Predigtstudien 2019/2020 - 1. Halbband -  - E-Book

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Beschreibung

Eine gute Predigt lebt davon, den vorgegebenen Bibeltext in die Sprache der Menschen heute zu übersetzen. Seit über 40 Jahren sind die Predigtstudien bei dieser Herausforderung ein unverzichtbares Hilfsmittel. Jeder Predigttext wird jeweils von zwei Autoren im Dialog bearbeitet. Das Autorenteam besteht aus jüngeren und älteren Theologinnen und Theologen, die in Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft tätig sind. Diese bunte Vielfalt an Erfahrungen inspiriert zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit den manchmal allzu vertrauten Bibeltexten und der Lebenssituation der Predigthörerinnen und -hörer. Deshalb dürfen die Predigtstudien auch heute in keinem theologischen Haushalt fehlen. Johann Hinrich Claussen, geb., 1964, Propst im Kirchenkreis Hamburg-Ost und Hauptpastor an St. Nikolai, Privatdozent für systematische Theologie an der Universität Hamburg, schreibt regelmäßig für deutsche Zeitungen und Zeitschriften, verheiratet, drei Kinder. Wilhelm Gräb, Dr. theol., geb. 1948, in Bad Säckingen/Rhein; 1987-1992 Pfarrer in Göttingen; 1993-1999 Professor für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum; seit 1999 Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Seelsorge und Kybernetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Leiter des Instituts für Religionssoziologie; seit 2001 Berliner Universitätsprediger; seit 2011 Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch, RSA.

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Seitenzahl: 596

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Predigtstudien

Predigtstudien

Herausgegeben

von Wilhelm Gräb (Geschäftsführung), Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Doris Hiller, Kathrin Oxen, Christopher Spehr, Christian Stäblein und Birgit Weyel

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände.

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISSN 0079-4961

ISBN Print 978-3-946905-80-6

ISBN E-PDF: 978-3-451-82013-7

ISBN E-Book: 978-3-451-82014-4

Inhalt

Homiletischer Essay

Wilfried Engemann

In einer Predigt als Mensch zum Vorschein kommen?

01.12.20191. Advent

Römer 13,8–12:

Waffen des Lichts

Matthias Lobe / Johann Hinrich Claussen

08.12.20192. Advent

Lukas 21,25–33:

Zeichen des Anfangs

Doris Hiller / Wiebke Bähnk

15.12.20193. Advent

Lukas 3,(1–2)3–14(15–17)18(19–20):

Alle Dinge müssen enden

Maike Schult / Andrea Morgenstern

22.12.20194. Advent

2 Korinther 1,18–22:

»Ja, ja, ach, ja.«

Miriam Löhr / Helge Martens

24.12.2019Heiligabend (Christvesper)

Hesekiel 37,24–28:

Weihnachten: ›Neugier- und Offenheitspeicher‹

Albrecht Grözinger / Elisabeth Grözinger

24.12.2019Heiligabend (Christnacht)

Sacharja 2,14–17:

Gottesgegenwart – Freundlärm und Schweigen

Christof Landmesser / Stephan Schaede

25.12.20191. Weihnachtstag

Titus 3,4–7:

Gottes Freundlichkeit

Christof Jaeger / Margrit Wegner

26.12.20192. Weihnachtstag

Matthäus 1,18–25:

Flüchten oder standhalten

Markus Engelhardt / Sabine Kast-Streib

29.12.20191. Sonntag nach Weihnachten

Hiob 42,1–6:

Aufklärung einer dunklen Geschichte

Thomas Schlag / Ralph Kunz

31.12.2019Silvester

Hebräer 13,8–9b:

Das feste Herz

Friedrich W. Horn / Sebastian Feydt

01.01.2020Neujahr

Johannes 14,1–6:

Bleibend unterwegs sein

Karl-Ulrich Gscheidle / Susanne Wolf

05.01.20202. Sonntag nach Weihnachten

Jesaja 61,1–3(4.9)10–11:

Kleiderfragen

Julia Koll / Ulrike Wagner-Rau

06.01.2020Epiphanias

Epheser 3,1–7:

Offenbares Geheimnis

Dieter Beese / Hajo Petsch

12.01.20201. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 3,13–17:

Vom Anfang einer Geschichte

Matthias Lemme / Christian Nottmeier

19.01.20202. Sonntag nach Epiphanias

Jeremia 14,1(2)3–4(5–6)7–9:

Der Wahrheit auf der Spur bleiben – auch ohne (einfache) Antworten?!

Ruth Poser / Kristin Merle

26.01.20203. Sonntag nach Epiphanias

Apostelgeschichte 10,21–35:

Kein Ansehen der Person

Marcus A. Friedrich / Astrid Kleist

26.01.2020Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Prediger 8,10–14.17:

Wie Lichtstrahlen durch die Risse eines dunklen Raumes

Nina Spehr / Senta Zürn

02.02.2020Letzter Sonntag nach Epiphanias

Offenbarung 1,9–18:

»Ich hole dich da heraus!« – oder: Die Kraft des Heiligen

Adelheid Ruck-Schröder / Thomas Stahlberg

09.02.2020Septuagesimae (3. Sonntag vor der Passionszeit)

Matthäus 20,1–16:

Von Leistung, Lohn und Liebe

Stephanie Krause / Maximilian Baden

16.02.2020Sexagesimae (2. Sonntag vor der Passionszeit)

Hesekiel 2,1–5(6–7)8–10; 3,1–3:

›Schmecket und sehet!‹ – Vom Sehnen, das in uns wohnt

Ernst Michael Dörrfuß / Wilhelm Gräb

23.02.2020Estomihi (Sonntag vor der Passionszeit)

Lukas 18,31–43:

Sehend werden

Kord Schoeler / Friedrich Brandi

01.03.2020Invokavit (1. Sonntag der Passionszeit)

1 Mose 3,1–19(20–24):

Gottesanrede

Heinz-Dieter Neef / Birgit Weyel

08.03.2020Reminiszere (2. Sonntag der Passionszeit)

Römer 5,1–5(6–11):

Nochmal nachgefragt: Erfahrung mit der Erfahrung

Wiebke Köhler / Cornelia Coenen-Marx

15.03.2020Okuli (3. Sonntag der Passionszeit)

Lukas 9,57–62:

Trilogie der Nachfolge

Wibke Janssen / Henning Theurich

22.03.2020Laetare (4. Sonntag der Passionszeit)

Jesaja 66,10–14:

Bei Trost sein – in trostlosen Umständen

Rainer Stuhlmann / Jürgen Dembek

29.03.2020Judika (5. Sonntag der Passionszeit)

Hebräer 13,12–14:

Draußen vor dem Tor – und doch behütet

Jürgen Ziemer / Wilfried Engemann

05.04.2020Palmarum (6. Sonntag der Passionszeit)

Markus 14,(1–2)3–9:

Die Macht der Religion und eine Religion der Macht

Johannes Hendrik Cilliers / Carolyn Decke

09.04.2020Gründonnerstag

2 Mose 12,1–4(5)6–8(9)10–14:

Befreiendes Gedenken – Gemeinsame Feier

Michael Bünker / Sonja Beckmayer

10.04.2020Karfreitag

2 Korinther 5,(14b–18)19–21:

Schicksalsgemeinschaft

Ursula Roth / Martin Vorländer

11.04.2020Osternacht

2 Timotheus 2,8–13:

Halt im Gedächtnis – inwendig und auswendig

Kay-Ulrich Bronk / Friedemann Magaard

12.04.2020Ostersonntag

1 Korinther 15,(12–18)19–28:

Nun aber, werdet wach und steht auf!

Torsten Stelter / Simon Kuntze

13.04.2020Ostermontag

Lukas 24,36–45:

Nur auf dem Papier oder doch mit Händen zu greifen?

Johannes Greifenstein / Thorsten Moos

19.04.2020Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern)

Jesaja 40,26–31:

»Weißt du, wie viel Sternlein stehen?«

Martin Kumlehn / Ralf Stroh

26.04.2020Miserikordias Domini (2. Sonntag nach Ostern)

1 Petrus 2,21b–25:

Schafe, die zählen

Martin Zerrath / Andreas Kubik

03.05.2020Jubilate (3. Sonntag nach Ostern)

Johannes 15,1–8:

Erfolg ist kein Name Gottes

Anne Gidion / Angelika Obert

10.05.2020Kantate (4. Sonntag nach Ostern)

2 Chronik 5,2–5(6–11)12–14:

›Met Hätz un Jeföhl‹

Frank Thomas Brinkmann / Hans-Martin Gutmann

17.05.2020Rogate (5. Sonntag nach Ostern)

Matthäus 6,5–15:

Faszination ›Vater Unser‹

Tobias Sarx / Jennifer Marcen

21.05.2020Christi Himmelfahrt

Johannes 17,20–26:

Vater und Sohn

Rajah Scheepers / Barbara Hauck

24.05.2020Exaudi (6. Sonntag nach Ostern)

Jeremia 31,31–34:

Gottes Herzenssache

Christina Weyerhäuser / Tobias Maysenhölder

Vergleichstabelle zur neuen Predigtperikopenreihe

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Homiletischer Essay

Wilfried Engemann

In einer Predigt als Mensch zum Vorschein kommen?

Anthropologische Aspekte einer hörerorientierten Homiletik

Die Frage nach einem angemessenen Adressatenbezug der Predigt ist in der Geschichte der Theologie mit großer Leidenschaft diskutiert und lange Zeit unterschiedlich beantwortet worden – letztlich aber nicht unentschieden geblieben. Die Predigtstudien stellen eine herausragende publizistische Positionierung in dieser Debatte dar: Wenn wir predigen, halten wir keine Vorträge über Texte. Wir bringen auch nicht einfach Heilsbotschaften unter die Leute. Im Fluchtpunkt der Predigt steht unser Leben. Dort setzen wir an. Darauf kommen wir immer wieder zurück. Dass »unser Leben« dabei auch als »Leben aus Glauben« in den Blick kommt, bedeutet nicht, dass Christen vor grundsätzlich anderen, spezielleren oder einfacheren Herausforderungen stünden als jedermann, wenn es darum geht, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen. Darum stellen die Predigtstudien seit mehr als 50 Jahren Sonntag für Sonntag die Frage nach der Hörerin und dem Hörer als Frage nach der Bewältigung des Lebens, indem sie die Pointe biblischer Texte und die thematischen Akzente des Kirchenjahres um den Horizont je authentischer Situationen zu erweitern suchen. Das führt im Vorfeld der Predigt zu konkreten Perspektiven und substanziellen Fragen, die nicht zuletzt anthropologischer Natur sind.

1. Hörerorientierung – situationshermeneutisch und anthropologisch

Die Beweggründe, eine Predigt zu halten, sollten im Leben der Menschen liegen, die sie hören. Das ist eine Voraussetzung der Lebensdienlichkeit einer Predigt. Dementsprechend finden wir auch in diesem aktuellen Band der Predigtstudien erhellende Schlaglichter auf die Wechselfälle unseres Lebens, auf Situationen des Alltags, auf Ausschnitte aus unserer Lebenswirklichkeit, wobei an jedem Sonn- oder Festtag andere Facetten und Erfahrungen unseres Lebens in den Blick kommen, über die zu reden sich lohnen sollte. In den damit verbundenen Analysen geht es häufig um »situationshermeneutische« Fragen: Es gilt nicht nur zu sondieren, wie eine Situation im Einzelnen beschaffen, von welchen Bedingungen sie geprägt ist; es geht vor allem darum zu klären, vor welche Herausforderung sie stellt, welches Problem, welche Möglichkeiten wir in ihr erkennen, was sie uns im Blick auf unser Selbstverständnis, unsere Identität und unser Leben »fragt« bzw. »zeigt«. Darüber hinaus geht es zum Beispiel um die Wahrnehmung von Analogien zwischen der historischen Situation, die den jeweiligen Predigttext zu einem bestimmten Zeitpunkt anscheinend »brauchte« – die ihn in gewisser Hinsicht hervorbrachte –, und der gegenwärtigen Situation, die wir unterstellen, wenn wir heute mit diesem Text auf die Kanzel treten und uns um eine Predigt bemühen, die wiederum zu gebrauchen sein soll.

Um dem Anspruch einer adäquaten Hörerorientierung gerecht zu werden, genügt es freilich nicht, sich in Situationen zu vertiefen, um (nur) auf diesem Wege einen je konkreten Bezugsrahmen für die Kommunikation des Evangeliums entwerfen zu können. Ebenso fundamental ist die Frage nach dem Menschenbild, von dem sich Predigerinnen und Prediger jeweils leiten lassen, wenn sie »den Menschen« – quasi als Vertreter der Hörerinnen und Hörer – in bestimmten Situationen, auf die ihre Predigt anspielt, auftreten lassen. Was soll er dort? Worin besteht sein Anteil am »Situationsziel«? Unheilvolle, belastende, jedenfalls in irgendeiner Hinsicht problematische Situationen werden ja deshalb homiletisch aufbereitet, um deren Überwindung bzw. Veränderung anzubahnen oder zumindest eine entsprechende Haltung dazu zu finden. Was wird »dem Menschen« bzw. den anwesenden Hörerinnen und Hörern dabei zugetraut und zugemutet? Was wird von ihnen erwartet? Wie werden sie gesehen? Wer dürfen, wer können, wer sollen sie als Mensch sein?

Die Relevanz einer Predigt hängt in hohem Maße sowohl von der Stimmigkeit und Plausibilität der jeweils unterstellten Situation als auch von der Angemessenheit ihres Menschenbildes ab. Über »Stimmigkeit« und »Angemessenheit« wird aber nicht allein theologisch entschieden; Situationen und Menschen müssen zu ihren eigenen Bedingungen wahrgenommen und verstanden werden, was nur interdisziplinär möglich ist. Nachdem in den Essays zu den Predigtstudien schon oft darüber geschrieben wurde, was es heißt, sich im Sinne von Ernst Lange mit der Situation der Hörer und der Hörerinnen als der Situation der Predigt zu befassen, möchte ich an dieser Stelle einmal die Frage nach den anthropologischen Prämissen der Predigt ansprechen.

2. Anthropologische Probleme zeitgenössischer Predigt

Häufig argumentieren Predigten implizit oder explizit mit Fragmenten einer Anthropologie, die, als sie im 16. Jahrhundert entworfen wurde, vor allem die Heilslehre der Lutherischen Theologie plausibilisieren sollte: Nichts am Menschen taugt dazu, einen Beitrag zu seiner Erlösung zu leisten, auch nicht seine guten Werke oder seine wohlwollenden Absichten. Was ihn errettet, liegt extra nos, in Christus. Der eigene Wille, der in der mittelalterlichen Philosophie als Steuerungsimpuls menschlicher Freiheit durchaus schon ein Begriff war, kommt als Modus der Selbstbeteiligung des Menschen an seiner Befreiung von Sünde, Tod und Teufel nicht in Betracht.

Das von Luther aufgegriffene Modell vom Menschen als incurvatus in se ipsum ist für die protestantische Predigtkultur in vielerlei Hinsicht prägend. Es hat zunächst – eingebettet in eine entsprechende Soteriologie – zur Verdeutlichung der Kategorie »Evangelium« beigetragen. Das damit eingeläutete Ende einer mit der Angst dealenden kirchlichen Heilswirtschaft hat vielen Menschen die Sorge um den Ausgang ihrer Erdentage genommen und ihnen die Freude am Leben wiedergeschenkt. Andererseits schlägt jene soteriologisch durchgearbeitete Anthropologie häufig auch bei der Darstellung und Vertiefung von Predigtthemen durch, die gar nicht die Erlösung des Menschen, sondern die Bewältigung seines Lebens betreffen. Das hat zur Folge, dass die eigentlichen Herausforderungen, vor die etwa das »Führen eines eigenen Lebens in Freiheit« stellt, oftmals gar nicht erst in den Blick kommen, sondern von theologischen Ideenkonzepten verdrängt werden. Dementsprechend funktionieren auch die Identifikationsangebote entsprechender Predigten nicht: Menschen können und wollen schlicht und einfach nicht so sein, wie es ihnen nahelegt wird.

Homiletische Klischees über den »modernen« bzw. »postmodernen Menschen« charakterisieren die unter der Kanzel Versammelten gern als egoistische, konsumgierige, unverbindliche, gleichgültige, von sich aus beziehungsunfähige Wesen. Im Lasterkatalog entsprechender Predigten stehen mangelndes Interesse an anderen, zu wenige Anstrengungen auf dem Gebiet der Nächstenliebe, übertriebene Selbstliebe und rücksichtsloses Streben nach Freiheit oben an. Der Wille des Menschen erscheint als latenter Affront gegen den Willen Gottes, weshalb man besser keinen eigenen Willen haben sollte. Auch der im Kontext von Kriegserfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägte Topos von der »Fratze des Menschen« macht in diesem Zusammenhang hier und da noch die Runde, so dass man den Eindruck gewinnen kann, ein schlechtes Los damit gezogen zu haben, ausgerechnet Mensch zu sein und allein schon dadurch in einem permanenten Beziehungskonflikt mit Gott zu stehen, auch wenn dieser Konflikt im Laufe des Gottesdienstes angeblich – und zwar jeden Sonntag wieder – repariert wird.

Diese Anthropologie wird in dem Maße zur Hypothek, wie die Hörerinnen und Hörer dazu aufgefordert werden, die in der Predigt angesprochenen Probleme dadurch zu lösen, dass sie gewissermaßen von ihrem Menschsein Abstand nehmen: von der Beschäftigung mit ihren Wünschen, von der Klärung und Aneignung eines eigenen Willens, von der Selbstliebe und anderem mehr. Gleichzeitig wird ihnen nahegelegt, die erfahrenen Grenzen der Geduld, des Verstehens, der Hingabe, des Sichum-andere-Kümmerns usw. mit Gottes Hilfe in der kommenden Woche zu überschreiten. Diese Argumentation zieht nicht nur gesetzliche Predigten nach sich, sie lässt die Anwesenden paradoxerweise gerade nicht Mensch sein: Indem sie ihnen zu verstehen gibt, an Liebe, Vertrauen, Verständnis, Hingabe usw. »zu wenig« geboten zu haben und mit etwas mehr gutem Willen und Gottes Hilfe mehr davon liefern zu können, werden Gutmenschen und Allesversteher faktisch zum christlich-anthropologischen Ideal erklärt – eine frustrierende Option für Menschen, die einer Predigt in der Erwartung folgen, in Richtung Menschsein erbaut zu werden.

3. Argumente für eine am Menschsein orientierte Anthropologie

Es genügt also nicht, Anhaltspunkte für einen grundsätzlichen Blick auf den Menschen nur aus seiner Erlösungsbedürftigkeit zu rekonstruieren und dabei auch noch inkonsequent zu sein. Zudem folgen einer Predigt in der Regel Menschen, die sich – in der Sprache der lutherischen Theologie – des »Erlösungswerkes Jesu Christi« nicht nur bewusst sind, sondern es dankbar für sich in Anspruch nehmen, Menschen, die gleichwohl erwarten, dass ihnen das Hören einer Predigt auch bei der Bewältigung ihres Lebens hilft, und dass vor allem nicht jeden Sonntag von neuem ihre Erlösung bzw. Gottesbeziehung auf dem Spiel steht. Wenn wir gelten lassen, dass sich als erlöst erfahrende Christenmenschen vor derselben elementaren Herausforderung wie alle anderen Zeitgenossen stehen, nämlich unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, dann darf das Repertoire zur »Ausübung unseres Menschseins« nicht kleingeredet oder als irrelevant übergangen werden. Es ist anzusprechen und zu stärken.

Dazu gehört es zum Beispiel, sich im Vorfeld der Predigt damit zu befassen, was es heißt, etwas zu wollen – bzw. zu verstehen, was es bedeutet, nicht zu wissen, was man will: Bevor es so weit ist, dass Menschen das, was sie wirklich wollen, in einer Entscheidung zum Ausdruck bringen, bevor sie entsprechend handeln (und dabei das, was sie tun, als ihr Tun erfahren), müssen sie sich mit ihren Erwartungen und Wünschen auseinandersetzen, von ihrer Phantasie Gebrauch machen können und bestimmte Optionen gedanklich antizipieren, deren Für und Wider mit Hilfe ihrer Vernunft abwägen und sich last not least mit ihren Grenzen befassen. Was immer sie schließlich wollen: Indem sie sich entsprechend verhalten und agieren, indem also ihr Wille handlungsleitend wird, erfahren sie ein Stück Freiheit. Dabei geschieht auch etwas mit ihrer Identität: Indem Menschen im Laufe ihres Lebens immer wieder abwägen, was sie wollen, was zu ihnen gehört und was nicht, was mit ihnen zu machen ist und was nicht, treffen sie nicht nur diese oder jene Entscheidung, sondern werden dabei auch jemand Bestimmtes, jemand mit diesen Entscheidungen, wodurch sie eine bestimmte Identität ausprägen – ein Prozess, der bis zum Ende ihres Lebens nicht abgeschlossen ist. So nehmen Menschen Einfluss darauf, wer sie sind. Peter Bieri hat wiederholt auf diesen Zusammenhang zwischen der Aneignung eines Willens und Identitätsbildung hingewiesen (vgl. Bieri). Religion – wir könnten an dieser Stelle auch von der »Kommunikation des Evangeliums« und von der »Glaubenskultur des Christentums« sprechen, zu der die Predigt zweifellos gehört – ist für Fragen dieser Art eine schier unendliche Ressource an Bildern, Geschichten, Optionen und Werten.

Ein anderer anthropologisch zentraler Bereich ist die Erfahrung und Gestaltung sozialer Beziehungen, die mit verschiedenen Formen von Zuwendung einhergehen: Es trifft weder zu, dass Menschen – wie in Predigten immer wieder zu hören ist – erst dann lieben können, wenn sie Gott oder Christus begegnet sind, noch sind sie von Natur aus Egomanen. Dass Menschen von Natur aus gern kooperieren und grundsätzlich ebenso gern lieben, wie sie geliebt werden, ist eine der wichtigsten, interdisziplinär gewonnenen Überzeugungen zeitgenössischer Anthropologie (vgl. Bauer). Dagegen ist gerade die Tugend der Selbstliebe – die mit Egoismus und Narzissmus nichts zu tun hat, sondern als Basis der Selbstverantwortung lebensnotwendig ist – für viele Menschen eine eher schwerer zugängliche Erfahrung: Sie sind um ihres Jobs willen oder aus Verantwortung gegenüber unabweisbar erscheinenden Ansprüchen häufig dazu bereit, auch über längere Zeiträume einen rigorosen Umgang mit sich selbst an den Tag zu legen und dies als normal zu empfinden.

4. Zur Funktion einer homiletisch reflektierten Anthropologie

Eine Predigt ist eine theologisch ebenso legitime wie religionspraktisch privilegierte Möglichkeit, Menschen darin zu unterstützen, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, sich auf ihr Leben zu verstehen und dabei von ihrem Glauben zu profitieren, ohne sich damit in den Himmel bringen zu müssen. Die Kenntnis, Artikulation und »Prüfung« eigener Wünsche, das Sondieren der Beweggründe, die man schließlich für sich gelten lässt und an die man sich in Freiheit bindet, der Anspruch, im Einklang mit den eigenen Überzeugungen leben zu »müssen«, wenn man Verantwortung tragen und dabei glücklich sein will – dies alles hat elementar mit Leben-Können, mit Identitätsbildung und einem guten Lebensgefühl zu tun, und versteht sich doch nicht von selbst. Einer lebensdienlichen Predigt sollte daran gelegen sein, die Anwesenden nicht immer nur (auch nicht meistens) für die Welt oder die Gemeinde oder ihre Nächsten in die Pflicht zu nehmen; sie sollte in erster Linie ein Dienst um ihres Lebens willen sein, gleichsam ein Service für ihr Menschsein mit allem, was es ausmacht.

Das ist aber nur auf Basis einer adäquaten Anthropologie möglich, die den »Basiskompetenzen der Lebenskunst« (Engemann, 2006, 28–32) Rechnung trägt, die die Freiheit und Würde des Menschen als die Herausforderung versteht, ihr homiletisch zu entsprechen, und die die Hörerinnen und Hörer implizit oder explizit dazu anleitet, mit sich selbst befreundet zu sein, um nur einige Aspekte hervorzuheben. Dabei werden die Hörerinnen und Hörer an Spielräume herangeführt, von denen sie – bei allem Respekt vor den eigenen Grenzen – womöglich gar nicht wussten, dass sie sie haben, wobei sich zeigen kann, dass man die eigenen Grenzen sowohl unter- als auch überschätzen kann.

Eine wichtige Orientierung bei dieser Aufgabe der Predigt ist die Lebenskunde Jesu bzw. das Lebenswissen der jüdisch-christlichen Tradition, wobei es entscheidend ist, dass der Hörer/die Hörerin im Zuge der Rezeption der Predigt Subjekt dieser Orientierung bleibt bzw. wird. Diese Orientierung läuft ja darauf hinaus, die Subjekt-Rolle im eigenen Leben wahrzunehmen, Entfremdungsprozesse auch dem eigenen Leben gegenüber zu überwinden und – nicht zuletzt mit Hilfe einer Predigt – zu einem eigenen Leben ermutigt und angeleitet zu werden. Wenn das Neue Testament erzählt, wie Menschen in die Kommunikation des Evangeliums verwickelt werden, wird anhand von Begebenheiten, in Gleichnissen und mit Bildern vor Augen geführt, »wie jemand als Mensch zum Vorschein kommt« (Engemann, 2016), wie jemand Schritte in die Freiheit geht und es genießt, Zuwendung sowohl zu erfahren als auch sie zu gewähren, wie ein Mensch anfängt, auf sein Gewissen zu hören, zu teilen und beispielsweise ein Fest zu feiern. Es sind immer Szenen, in denen sich Menschen neu zu verstehen gegeben werden und sich als nicht nur zumutbar, sondern wertgeschätzt erfahren, Momente, in denen Menschen in ihre Gegenwart durchbrechen und leidenschaftlich leben.

Was »können« diese Menschen am Ende all dieser Geschichten? Sie können leben. Es wäre eine ausgesprochene Verkürzung, nur davon zu sprechen, dass sie endlich glauben können, denn indem diesen Menschen bescheinigt wird, »dass ihnen ihr Glaube geholfen hat« (vgl. z. B. Mt 9,22; Lk 7,50; Lk 8,48), wird explizit auf die dem Leben dienende Funktion des Glaubens hingewiesen. Im Modus des Glaubens werden Menschen nicht in eine Parallelwelt gelockt, in der es darauf ankäme, durch Beteiligung an religiöser Praxis und den Erwerb ritueller Kompetenz ein spezifisches »Glaubensleben« zu führen, sondern sie werden zu einem Lebensglauben ermutigt: Sie werden intolerant im Blick auf ihre Arrangements mit Erfahrungen der Unfreiheit, sie sehen ihre Zukunft wieder offen. Sie gewinnen die Neugier auf ihr Leben zurück. Sie legen die Hand an den Pflug und schauen nicht zurück. Sie decken den Tisch ein – ohne die Sorge, dass es nicht reichen könnte – und erfahren in all dem etwas von ihrer Würde. Das Menschsein des Menschen in dem eben skizzierten Sinn steht im Fluchtpunkt des Evangeliums.

5. Glauben als Kategorie eines leidenschaftlichen Lebens

Es gehört zum Erfahrungskern der Reformation, dass Religion für den Menschen da ist und dass Menschen, die sich als Glaubende erfahren, nichts anderes zu sein brauchen als Menschen. Die homiletische Stärkung dieser Erfahrung setzt allerdings voraus, Glauben und Menschsein nicht in eine programmatische Spannung zueinander zu bringen. Glauben-Können sollte nicht auf eine dem Menschen von außen imputierte Gewissheitskategorie reduziert werden, die keinerlei Anhalts- bzw. Haftpunkte hat an dem, was dem Hörer und der Hörerin als Menschen zu Gebote steht. (Andernfalls fällt vielleicht nicht der Mensch vom Glauben, aber doch der Glaube vom Menschen ab.) Es gilt vielmehr, Zusammenhänge zwischen der Erfahrung des Glaubens und dem aufzuzeigen, wozu sich Menschen plötzlich aus Glauben in der Lage sehen, was zunächst einmal wenig mit guten Werken, aber einiges mit Emotionen zu tun hat.

Glauben kann Menschen nicht zu eigen werden, wenn er sich ihnen nicht auch emotional erschließt, was durch die starke Fixierung vieler Predigten auf einen Gewissheitsglauben erschwert wird. Wenn hingegen die Autoren der biblischen Texte von der Bedeutung des Glaubens reden, kommen sie auch auf den Glauben begleitende Emotionen zu sprechen, in denen sich dessen Kraft und Authentizität zu erweisen scheint: Glauben wird im Wieder-Aufkeimen des eigenen Erwartungsgefühls entdeckt, wird im Verantwortungsgefühl eines Menschen manifest, lässt ihn etwas Bestimmtes wollen und etwas anderes nicht. Glauben tritt als Gefühl der Hoffnung hervor und gewinnt im Gefühl der Entschlossenheit Gestalt, sich zu »riskieren«. Glauben äußert sich im Gefühl der Dankbarkeit und rückhaltloser Hingabe. Glauben steht also in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Gefühlen, die das Tun und Lassen eines Menschen, sein Wünschen, Urteilen, Wollen und Handeln begleiten.

Einen solchen Glauben kann man nicht auf eine Gewissheitskategorie reduzieren. Er ist ebenso eine Kategorie der Leidenschaft, die schließlich auch auf das Lebensgefühl eines Menschen zurückwirkt, auf jenes Grundgefühl, in dem die Erfahrungen des/der Einzelnen mit der Welt, mit den anderen und sich selbst gleichsam in einer Art emotionaler Gesamtbewertung zusammenfließen. Eine Predigt, die diese Zusammenhänge anerkennt, wird auch der Relevanz des Glaubens für die Selbstliebe Rechnung tragen können und das Verhältnis der Hörer und Hörerinnen zu sich selbst über das Stadium schuldbewusster Selbstreflexion hinausführen. Dabei könnte deutlich werden, dass sogar der Topos der Heiligung wachsenden Respekt gegenüber dem eigenen Leben impliziert.

Ich komme an den Anfang zurück: Die Erörterung der »homiletischen Situation« gehört um einer lebensdienlichen Predigt willen zweifellos zur Standardroutine der Predigtarbeit. Nur so können Predigten – ohne damit ihre einzige Funktion zu markieren – Situationsveränderungen provozieren. Der Mensch bzw. ein bestimmtes Verständnis vom Menschen gehört jedoch in eine Situation immer schon mit hinein. Ohne eine stimmige, dem Menschsein des Menschen gerecht werdende Anthropologie können die Herausforderungen, vor die eine Situation stellt, nicht adäquat erfasst werden. Für ihr Verständnis ist es entscheidend, wie ein Mensch grundsätzlich gesehen und was von ihm erwartet wird, was ihm zugetraut und zugemutet werden kann, und ob theologisch verstanden und akzeptiert wurde, dass eine Predigt gut ist, wenn sie einen Menschen darin unterstützt, als Mensch zum Vorschein zu kommen.

Literatur: Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, München 72015; Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt am Main 112013; Wilfried Engemann, Als Mensch zum Vorschein kommen. Anthropologische Implikationen religiöser Praxis, in: Ders. (Hg.), Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der religiösen Praxis des Christentums (= WFTR 11), Göttingen 2016, 17–42; Wilfried Engemann, Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge, in: WzM 58 (2006), 28–48.

1. Advent

A

Römer 13,8–12:

Waffen des Lichts

Matthias Lobe

IEröffnung: Beginn des Kirchenjahres

Der erste Sonntag im Advent ist ein besonderer Tag im Erleben von vielen: Der Blick bekommt eine neue Richtung. Ging er im November zurück zu den Toten der Kriege und des eigenen Umfelds, zurück auch auf Fehler und Versäumnisse, wird er jetzt auf das große Leuchten von Weihnachten hin justiert. Woche für Woche wird es heller, kommt eine Kerze auf dem Adventskranz dazu, nähert man sich dem Fest. Dass mit diesem Tag auch ein neues Kirchenjahr beginnt, mag nur Kennern der christlichen Tradition bewusst sein. Es signalisiert aber, dass hier ein Anfang gesetzt wird. Die Evangeliumslesung dieses Sonntags erzählt davon, wie Jesus in Jerusalem auf einem Esel einzieht und jubelnd vom Volk begrüßt wird. Bemerkenswert: Dieselbe Geschichte steht auch am Palmsonntag im Mittelpunkt: »Mit dem Einzug in Jerusalem erreicht Jesus den Ort, an dem er hingerichtet und auferweckt werden wird« (Josuttis, 10). An beiden Sonntagen geht es um den Beginn eines bedeutungsvollen Weges.

Von Aufbruch und Neuanfang kündet auch das beliebte Wochenlied: »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit« (EG 1), und der Predigttext redet davon, »dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf« (Röm 13,11). Er fordert dazu auf, aufzustehen, abzulegen (die Werke der Finsternis) und anzulegen (die Waffen des Lichts). Hier ist plötzlich eine mitreißende Dynamik im Raum, die so gar nicht passen will zum besinnlichen Charakter des Advents als einer Zeit des Wartens auf das große Fest. Es soll jetzt schon ganz viel passieren, weil »die Stunde da ist« (V. 11), im Bild gesprochen: der neue Tag bereits »nahe herbeigekommen« (V. 12).

IIErschließung des Textes: Das Fundament des Aufbruchs

Die fünf Verse aus dem Römerbrief des Paulus sind ausgesprochen gehaltvoll. Sie erweisen sich als Fundament, als tragende Basis für den ausgreifenden Aufbruch, den Jesu Auftritt in dieser Welt und den sein blutiges Ende am Kreuz von Golgatha darstellt. Dieses Fundament ist von Jesus selbst gelegt und gelebt worden. Paulus formuliert es als theologische Einsicht, als religiöse Wahrheit: Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.

Man kann zwei Abschnitte unterscheiden: VV. 8–10 stellen die Liebe in ihrem Verhältnis zum Gesetz dar; die VV. 11–12 formulieren die Folgerungen, die sich aus dieser Verhältnisbestimmung ergeben. Im ersten Abschnitt geht Paulus auf die prinzipielle Bedeutung der Liebe als einer religiös-ethischen Haltung ein, wie sie von Jesus formuliert und gelebt worden ist. In radikaler Reduktion hat Jesus die Liebe als bestimmende Haltung im Verhältnis von Mensch und Gott sowie von Mensch und Mitmensch herausgestellt. Als Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gebot formuliert er das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,34–39), das er als Summarium von Prophetie und Thora exponiert. Im Gleichnis vom Weltgericht macht er die religiös-ethische Doppelvalenz der Liebe anschaulich, insofern die Haltung zu Gott von der Haltung zum Mitmenschen untrennbar ist: Religiöse und ethische Dimension liegen ineinander, sind untrennbar miteinander verschränkt. Der auferstandene göttliche Richter spricht: »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40).

Paulus geht auf dieses Verständnis Jesu ein, wenn er die traditionellen Gebote des Dekalogs auf das Liebesgebot bezieht (V. 10). Wenn er die Liebe als »Erfüllung« dessen bezeichnet, was traditionellerweise das Verhältnis von Gott und Mensch bestimmt, nämlich das »Gesetz«, dann geht er wieder auf ein Jesus-Logion zurück: »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen« (Mt 5,17). Paulus vollzieht hier die gedankliche Umorganisation des bisher geltenden religiösen Systems: Nicht mehr »Gesetz«, Regel und Norm, sondern »Liebe«, Gewissen und Empathie sollen einen Menschen im Leben leiten und zu Gott hin führen.

Im zweiten Abschnitt kommt Dringlichkeit hinein. Auf die Einsicht in das neue Fundament folgt eine Sequenz von Appellen: »das tut« (V. 11) – und zwar nicht irgendwann, sondern: sofort, »denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden« (V. 11). Paulus kleidet diese Nähe des Heils in die Metapher von Tag und Nacht (V. 12): Die heillose Zeit (Nacht) ist beinahe verstrichen, die Heilszeit (Tag) steht unmittelbar bevor. Ihr entsprechen die notwendig zu ergreifenden Maßnahmen: das Ablegen der »Werke der Finsternis« und das Anlegen der »Waffen des Lichts«.

IIIImpulse: Das Zwielicht

Die Metaphorik von Tag und Nacht auf das existenzielle Durchleben einer Vorbereitungszeit wie den Advent zu beziehen, scheint mir ein lohnender Versuch zu sein, den Text zu aktualisieren.

Werkstück Predigt (Predigtanfang)

Es ist Advent. Ein kleines Licht ist uns gegeben. Ein Anfang ist gemacht. Warten und Sehnen haben eine Richtung bekommen. Das große Fest wirft seinen Glanz schon auf die Zeit davor. Es ist schwer auszuhalten, dieses Warten und Sehnen, dieses Davor-Sein. Überall werden schon Weihnachtsbäume aufgestellt und Weihnachtslieder gespielt, es wird gegessen und getrunken, als sei das Fest bereits in vollem Gange. Die Balance einer langsamen Annäherung ist schwer zu halten. Wir greifen ungeduldig nach dem, was wir haben wollen. Es ist schwer, dieses Warten und Sehnen als eigene Zeit zu erkennen und zu begehen. Das Bild der Nacht, die sich immer mehr ihrem Ende nähert, die immer mehr dem Licht des Tages weicht, passt auf viele solcher Lebenssituationen, in denen wir versuchen, eine Balance zu halten. Eigentlich können wir nur mit Nacht oder Tag etwas anfangen, die Dämmerung bereitet uns Schwierigkeiten. »Die Nacht ist vorgerückt, der Tag nahe herbeigekommen.«

Aber es ist noch nicht Tag, und es ist auch nicht mehr dunkle Nacht. Morgengrauen, Morgendämmerung, vergehende Nacht, Zwielicht. Die Stimmung dieser Stunden ist Aufbruch und Bewegung. Das Sehnen und Warten legt sich in Aktivitäten hinein. Es gilt, den Übergang von Nacht auf den Tag hin zu vollziehen, den Übergang von Müdigkeit und Resignation zur Wachheit und Zuversicht zu gestalten, die Fesseln der Schuld und Schuldverstrickung zu lösen und sie von sich zu werfen. »So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts!«

Die Worte des Paulus tun so, als ginge das einfach: die Nachtseite unseres Lebens abzulegen wie einen Mantel – wie ein Kleidungsstück, das nicht man selbst ist, sondern, in das man nur gehüllt ist, das wegzunehmen, nur eines Entschlusses bedarf – aber: So ist es ja nicht! Paulus ist forsch, wenn er trotzdem so formuliert. Doch gerade das ist seine Absicht. Die Nachtseite deines Lebens, deine Schuld und deine Resignation, deine Hoffnungslosigkeit und deine trüben Gefühle, deine Schwäche und Mattheit, deine dunklen, unheimlichen Seiten, von diesem allen sich einmal vorzustellen, man legte sie ab wie einen alten Mantel – zu dieser kühnen Vorstellung verleitet uns Paulus. Die Waffen des Lichts liegen ja schon bereit! Ich bleibe nicht lange nackt und schutzlos, wenn ich meinen Kokon aus Verstellungen abgelegt habe: Sie liegen da, diese »Waffen«, mit denen man keine Schlacht auf dem Felde gewinnen, aber seinem Leben eine Wendung geben könnte: die Liebe und das Vertrauen, die Nachsicht und die Geduld, die Zuversicht und die Fröhlichkeit. Sie leuchten und blitzen einen verlockend an. Die Nachtseite ablegen wie einen alten Mantel und die leuchtenden Waffen des Lichts anlegen, die Nacht hinter sich lassen und dem Tag entschlossen entgegen zu gehen – ist das der Sinn von Advent, solche Pläne zu schmieden und solche Kühnheiten zu erwägen? Dann wären wir wirklich schlecht beraten, auf ihn zu verzichten.

Liedvorschlag: EG 19 »O komm, o komm, du Morgenstern«.

Literatur: Manfred Josuttis, Erleuchte uns mit deinem Licht, Gütersloh 2009.

B

Johann Hinrich Claussen

IVEntgegnung: Mit dem Anfang anfangen oder mit dem Ende?

Es gab in Polen einmal einen schönen Disput zwischen einem großen Dichter und einer großen Dichterin, der ein Licht auf den Predigttext wirft. Czesław Miłosz nämlich soll einmal zu Wisława Szymborska gesagt haben, er beginne beim Schreiben seiner Gedichte stets mit dem Anfang, dem ersten Satz, dann schreite er Vers für Vers voran. Darauf soll sie geantwortet haben: ›Und ich fange oft mit dem letzten an. Und dann ist es sehr schwer, sich zum Anfang des Gedichts hochzuarbeiten.‹

So kann man die Predigtaufgabe für den ersten Advent ebenfalls von vorn beginnen oder von hinten. Man kann mit der Liebe als der Erfüllung des Gesetzes anfangen und sich dann Schritt für Schritt vorantasten. Wohin würde man dann am Ende gelangen? Oder man kann mit dem nahenden Tag beginnen und sich im Folgenden zurückzuarbeiten versuchen. Ob man es auf diesem Wege schließlich zurück zur Liebe schafft?

So zufällig und diskussionsbedürftig die Zuschneidung von Predigttexten auch immer ist – hier handelt es sich ja um einen fließenden Paulus-Text, der in der Luther-Bibel in zwei Teile aufgegliedert ist –, wäre es gerade in diesem Fall eine besonders wichtige Aufgabe, Anfang und Ende zusammenzubinden. Dabei würde ich jedoch eher beim Ende einsetzen. Ich würde nicht mit einer Erörterung über die christliche Liebe und die Erfüllung des Gesetzes starten wollen. Dringlicher, strittiger, relevanter ist für mich das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Zeitenwende. Ob es die Bedeutung der Liebe neu klar werden lässt?

Allerdings würde ich dabei anders als A weniger den Akzent auf den Beginn des Kirchenjahres, die besondere Atmosphäre des Advents und das Warten auf das Weihnachtsfest legen – so reizvoll und sinnvoll das auch grundsätzlich ist. Ich würde eher eine Stimmung bedenken, die nicht nur mich oft genug beherrscht: Etwas Altes geht vorbei, etwas Neues beginnt – und dies löst Angst und Sorge aus.

VErschließung der Hörersituation: Angst und Sorge, Freude und Hoffnung

Welche Stimmung wird im Kirchraum sein, wenn wir 2019 den ersten Advent feiern? Sicher werden viele Gottesdienstbesucher und ‑besucherinnen mit ihren alljährlichen Adventsempfindungen kommen, mit nostalgischen Erinnerungen, einer vielfältigen Vorfreude, der Sehnsucht nach einer Heimat, die noch vor uns liegt. Doch was geschieht mit solchen Stimmungen, wenn diese Worte zu Gehör gebracht werden: »ihr habt die Zeit erkannt«, »die Stunde ist da«, »steht auf vom Schlaf«, »die Nacht ist vorgerückt«, »der Tag ist nahe herbeigekommen«, »Waffen des Lichts«. Paulus weist mit diesen Worten auf die alles entscheidende Wende zum Guten hin. Gewiss, es wird auch eine Zeit der Bedrängnis und des Kampfes sein. Aber wenn die Nacht überstanden ist – und gleich bald soll es soweit sein –, dann ist der Tag des Heils da. Ob das unsere Adventsgemeinden auch so empfinden werden? Oder ist es nicht wahrscheinlicher, dass sie aus diesen Worten im Gegenteil etwas Dunkles, Drohendes heraushören werden? Was immer in den Wochen vor diesem Advent an Konkretem geschehen sein wird – man muss kein Prophet sein, um sich vorzustellen, dass bei bewusst lebenden Christen mehr Zukunftsangst und weniger Zukunftsfreude das bestimmende Gefühl sein wird. Ich muss die vielen, vielen Details der Umweltzerstörung hier nicht aufführen. Sie sind ja allgemein bekannt. Aber heißt das auch, dass wir die Zeit erkannt haben?

Eine besondere homiletische Aufgabe besteht an diesem Tag, wie eigentlich bei jeder Predigt darin, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich darauf einzustellen. Und die Zeichen, die alle anderen überlagern und beherrschen, weil sie schlechthin fundamental sind, heißen: Erderhitzung, Verbrauch der Lebensgrundlagen, Auslöschung anderer Geschöpfe. Zugleich kann man das nicht an jedem Sonntag zum alleinigen Thema machen. Man würde sich nur ewig wiederholen, andere nicht mehr erreichen und sich am Ende selbst nicht mehr zuhören. Man würde die Fülle dessen, was man in einem Gottesdienst denken, fühlen, glauben, schmecken würde, auf ein einziges Thema konzentrieren. Man würde sich selbst und die anderen lähmen. Und kann es sinnvoll sein, wenn wir in einem Gottesdienst nicht mehr feiern, träumen, lachen und uns freuen?

Jeder Gottesdienst ist ein Fest, für den ersten Advent gilt dies ganz besonders. Und jedes Fest des Glaubens besitzt ganz eigene Kraftquellen, ohne die wir verdorren würden. Deshalb lautet die vielleicht wichtigste homiletische Herausforderung unserer Zeit darin, eine Balance zu finden zwischen der eindringlichen Zeitansage und dem Zuspruch einer Hoffnung. Beides bringen die Gottesdienstbesucher und ‑besucherinnen ja doch selbst mit. Ihnen ist bewusst, in welchen Endzeiten wir leben und welchen Anteil wir selbst daran haben. Zugleich ist dieses Wissen so beängstigend und belastend, dass jeder von uns es oft genug beiseite schiebt. Deshalb ist es unerlässlich, dass in der Kirche dazu ein offenes, ehrliches, mutiges Wort gesagt wird. Zugleich bringen die, die zum Gottesdienst kommen, Erfahrungen davon mit, dass Umkehr möglich ist, dass wir in unserem eigenen Lebensumkreis Entscheidungen zum Guten treffen können und dass wir dabei nicht allein sind, sondern von Gottes Geist bewegt und begleitet werden. Auch dies soll in einer Predigt ausgesprochen, gewürdigt und mitgeteilt werden.

VIPredigtschritte: Ozeanische Liebe

Wenn man die Predigtaufgabe von hinten beginnt, wird man keine theologische Rede über die Rechtfertigungslehre und das Ende bzw. die Erfüllung des Gesetzes halten. Vielmehr würde der erste Schritt darin bestehen, den Ambivalenzen der Endzeitstimmungen nachzugehen: »Es kommt eine neue Zeit! Was wird sie uns bringen?« – Hier braucht es Klarheit, aber auch Sensibilität, um für sich selbst und die Gemeinde den Sinn zu öffnen für die Sorge um die Erde, die Ehrfurcht vor dem Leben und die Hoffnung, ›dass der Mandelzweig …‹

In einem zweiten Schritt könnte man nach den ›Waffen des Lichts‹ fragen, nach den Instrumenten des Guten suchen, mit denen wir das tun können, was uns an der Zeit zu sein scheint. Und da wäre es nicht schwer, zum Anfang zurückzugehen. Wie A gezeigt hat: Es gibt kein Gesetz, kein Regelwerk, das uns lehrt, das Rechte und Notwendige zu tun. Aber es gibt die Liebe, in der alles schon da ist: die Rettung, die Fülle und die Freude. Diese Liebe ist nichts Fremdes und Fernes, kein Zauberwerk und nichts, was man Fachleuten überlassen muss. Sie ist wie das Leben selbst – sie steht jedem offen. Sie ist nicht primär etwas, das man tut, sondern zunächst etwas, das man erfährt, das man dann aber als Kern des eigenen Lebens versteht – und sich entsprechend verhält.

Diese Liebe lebt zunächst im eigenen Nahbereich, in der Familie, im engen Kreis der besten Freunde. Gerade in der Adventszeit als einer Zeit des Wiedersehens ist es gut, daran zu erinnern. (Da die Liebe der Menschen nie ungebrochen ist, wäre es einen Nebengedanken wert, darüber nachzudenken, dass wir oft genug gerade denen ›etwas schuldig‹ bleiben, die wir lieben). Doch die Liebe, die niemandem etwas Böses tut, geht weit über uns und die Unseren hinaus. Sie ist eine transzendierende Kraft, kann den Nächsten in einem Fremden, sogar in einem Feind erkennen. Sie kann über alles Menschliche hinausgehen und das Leben selbst lieben und keinem Geschöpf etwas Böses tun wollen: den Tieren, den Pflanzen, den Landschaften, der Balance all dessen, was ist. Diese ozeanische Liebe, die keine mystische Exaltation ist, sondern diejenige Haltung, die heute geboten ist, würde uns zu Gott führen – als dem Grund und Ziel all dessen, was ist und sein soll.

Nicht für die unmittelbare Predigtvorbereitung, sondern einfach nur so, möchte ich auf eine außergewöhnliche Serie hinweisen, die in den Tiefen von Netflix verborgen liegt und die zu heben sich sehr lohnt. Sie versucht nämlich etwas bisher Undenkbares: Sie schildert die Geschichte einer ultraorthodoxen jüdischen Familie in Jerusalem, erzählt von missglückten Heiratsversuchen, schwierigen Ehen, fröhlichen Festen, Streit und Versöhnung zwischen den Generationen, der Suche nach Arbeit und Lebenssinn, dem Versuch, der Tradition gerecht zu werden und doch ein eigenes Leben zu führen, und dies in einem Alltag, der ganz im Zeichen einer konsequenten Observanz steht. ›Shtisel‹ ist ein wirklich ungewöhnliches Projekt, auch für Israel, wo strenggläubige und säkulare Juden sich häufig fremd gegenüberstehen und keinen Einblick in die Lebenswelt der anderen haben. Die TV-Serie, die Yehonatan Indursky und Ori Elon 2013 geschaffen haben, schlägt da eine Brücke. Und zwar auf eine angenehm unaufgeregte Weise. Sie zeigt Menschen in ihrer ganz eigenen Welt, in ihrer Individualität, ihrer Frömmigkeit, ihren Lebenskrisen. Sie nimmt sie ernst. Dabei stammen die meisten, die mitgewirkt haben, nicht aus diesem Milieu. Die Schauspieler sind säkulare Juden, der Drehbuchautor sogar ein Palästinenser. Und doch kommen sie ihren fiktiven Charakteren sehr nahe, mit großer Sympathie. Das ist ungeheuer interessant, bewegend, manchmal ziemlich komisch und oft sehr traurig.

2. Advent

A

Lukas 21,25–33:

Zeichen des Anfangs

Doris Hiller

IEröffnung: Feine Umstellung

Das Evangelium ist in die zweite Reihe gerückt. Das ist die kleine, aber theologisch feine Umstellung der Perikopentexte zum zweiten Advent. Das Predigtgeschehen macht nicht mehr mit Weltuntergangsszenarien auf, sondern mit der alttestamentlichen Verheißung. Von den Erlösten des Herrn ist die Rede, die mit Jauchzen nach Zion kommen (Jes 35,10). Dies könnte darum (statt: Jes 63) Schriftlesung des Sonntags sein. Die apokalyptischen Bilder von Lk 10 beherrschen nicht die Szene. Sie sind gerahmt. Was auf uns zu kommt, kommt von wo her und weiß um das Zukünftige. Was auf uns zu kommt, geht vorbei, damit bleiben kann, was angesagt ist.

IIErschließung des Textes: Ende der Zeit – Anfang der Geschichte

»Wir sagen euch an den lieben Advent …« (EG 17). Die Geschichte konterkariert die Zeit. Im Advent vom Ende predigen, wenn alles auf den Anfang der Geschichte zuläuft, verstört. Dennoch ist es an der Zeit, letzte Dinge zu klären, um dann den Kopf frei zu haben für das Neue.

1. Letzte Worte

Die Perikope fällt unter die Endzeitreden. Die synoptischen Evangelien stellen diese letzten Worte Jesu im öffentlichen Wirken in ein apokalyptisches Szenario. Sie werden als theologische Deutung der Passion Jesu vorangestellt. Das lineare Zeitverständnis wird durchbrochen. Im Raum Gottes sind Leiden, Tod und Auferstehung, niederdrückende Angst und erhebende Freude, Himmlisches und Irdisches aufgehoben. Zeichenhaft wird deutlich, was sein wird.

Himmelszeichen waren schon immer als Ankündigung besonderer Ereignisse – bedrohlich wie erfreulich – gedeutet worden. Heute sind Sonnen- und Mondfinsternis, Sternschnuppen und Blutmond, flirrende Dauerhitze und Starkregen erklärbar. Dennoch bleiben fascinosum et tremendum auch bei dem aufgeklärtesten Menschen jenseits antik-religiöser Deutungsmuster bestehen. Weltuntergangsmetaphern begleiten die Berichterstattung. Unheilspropheten stehen zwar immer seltener in Fußgängerzonen. Weltuntergang wird heute in dark rooms gepredigt, im anonymen Raum jenseits der realen Zeit.

Die Sprache, die Jesu letzte Worte leitet, greift auf Vorbilder zurück, die weit in die Vergangenheit reichen, geprägt von Umweltmythen, die ebenfalls ein kulturelles Herkommen haben. So inszeniert etwa Joel 3 sprachlich, in der Bildmetaphorik und im theologischen Spannungsbogen ganz ähnlich: Verheißung des Geistes, apokalyptischer Schrecken, Wendung zu Gott als Wortgeschehen, Errettung. Die Dramaturgie des antiken Theaters von der Katastrophe zur Katharsis kann ebenfalls als literarische Parallele herangezogen werden. Wesentlich ist die mit den jeweiligen Begriffen verbundene ›Umwendung‹, die auch in Jesu Endzeitrede deutlich wird. Der theologisch übliche Begriff der Metanoia fehlt zwar, allerdings kann man die Perikope als eine dramatische Konkretion dessen verstehen, was Buße ist: Wende zu Gott, weil Gott sichtbar wird. Um sehen zu können, bedarf es einer entscheidenden Veränderung des Blickes.

2. Kopf hoch

Vorerst findet eine Wende im Redegeschehen statt. Zunächst spricht Jesus über die Menschen und Völker (VV. 25+26). Dann folgt die Anrede der Jünger bzw. der christlichen Gemeinde (VV. 28ff.). Aber es geht nicht um den besseren oder schlechteren Teil der Menschheit. Die Anrede an die Jünger zeigt beispielhaft die veränderte Haltung im Horizont des Reiches Gottes. Movens der Erlösung ist das Aufrichten, ein Heilungsgeschehen, wie es die gekrümmte Frau wortgleich zu Lk 21,28 in Lk 13,11 erlebt.

Während sich apokalyptisch alles zum Bösen wendet, in sich zusammenstürzt und die Menschen starr vor Angst sind, führt die Nähe des Reiches Gottes zu einer veränderten Haltung. Umkehr ist mehr und anderes als das Drehen um die eigene Achse. Die Wendung richtet auf. Mit dem geforderten Heben des Kopfes wächst der Mensch über sich hinaus hin zu Gott. Im griechischen Text steht kein Verb für ›sehen‹, aber das Aufrichten gibt den Blick frei. Der Schlüsselvers der Perikope (V. 28) löst das Szenario des Untergangs auf. Er sagt nicht das Gericht, sondern die Erlösung auf den Kopf zu. Interessant ist auch hier die Zeitstruktur. Der Untergang wird nicht abgewartet. Christen ducken sich nicht weg, blicken aber auch nicht von oben herab auf das, was geschieht. Wenn es anfängt, dann sollen sie sich aufrichten. Sie können im Chaos der Welt den Überblick bewahren, weil sich Erlösung ankündigt. Das Verb ›nahen‹ ist in eschatologischen Texten geläufig und wird im Präsens verwendet. Damit ist die zeitliche Logik erneut unterbrochen. Was sich nähert, ist eigentlich noch nicht da, müsste somit futurisch bestimmt sein. Eschatologisch Nahes ist bereits da und enthebt der Zeit, womit die letzten Worte zu ersten, bleibenden – weil der Zeit enthobenen – Worten werden.

3. Was bleibt

Die letzten Worte werden in Geschichte eingeordnet. Das Gleichnis vom Feigenbaum, das vermutlich von Anfang an in Zusammenhang mit dem vorherigen Szenario überliefert ist (vgl. Mk 13) und deshalb beim Verlesen der Perikope nicht wegfallen sollte, wirkt vergleichsweise harmlos. Der Feigenbaum wird neutestamentlich oft in eschatologischen Kontexten gebraucht (vgl. Lk 6,44; Lk 13,6ff.; Mk 11,12ff.). In Lk 21 relativiert das Gleichnis die Panik. Auf das Ausschlagen der Bäume folgt der Sommer, der in der Klimazone Palästinas plötzlich kommt. Soweit, so normal. Es gibt Zeichen, die das Reifen der Frucht anzeigen und Zeichen dafür, dass die Zeit reif ist. Was passiert, ist nur von vorübergehender Dauer (c’est passé). Die Worte vom Ende spielen im Vorletzten, nicht im Letzten. Dieses naht nicht als Katastrophe, sondern als Sommer. Plötzlich ist nicht der Untergang, dieser kündigt sich an. Plötzlich geschieht die Wende zum Guten: Erlösung naht.

Lukanisch redaktionell wird der nahende Sommer allerdings mit einem »schon« (V.30 ēdē; anders Mk 13,28) versehen, das anzeigt: Es geschieht alles in der Zeit, die von Gottes Geschichte umgriffen ist. Was in der Zeit (›Geschlecht‹ meint Zeitalter, vgl. Bovon, 193) ist, ist endlich. Jesu Worte überdauern die Zeit und kennen kein Ende. VV. 32+33 können als vereinzelte Sentenz Jesu (vgl. Mt 5,18) angesehen werden, die hier als Zusammenfassung des Geschehens eingefügt worden ist. Das Vergehen von Himmel und Erde öffnet einen neuen Resonanzraum in der Geschichte, die anfängt, zu geschehen (V. 28).

IIIImpulse: Gottes Erzählraum

Noch befinden wir uns in der Zeit. Die Abläufe sind normal und wiederkehrend. Wie auf grünende Bäume der Sommer folgt, kommt nach der Adventszeit Weihnachten. Noch leben wir im Wenn-Dann-Modus, der nur dadurch gestört ist, dass wir es kaum erwarten können, nach dem Sommer schon die ersten Zeichen in den Supermarktregalen zu sehen. Damit aber verwischen die Zeichen der Zeit im Banalen und scheinbar Unendlichen. Advent durchbricht das immer Wiederkehrende. Die Erwartung des Kommenden dauert in der Zeit. Aber im Warten sieht der Glaube unbeirrbar von noch so gewaltigen Verwirbelungen weiter. Im Advent – Zeit der Buße – sieht der Glaube über die Zeit hinaus eine Nähe, die gegenwärtig ist. Es ereignet sich Weltbewegendes. Die Zeit beugt sich dem Raum. Was naht, ist nicht eine neue Zeit, die dann doch wieder nur, entsprechend unseres beschränkten Denkvermögens, linear verläuft, um nach vorne gebeugt, dem Schicksal ergeben, das erwartbare Ende abzusehen. Was eschatologisch nahe und darum schon da ist, ist ein Raum: Reich Gottes.

Lukanische Geschichtstheologie spielt mit den Anfängen in Raum und Zeit. Man beachte schon die Haltungen der Hirten in der lukanischen Weihnachtsgeschichte: Ein himmlisches Schauspiel holt sie aus ihrer schläfrig-gebückten Hüte-Lethargie. Sie erschrecken, sehen dann aber zum Himmel. Wahrscheinlich müssen sie sich noch einmal bücken, wenn sie das Kind in der Krippe sehen wollen. Sie tun es aber aus der Erfahrung des erhobenen Hauptes im Licht der Rettung. Der Anfang liegt zeichenhaft in der Krippe: ohne Menschwerdung kein Menschensohn, der in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit kommt (V. 27). Der Anfang hängt zeichenhaft am Kreuz: Im tiefsten Erschrecken ist der Glaube genötigt, aufzusehen zu dem, der am Kreuz hängt und zu erkennen, dass da mehr ist (Lk 23,47). Der Anfang wälzt zeichenhaft den Stein vom Grab: Leben bekommt nicht Zeit zurück, sondern Raum über die Zeit hinaus. Der Anfang hebt die Häupter weit empor gen Himmel (Lk 24,51).

Mitten im Advent beginnt das Ende der Zeit. Jesu letzte Worte wollen als erste Worte erzählt werden. Sie stellen als Anfangsworte in den Raum der Gottesgeschichte, die zum befreienden Erzählraum für Erlösung wird.

Werkstück Predigt

Literatur: François Bovon, Das Evangelium nach Lukas: Lk 19,28–24,53 (EKK III/4), Neukirchen-Vluyn 2009.

B

Wiebke Bähnk

IVEntgegnung: »Die Zukunft kommt uns mit Karacho entgegen.«

›Ich sorge mich nicht um die Zukunft. Sie kommt früh genug.‹ So steht es auf einer Postkarte, die ein Freund mir in diesen Tagen geschickt hat. Aber dieses Zitat – Albert Einstein zugeschrieben – trifft mein aktuelles Zeitgefühl nicht. »Die Zukunft kommt uns mit Karacho entgegen« (DIE ZEIT Nr. 20/2019, 9.5.2019, 7) bringt es dagegen auf den Punkt. Ein tiefes Krisenbewusstsein ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Durch die Perikopenrevision mögen die apokalyptischen Bilder von Lk 21 in der Ordnung des Gottesdienstes nicht »die Szene beherrschen« (A I). Aber »Weltuntergang« wird nicht nur »in dark rooms gepredigt, im anonymen Raum jenseits der realen Zeit« (A II), sondern erscheint im Sinne des zu erwartenden Zusammenbruchs der ökologischen Ordnung unserer Welt und damit auch unserer Lebensgrundlagen als Bestandteil der öffentlichen Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation. Denn »noch nie, seit es Menschen auf dem Planeten gibt, ging es der Natur so schlecht wie heute« (Todesursache: Mensch, in: DIE ZEIT Nr. 20/2019, 9.5.2019, 41, über den Global Assessment Report der UN).

In diesen Resonanzraum treffen die Bilder von einer sich auflösenden Ordnung von Welt und Kosmos aus Lk 21. Und wie dort geht es um die Deutung der Zeichen und um die Haltung angesichts dessen, was sich andeutet. Gegen die Angst vor einem sich anbahnenden Ende der Welt setzt Jesus die Zeichen in den Horizont des kommenden Menschensohnes und des Reiches Gottes. Nicht vom Ende künden die Zeichen, sondern vom Anfang, nicht von Vernichtung und Tod, sondern von Leben und Zukunft. Und deshalb ist auch nicht Angst die adäquate Reaktion, sondern das hoffnungsvolle Aufsehen und Erheben der Häupter in Erwartung des Kommenden. Trotz der ›Weltuntergangsbilder‹ aus Lk 21,25f und der Klage über den Zustand der Welt aus Reihe IV (Jes 63,15–64,3) ist der zweite Advent auf diesen Ton der Hoffnung und frohen Erwartung gestimmt: Er erklingt in der Verheißung aus Jes 35,3–10 und in der Aufforderung aus Lk 21,28: »Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.« Dieser »Schlüsselvers der Perikope löst das Szenario des Untergangs auf. Er sagt nicht das Gericht, sondern die Erlösung auf den Kopf zu.« (A II/2) Darin, dass es angesichts dieses jesuanischen Reframing der endzeitlichen Zeichen in der Predigt um die »veränderte Haltung im Horizont des Reiches Gottes« geht, möchte ich A folgen. Der Akzent liegt darauf, dass Gott nahe ist – »schon ist nahe der Herr« (EG 17) – und mit ihm sein Reich, wobei zu fragen ist, was die eschatologische Rede vom Nahesein (V. 31) meint. Und was sie bedeutet für unsere Haltung angesichts der Zeichen unserer Zeit.

VErschließung der Hörersituation: »Seht, die gute Zeit ist nah« oder »O, Heiland, reiß die Himmel auf«

›Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.‹ Die Worte der 16-jährigen Greta Thunberg auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2019 kennzeichnen das Krisenbewusstsein, das sich in diesem Jahr auf ungeahnte Weise ausgebreitet hat, in besonderer Weise unter jungen Menschen. Jeder Freitag wird zum ›Friday for future‹. »Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es in 150 Ländern synchrone Demonstrationen auf Grund einer gemeinsam empfundenen Bedrohung.« (Gestrich, 252) Ob diese in der Adventszeit auf Grund einer vorweihnachtlich stärkeren Sensibilisierung noch bewusster wahrgenommen wird und sich eine Sehnsucht nach Veränderung ausbreitet oder ob diese Zeit einen Rückzug vor der Realität in eine traute Seligkeit von Kerzenschein und Kindheitserinnerungen fördert, wird sehr unterschiedlich sein.

Entsprechend differenziert wird auch das (ver)störende Potenzial von Lk 21 am 2. Advent zu sehen sein, abgesehen davon, dass der Blick auf ein endzeitliches Kommen Jesu Christi für die meisten Predigthörerinnen und ‑hörer ohnehin fremd geworden ist. »Seht, die gute Zeit ist nah, Gott kommt auf die Erde« nicht nur im Horizont der erwarteten Geburt im Stall, sondern unter dem Vorzeichen des zur Vollendung des Reiches Gottes kommenden Herrn zu predigen, ist die nicht geringe Herausforderung. Dabei geht es darum, angesichts der Zeichen unserer Zeit die durch Jesu Worte ermöglichte Haltung zu vermitteln; gegen die Angst vor der erkennbaren Auflösung der Ordnungen der Welt die Hoffnung auf den kommenden Gott und sein veränderndes Handeln in seinem Reich zu setzen sowie den daraus erwachsenden Impuls zu eigenen transformierenden Handlungsweisen (vgl. Moltmann, 23).

VIPredigtschritte: »Es ist Zeit für Hoffnung und Mut!«

1. »Auf Erden wird den Völkern bange sein«

»Eine aktuelle Studie kündigt das mögliche Ende der Menschheit an. 21 Wissenschaftler veröffentlichten die Studie in der Zeitschrift ›Nature‹. Klimaerwärmung, Ausbeutung von Ressourcen, Bevölkerungswachstum führen zu einem Kipp-Punkt. Die Biologie der Erde wird sich mindestens so radikal ändern wie nach der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren. Steht uns ein Massensterben bevor wie jenes, das in einer fernen Vergangenheit die meisten Arten in einem geologischen Wimpernschlag ausgelöscht hat?«

Mit diesen Worten beginnt der Film ›Tomorrow‹ aus dem Jahr 2015. Wie Menschen auf diese ›Zeichen der Zeit‹ reagieren, hängt an der jeweiligen Deutung. Als Zeichen von Ende und Vernichtung verstanden, wird die Reaktion wesentlich Angst sein. (vgl. Lk 21,25f.) Ängste führen entweder zu Resignation und Lähmung oder zur Leugnung der Realität. Beides ermöglicht bzw. motiviert eher keine wesentlichen Veränderungen des eigenen Handelns.

2. Eine andere Lesart für die ›Zeichen der Zeit‹?

Die Worte aus Lk 21 geben eine Lesart an, die mit dem Kommen Gottes und seines Reiches rechnet, die darauf vertraut, dass sich nicht das Ende der Welt ankündigt, sondern vielmehr ihre Zukunft (Lk 21,31). Diese Lesart der Worte Jesu bleibt auch gegen alles, was ihr zu widersprechen scheint, gültig (Lk 21,33). Was aber ändert sich durch sie? Statt Angst wird Hoffnung zur bestimmenden Haltung. Die sich ausdrückt im erhobenen Haupt, das nach oben und nach vorne schaut – Gott entgegen und den Herausforderungen der Zeit ins Gesicht (Lk 21,28). Und im aufrechten Gang, der sich nicht gefangen nehmen lässt von den ›Sachzwängen‹ unserer Wirtschaft und Gesellschaft.

3. »… so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.«

Das Gleichnis vom Feigenbaum (Lk 21,29f.) verweist darauf, dass das, was sich ankündigt, nicht ausschließlich zukünftig ist, sondern in der Gegenwart schon präsent und auf Vollendung angelegt. Wenn die ersten Knospen zu sehen sind, ist das volle Laub der Bäume schon im Werden. Wenn in Lk 21,31 von dem sich zeichenhaft ankündigenden ›nahen‹ Reich Gottes die Rede ist, dann ist in der Gegenwart bereits angelegt, was sich in der Zukunft endgültig verwirklichen wird.

›Nahe‹ verschränkt Präsens und Futur; besonders im Lukasevangelium ist die Überzeugung entschieden festgehalten, dass das Reich Gottes in Jesus angebrochen und seitdem schon »mitten unter uns« ist (Lk 17,21). Das Kommen Gottes wird das, was bereits angebrochen ist in Jesu Worten und Wundern, in Heil und Leben, das er gebracht hat, zur endgültigen Durchsetzung bringen gegen alles, was es noch hemmt und hindert.

4. »Von der Hoffnung inspiriert« leben und handeln

Hoffnung auf umfassende Veränderung macht Mut, selbst Veränderungen mit anzupacken. Eine »transformative Eschatologie« führt zu »entsprechend transformierendem Handeln«, wenn menschliche Haltung und Handlungen »von der Hoffnung inspiriert zur Antizipation des kommenden Reiches« werden (Moltmann, 23f.). Wie sieht das konkret aus? Der Film ›Tomorrow‹ hat einen Mut machenden Untertitel: ›Die Welt ist voller Lösungen‹. Die in diesem Film vorgestellten ›Lösungen‹ zeigen eindrücklich, wie heute schon durch engagierte Einzelpersonen und Gruppen in den Bereichen Ernährung, Energie, Wirtschaft, Stadtplanung, soziale Gerechtigkeit, Bildung, demokratische Teilhabe Leben gestaltet werden kann, das in vielen Zügen einem Miteinander in »Gerechtigkeit, Frieden und Freude« (Röm 14,17) entspricht und zwar zwischen Menschen wie zwischen Menschen und der Schöpfung.

Von diesen ›Lösungen‹ lässt sich erzählen: Von Projekten urbaner Landwirtschaft in Detroit, in denen Menschen in einer wirtschaftlich heruntergekommen Stadt Verantwortung für ihre konkrete Lebensgrundlage wie auch für ihr gemeinschaftliches Lebensgefühl übernehmen. Statt in einer sterbenden Stadt leben sie auf eine lebenswerte Zukunft zu. Von der Stärkung kommunaler Gemeinschaft durch lokale Währungen in Basel und Todtnes, UK. Von den Wegen zur Unabhängigkeit vom Erdöl durch die Teilhabe der Bevölkerung an Windkraftanlagen in Dänemark. Oder von einem finnischen Schuldirektor, der als wichtigstes Ziel der Schulbildung angibt: Die Schüler sollen lernen, dass jeder Mensch gleich wichtig ist, Toleranz entscheidend und vor allem die gegenseitige Liebe.

Die Zukunft im Reich Gottes liegt nicht auf der Verlängerung menschlichen Handelns; aber seine Gestalt kann und soll mitten in dieser Welt Leben prägen. Das heißt »rechtes Sein im Horizont des kommenden Reiches« (Gäckle, 118). In der Konkretion wird das Reich Gottes von Utopie zu einer Heterotopie, einem Raum, der anders ist, als das, was ihn in der Gesellschaft umgibt, der »eine bessere Zukunft vorweg(nimmt)« (Ostheimer, 25) und von der Möglichkeit kündet, dass diese Zukunft Gottes schon in die Gegenwart hineinwirkt: »Die Dinge nicht so zu nehmen wie sie sind, sondern sie so zu sehen, wie sie in jener Zukunft (des Herrn) sein können, und dieses Sein-Können jetzt zu realisieren, heißt der Zukunft gerecht zu werden.« (Moltmann, 26)

5. ›Es ist Zeit für Hoffnung und Mut‹

›Es ist Zeit für Hoffnung und Mut‹ ist ein Wahlslogan zur Europa-Wahl im Mai 2019. Den ›Zeichen der Zeit‹ mit erhobenem Haupt, aufrechtem Gang, mit Hoffnung und Mut zur Veränderung zu begegnen, ist angesagt. Diese Haltung ist Gott sei Dank kein Alleinstellungsmerkmal des Glaubens. Auch die vielfältigen ›Lösungen‹ in ›Tomorrow‹ sind mehrheitlich nicht religiös begründet. Aber die Hoffnung auf das Kommen Gottes, auf die Nähe seines Reiches, auf sein ›Entgegenkommen‹, motiviert und bestärkt unsere christliche Verantwortung und unseren Mut, uns für die Veränderungen einzusetzen, die seine Zukunft antizipieren. »Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht« (Bonhoeffer, 24).

Liedvorschläge: EG 17 »Wir sagen euch an den lieben Advent«; EG 18 »Seht, die gute Zeit ist nah«; EG 153 »Der Himmel, der ist«; EG 432 »Gott gab uns Atem«.

Literatur: Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh 131985; Volker Gäckle, Das Reich Gottes im Neuen Testament, Göttingen 2018; Reinhold Gestrich, Klimakrise, Psyche und Glaube. Vom notwendigen Wandel und der Schwerfälligkeit der menschlichen Natur, in: DtPfBl 5/2019, 252–255; Jürgen Moltmann, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010; Jochen Ostheimer, Zeichen der Zeit lesen. Erkenntnistheoretische Bedingungen einer praktisch-theologischen Gegenwartsanalyse, Stuttgart 2008.

3. Advent

A

Lukas 3,(1–2)3–14(15–17)18(19–20):

Alle Dinge müssen enden

Maike Schult

IEröffnung: Entscheidungen fällen

Der Advent hat eine endzeitliche Bedeutung. Das ist im Brauchtum der Gemeinden und im vorweihnachtlichen Spektakel von Verbrauchs- und Verzehrgesellschaften in der Regel nicht im Blick. Doch vom Kirchenjahr her gedacht und der mit ihm verbundenen eigenen Zeitrechnung ist der Advent eine Zeit der Erwartung auf eine Ankunft (adventus) hin, die mit bestimmten Vorbereitungen (Fastenzeit) und Fragen nach Buße und Gericht, nach dem Schrecken des Endes und dem Ende allen Schreckens verbunden ist. Der Zeitaspekt spielt dabei eine wichtige Rolle, und zwar in dem doppelten Verständnis, das für biblische Zeiterfahrung wichtig ist: als Chronos, als Zeitraum, Zeitdauer und Zeitspanne also, und als Kairos: als der Zeitpunkt, an dem eine Entscheidung fällig wird.

Diese Verschränkung von linearer und vertikaler Zeit bestimmt auch die vorliegende Perikope. Einerseits bemüht sich der Verfasser, die von ihm berichteten Ereignisse mit der historischen Zeit zu verbinden (Lk 3,1–2). Andererseits zeigt er an, dass diese historisch-chronologische Zeit, die gleichsam für alle gilt, doch eine besondere Zeit ist. Eine Zeit der Entscheidung, in der es darum geht, das Rechte zu tun und den entscheidenden Zeitpunkt nicht zu verpassen, weil eben nicht alle, sondern nur einige in den erwarteten neuen Zeit-Raum eintreten werden, wenn das Reich Gottes, die Basileia tou theou, kommt. Wer diesen Text predigt, muss sich daher entscheiden, wem er den Vorzug geben will: dem biblischen Text oder der vom Brauchtum geprägten Situation, die anderes zu hören, andere Bilder zu sehen, eine andere Stimmung zu erleben erwartet, als es die Perikope vorgibt. Lukas 3 ist damit ein Entscheidungstext. Er handelt von Entscheidungen in der Zeit, von der Gestaltung einer Lebenszeit, die begrenzt ist und eben durch ihre quantitative Begrenzung Fragen nach Lebensqualität und Lebensführung aufwirft. Das führt auch bei der homiletischen Arbeit zu Auswahl und Verzicht.

IIErschließung des Textes: Zeit für Entscheidungen

Das dritte Kapitel des Lukasevangeliums beginnt mit einer historiographischen Einordnung und verschränkt das Auftreten des Täufers mit dem »weltpolitischen Kalender« (Ratzmann, 26). Dieser Synchronismus (Lk 3,1–2) ist dem Erzähler wichtig, um seine ethischen Forderungen (Standespredigt: Lk 3,10–14) nicht losgelöst von Realitätserfahrungen zu erheben. Die historische Situierung und die heilsgeschichtliche Anordnung (Johannes der Täufer als Vorläufer Christi) wurden oft verhandelt, verleiten aber zu Einspurungen, die für die Predigt nicht produktiv sind:

1. Die Aufzählung weltpolitischer Szenarien aus der eigenen Zeitgeschichte (vom Holocaust bis zur Klimakatastrophe) macht die Realien zum bloßen Stichwortgeber und führt in fruchtlose Appelle.

2. Die Konzentration auf die Personen führt zu einer antithetischen Polarisierung und macht Johannes zu einem düsteren Drohbotschafter, von dem sich der Frohbotschafter Jesus umso heller abheben soll. Richtig ist, dass es Verbindungen zwischen beiden Gestalten gibt: Johannes und Jesus werben angesichts des erwarteten nahen Weltendes in nur kurzer Wirkungszeit für eine Umkehrtaufe. Sie lösen eine Bewegung aus, sammeln Menschen um sich, geraten mit religiösen und politischen Kräften in Konflikt und werden hingerichtet. Man kann annehmen, dass Jesus aus der Täuferbewegung hervorgegangen ist und die Taufe, aber auch bestimmte Sprachbilder von Johannes übernommen hat. Dabei setzt er eigene Akzente, die ihn von Johannes unterscheiden, ohne die Verbindung aufzulösen. Das lässt sich gut an einem Textvergleich zeigen, für den ich mich mit Blick auf das Predigtvorhaben entscheide und der zwischen These und Antithese einen dritten Zugang eröffnen soll: ein Vergleich der Buß- oder Umkehrpredigt des Johannes (Lk 3,7–9) mit dem Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum (Lk 13,6–9).