Dann zeigten sie ihnen ein Flugblatt und forderten sie auf, etwas für Save the Children, eine der weltgrößten Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden. Die Forscher hatten zwei verschiedene Flugblätter vorbereitet. Einigen (zufällig ausgewählten) Studenten zeigten sie dieses:

In Malawi sind über drei Millionen Kinder von Nahrungsmittelknappheit betroffen. Wegen fehlender Niederschläge ist die Maisproduktion in Sambia seit dem Jahr 2000 um 42 Prozent zurückgegangen. Das hat dazu geführt, dass drei Millionen Sambier Hunger leiden. Vier Millionen Angolaner – ein Drittel der Gesamtbevölkerung  – mussten aus ihren Heimatdörfern fliehen. Über elf Millionen Äthiopier sind auf sofortige Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Den anderen Studenten gab man ein Flugblatt, auf dem unter dem Foto eines kleinen Mädchens diese Worte standen:

Rokia ist ein siebenjähriges Mädchen aus Mali in Afrika. Sie lebt in bitterer Armut und leidet schweren Hunger. Mit Ihrer Spende können Sie ihr Leben zum Besseren verändern. Dank Ihrer Unterstützung und der anderer Spender kann Save the Children Rokias Familie und anderen Dorfbewohnern dabei helfen, Rokia zu ernähren, sie in die Schule zu schicken, ihr eine medizinische Grundversorgung zu ermöglichen und sie über Hygiene aufzuklären.

Mit dem ersten Flugblatt bekamen die Forscher im Schnitt 1,16 Dollar von jedem Studenten, mit dem zweiten 2,83 Dollar. Die Studenten waren also durchaus bereit, für Rokia Verantwortung zu übernehmen und ihr zu helfen, aber angesichts der Dimensionen des Problems fühlten sie sich ohnmächtig.

Anderen, ebenfalls zufällig ausgewählten Studenten, zeigten die Forscher dieselben Flugblätter. Doch dieses Mal sagten sie dazu, dass die meisten Leute mehr Geld spenden, wenn man ihnen einen einzelnen Betroffenen präsentiert, als wenn man sie mit allgemeinen Informationen versorgt. Diejenigen, die das Flugblatt mit Sambia, Angola und Malawi gezeigt bekamen, gaben in etwa dasselbe wie die Studenten ohne die »Vorwarnung«, nämlich 1,26 Dollar. Diejenigen mit dem Rokia-Flugblatt spendeten dagegen nur 1,36 Dollar, also weniger als die Hälfte dessen, was die ungewarnten Studenten zuvor gegeben hatten. Dass man die Studenten dazu gebracht hatte, noch einmal nachzudenken, hatte den Effekt, dass sie Rokia gegenüber weniger großzügig waren, ihr Verhalten allen anderen gegenüber hatte sich jedoch kaum verändert.

So wie die Studenten reagieren die meisten von uns, wenn sie mit Problemen wie der Armut konfrontiert werden. Spontan wollen wir großzügig sein, besonders wenn ein kleines Mädchen in Gefahr ist. Bei genauerem Nachdenken kommen wir – wie die Studenten aus Pennsylvania – zu dem Schluss, dass das alles keinen Sinn hat: Unser Beiträg wäre ein Tropfen, der in ein Fass ohne Boden fällt. Unser Buch lädt dazu ein, einmal mehr über alles nachzudenken: Wir hoffen, dass Sie sich von dem Gefühl lösen können, der Kampf gegen die Armut sei aussichtslos, und dass Sie anfangen, das Phänomen als ein Bündel ganz konkreter Probleme zu betrachten, die eines nach dem anderen gelöst werden können, wenn man sie erst einmal identifiziert und verstanden hat.

Leider wird der Rahmen für die Armutsdiskussion in der Regel thematisch ganz anders abgesteckt. Da geht es nicht darum, wie man Durchfall oder Denguefieber am besten bekämpfen kann, stattdessen konzentrieren sich viele Experten – vor allem die am lautesten vernehmbaren – auf die »großen« Fragen: Was ist die wahre Ursache der Armut? Inwieweit können wir den freien Märkten vertrauen? Ist Demokratie gut für die Armen ? Sollte man Hilfe von außen leisten oder nicht? Und so weiter.

Zu diesen Experten gehört Jeffrey Sachs; er ist Direktor am Earth Institute der Columbia University in New York und berät die Vereinten Nationen. Er hat eine Antwort auf all diese Fragen: Die armen Länder sind arm, weil sie heiß, unfruchtbar, malariaverseucht und vom Meer abgeschnitten sind. Ohne große Investitionen als Starthilfe für Maßnahmen gegen diese endemischen Probleme sind sie kaum in der Lage, etwas zu produzieren. Investitionen können sie sich aber nicht leisten, eben weil sie arm sind – sie befinden sich in der Armutsfalle, wie die Wirtschaftswissenschaftler das nennen. Und so lange diese Probleme nicht gelöst sind, nützen ihnen weder Demokratie noch freie Märkte wirklich etwas. Der Schlüssel ist daher die Hilfe von außen: Sie kann einen Circulus virtuosus, das Gegenteil eines Teufelskreises (Circulus vitiosus), in Gang setzen, indem sie es armen Ländern ermöglicht, in diese kritischen Bereiche zu investieren, und sie produktiver macht. Die daraus resultierenden höheren Einkommen führen zu weiteren Investitionen, der Aufwärtstrend setzt sich fort. In seinem 2005 erschienenen Bestseller Das Ende der Armut4 behauptet Sachs, wenn die reichen Länder zwischen 2005 und 2025 jährlich 195 Milliarden Dollar in Entwicklungshilfe stecken würden, könnte die Armut bis zum Ende dieses Zeitraums beseitigt sein.

Doch es gibt andere, die sich nicht weniger vernehmlich zu Wort melden und sagen, dass Sachs mit all seinen Antworten falsch liegt. William Easterly bekämpft Sachs von der New York University aus, die am anderen Ende Manhattans liegt. Mit dem Erscheinen seiner beiden Bücher The Elusive Quest for Growth (»Das trügerische Streben nach Wachstum«) und Wir retten die Welt zu Tode ist er zu einem der einflussreichsten Entwicklungshilfe-Kritiker geworden.5 Die Wirtschaftswissenschaftlerin Dambisa Moyo arbeitete für die Weltbank und für das Geldhaus Goldman Sachs, doch mit ihrem Buch Dead Aid. Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert und was Afrika besser machen kann schließt sie sich Easterlys Kritik an.6 Beide sagen, dass Entwicklungshilfe mehr schadet als nützt: Sie hält die Menschen davon ab, nach eigenen Lösungen zu suchen, während Institutionen vor Ort korrumpiert und unterminiert werden und gleichzeitig eine sich selbst erhaltende Lobby für Entwicklungshilfe-Organisationen entsteht. Arme Länder sollten sich am besten an einen einfachen Grundsatz halten: Wenn die Märkte frei sind und die Anreize stimmen, dann finden die Menschen Lösungen für ihre Probleme. Sie brauchen keine Anleitungen, weder von Fremden noch von der eigenen Regierung. So gesehen sind die Entwicklungshilfe-Pessimisten genau genommen ziemlich optimistisch, was den Lauf der Welt angeht. Easterly zufolge gibt es keine Armutsfalle.

Wem sollen wir nun glauben? Denen, die sagen, dass Entwicklungshilfe das Problem löst? Oder denen, die behaupten, dass sie alles nur noch schlimmer macht? Die Frage kann nicht am grünen Tisch entschieden werden, wir brauchen Beweise. Doch leider sind die Daten, die üblicherweise zur Beantwortung der »großen Fragen« herangezogen werden, alles andere als verlässlich. Nette Anekdoten findet man reichlich, darunter garantiert immer eine, die die jeweilige Position stützt. Ruanda beispielsweise erhielt in den Jahren nach dem Völkermord sehr viel Geld und blühte auf. Als die Wirtschaft prosperierte, begann Präsident Paul Kagame, das Land von der Entwicklungshilfe zu entwöhnen. Ist Ruanda nun ein Beispiel für gelungene Entwicklungshilfe (im Sinne von Jeffrey Sachs) oder ein Aushängeschild für das Vertrauen in die eigenen Kräfte (wie Dambisa Moyo meint)? Oder trifft etwa beides zu?

Weil man Einzelfälle wie Ruanda nicht verallgemeinern kann, versuchen Wissenschaftler in der Regel, die großen philosophischen Fragen zu beantworten, indem sie mehrere Länder miteinander vergleichen. So zeigen etwa die Daten von ein paar Hundert Ländern, dass diejenigen, die mehr Entwicklungshilfe erhielten, nicht schneller wuchsen als die anderen. Häufig wird das als Beweis dafür angesehen, dass Entwicklungshilfe nichts bringt. Genau genommen könnte es aber auch das Gegenteil bedeuten. Die Entwicklungshilfe könnte größeres Unheil verhindert haben und ohne sie wäre es noch viel schlimmer gekommen. Wir wissen es schlicht und ergreifend nicht, wir spekulieren lediglich auf hohem Niveau.

Doch was sollen wir tun, wenn sich der Erfolg von Entwicklungshilfe wirklich nicht beurteilen lässt? Die Armen aufgeben? So pessimistisch müssen wir zum Glück nicht sein, denn es gibt Antworten. Dieses Buch etwa ist eine ausführliche Antwort – wenn auch nicht die Art pauschaler Antworten, wie sie Sachs und Moyo bevorzugen. Sie werden hier nicht hören, dass Entwicklungshilfe gut oder schlecht ist, sondern erfahren, wo welche Form von Entwicklungshilfe sinnvoll war oder nicht. Wir können nicht behaupten, dass mit Demokratie alles besser funktionieren würde, aber wir können sagen, dass Demokratie im ländlichen Indonesien mehr bewirken würde, wenn man die Art und Weise ändern würde, wie sie vor Ort organisiert ist.

In jedem Fall sind die Antworten auf die großen Fragen – wie die, ob Entwicklungshilfe hilft oder nicht – keineswegs so wichtig, wie man uns manchmal glauben machen will. Entwicklungshilfe hat große Bedeutung für alle, die sich in Paris, London oder Washington leidenschaftlich dafür einsetzen, den Armen zu helfen (und für die, die – eher zähneknirschend als begeistert – ihr Portemonnaie dafür öffnen sollen). In Wahrheit macht die Entwicklungshilfe nur einen kleinen Teil des Geldes aus, das jedes Jahr für die Armen ausgegeben wird. Die meisten Programme zur Armutsbekämpfung werden von den jeweiligen Staaten selbst finanziert. Indien erhält beispielsweise praktisch keine Entwicklungshilfe. In den Jahren 2004 und 2005 gab es eine halbe Billion Rupien (31 Milliarden PPP-USD)7 allein für Grundschulprogramme für Arme aus. Selbst in Afrika, wo Entwicklungshilfe eine wesentlich größere Rolle spielt, machte sie 2003 nur 5,7 Prozent der gesamten Staatshaushalte aus (wenn man Nigeria und Südafrika weglässt, zwei große Länder, die nur sehr wenig Entwicklungshilfe beziehen, waren es 12 Prozent).8

Doch die endlosen Diskussionen um die Vor- und Nachteile von Entwicklungshilfe verschleiern oft, was wirklich wichtig ist: nicht so sehr, woher das Geld kommt, als vielmehr, wohin es fließt. Viel hängt davon ab, welches Projekt man zur Förderung auswählt – Nahrungsmittel für die Bedürftigen, finanzielle Unterstützung für die Alten, Hospitäler für die Kranken –, dann muss man sich überlegen, wie man es am besten organisiert. Ein Krankenhaus beispielsweise kann ganz verschieden ausgestattet und geführt werden.

Alle, die über Entwicklungshilfe diskutieren, sind sich im Grundsatz einig, nämlich dass wir den Armen helfen sollten, wenn wir können. Das überrascht nicht wirklich. Der Philosoph Peter Singer leitet aus dem moralischen Imperativ die Pflicht ab, das Leben von Menschen zu retten, die wir nicht kennen. Er sagt, die meisten Leute seien bereit, 1000 Dollar zu opfern, um ein Kind zu retten, das vor ihren Augen in einem Teich ertrinkt,9 und meint, man dürfe keinen Unterschied machen zwischen dem ertrinkenden Kind und den neun Millionen Kindern, die alljährlich vor ihrem fünften Geburtstag sterben. Viele Menschen teilen die Auffassung von Amartya Sen, Wirtschaftsphilosoph und Nobelpreisträger, dass Armut zu einer unglaublichen Vergeudung von Talent führt. Nach seinen Worten ist Armut mehr als der Mangel an Geld, Armut bedeutet, nicht die Möglichkeit zu haben, alle seine Potenziale als Mensch zu entfalten.10 Ein armes afrikanisches Mädchen wird höchstens ein paar Jahre zur Schule gehen, selbst wenn es hochintelligent ist, es wird nicht die Nahrung erhalten, die es bräuchte, um die Weltklasse-Athletin zu werden, die es sein könnte, und es wird nicht das notwendige Geld bekommen, um eine außergewöhnliche Geschäftsidee zu verwirklichen.

Gewiss, dieses vergeudete Leben muss die Menschen in den entwickelten Ländern nicht unbedingt direkt betreffen, und doch ist es nicht auszuschließen: Die junge Frau könnte als HIV-positive Prostituierte enden, die einen amerikanischen Touristen infiziert, der diese Krankheit mit nach Hause nimmt, oder sie könnte einen antibiotikaresistenten Tuberkuloseerreger entwickeln, der irgendwie seinen Weg nach Europa findet. Hätte sie zur Schule gehen können, wäre sie vielleicht zur Entdeckerin eines Mittels gegen die Alzheimer-Krankheit geworden. Oder vielleicht wäre es ihr ergangen wie Dai Manju, einem chinesischen Mädchen, das dank des Fehlers eines Bankangestellten die Schule besuchen konnte und am Ende ein Wirtschaftstycoon wurde, der Tausende von Menschen beschäftigt (in ihrem Buch Die Hälfte des Himmels erzählen Nicholas Kristof und Sheryl WuDunn die Geschichte von Dai Manju).11 Und selbst wenn das Mädchen nicht so viel erreichen würde, warum sollte es keine Chance bekommen?

Die größten Unstimmigkeiten treten auf, wenn wir uns der Frage zuwenden: »Wie kann man den Armen wirksam helfen?« In seiner Aufforderung, anderen zu helfen, geht Peter Singer davon aus, dass klar ist, was getan werden muss. Der moralische Imperativ, sich den Anzug zu ruinieren, ist eindeutig weniger stark, wenn man gar nicht schwimmen kann. Singer macht sich deshalb die Mühe und führt in seinem Buch Leben retten konkrete Beispiele dafür auf, was die Leser tun können; diese Liste wird auf seiner gleichnamigen Website regelmäßig aktualisiert.12 Kristof und WuDunn machen dasselbe – aus dem gleichen Grund: Über die Probleme der Welt zu reden, ohne ein paar gangbare Wege zu ihrer Lösung aufzuzeigen, lähmt eher, als dass es hilft.

Deshalb bringt es mehr, in konkreten Problemen mit spezifischen Lösungen zu denken als ganz pauschal in ausländischer Unterstützung – also mehr »Hilfe« statt »Entwicklungshilfe«. Ein Beispiel: Nach einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO starb 2008 fast eine Million Menschen an Malaria, die meisten davon waren afrikanische Kinder.13 Wir wissen, dass viele Leben gerettet werden könnten, wenn die Menschen unter mit Insektiziden behandelten Moskitonetzen schlafen würden. Wie Studien zeigen, sinkt die Neuerkrankungsrate in Malariagebieten auf die Hälfte, wenn die Menschen solche Netze benutzen.14 Welches ist dann der beste Weg, um zu erreichen, dass Kinder unter Moskitonetzen schlafen?

Es kostet etwa 10 US-Dollar, eine Familie mit einem mit Insektiziden behandelten Moskitonetz zu versorgen und ihr seinen Gebrauch zu erklären. Sollten Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen nun kostenlos Moskitonetze verteilen? Oder sollte man die Familien auffordern, sich solche Netze anzuschaffen, und diese eventuell zu subventionierten Preisen anbieten? Oder sollte man die Netze zum Marktpreis verkaufen? Die Antworten auf diese Fragen liegen keineswegs auf der Hand. Trotzdem vertreten viele »Experten« stramme Positionen, für die es kaum Belege gibt.

Malaria wird von Stechmücken übertragen. Interessanterweise gibt es so etwas wie eine Fernwirkung der Moskitonetze: Wenn etwa die Hälfte der Dorfbewohner unter einem Moskitonetz schläft, sinkt das Infektionsrisiko auch für diejenigen deutlich, die selbst kein Netz besitzen.15 Das Problem ist nur, dass weniger als ein Viertel der gefährdeten Kinder unter einem Moskitonetz schlafen:16 Offenbar sind die Kosten von 10 US-Dollar für viele Familien in Mali oder Kenia zu hoch. In Anbetracht des Nutzens für die Familie und ihre unmittelbaren Nachbarn scheint es sinnvoll, die Netze billig oder kostenlos abzugeben. Die Verteilung kostenloser Moskitonetze wird denn auch von Jeffrey Sachs propagiert. Easterly und Moyo halten dagegen, dass die Leute die Netze nicht wertschätzen (und damit auch nicht nutzen werden), wenn sie sie umsonst bekommen. Und wenn sie sie nutzen, gewöhnen sie sich daran, sie geschenkt zu bekommen, und kaufen später keine neuen Netze mehr, wenn diese etwas kosten sollen; oder sie weigern sich, bei anderer Gelegenheit etwas zu kaufen, das sie brauchen, und wollen es ebenfalls umsonst haben. Das kann gut funktionierende Märkte kaputt machen. Dambisa Moyo erzählt die Geschichte eines Moskitonetz-Verkäufers, der ruiniert war, als ein Programm für die kostenlose Verteilung von Moskitonetzen anlief. Und als das Programm beendet war, gab es niemanden mehr, der Moskitonetze verkaufte – zu welchem Preis auch immer.

Wenn wir die Diskussion voranbringen wollen, müssen wir drei Fragen beantworten: Erstens, wenn die Leute den vollen Preis für ein Moskitonetz bezahlen müssen (oder einen großen Teil davon), werden sie dann lieber ohne Netz schlafen? Zweitens, wenn sie die Moskitonetze umsonst oder stark verbilligt erhalten, werden sie sie benutzen oder wegwerfen? Drittens, wenn sie das Moskitonetz einmal verbilligt erhalten haben, werden sie sich das nächste zum regulären oder weniger stark ermäßigten Preis kaufen oder nicht?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir vergleichbare Gruppen von Menschen haben und deren Verhalten angesichts unterschiedlich stark subventionierter Preise von Moskitonetzen vergleichen. Das Schlüsselwort ist »vergleichbar«. Leute, die für Moskitonetze bezahlen, und Leute, die die Netze umsonst bekommen, unterscheiden sich meist auch in anderen Aspekten: Möglicherweise sind die, die für die Netze bezahlen, wohlhabender, besser gebildet und verstehen, warum ein Moskitonetz so wichtig ist, und diejenigen, die sie geschenkt bekamen, wurden vielleicht von einer NGO genau deshalb ausgewählt, weil sie arm sind. Es könnte aber auch umgekehrt sein: Diejenigen, die die Netze umsonst bekamen, hatten gute Beziehungen, und die uninformierten Armen mussten den vollen Preis bezahlen. Egal wie es tatsächlich war, in beiden Fällen ist es nicht möglich, Schlüsse zu ziehen, wie die Menschen ihre Moskitonetze benutzen.

Die zuverlässigste Methode, das herauszufinden, ist daher die Orientierung an den randomisierten Studien, die in der Medizin gemacht werden, um die Wirksamkeit neuer Medikamente zu testen. Eine solche Studie führte Pascaline Dupas, eine Wissenschaftlerin der University of California, in Kenia durch, andere folgten mit ähnlichen Experimenten in Uganda und Madagaskar. 17 In Dupas’ Studie wurden die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip auf Gruppen verteilt, die unterschiedlich hohe finanzielle Unterstützung für den Kauf von Moskitonetzen erhielten; die Lebensumstände der Teilnehmer waren ansonsten vergleichbar. Auf diese Weise konnte Dupas unsere drei Fragen – zumindest im Rahmen dieses Experiments – beantworten.

In Kapitel 3 werden wir uns ausführlich mit ihren Ergebnissen beschäftigen. Obwohl immer noch Fragen offen bleiben (zum Beispiel verraten die Experimente nicht, ob das Verteilen importierter und subventionierter Moskitonetze ortsansässigen Herstellern schadet), haben die Ergebnisse Bewegung in die Diskussion und die politischen Positionen gebracht.

Die Verlagerung von den großen allgemeinen Fragen auf die viel enger gefassten hat einen weiteren Vorteil. Wenn wir herausfinden, ob arme Leute bereit sind, Geld für Moskitonetze auszugeben, und ob sie sie benutzen, wenn sie sie kostenlos bekommen, dann lernen wir auch eine ganze Menge darüber, wie man Moskitonetze am besten unters Volk bringt: Wir beginnen zu verstehen, wie arme Menschen Entscheidungen treffen. Was steht etwa einer stärkeren Nutzung von Moskitonetzen im Weg? Fehlt es vielleicht an Informationen über ihren Nutzen, oder können die Menschen sie sich einfach nicht leisten? Werden sie von ihren Alltagsproblemen so absorbiert, dass ihnen der Kopf für Zukunftsüberlegungen fehlt, oder gibt es noch ganz andere Gründe? Wenn wir diesen Fragen nachgehen, lernen wir nach und nach, was an den Armen (wenn überhaupt) anders ist: Leben sie genau wie alle anderen auch, nur mit weniger Geld? Oder ist das Leben in extremer Armut völlig anders? Und wenn es Unterschiede gibt: Sind sie es, die die Armen in der Armut gefangen halten?

Die Armutsfalle

Es ist kein Zufall, dass Jeffrey Sachs und William Easterly so grundsätzlich verschiedene Auffassungen darüber vertreten, ob Moskitonetze verkauft oder verschenkt werden sollten. Die Positionen zu Entwicklungshilfe und Armut, die viele Experten aus reichen Ländern einnehmen, sind meistens von ihrer jeweiligen Weltsicht geprägt – selbst wenn man, wie im Fall der Kosten für Moskitonetze, konkrete Fragen stellen kann, auf die es konkrete Antworten geben sollte. Leicht überspitzt könnte man sagen, auf der linken Seite des Spektrums steht Jeffrey Sachs (zusammen mit den Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation und dem größten Teil des Entwicklungshilfe-Establishments); er will mehr Geld für Entwicklungshilfe ausgeben und ist der generellen Überzeugung, dass man Dünger, Moskitonetze, Computer für Schulen und so weiter verschenken und die Armen dazu bewegen sollte, das zu tun, wovon wir (oder Sachs, oder die UN) glauben, es sei gut für sie. Beispielsweise sollte man Kinder in der Schule mit Mahlzeiten versorgen, damit ihre Eltern sie regelmäßig zur Schule schicken. Auf der rechten Seite stehen Will Easterly, Dambisa Moyo, das American Enterprise Institute und viele andere; sie sind gegen Entwicklungshilfe, und zwar nicht nur weil dadurch Regierungen korrumpiert werden, sondern auch weil sie glauben, dass wir auf einer ganz grundsätzlichen Ebene die freie Entscheidung von anderen respektieren sollten – und wenn jemand etwas nicht will, ist es sinnlos, ihn zu zwingen. Wenn Kinder nicht zur Schule gehen wollen, bedeutet das, dass Bildung ihnen nichts bringt.

Bei beiden Positionen kann man nicht einfach von reflexhaften ideologischen Reaktionen sprechen. Sachs und Easterly sind beide Ökonomen und ihre Meinungsverschiedenheiten gehen zum größten Teil auf unterschiedliche Antworten auf eine ökonomische Frage zurück: Gibt es eine Armutsfalle? Wie bereits erwähnt, ist Sachs der Auffassung, dass manche Länder wegen ihrer Geographie oder widriger Umstände in der Armut gefangen sind: Sie sind arm, weil sie arm sind. Sie besitzen das Potenzial dafür, reich zu werden, aber sie brauchen eine Anschubhilfe, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen und in Richtung Wohlstand auf den Weg zu bringen; daher ist Sachs die kräftige Anschubfinanzierung so wichtig. Easterly dagegen weist darauf hin, dass viele Staaten, die einmal arm waren, heute reich sind, und umgekehrt. Wenn Armut kein Dauerzustand ist, so sein Argument, dann ist die Vorstellung von einer Armutsfalle, in der arme Länder unentrinnbar festsitzen, ein Hirngespinst.

Dieselbe Frage lässt sich auch im Hinblick auf Einzelpersonen stellen. Kann jemand in der Armutsfalle festsitzen? Wenn dem so wäre, dann könnte eine einmalige große Finanzspritze das Leben eines Menschen von Grund auf verändern, weil ihn das auf eine neue Bahn lenkt. Dieser Gedanke steht hinter dem Millennium Villages Project von Jeffrey Sachs. Die Bewohner der glücklichen Dörfer bekommen kostenlosen Dünger, Schulspeisung, funktionierende Gesundheitsstationen, Schulcomputer und vieles mehr. Kosten: eine halbe Million US-Dollar pro Dorf und Jahr. Auf der Website des Projekts ist zu lesen, man hoffe, dass »die Wirtschaft in den Millennium-Dörfern mit der Zeit von der Landwirtschaft, die gerade für die Grundversorgung ausreicht, in einen sich selbst tragenden Handel übergeht«.18

In einem für den Sender MTV produzierten Video besuchen Jeffrey Sachs und die Schauspielerin Angelina Jolie das Dorf Sauri in Kenia, eines der ältesten Millenniums-Dörfer. Dort treffen sie einen jungen Bauern namens Kennedy. Er hatte kostenlosen Dünger bekommen, und nun fällt seine Ernte zwanzigmal höher aus als in den Jahren zuvor. Mit dem Ersparten aus dieser Ernte, so das Video, wird er in der Lage sein, in Zukunft für sich selbst zu sorgen. Unausgesprochen steht dabei im Raum, dass Kennedy in der Armutsfalle saß und sich deshalb keinen Dünger leisten konnte. Der kostenlose Dünger befreite ihn, und das war der einzige Weg, dieser Falle zu entkommen.

Die möglichen Einwände der Skeptiker: Wenn Dünger wirklich so viel Profit abwirft, warum hat Kennedy dann nicht einfach eine kleine Menge gekauft und auf seinem besten Feld ausgebracht? Die Ernte wäre besser ausgefallen, und mit dem Mehrerlös hätte er für das nächste Jahr eine größere Düngermenge kaufen können, und so weiter. Nach und nach wäre er wohlhabend genug geworden, um alle seine Felder mit Dünger zu versorgen.

Sitzt Kennedy nun in der Armutsfalle oder nicht?

Die Antwort hängt davon ab, ob die beschriebene Taktik umsetzbar ist: Zunächst eine kleine Düngermenge kaufen, einen kleinen Überschuss erzielen, diesen reinvestieren, um mehr zu erwirtschaften, und wieder von vorn. Aber es könnte schwierig sein, Dünger in kleinen Mengen zu kaufen. Oder es braucht ein paar Anläufe, bis sich der gewünschte Erfolg auf dem Feld einstellt. Oder es gibt Probleme, das überschüssige Geld anzulegen. Für einen Bauern könnte es aus den verschiedensten Gründen schwierig sein, aus eigener Kraft durchzustarten.

In Kapitel 8 werden wir versuchen, zum Kern von Kennedys Geschichte vorzudringen. Fürs Erste hilft uns diese Diskussion, ein allgemeines Prinzip zu erkennen. Eine Armutsfalle liegt dann vor, wenn der Spielraum zur schnellen Vermehrung von Einkommen oder Wohlstand für diejenigen, die zu wenig zum Investieren haben, gering ist, sich aber dramatisch vergrößert, sobald jemand etwas mehr investieren kann. Wenn das Potenzial für schnelles Wachstum unter den Armen jedoch hoch ist, aber rasch abnimmt, sobald jemand reicher wird, dann gibt es keine Armutsfalle.

Wirtschaftswissenschaftler lieben einfache (manche würden sagen »stark vereinfachende«) Theorien, die sie gerne in Form von Diagrammen präsentieren. Wir machen da keine Ausnahme. Wir glauben, dass die Debatte über die Natur der Armut anhand der beiden auf den nächsten Seiten gezeigten Diagramme besser zu verstehen ist. Das Wichtigste an den Diagrammen ist die Form der Kurven; wir werden noch mehrfach darauf zurückkommen.

Für diejenigen, die an die Armutsfalle glauben, funktioniert die Welt wie in Abbildung 1 dargestellt. Das derzeitige Einkommen eines Menschen beeinflusst sein zukünftiges Einkommen (wobei mit »zukünftig« morgen, nächsten Monat oder die nächste Generation gemeint sein kann): Davon, was jemand heute besitzt, hängt ab, wie viel er isst, wie viel er für Gesundheit ausgeben muss oder für die Schulbildung seiner Kinder, ob er sich Dünger für seine Felder kaufen kann oder besseres Saatgut – und all das bestimmt, wie viel dieser Mensch morgen besitzen wird.

Die Kurve hat eine ganz charakteristische Form: Sie ist zunächst relativ flach und steigt dann steil an, ehe sie wieder flach ausläuft. Wir werden sie – Freunde der Schönschrift mögen es uns verzeihen – als S-Kurve bezeichnen.

Die S-Form der Kurve ist der Grund für die Armutsfalle: Entlang der diagonalen Linie ist das Einkommen von morgen genau so hoch wie das von heute. Die Ärmsten der Armen, deren momentanes Einkommen im Bereich der Armutsfalle liegt, werden in Zukunft weniger haben als heute, denn die Kurve verläuft hier unterhalb der Diagonalen. Das heißt, die Menschen in diesem Bereich werden im Lauf der Zeit immer ärmer werden und landen am Ende ganz tief in der Armutsfalle an Punkt N. Die Pfeile, die an Punkt A1 beginnen, stellen einen möglichen Weg dar: von A1 nach A2, nach A3 und so weiter. Diejenigen, die mit einem Einkommen außerhalb des Bereichs der Armutsfalle starten, werden in Zukunft über mehr Geld verfügen als heute: Sie werden allmählich reicher – zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Diese erfreulicheren Zukunftsaussichten sind in dem bei B1 beginnenden Pfeil dargestellt, der sich nach B2, B3 und so weiter bewegt.

Abbildung 1: Die S-Kurve und die Armutsfalle

Viele Wirtschaftswissenschaftler (vielleicht die Mehrheit) glauben jedoch, dass die Welt meistens eher Abbildung 2 ähnelt.

Abbildung 2 sieht aus wie der rechte Teil von Abbildung 1, also ohne die abfallende linke Seite. Die Kurve ist am Anfang am steilsten und wird dann allmählich flacher. In dieser Welt gibt es keine Armutsfalle: Weil die Armen mehr verdienen als am Ausgangspunkt, werden sie nach und nach reicher, bis ihr Einkommen irgendwann nicht weiter ansteigt (die Pfeile von A1 nach A2 und A3 zeigen einen möglichen Weg). Unter Umständen ist dieses Einkommen nicht besonders hoch, entscheidend ist, dass wir kaum etwas zu tun brauchen bzw. tun können, um den Armen zu helfen. Einmalige Geldgeschenke – sagen wir in einer Höhe, dass die Betreffenden an Punkt A2 statt an A1 beginnen können – werden ihr zukünftiges Einkommen in dieser Welt nicht dauerhaft erhöhen. Im besten Fall führen sie dazu, es etwas schneller ansteigen zu lassen, doch das ändert nichts am späteren Endpunkt.

Abbildung 2: Die L-Kurve: Keine Armutsfalle

Welches dieser Diagramme spiegelt nun die Lebenswelt des jungen kenianischen Bauern Kennedy am besten wider? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir ein paar einfache Informationen, zum Beispiel: Ist es möglich, kleine Düngermengen zu kaufen? Gibt es Umstände, die das Sparen zwischen den Aussaatzeiten erschweren, so dass Kennedy, selbst wenn er nach der Ernte Geld übrig hat, dieses nicht investieren kann? Die wichtigste Botschaft dieser in einfache Diagramme gefassten Theorien ist: Theorie allein genügt nicht. Wenn wir wirklich wissen wollen, ob es eine Armutsfalle gibt, müssen wir herausfinden, welche der beiden Kurven die Realität besser abbildet. Und wir müssen das anhand des jeweiligen Einzelfalls tun. Wenn es in unserer Geschichte um Dünger geht, müssen wir uns Informationen über den Düngemittelmarkt beschaffen. Wenn sie sich um Ersparnisse dreht, müssen wir in Erfahrung bringen, wie Arme sparen. Wenn Ernährung und Gesundheit im Mittelpunkt stehen, müssen wir diese Faktoren untersuchen. Die eine große, allgemeingültige Antwort gibt es nicht! Das klingt vielleicht ein bisschen enttäuschend, aber eigentlich sollten die politisch Verantwortlichen genau das wissen wollen – nicht dass es für Arme Millionen Wege gibt, in die Armutsfalle zu geraten, sondern dass es nur einige wenige Schlüsselfaktoren sind, die die Armutsfalle entstehen lassen, und dass die Beseitigung dieser speziellen Probleme die Armen aus der Falle befreien und ihnen den Weg in einen Circulus virtuosus von wachsendem Wohlstand weisen könnte.

Diese radikale Veränderung der Perspektive, weg von den allgemeingültigen Antworten, zwang uns, unsere Schreibtische zu verlassen und einen genaueren Blick auf die Welt zu werfen. Dabei traten wir in die Fußstapfen von Entwicklungsökonomen, die immer betont haben, wie wichtig es ist, die richtigen Daten zu sammeln, wenn man vernünftige Aussagen über die Welt treffen will. Doch wir hatten gegenüber unseren Vorgängern zwei Vorteile: Erstens liegen heute für eine Reihe armer Länder erstklassige Daten vor, die früher nicht verfügbar waren. Zweitens können wir eine neue, aussagekräftige Methode anwenden, die randomisierte kontrollierte Studie (randomized controlled trial, RCT). Solche Studien ermöglichen es Forschern, zusammen mit Partnern vor Ort groß angelegte Experimente durchzuführen, mit denen sie ihre Theorien testen. In randomisierten kontrollierten Studien – wie der mit den Moskitonetzen – werden Einzelpersonen oder Dörfer nach dem Zufallsprinzip in Gruppen eingeteilt, die eine unterschiedliche »Behandlung« erfahren; dabei kann es sich um verschiedene Maßnahmen oder unterschiedliche Varianten derselben Maßnahme handeln. Da die Versuchspersonen oder Versuchsdörfer aller Behandlungsgruppen ansonsten in jeder Hinsicht vergleichbar sind (darauf wird bei der Vorauswahl geachtet), können beobachtete Unterschiede nur auf die unterschiedliche Behandlung zurückgehen.

Ein einzelnes Experiment erbringt noch nicht den endgültigen Beweis, ob ein bestimmtes Programm immer und überall funktioniert. Aber wir können das Experiment mehrfach durchführen, entweder an verschiedenen Orten oder mit leicht abgewandelten Maßnahmen – oder beides. (Klappt in Madagaskar, was in Kenia geklappt hat? Was nützt Kennedy mehr, den Dünger zu subventionieren oder ihn beim Sparen zu unterstützen?) Alles zusammen erlaubt uns, unsere Schlussfolgerungen auf ihre Tragfähigkeit zu untersuchen und den Kreis der Theorien zu verkleinern, die die Daten erklären können. Die auf diesen Ergebnissen aufbauende neue Theorie führt zu neuen Studienentwürfen und Experimenten und hilft uns, frühere, unter Umständen rätselhafte Resultate neu zu interpretieren. So erhalten wir nach und nach ein immer klareres Bild vom Leben der Armen, wo sie Hilfe brauchen und wo nicht.

2003 haben wir das Poverty Action Lab gegründet – es wurde später in Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab oder kurz J-PAL umbenannt –, um andere Forscher, Regierungen und Nichtregierungsorganisationen zu unterstützen und sie zu ermutigen, bei dieser neuen Art, Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, zusammenzuarbeiten und ihre Erkenntnisse an die politischen Entscheidungsträger weiterzugeben. Die Resonanz war überwältigend. Bis zum Jahr 2010 hatten J-PAL-Wissenschaftler mehr als 240 Experimente in vierzig Ländern ganz oder teilweise abgeschlossen, und zahlreiche Organisationen, Forscher und politisch Verantwortliche zeigten sich von der Idee der randomisierten Studien begeistert.

Die Reaktionen auf die Arbeit des J-PAL lässt vermuten, dass viele Menschen unsere Grundauffassung teilen, dass sich selbst die größten Probleme der Welt erfolgreich anpacken lassen, wenn man in kleinen Schritten vorwärtsgeht, von denen jeder einzelne gut durchdacht, sorgfältig getestet und wohlüberlegt umgesetzt wird. Das klingt so selbstverständlich, aber – wie wir in diesem Buch noch häufig zeigen werden – so wird in der Regel nicht Politik gemacht. Sowohl die Praxis der Entwicklungshilfepolitik als auch die sie begleitenden Debatten scheinen grundsätzlich davon auszugehen, dass man dem Augenschein nicht trauen darf: Das Offensichtliche beweisen zu wollen ist eine Spinnerei, bestenfalls ein Wunschtraum, schlimmstenfalls ein Ablenkungsmanöver. »Wir müssen mit unserer Arbeit vorankommen, während Sie sich mit dem Offensichtlichen beschäftigen«, hörten wir mehr als einmal von Betonköpfen im politischen Establishment und ihren oft noch verbohrteren Beratern, als wir anfingen, diesen Weg zu gehen. Manche sehen das sogar heute noch so. Zudem gibt es eine Menge Leute, die dieser unvernünftige Druck entmutigt. Wie wir glauben sie, dass es das Beste ist, ein tieferes Verständnis für die spezifischen Probleme der Armen zu entwickeln und dann die effektivsten Wege zu ihrer Lösung zu suchen. Manchmal kann es das Beste sein, nichts zu tun, aber niemand weiß vorher, wann das so ist, ebenso wie es keine Garantie dafür gibt, dass Geld immer zum gewünschten Ergebnis führt. Unser Wissen, das mit jeder Antwort wächst, und unser Bemühen, diesen Antworten auf den Grund zu gehen, sind die besten Voraussetzungen dafür, der Armut – eines Tages – ein Ende zu bereiten.

Dieses Buch baut auf diesem gesammelten Wissen auf. Viel von dem Material, über das wir sprechen werden, stammt aus randomisierten Studien, die wir und andere durchgeführt haben, aber wir werden auch andere Arten von Belegen anführen: qualitative und quantitative Beschreibungen, wie die Armen leben, Untersuchungen, wie bestimmte Institutionen funktionieren, sowie verschiedene Nachweise, welche Maßnahmen funktioniert haben und welche nicht. Auf der Website www.pooreconomics.com, die dieses Buch begleitet, finden Sie Links zu allen zitierten Studien, Bildleisten, die die jeweiligen Kapitel illustrieren, sowie Auszüge und grafische Darstellungen von Daten, die einzelne Aspekte der Lebenswelt derer widerspiegeln, die von weniger als 99 US-Cent pro Person und Tag leben. Wir werden in unserem Buch oft darauf zurückkommen.

Alle Studien, die wir hier anführen, verfügen über ein hohes Maß an wissenschaftlicher Beweiskraft. Sie sind bereit, die gewonnenen Daten ernst zu nehmen, und konzentrieren sich auf spezifische, konkrete Fragen, die für das Leben der Armen Relevanz besitzen. Eine der Fragen, auf die wir mit dieser Herangehensweise eine Antwort finden wollen, ist die, wann und wo wir mit Armutsfallen rechnen müssen; in manchen Regionen gibt es sie, in anderen nicht. Um wirklich effektive Strategien zu entwickeln, müssen wir solche Fragen korrekt beantworten. In den folgenden Kapiteln werden wir auf viele Fälle stoßen, bei denen die falsche Strategie gewählt wurde – nicht aus böser Absicht oder aufgrund von Korruption, sondern schlicht weil die Entscheidungsträger das falsche Bild im Kopf hatten: Sie dachten, da sei irgendwo eine Armutsfalle, doch es gab keine, oder sie übersahen eine, die direkt vor ihrer Nase stand.

Die Botschaft dieses Buches geht allerdings weit über Armutsfallen hinaus. Wie wir noch sehen werden, scheitern viele Maßnahmen an den drei I – Ideology (zementierte Vorstellungen), Ignorance (Unwissenheit), Inertia (Trägheit) – auf Seiten der Experten, der Entwicklungshelfer und der Entscheidungsträger vor Ort. Folge ist, dass Entwicklungshilfe nicht so wirksam ist, wie sie sein könnte. Es ist möglich, die Welt zu verbessern, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann in absehbarer Zukunft, doch dafür müssen wir unseren Grips anstrengen. Wir möchten Sie gerne davon überzeugen, dass unser geduldiger Schritt-für-Schritt-Ansatz Armut nicht nur wirksamer bekämpft, sondern die Welt auch interessanter macht.

TEIL 1

Das private Leben

2 Eine Milliarde hungernder Menschen?

Für viele von uns im Westen ist Armut gleichbedeutend mit Hunger. Mit Ausnahme so gewaltiger Naturkatastrophen wie dem Sumatra-Andamanen-Beben Weihnachten 2004 oder dem Erdbeben in Haiti im Jahr 2010 hat kein Einzelereignis, das die Armen der Welt betraf, die Öffentlichkeit so beschäftigt und eine solche Spendenbereitschaft ausgelöst wie die Hungersnot in Äthiopien zu Beginn der achtziger Jahre. Auch viele Künstler engagierten sich damals für die Hungernden, etwa die von Bob Geldof gegründete irisch-britische Supergruppe Band Aid mit dem berühmten Live Aid-Konzert oder die von Michael Jackson ins Leben gerufene Formation USA for Africa mit dem im März 1985 erschienenen Song »We Are the World«. In jüngerer Zeit, im Juni 2009, schaffte es die Welternährungsorganisation FAO mit der Mitteilung, weltweit leide eine Milliarde Menschen unter Hunger, 1 in einer Weise in die Schlagzeilen, wie es der Weltbank mit ihren Zahlen zu Menschen, die über weniger als 1 US-Dollar pro Tag verfügen, noch nie gelungen ist.

Festgeschrieben ist die Assoziation zwischen Armut und Hunger im ersten der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen: »Extreme Armut und Hunger beseitigen.« In der Tat wurden die Armutsgrenzen in vielen Ländern ursprünglich so festgesetzt, dass man die Armut über den Hunger definierte: Wie viel Geld benötigt jemand für eine bestimmte Menge Kalorien und ein paar andere unverzichtbare Dinge (etwa die Unterkunft)? Im Wesentlichen war ein Armer ein Mensch, der nicht genug zu essen hatte.

Wenig überraschend gehen die meisten staatlichen Bemühungen zur Armutsbekämpfung davon aus, dass die Armen nichts dringender brauchen als Essen und dass es dabei auf die Menge ankommt. Im Nahen und Mittleren Osten sind Nahrungsmittelhilfen allgegenwärtig: Ägypten gab in den Jahren 2008 und 2009 3,8 Milliarden US-Dollar (2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) für Nahrungsmittelhilfen aus.2 In Indonesien läuft das sogenannte Rakshin-Programm, das subventionierten Reis verteilt. Auch viele indische Bundesstaaten haben solche Programme: Beispielsweise sind Arme in Orissa berechtigt, pro Monat 55 Pfund Reis zu einem Preis von etwa 4 Rupien pro Pfund zu beziehen; dieser Preis liegt unter 20 Prozent des Marktpreises. Derzeit wird im indischen Parlament darüber gestritten, ob man ein Gesetz für ein Recht auf Nahrung (Right of Food Act) erlassen soll; dann könnten Bürger den Staat verklagen, wenn sie hungern.

Auf der praktischen, logistischen Ebene ist Nahrungsmittelhilfe in großem Stil ein Albtraum. In Indien gehen schätzungsweise die Hälfte des Weizens und ein Drittel des Reises unterwegs »verloren«, den nicht unerheblichen Anteil eingeschlossen, der von Ratten gefressen wird.3 Wenn Regierungen trotz der hohen Verluste an solchen Maßnahmen festhalten, dann nicht nur weil sie glauben, dass Armut und Hunger miteinander einhergehen: Eine der am häufigsten genannten zentralen Ursachen für die Armutsfalle ist die schlechte Ernährungslage der Armen. Der Zusammenhang scheint auf der Hand zu liegen: Weil die Armen nicht genug zu essen kaufen können, sind sie weniger produktiv und bleiben arm.

Pak Solhin lebt in einem kleinen Dorf in der indonesischen Provinz Bandung. Er erklärte uns, wie eine solche Armutsfalle funktioniert.

Seine Eltern besaßen früher etwas Land, aber sie hatten 13 Kinder und mussten so viele Häuser für sie und ihre Familien bauen, dass kein Land für den Anbau von Feldfrüchten mehr übrig blieb. Pak Solhin arbeitete als Gelegenheitsarbeiter für andere Bauern, die ihm bis 10000 indonesische Rupien (2 PPP-USD) pro Tag zahlten. Doch eine drastische Erhöhung der Preise für Benzin und Dünger zwang die Bauern zu Einsparungen. Nach

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2011

by Abhijit V. Banerjee and Esther Duflo Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Gesetzt aus der Rotation von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-641-09884-1

www.knaus-verlag.de

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