Positive Provokation im Coaching - Robert Biswas-Diener - E-Book

Positive Provokation im Coaching E-Book

Robert Biswas-Diener

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Beschreibung

Hinterfragen. Vertiefen. Wachsen. Dieses Buch ist eine Einladung an Coaches, Berater:innen und alle, die sich für persönliche Entwicklung interessieren, die eigene Haltung mutig zu reflektieren. In 25 pointierten "Provokationen" stellt Robert Biswas-Diener gängige Glaubenssätze von Coaches auf den Prüfstand – mit Witz, Tiefgang und einem frischen Blick auf scheinbar Selbstverständliches. Was, wenn Hausaufgaben vielleicht überflüssig sind? Ist weniger Empathie manchmal vielleicht sogar mehr? Wann ist Schweigen wirklich hilfreich und wann nicht? Coaching lebt von Fragen – auch an sich selbst. Mit inspirierenden Impulsen für die Praxis und konkreten Transferideen ist dieses Buch ein wertvoller Begleiter – für erfahrene Coaches ebenso wie für Einsteiger:innen, die sich auf eine lebendige und kritische Coachingpraxis vorbereiten möchten. Ein Buch, das nicht nur Fragen stellt, sondern zur Entwicklung motiviert.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Robert Biswas-DienerPositive Provokation im Coaching25 Fragen für mehr Lebendigkeit in Ihrer Coaching-Praxis

Über dieses Buch

Hinterfragen. Vertiefen. Wachsen.

Dieses Buch ist eine Einladung an Coaches, Berater:innen und alle, die sich für persönliche Entwicklung interessieren, die eigene Haltung mutig zu reflektieren. In 25 pointierten „Provokationen“ stellt Robert Biswas-Diener gängige Glaubens- sätze von Coaches auf den Prüfstand – mit Witz, Tiefgang und einem frischen Blick auf scheinbar Selbstverständliches.

Was, wenn Hausaufgaben vielleicht überflüssig sind? Ist weniger Empathie manchmal vielleicht sogar mehr? Wann ist Schweigen wirklich hilfreich und wann nicht?

Coaching lebt von Fragen – auch an sich selbst.

Mit inspirierenden Impulsen für die Praxis und konkreten Transferideen ist dieses Buch ein wertvoller Begleiter – für erfahrene Coaches ebenso wie für Einsteiger:innen, die sich auf eine lebendige und kritische Coachingpraxis vorbereiten möchten.

Ein Buch, das nicht nur Fragen stellt, sondern zur Entwicklung motiviert.

Dr. Robert Biswas-Diener ist ein US-amerikanischer Psychologe und geschäftsführender Direktor von Positive Acorn, einem speziellen Trainingsprogramm für Coaches in Positiver Psychologie. Er ist außerdem Mitglied der Redaktionen des Journal of Happiness Studies und des Journal of Positive Psychology. Sein Beitrag für die Anwendung der Positiven Psychologie im Coaching brachte ihm den Beinamen „Indiana Jones der Positiven Psychologie“ ein.

Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2025

Copyright: © 2023 Robert Biswas-Diener

First published 2023 by Berrett-Koehler Publishers, Inc., Oakland, CA, USA. All Rights Reserved.

Published by arrangement with Maria Pinto-Peuckmann, Literary Agency, World Copyright Promotion, Kaufering, Germany.

Coverfoto: oxygen (www.gettyimages.de)

Übersetzer: Moritz Langer

Lektorat: Friederike Moldenhauer

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Wir behalten uns eine Benutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vor.

Junfermann Verlag GmbH, Driburger Straße 24d, D-33100 Paderborn, Tel.: +49 5251 1344-0, E-Mail: [email protected]

Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2025

ISBN 978-3-7495-0690-3

ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0691-0 (EPUB), 978-3-7495-0692-7 (PDF).

Für meine Studentinnen und Studenten, die mir das Gefühl geben, etwas Sinnvolles zu tun.

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Robert Biswas-Diener ist ein Pionier. Ein Pionier erweitert Grenzen – der bis dahin bestehenden Welt, Grenzen des Bekannten –, und er macht sich auf in neues, unbekanntes Gebiet, um es zu erkunden.

Grenzen erweitern

Die Grenzen, die Robert Biswas-Diener im Laufe seiner beeindruckenden Forschungs-, Trainings- und Coaching-Karriere erweitert hat, sind zahlreich. Einerseits hat er das Forschungsgebiet der Positiven Psychologie und des Coachings durch eigene, innovative Ansätze erweitert. Andererseits hat er immer wieder auf bestehende Vorannahmen dieser beiden Gebiete, die mehr oder weniger unreflektiert weitergegeben wurden, hingewiesen und sie infrage gestellt. In seinem vorliegenden Buch macht er genau das in Bezug auf die Coachingpraxis.

Einige der Grenzen, die er erweitert hat, seien hier kurz genannt:

Robert Biswas-Diener hat als einer der Ersten westliche psychologische Modelle, wie zum Beispiel das Konzept der Charakterstärken in der Positiven Psychologie, in ganz andere Kulturen übertragen, und zwar im wörtlichen Sinne: Er reiste dorthin, um die Menschen aus diesen Kulturkreisen zu befragen, was sie denn unter „Stärken“ verstehen, und um zu prüfen, ob das westlich-psychologische Stärkenkonzept dort anwendbar ist.

Er besuchte für dieses Projekt die Inuit in Grönland, sprach mit Menschen in den Slums von Kalkutta und reiste zu den Massai nach Kenia. In seiner frühen Karriere bekam Robert Biswas-Diener deshalb den Beinamen „Indiana Jones der Positiven Psychologie“ – nicht zuletzt wegen dieser außergewöhnlichen Forschungsreisen und der Erkenntnisse, die er davon mitbrachte und der Fachwelt zugänglich machte.

Bei seinem Stärken-Workshop 2015 in Rosenheim habe ich erlebt, wie er über seine Erlebnisse bei den Massai berichtete, von Mutproben, die er absolvieren musste, um als Gesprächspartner akzeptiert zu werden. Seine Aussage „I just happen to be brave“ ist mir davon bis heute im Gedächtnis geblieben. Und genau das macht das Besondere an Robert Biswas-Dieners Arbeit aus: Er geht mutig voran, erweitert Grenzen und stellt Bestehendes infrage.

Neues Gebiet erkunden

Robert Biswas-Diener war der Erste, der die Positive Psychologie – ein wissenschaftliches Forschungsgebiet – mit der konkreten, praktischen Anwendung im Coaching verbunden hat, und zwar zu einer Zeit, als Coaching im Feld der Positiven Psychologie noch keinen allzu guten Ruf hatte. Dass sich das seither grundlegend geändert hat, ist sicher auch Robert Biswas-Dieners Verdienst.

Robert Biswas-Diener veröffentlichte seine ersten Bücher über Coaching und Positive Psychologie in den 2010er-Jahren und hat seither sein Verständnis über die Verbindung dieser sich hervorragend ergänzenden Bereiche stetig weiterentwickelt. Ich habe ihn bei öffentlichen Vorträgen wiederholt sagen hören, dass er manches, was er in seinem Buch Positive Psychology Coaching (2010) veröffentlicht hat, heute so nicht mehr unterschreiben würde.

Und genau das macht die Besonderheit von Robert Biswas-Dieners Arbeit aus: Er bleibt nicht stehen. Er entwickelt nicht nur sich selbst, seine Haltung im Coaching und sein Verständnis der psychologischen Grundlagen, sondern auch das Forschungsgebiet der Positiven Psychologie und ihre Anwendung im Coaching stetig weiter.

Positive Provokation

Das vorliegende Buch ist die logische Folge dieser erkundenden Haltung gegenüber dem eigenen Fachgebiet. Es stellt bestehende Vorannahmen über Coaching infrage – nicht, indem es sie an den Pranger stellt oder abwertet, sondern indem es sie aus einer anderen Perspektive betrachtet und uns dazu einlädt, es ihm gleichzutun.

Diese Perspektive bezeichnet Robert Biswas-Diener als „90-Grad-Winkel“. Als ich das erste Mal eine Erklärung dieser Metapher im Rahmen eines Workshops hörte, war ich davon genauso fasziniert wie jetzt, als ich sie im Vorwort seines Buches wiederfand. Ein 90-Grad-Winkel bedeutet für Robert konstruktiv und neu auf bestehende Inhalte zu blicken.

Ein 0-Grad-Winkel würde bedeuten, er stellt sich genau neben mich als Leserin, und wir vertreten exakt dieselbe Perspektive, sehen dasselbe, denken dasselbe, stimmen zu 100 Prozent überein.

Ein 180-Grad-Winkel bedeutet, dass wir uns konträr gegenüberstehen und gegensätzliche Meinungen vertreten, was in der Folge zu Polarisierung und Abwehr führt.

Die 90-Grad-Perspektive, die Robert Biswas-Diener vorschlägt und in diesem Buch umsetzt, bietet einen Weg, um Bestehendes infrage zu stellen – aber eben auf eine konstruktive, offene Weise, die Erkenntnis und Fortschritt ermöglicht. Deshalb trägt sein Buch den Titel

Positive Provokation.

Bei einem Vortrag auf dem Weltkongress der Positiven Psychologie in Vancouver 2024 erklärte er, was er unter „Provokation“ versteht: nicht scharfe Kritik oder Bloßstellung, sondern eine freundliche, konstruktive Einladung, bestehende Vorannahmen in neuem Licht zu sehen, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Bestehende Vorannahmen sind erst dann persönlich relevant, wenn sie mit der eigenen praktischen Erfahrung in Verbindung gebracht werden können. Es scheint deshalb nur folgerichtig, dass Robert Biswas-Diener im Vorwort seines Buches die These formuliert, dass vermutlich erfahrene Coaches am meisten von diesem Buch mitnehmen können, weil sie ihre eigenen, in der Praxis verfeinerten Annahmen mit seinen Thesen in Verbindung bringen können. Wer sich gerade erst ins Feld Coaching hineinentwickelt, wird vermutlich noch stark von den Haltungen geprägt sein, die er in der eigenen Coaching-Ausbildung vermittelt bekommen hat. Die Positive Provokation wirkt hier vielleicht kräftiger (und eventuell auch aufrüttelnder) als bei erfahrenen Coaches, die ihre persönliche Perspektive vielfach geprüft haben.

Unabhängig von dieser Differenzierung lohnt sich dieses Buch in jedem Fall für alle Coaches – sei es für Berufseinsteiger:innen, Erfahrene oder auch für Ausbilder:innen von Coaches. Ich selbst bin seit 35 Jahren Coach, bilde seit mehr als 20 Jahren Coaches aus und habe es mit großem Interesse und Begeisterung gelesen. Ich war zum Teil überrascht, aber ich war niemals irritiert, denn Robert Biswas-Diener formuliert seine Thesen in einer konstruktiv-freundlichen, nie aber in einer abwertenden Art.

Mich hat dieses Buch zum Nachdenken angeregt und mir nach Jahrzehnten der Coachingpraxis neue Perspektiven eröffnet, die ich gerne weiterverfolge und in meinen Ausbildungen weitervermittele.

Robert, vielen Dank für dieses großartige Buch! Ich wünsche ihm auch im deutschsprachigen Raum eine breite Leserschaft.

Dr. Daniela Blickhan

Diplom-Psychologie, MSc Positive PsychologieBegründerin des Deutschsprachigen Dachverbands für Positive PsychologieGründerin und Leiterin Inntal Institut Lehrcoach und Lehrtrainerin DACH-PP und DVNLP, Senior Coach DCV

Vorwort: Was bisher geschah …

Im Jahr 2016 lud mich die International Coaching Federation (ICF) zu ihrer jährlichen Konferenz ein – jedoch nicht als Referent, sondern in der Rolle eines „Provokateurs“. Ich sollte eine Art Moderator sein, der das Publikum herausfordert, anregt und in einen Dialog einbezieht. Für mich war das der Job meiner Träume. Mein ganzes Leben lang habe ich ständig Situationen aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachtet und mich nie gescheut, den jeweiligen Status quo infrage zu stellen. Mit ihrer Einladung bot mir die ICF nun die Gelegenheit, genau das zu tun, was ich am besten kann.

Über Provokation

Bei der Vorbereitung auf meinen Auftritt musste ich viel über das Konzept der Provokation nachdenken. Das Wort provozieren hat nach den meisten Definitionen einen ziemlich negativen Beigeschmack. Meistens versteht man darunter, dass eine Person versucht, eine andere Person anzustacheln oder anderweitig zu verunsichern, zu erregen oder zu verärgern. Meine ungekürzte Ausgabe des Oxford English Dictionary enthält viele Definitionen für das Wort Provokation, und eine davon ist „zum Kampf aufrufen“. Eine Person als provokativ zu bezeichnen gilt als wenig schmeichelhaft, ganz anders als Zuschreibungen wie bescheiden oder großzügig. Für viele Menschen ist die Provokation das finstere Wäldchen, in dem die Internet-Trolle ihr Unwesen treiben. Diese Art der Provokation war sicherlich nicht das, was sich das ICF-Publikum von mir wünschte.

Ich wollte mich stattdessen lieber auf meine Intuition und meine eigenen Erfahrungen mit der Provokation verlassen. Unabhängig davon, was das Wörterbuch hergibt, betrachte ich Provokationen als aufregend, interessant und positiv. Ich verbinde damit herausfordernde, neue Ideen, frische Denkansätze und die Aufforderung, ausgetretene Pfade zu verlassen. Die Situationen, in denen Provokationen mir in meinem Leben weiterhalfen, bestanden darin, neue und anscheinend widersprüchliche Thesen auszuprobieren, die mich erst mal zum Grübeln brachten: Könnten die westlichen und östlichen Konzepte der Medizin vielleicht beide richtig sein? Kann ein Mensch gleichzeitig zurückhaltend und voller Selbstvertrauen sein? Ist es möglich, auch ohne Glauben ein religiöser Mensch sein? Mit der Zeit stellte ich fest, dass Fragen dieser Art einen regelrechten Sog auf mich ausübten.

Solche herausfordernden Fragen sind, wie sich herausstellte, das A und O des Coachings. Coaches stellen ihre Klienten vor kleine und große Herausforderungen – nicht um sie infrage zu stellen, sondern um sie dazu anzuregen, anders an eine Sache heranzugehen. So beobachtete ich beispielsweise kürzlich eine Coaching-Sitzung, in der die Klientin mit sich selbst hart ins Gericht ging. An einer Stelle sagte sie: „Wenn ich sehe, wie andere Menschen sich Zeit nehmen, um über Dinge nachzudenken, dann finde ich das richtig gut. Ich selbst mache das aber nie. Ich erwarte von mir, dass ich meine Entscheidungen zackig und furchtlos treffe.“ Die Coachin fragte unmittelbar, aber auch behutsam nach: „Was würde denn passieren, wenn Sie das bei sich selbst auch wertschätzen würden?“ In diesem Beispiel bestand die Herausforderung einfach darin, der Klientin eine Alternative aufzuzeigen, ohne ihr Verhalten zu kritisieren.

Als ich mir überlegte, wie ich nun das Kollegium auf der ICF-Konferenz herausfordern könnte, kam ich auf die positive Provokation. Mir war klar, dass ich mein Publikum nur dann erfolgreich ansprechen konnte, wenn ich es herausforderte, ohne individuelle Sichtweisen abzuwerten. Es ist ein großer Unterschied, ob man sagt „Was Sie für wahr halten, ist falsch“ oder „Was Sie für wahr halten, ist schon teilweise richtig, aber es gibt Feinheiten, über die Sie vielleicht noch nicht nachgedacht haben“. Mir kam der Gedanke, eine Präsentation mit einer ganzen Bandbreite von Haltungen vorzutragen, die vom Widerspruch gegen die momentanen Überzeugungen und Kenntnisse der Zuhörer bis zur Übereinstimmung mit ihnen reicht. Möchte man viel Neues vermitteln, wird man meiner Meinung nach an den beiden Extremen dieses Kontinuums nur geringe Erfolgsaussichten haben. Widerspricht man den Ansichten seines Publikums, gerät es in die Defensive, wird ärgerlich und ist nicht bereit, Neues aufzunehmen. Ebenso bringt es die Gäste kaum weiter, wenn man vorhandenes Wissen lediglich bestätigt. Das kann sogar dazu führen, dass sie sich ihres Wissens allzu sicher sind. Ideal ist wie so oft der Mittelweg: Man sagt Dinge, die neu und herausfordernd sind, lässt aber noch genügend Raum für bestehende Anschauungen (siehe Tabelle 1).

Ich nenne das den 90-Grad-Blickwinkel. Auf die Gefahr hin, dass Erinnerungen an den Geometrieunterricht Ihrer Schulzeit in Ihnen aufsteigen, lassen Sie uns kurz ein paar Grundlagen zum Thema Kreise wiederholen: Ein Kreis hat 360 Grad. Ein 180-Grad-Winkel ist eine gerade Linie aus zwei Schenkeln, die in entgegengesetzte Richtungen weisen. In der sozialen Welt ist dieser Winkel eine Metapher für die Menschen, die Ihre Ideen ablehnen, die Sie vor den Kopf stoßen, Ihre Bitten zurückweisen und gegenteilige Ansichten vertreten. Im Gegensatz dazu ist der 0-Grad-Winkel Ihre eigene Ich-Perspektive. Sie sehen wie durch ein Guckloch nur einen begrenzten Ausschnitt der Welt, und alles steht im Einklang mit Ihren eigenen Erinnerungen, Werten, Meinungen und Überzeugungen. Gute Pädagogen (und Coachinnen) haben ein Gespür dafür, wo die Menschen stehen und wie sie auf sie einwirken können, ohne ihnen den Boden unter den Füßen wegzuziehen: mit dem 90-Grad-Blickwinkel.

Im Widerspruch zu aktuellen Überzeugungen und Fachkenntnissen

Anerkennen und herausfordern der aktuellen Überzeugungen und Fachkenntnisse

Übereinstimmen mit den aktuellen Überzeugungen und Fachkenntnissen

Gefühle: Wut, Widerstand

Gefühle: Verwirrung, Interesse, Überraschung

Gefühle: Zuversicht, Selbstvertrauen, Überlegenheit

Ziel:die eigene Expertise untermauern

Ziel: zu einer neuen Sichtweise anregen

Ziel: das Publikum für sich gewinnen

Tabelle 1:

Die Bandbreite der Herausforderungen bei Präsentationen

Das Konzept der Positiven Provokation war nicht nur für meinen Vortrag auf der ICF-Konferenz von Bedeutung, sondern auch für die Herangehensweise ans Coaching selbst. Eine meiner Lieblingsdefinitionen von Coaching lautet: „Gespräche, die das Klientel zu selbstgesteuertem Lernen anregen“. Was mir an dieser Definition gefällt, ist, dass damit die Ziele in den Hintergrund gerückt und das Lernen des Klienten in den Vordergrund gestellt werden. So gesehen scheint alles, was den Klienten zum Lernen anregt, das Coaching voranzubringen und seine Wirksamkeit zu erhöhen. Den Klientinnen neue Perspektiven zu eröffnen, sie zum Nachdenken darüber anzuregen, was sie wissen und was nicht, und sie herauszufordern, sich der Situation zu stellen, sind alles Beispiele für wesentliche Coaching-Aktivitäten, die ihnen helfen, durch behutsame Positive Provokation zu lernen.

Einführung in das Konzept der Positiven Provokation

Ich habe einmal Coaches für die Marcus Buckingham Company ausgebildet. Buckingham ist ein Vordenker auf dem Gebiet der Psychologie der Stärken, und ich gebe zu, dass ich ein wenig nervös war, als ich seine Mitarbeitenden schulen sollte. Sie waren keine Neulinge, denen ich erstmal eine Einführung in das Konzept der Stärken geben konnte. Vielmehr handelte es sich um eine Gruppe ungewöhnlich gut ausgebildeter Menschen, die bereits einige Erfahrung mit dem stärkenorientierten Coaching vorzuweisen hatten. Ich musste also herausfinden, was sie schon wussten, damit ich sie optimal fördern konnte. Und so eröffnete ich den Tag mit meinem üblichen Vortrag über den 90-Grad-Blickwinkel und darüber, wie ich die Gruppe herausfordern wollte, ohne mich mit meinem Wissen über sie zu erheben. Sofort reckte eine Frau die Hand in die Höhe und fragte: „Wie können Sie denn herausfinden, was wir schon wissen, damit Ihre Herausforderungen genau den richtigen Schwierigkeitsgrad haben?“ Das war eine großartige Frage.

Tatsächlich führte sie mich zu einer Erkenntnis: Wirksame und Positive Provokationen sind keine Einbahnstraßen. Es geht bei ihnen nicht darum, dass ich – oder irgendeine Coachin oder ein Vortragender – seine Zuhörer herausfordert. Vielmehr geht es darum, dass eine Person zwar das Publikum provoziert, dieses aber muss seinerseits auch offen für diese Herausforderung sein und sie annehmen. Wenn ich es auf eine Formel bringen müsste, würde ich sagen: „Positive Provokation = (Neuheit des Arguments + Stärke des Arguments) × Offenheit für das Argument“ (siehe Abbildung 1).

Auf der Seite des Coaches steht das „Argument“ oder, wenn man so will, die Herausforderung. Der Coach trifft eine fundierte Einschätzung darüber, wie neuartig die Herausforderung sein wird. Zum Beispiel kann ich vernünftigerweise annehmen, dass die Aussage „Coaches sollten ihre Klienten unterbrechen“ herausfordernder sein wird als „Coaches sollten ihren Klienten zuhören“. Der Coach ist außerdem aufgefordert, ein überzeugendes Argument für seine Provokation vorzubringen. Im selben Beispiel wäre es wirkungsvoller zu sagen: „Wenn man seine Klienten strategisch unterbricht, kann man sicherstellen, dass wichtige Momente nicht ungenutzt verstreichen“, als lediglich zu behaupten: „Jemanden zu unterbrechen, ist eine gute Sache.“ Der Kniff für einen Vortragenden oder die Coachin besteht also darin, vorhandenes Wissen zu berücksichtigen und in der Lage zu sein, mit gut durchdachten Argumenten darzulegen, warum dieses Wissen komplexer und vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick erscheint.

Der andere Teil der Gleichung gehört zum Klienten oder Publikum und dessen Aufgeschlossenheit beziehungsweise Bereitschaft, sich auf das neue Material einzulassen. Das heißt, die Zuhörenden müssen sich sicher genug fühlen, sich für Wachstum zu öffnen, und sich für ausreichend kompetent halten, um die Herausforderung auch annehmen zu können. Der Sanskrit-Begriff Adhikari-bheda, der sich in hinduistischen Schriften findet, bezeichnet im Wesentlichen den Umstand, dass eine bestimmte Person qualifiziert und bereit ist, eine Lehre zu empfangen. Krishna vermittelt Arjuna beispielsweise die Lehren der Bhagavad Gita, weil dieser zu diesem besonderen Moment einzigartig offen und bereit ist, sie anzuhören. Dies unterstreicht, wenn überhaupt, die Vorstellung, dass großartiges Coaching darauf aufbaut, eine Beziehung zu schaffen, die der Klientin Sicherheit vermittelt – nicht Sicherheit vor Herausforderungen, sondern genug Sicherheit, um Herausforderungen anzunehmen.

Abbildung 1:

Das Modell der Positiven Provokation

Dieses Buch ist eine positive Provokation

Zu Beginn meiner Coaching-Karriere wunderte ich mich über einer Reihe gängiger Praktiken und rätselte über einige der Coaching-„Fakten“, die mir beigebracht worden waren. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass ich gern des Teufels Anwalt spielte, aber einige Dinge, die man mir erzählte, schienen einfach nicht zu stimmen. So hörte ich zum Beispiel oft, dass das Coaching von der Psychotherapie mit dem markigen Satz „Beim Coaching geht es um die Zukunft, bei der Therapie um die Vergangenheit“ unterschieden wurde. Das hat für mich nie wirklich Sinn ergeben, und es stellt sich nach kurzem Nachdenken wirklich als Unfug heraus. Im Coaching fragen wir tatsächlich häufig nach der Vergangenheit: „Wann haben Sie in der Vergangenheit ein ähnliches Problem erfolgreich bewältigt?“ oder „War das auch schon einmal kein Problem für Sie?“ und „Was haben Sie daraus gelernt?“. Außerdem fragen erfahrene Therapeuten auch häufig nach der Zukunft: „Wie hoffnungsvoll sind Sie?“ oder „Freuen Sie sich auf irgendetwas ganz Bestimmtes?“ oder „Was ist die kleinste Sache, die Sie zu versuchen bereit wären?“. Ich war nie richtig davon überzeugt, Fragen über die Vergangenheit oder die Zukunft zu unterscheiden, und bin tatsächlich einigermaßen erstaunt darüber, dass sich diese These so hartnäckig hält.

Für mich selbst war allerdings interessant, etwas länger über diese Binsenweisheit über Vergangenheit und Zukunft nachzudenken. Es ging mir weder darum, diese These zu verwerfen, noch wollte ich mir auf die Schulter klopfen, weil ich es danach sicherlich besser wüsste als alle anderen. Ich wollte herausfinden, was mich daran störte. Was stimmte an dem Argument nicht? Wie konnte eine bessere These lauten? Nachdem ich die grundlegende Aussage über Vergangenheit und Zukunft verworfen hatte, fühlte ich mich auch verpflichtet, eine Alternative zu entwerfen. Es lag nahe, mich zu fragen: „Wenn die Frage nach dem Blick auf die Vergangenheit oder die Zukunft kein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist, was ist es dann?“ Eine Antwort zu finden war gar nicht so einfach, weil sich Therapie und Coaching in vielen Aspekten doch sehr ähneln. Beide sind Gesprächstechniken, erfordern Einfühlungsvermögen, beruhen auf der Qualität der Beziehung zum Klienten oder zur Klientin sowie auf Vertraulichkeit. In beiden Verfahren geht man auf ihre Probleme ein und hofft darauf, dass sich ihre Situation verbessert. Der wichtigste Unterschied, den ich letztendlich ausmachen konnte, ist, dass Psychotherapie für klinisch relevante Notlagen vorgesehen ist, was auf das Coaching nicht zutrifft. Das mag nicht besonders erhellend sein, aber ich finde es besser als einen Lehrsatz, den ich für unsinnig halte.

Seit diesen Anfängen meiner Karriere habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, gängige Coaching-Praktiken und allgemeine Weisheiten infrage zu stellen, es stört mich aber auch nicht, wenn ich schließlich nichts an ihnen auszusetzen finde. Ich glaube, dass dieser Aspekt der Provokation wichtig ist und häufig übersehen wird: Bei einer Herausforderung geht es nicht darum, Dinge in die Tonne zu werfen, sondern darum, sie zu überdenken. Genau das ist meine Hoffnung für dieses Buch. Ich möchte provokante Thesen anbieten, die Sie dazu einladen, innezuhalten und über Ihre eigenen Annahmen über Coaching, Ihren persönlichen Stil und Ihre Vorlieben nachzudenken. Ich habe aus eigener Anschauung erfahren, wie effektiv diese Strategie bei den Lernenden sein kann, die ich in meiner eigenen Firma Positive Acorn ausbilde. Anstatt ihnen in Stein gemeißelte Regeln zu vermitteln, versuche ich, den Vorhang zu lüften und allgemeine Weisheiten aufzudecken, die manchmal flexibel anzuwenden sind – die aber auch Ausnahmefälle zulassen. Dies führt, so hoffe ich, dazu, Coachinnen und Coaches auszubilden, die sich ihrer Aufgabe reflektiert und flexibel annehmen.

Um es klar zu sagen: Es geht mir nicht darum, Sie oder Ihre Überzeugungen abzuwerten oder zu entkräften, Ihnen das Gefühl zu geben, sich verteidigen zu müssen, oder mich in irgendeiner Weise als überlegen darzustellen. Ich möchte, dass meine Provokationen eine positive Wirkung entfalten. Ich wünsche mir, dass Sie die Ohren spitzen und sich fragen, was ich meine, dass Sie hinterfragen, wie ich zu meinen Schlussfolgerungen gekommen bin, und dass Sie zu diesen Themen auch etwas aus der aktuellen Forschung lernen. In jedem Fall werde ich versuchen, möglichst stichhaltige Argumente vorzubringen. Ich verlange jedoch nicht, dass Sie mit meiner Denkweise übereinstimmen. Sie haben jedes Recht auf Ihre eigenen Werte, Erfahrungen und Meinungen. Ich halte es aber für möglich, dass Sie nach der Beschäftigung mit diesem Buch – unabhängig davon, ob Sie Ihre Meinung ändern oder sich in Ihren derzeitigen Überzeugungen sogar noch bestätigt fühlen – hinterher besser dastehen werden, eben weil Sie einen Prozess der Reflexion durchlaufen haben.

In diesem Sinne soll dieses Buch das Coaching-Verfahren selbst widerspiegeln. Coaching ist ein Prozess, der die Klientinnen und Klienten dazu einlädt, zunächst die Art und Weise zu reflektieren, wie sie sich selbst und ihre aktuelle Situation sehen, und dann eine wünschenswerte Zukunft zu formulieren. Positive Provokation im Coaching spricht die gleiche Einladung auch an Sie aus. Im Kern geht es hier um Fragen wie „Was sollten wir als Coaches und Coachinnen tun?“.

In Zusammenhang mit dem vorigen Satz möchte ich ein Beispiel nennen, nämlich eine Aussage, die ich in der Welt des Coachings häufig höre: „Ich glaube nicht an ‚sollte‘.“ Wer dem zustimmt, erkennt im Wesentlichen an, dass Klienten manchmal aus einem künstlichen oder irrelevanten Gefühl der Verpflichtung heraus handeln. Dagegen ist erst mal nichts zu sagen. Andererseits ist das „Sollen“ ziemlich wichtig. Die meisten Kulturen der Welt legen großen Wert auf persönliche Pflichten und Verbindlichkeit. Freunde sollten loyal sein, man sollte sich um seine kranken Familienmitglieder kümmern, wir sollten Fremden in Not helfen, und wir sollten unsere Talente nutzen, anstatt sie zu vergeuden. Jeder dieser Punkte ist eine moralische Aussage, mit der wünschenswertes Verhalten vorgegeben wird. Mit „Sollte“-Aussagen wird nicht nur definiert, wie man ein gutes Leben führt – sie sind auch im Coaching zu finden: Wir sollten präsent sein, wir sollten eine positive Einstellung zu unseren Klientinnen haben, wir sollten aufmerksam zuhören usw.

Wer hat sich diese Verpflichtungen ausgedacht? Und was noch wichtiger ist: Sind all diese vermeintlichen Coaching-Pflichten denn richtig oder nützlich? Sollten wir nicht auch von Zeit zu Zeit Ratschläge erteilen? Sollten wir unsere Klienten dazu bringen, sich mit ihren selbstbegrenzenden Überzeugungen auseinanderzusetzen? Sollten wir immer die Sprache des Klienten verwenden, anstatt unsere eigene anzubieten? Sollten wir Aha-Momenten vertrauen? Diese Fragen entsprechen genau der Art von Provokationen, um die es in diesem Buch gehen wird.

Ganz gleich, ob wir großartiges Coaching als Herausforderung, positive Provokation oder honigsüße Aufforderung zum Nachdenken verstehen – in jedem Fall gehört dazu, ein paar grundlegende Annahmen und Verhaltensweisen zu hinterfragen. Und wenn wir diese Technik im Dienste unserer Klientinnen anwenden, warum dann nicht auch bei uns selbst? Sollten wir Coachinnen uns nicht auch einige Fragen stellen, die das Potenzial besitzen, unsere Überzeugungen ins Wanken zu bringen? Der Haken ist natürlich, dass das in der Praxis gar nicht so einfach umzusetzen ist. Unsere grundlegende Aufgabe als Coaches ist es ja, unseren Klienten Fragen zu stellen, auf die sie selbst nicht gekommen sind. Und genau wie sie können auch wir selbst unser Denken nicht mithilfe unseres eigenen Denkens verändern. Hier soll Ihnen dieses Buch weiterhelfen: Betrachten Sie jede meiner Provokationen so, als ob sie eine Coaching-Frage wäre, die Sie auf jede Art und Weise beantworten können, die Sie für richtig halten. Eben deswegen sind viele der Kapitelüberschriften in diesem Buch als Fragen formuliert.

Wie man mit diesem Buch arbeitet

Jeder Leser, jede Leserin ist einzigartig. Sie alle unterscheiden sich in ihrer Persönlichkeit, ihrem Kommunikationsstil und ihrer Offenheit für neue Ideen, um nur drei Aspekte zu nennen. Das bedeutet, dass jeder und jede von Ihnen dieses Buch auf eigene Weise erleben wird. Einige von Ihnen werden meine Sprache als zu anspruchsvoll empfinden, andere werden sie als spielerisch und anregend erleben. Ein großer Unterschied zwischen den Lesenden ist ihre jeweilige Berufserfahrung. Teilen wir Coaches grob in Anfänger, Fortgeschrittene und Profis ein, werden die Angehörigen jeder dieser drei Gruppen unterschiedlich auf die Provokationen in diesem Buch reagieren. Theoretisch sollten Anfänger das Material als herausfordernd empfinden, da es einige der üblichen Überzeugungen im Coaching infrage stellt. Erfahrenere Coachinnen werden auf einige dieser Herausforderungen wahrscheinlich schon von selbst gestoßen sein und sie dementsprechend als nicht besonders provokant empfinden. Ich hoffe, dass jede und jeder von Ihnen auf den Seiten dieses Buches zumindest ein paar Ideen finden wird, die zum Nachdenken anregen, zum Nachforschen einladen und Ihnen die Möglichkeit bieten, Überzeugungen zu überprüfen und Ihre Praxis zu verbessern.

Wenn wir unter Provokation eine „herausfordernde“ oder „zum Nachdenken anregende“ Aussage verstehen, dann können wir davon ausgehen, dass die Stärke der in diesem Buch enthaltenen Provokationen entlang eines abstrakten Maßstabs (die y-Achse in Abbildung 2) mit zunehmender Coaching-Erfahrung (die x-Achse in Abbildung 2) abnimmt. Ich würde außerdem gern einwerfen, dass die Stärke der Herausforderungen kein geeigneter Maßstab für eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Coaching ist. Wir sollten positive Provokationen in dem Maße als erfolgreich betrachten, in dem sie Ideen enthalten, die es wert sind, in Betracht gezogen zu werden, und zwar auf eine Weise, die den Menschen hilft, aufgeschlossen zu bleiben, und die zu Reflexionen einladen, die möglicherweise dazu führen, die eigene Praxis zu verbessern.

Abbildung 2:

Wie provokativ ist dieses Buch?

Hier ist ein Beispiel einer Provokation für Coaches am Anfang ihres Weges: Viele angehende Coaches sind an der Geschäftsentwicklung ihrer Coaching-Praxis interessiert. Sie wollen einen Klientenstamm aufbauen, sich bekannt machen und eine Website ins Netz stellen. Eine gängige Praxis in der Anfangsphase der Karriere ist es, die Coaching-Dienstleistung in unterschiedlichen Paketen zu verkaufen. Das heißt, Coachinnen bieten ihren Klientinnen eine bestimmte Anzahl von Sitzungen für einen günstigeren Preis an. Ich kann mich nicht erinnern, ob mir ausdrücklich geraten wurde, mich ebenso zu verhalten, aber ich weiß, dass ich diese Vorgehensweise wie durch Osmose in mich aufgenommen habe, als ich sah, dass alle Coaches um mich herum so vorgingen. Hierfür gibt es zwei gute Gründe:

Indem der Coach seine Klienten dazu einlädt, sich zu mehreren Sitzungen zu verpflichten, bringt er sie dazu, sich mehr für den Coaching-Prozess zu engagieren.

Mit der Zusage für mehrere Sitzungen hat der Coach eine gewisse finanzielle Sicherheit, die ihm erlaubt, dem Klienten preislich etwas entgegenzukommen.

Als ich zum ersten Mal mein Namensschild außen an der Tür meiner Praxisräume anbrachte, ging ich zugegebenermaßen genauso vor. Wie viele meiner Kollegen bot ich Pakete mit vier Sitzungen zu einem leicht reduzierten Preis an. Nach wenigen Monaten in der Branche fragte ich mich jedoch, ob dieses Vorgehen so in Ordnung sei. Mich störte daran, dass ich einseitig entschied, was meine Klientel brauchte, wenn das Coaching doch gemeinsam mit ihr gestaltet werden sollte. Würden Sie sich nicht auch wundern, wenn der Zahnarzt Ihnen sagt: „Sie müssen sechs Zahnreinigungen im Voraus bezahlen, denn das ist der beste Weg, Sie dazu zu bringen, in Ihre Zahnpflege zu investieren“, oder wenn Sie einen Gitarrenlehrer engagieren, der behauptet: „Sie müssen für 20 Unterrichtsstunden bezahlen und dann auch daran teilnehmen, denn seien wir ehrlich, wer kann schon nach sechs Gitarrenstunden anständig spielen?“ Ich fragte mich, wo bei dieser gängigen Praxis die Bedürfnisse der Klienten blieben. Deshalb änderte ich meine Vorgehensweise. Ich begann, meine Klienten zu fragen: „Was erscheint Ihnen sinnvoll?“ Wir vereinbarten, wie lange unsere Arbeit dauern sollte, und ich ließ meinen Klienten mehr Spielraum, mich so zu bezahlen, wie es ihnen zweckdienlich erschien. Einige zahlten für mehrere Sitzungen, andere für eine einzelne. Einige zahlten im Voraus, andere lieber erst hinterher.

Ich bin nun nicht grundsätzlich dagegen, Coaching-Pakete anzubieten. Allerdings bin ich dagegen, es nur deshalb zu tun, weil es gängige Praxis ist. Ich möchte, dass sich angehende Coaches über ihre Gründe für das Anbieten von Paketen klar werden und überlegen, was sie daran ändern könnten, um die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Klientel besser zu berücksichtigen, und wie sie flexibler an die ersten Praxisstunden herangehen könnten.

Etwas erfahrenere Coaches sind dagegen weniger an der Entwicklung ihres Geschäfts als an geeigneten Methoden interessiert. Sie befinden sich häufig in einer Wachstumsphase und möchten ihre Fähigkeiten weiterentwickeln, um ihrer Klientel besser helfen zu können. Eine positive Provokation, die bei dieser Gruppe möglicherweise gut ankommt, besteht darin, alle Annahmen darüber zu hinterfragen, was in einer Coaching-Sitzung tatsächlich geschieht. In diesem Zusammenhang fand ich eine kürzlich durchgeführte Untersuchung von Jim Gavin und seinen Kollegen sehr aufschlussreich.1 Sie konnten bei je drei Coaching-Sitzungen von 45 verschiedenen Coachinnen und Coaches zusehen und analysieren, was normalerweise hinter dem Schleier der Vertraulichkeit verborgen ist. Und was haben sie herausgefunden?

In den 37 Minuten – der durchschnittlichen Dauer einer Sitzung – äußerten die Coaches sich 50 Mal. Die Hälfte davon waren „minimale Ermutigungen“ wie „Mm-hmm“, „Verstehe“ oder „Aha“.

Von den verbleibenden 25 Redebeiträgen der Coaches waren 66 Prozent Fragen oder Versuche, die Perspektive des Klienten zu beeinflussen (z. B. durch Reframing).

Von den Fragen der Coaches betraf nur 0,1 Prozent das „Ökosystem“ des Klienten.

Von den Versuchen der Beeinflussung waren 12 Prozent direkte Anweisungen, wie z. B. Ratschläge oder Hinweise auf konkrete Handlungsmöglichkeiten.

Von den gesamten Äußerungen drehten sich 20 Prozent um das „Zuhören“ in Form von Klarstellungen, Zusammenfassungen oder Wiederholungen der Worte des Klienten.

Die verbleibende Handvoll von Äußerungen wurde als „Verschiedenes“ gezählt.

Die Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen dieser Art kann unserer beruflichen Weiterentwicklung dienen. Wir alle treffen Annahmen darüber, was in unseren eigenen Sitzungen geschieht, und wir übersehen leicht, wie voreingenommen unsere mentale Buchführung sein kann. Als ich die Statistiken dieser Studie las, dachte ich, dass ich möglicherweise viel mehr kleine Ermutigungen einsetze, als ich bisher angenommen hatte. Das ist wahrscheinlich kein kapitaler Fehler für die Coaching-Beziehung, und es könnte sogar gelegentlich von Vorteil sein. Trotzdem wollte ich instinktiv damit beginnen, in meinem Coaching mehr darauf zu achten und die kleinen Ermutigungen sparsamer einzusetzen. Die Ergebnisse legten mir außerdem nahe, mich mehr nach dem Umfeld meiner Klienten zu erkundigen, die Menge an Zusammenfassungen, die ich wahrscheinlich von mir gebe, zu reduzieren und weniger Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen oder Ratschläge zu geben (tatsächlich war diese Menge in meinem Fall weitaus geringer als die 12 Prozent, die in dieser Untersuchung ermittelt wurden, sodass ich hier keine großen Veränderungen vornehmen musste).

In vielerlei Hinsicht ist Positive Provokation im Coaching in erster Linie für mäßig erfahrene Coaches geschrieben. Durch das Infragestellen vieler gängiger Praktiken – wie Unterbrechen, das Treffen von Annahmen über den Klienten oder die Verwendung seiner Sprache – können Coaches mit zwei bis zwölf Jahren Erfahrung sich wieder auf die Grundlagen ihres Berufs besinnen und sie verbessern.

Auf den folgenden Seiten findet sich natürlich auch etwas für fortgeschrittene Coaches – vielleicht sogar besonders für sie. Das erkannte ich in meinen Gesprächen mit Christian van Nieuwerburgh, einem Coach mit langjähriger Erfahrung und Geschäftsführer von Growth Coaching International. Christian ist ein hervorragender Denker in Bezug auf Coaching-Fragen, er verfügt über ein einzigartiges Verständnis, und er kann seine Behauptungen mit Beispielen aus jahrelanger Praxis untermauern. Während der COVID-19-Pandemie sprachen Christian und ich fast jede Woche miteinander. Unsere Gespräche dienten keinem formalen Zweck und verliefen nicht sonderlich stringend. Wir hinterfragten die Art und Weise, wie wir arbeiteten. Dabei hatten die Provokationen häufig die Form von Fragen – wie bei einem guten Coaching –, auf die keiner von uns eine schnelle oder einfache Antwort parat hatte. Hier sind einige Beispiele:

Sind Coachinnen verpflichtet, ihren Klientinnen vorzuleben, wie man die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden fördert?

Sollten Coaches bestimmte Klienten aufgrund ihrer persönlichen Wertvorstellungen ablehnen, oder sind wir dazu verpflichtet, unsere Moral metaphorisch an der Garderobe abzugeben und allen Menschen unsere bestmögliche Unterstützung anzubieten?

Verfolgen Coaches ihre eigene Agenda?

Wenn Coachinnen intuitiv Ansätze der Positiven Psychologie anwenden, aber noch nie von der zugehörigen Wissenschaft gehört oder darüber gelesen haben, würden sie dann ein Coaching im Sinne der Positiven Psychologie durchführen (d. h., ist das Wissen um theoretische Grundlagen eine Voraussetzung für die Praxis)?

In welchem Umfang beschäftigen sich Coaches mit Diagnosen?

Welche Risiken birgt der Einsatz von Humor im Coaching?

Hinter diesen Fragen verbergen sich provokante Thesen: Nämlich dass Humor im Coaching potenziell schädlich sein kann, dass Klienten Coaches beobachten und von ihnen lernen, und dass die Qualifikationen für die verschiedenen Arten von Coaching nicht klar formuliert sind. Diese Liste ließe sich fortsetzen. In meinen Gesprächen mit Christian ging es uns weniger darum, abschließende Antworten zu finden, als vielmehr darum, mögliche Antworten zu überdenken und damit unser Verständnis für die grundlegenden Mechanismen des Coachings zu verbessern. Ich hoffe, dass dieser Prozess auch erfahrene Coaches ansprechen wird, wenn sie sich auf die Positive Provokation im Coaching einlassen. Ich wünsche mir, dass diese Herangehensweise auch ihnen zugutekommt.

Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort: Was bisher geschah …

Einführung in das Konzept der Positiven Provokation

Wie man mit diesem Buch arbeitet

TEIL I: COACHING-PHILOSOPHIEN

1. Warum ist es so schwer, ein guter Coach zu sein?

1.1 Coaching-Kultur

1.2 Mentalität

1.3 Schlussfolgerung

2. Ist Coaching nicht-direktiv?

2.1 Die Meinung der Vordenkenden

2.2 Ist Coaching wirklich so nicht-direktiv, wie wir meinen?

2.3 Schlussfolgerung

3. Was wäre, wenn Coachinnen eigene Agenden verfolgen würden?

3.1 Vier Arten von Coaching-Agenden

3.2 Schlussfolgerung

4. Lösen wir Probleme oder tragen wir zur Verbesserung bei?

4.1 Sich auf Probleme zu konzentrieren ist normal

4.2 Die Verbesserungsmentalität

4.3 Gibt es einen echten Unterschied?

4.4 Schlussfolgerung

5. Warum ist Ethik so langweilig?

5.1 Was ist Ethik überhaupt?

5.2 Warum befassen wir uns nicht genauer mit Ethik?

5.3 Implikationen für Coachinnen

6. Sollten Coachinnen sich mit Lerntheorie befassen?

6.1 Was sagt Ihre Intuition zum Thema Lernen?

6.2 Erwachsenenbildung und Coaching

6.3 Schlussfolgerung

TEIL II: KOMMUNIKATION MIT KLIENTEN

7. Warum nach dem Warum fragen?

8. Was ist so toll daran, Klienten zu unterbrechen?

8.1 Sinn und Zweck von Unterbrechungen

8.2 Unterbrechen im Coaching

9. Wessen Sprache ist es eigentlich?

9.1 Die Sprache der Klienten oder eine gemeinsame Sprache?

9.2 Wann können wir Coaching-Sprache verwenden?

9.3 Schlussfolgerung

10. Was sind Symmetrien beim Fragenstellen?

10.1 Theory of Mind und Coaching-Fragen

10.2 Symmetrien und Asymmetrien in Coaching-Fragen

11. Warum brauchen wir mehr Small Talk im Coaching?

11.1 Tiefgehendes und oberflächliches Coaching

11.2 Big Talk und Small Talk flexibel verwenden

12. Was wäre, wenn wir gar nichts sagen würden?

12.1 Schweigen genauer betrachtet

12.2 Schweigen im Coaching

TEIL III: GÄNGIGE COACHING-KONZEPTE

13. Warum können wir Coaching-Sitzungen nicht besser beobachten?

13.1 Hindernisse für eine präzise Beobachtung

13.2 Was genau wollen wir beobachten?

14. Können wir Heureka-Momenten vertrauen?

14.1 Einsicht als Ergebnis des Coachings

14.2 Geistesblitze verstehen

14.3 Heureka-Coaching

15. Wie neugierig sollten wir sein?

15.1 Was ist Neugier?

15.2 Neugier im Coaching

16. Was wäre, wenn wir weniger Empathie zeigen würden?

16.1 Definition von Empathie

16.2 Kritik an der Empathie

17. Sind Annahmen als Coaching-Werkzeug geeignet?

17.1 Zunächst eine Warnung

17.2 Schemata verstehen

18. Was haben wir gegen Selbstoffenbarungen?

18.1 Die sozialen Ziele der Selbstoffenbarung

18.2 Warum Coachinnen etwas von sich offenbaren könnten

TEIL IV: COACHING-INTERVENTIONEN

19. Was sind Metainterventionen?

19.1 Forschung zu Interventionen aus der Positiven Psychologie

19.2 Was das mit Coaching zu tun hat

20. Sollten Coachinnen Emotionen ansprechen?

20.1 Grundlegende Psychologie der Emotionen

20.2 Emotionen im Coaching

21. Warum sollten wir Klientinnen keine Hausaufgaben stellen?

21.1 Ein Blick auf die Hausaufgaben

21.2 Welche Alternativen gibt es?

22. Was wäre, wenn Sie Ihren Klienten nicht in den Kampf schickten?

22.1 Ist ein negativer innerer Dialog ein Problem?

22.2 Die Alternativen

23. Was sind Aufmerksamkeitsinterventionen?

23.1 Ein wenig Hintergrund zur Aufmerksamkeit

23.2 Aufmerksamkeitsinterventionen

24. Was ist schlüsselstellen-fokussiertes Coaching?

24.1 Grundlagen des Wettkampfkletterns

24.2 Herausragende Leistungen und Coaching-Erfolge

24.3 Schlussfolgerung

TEIL V: ZUM ABSCHLUSS

25. BONUS-PROVOKATION: Sollte Coaching wissenschaftlich fundiert sein?

25.1 Woher kommt unser Wissen?

25.2 Der aktuelle Stand der Wissenschaft

25.3 Wie die Wissenschaft das Coaching unterstützen kann

Danksagung

Über den Autor

Anmerkungen

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