Predigtstudien 2021/2022 - 1. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2021/2022 - 1. Halbband E-Book

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Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen/Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

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Seitenzahl: 497

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Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

I Eröffnung

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

II Erschließung des Textes

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

III Impulse

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

Werkstück Predigt

B-Teil: Situationshermeneutik

IV Entgegnung

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

V Erschließung der Hörersituation

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

VI Predigtschritte

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

Werkstück Predigt

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.verlag-kreuz.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Konvertierung: Newgen Publishing Europe

E-book ISBN: 978-3-451-82484-5

ISSN 0079-4961

ISBN 978-3-451-60109-5

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Editorial

28.11.2021

1. Advent

Jeremia 23,5–8

Da kommt noch was!

Sven Petry/Helmut Aßmann

05.12.2021

2. Advent

Jesaja 63,15–64,3

Die Lebensdienlichkeit der Sehnsucht

Heinz-Dieter Neef/Birgit Weyel

12.12.2021

3. Advent

1 Korinther 4,1–5

Vom Geheimnis des Lebens

Albrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger

19.12.2021

4. Advent

Lukas 1,26–38(39–56)

Gnade macht Freude!

Stefanie Wöhrle/Nina Spehr

24.12.2021

Heiligabend (Christvesper)

Micha 5,1–4a

Das Geheimnis der Nacht

Konrad Schmid/Wilhelm Gräb

24.12.2021

Heiligabend (Christnacht)

Titus 2,11–14

Ziellinie Weihnacht?

Michael Tilly/Gerald Kretzschmar

25.12.2021

1. Weihnachtstag (Christfest I)

1 Johannes 3,1–2(3–5)

Gottes Wahlverwandtschaft

Frank Lütze/Manuel Stetter

26.12.2021

2. Weihnachtstag (Christfest II)

Jesaja 7,10–14

Das Fest geht weiter

Johannes Greifenstein/Georg Raatz

31.12.2021

Silvester (Altjahrsabend)

Matthäus 13,24–30

Anders wachsen

Friedrich-Wilhelm Horn/Sebastian Feydt

01.01.2022

Neujahrstag

Sprüche 16,(1–8)9

Befiehl du deine Wege…

Lukas Grill/Christiane Renner

02.01.2022

1. Sonntag nach dem Christfest

1 Johannes 1,1–4

In das Licht der Welt geworfen

Christian Nottmeier/Matthias Lemme

06.01.2022

Epiphanias

Johannes 1,15–18

Ende vom Lied: Gnade um Gnade

Harald Schroeter-Wittke/Inge Kirsner

09.01.2022

1. Sonntag nach Epiphanias

Jesaja 42,1–9

Lauschen lernen

Christof Jäger/Margrit Wegner

16.01.2022

2. Sonntag nach Epiphanias

1 Korinther 2,1–10

Christliche Weisheit und das offene Geheimnis Gottes

Katrin König/Frederike van Oorschot

23.01.2022

3. Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 8,5–13

Lebensmittel Barmherzigkeit

Dieter Beese/Hans-Joachim Petsch

27.01.2022

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

1 Johannes 2,7–11

Gedenken, erinnern, lieben: im Schatten der Finsternis

Ulrike Suhr/Hans Probst

30.01.2022

Letzter Sonntag nach Epiphanias

2 Mose 34,29–35

Das Strahlen der Gnade Gottes

Christina Ehring/Fabian Maysenhölder

06.02.2022

4. Sonntag vor der Passionszeit

Matthäus 14,22–33

Lichtwechsel/Glaubensdämmerung

Doris Hiller/Wiebke Bähnk

13.02.2022

3. Sonntag vor der Passionszeit (Septuagesimä)

Jeremia 9,22–23

Kurze Anleitung zum richtigen Rühmen

Martin Zerrath/Sonja Keller

20.02.2022

2. Sonntag vor der Passionszeit (Sexagesimä)

Hebräer 4,12–13

Schärfer als ein Filetiermesser

Tobias Sarx/Jennifer Marcen

27.02.2022

Sonntag vor der Passionszeit (Estomihi)

Markus 8,31–38

Nachfolgen, nicht Nachlaufen

Christina Weyerhäuser/Sonja Beckmayer

06.03.2022

1. Sonntag der Passionszeit (Invokavit)

2 Korinther 6,1–10

Das Paulusparadox

Wibke Janssen/Henning Theurich

13.03.2022

2. Sonntag der Passionszeit (Reminiszere)

Matthäus 26,36–46

Weckruf im Schatten der Nacht

Thomas Schlag/Ralph Kunz

20.03.2022

3. Sonntag der Passionszeit (Okuli)

1 Könige 19,1–8(9–13a)

Eifer verblendet

Ruth Poser/Kristin Merle

27.03.2022

4. Sonntag der Passionszeit (Lätare)

2 Korinther 1,3–7

Trutz dem alten Drachen

Angelika Obert/Anne Gidion

03.04.2022

5. Sonntag der Passionszeit (Judika)

Markus 10,35–45

Diakonie: Freiheit von der Konkurrenz

Stephanie Krause/Maximilian Baden

10.04.2022

6. Sonntag der Passionszeit (Palmsonntag)

Johannes 17,1–8

Die Stunde ist da: Der Augenblick als Ewigkeit

Doris Gräb/Johan Cilliers

14.04.2022

Gründonnerstag

1 Korinther 10,16–17

Nehmen Sie Platz! Es ist alles bereit

Ursula Roth/Martin Vorländer

15.04.2022

Karfreitag

Lukas 23,32–49

Der letzte Anblick und das letzte Wort

Matthias Lobe/Johann Hinrich Claussen

16.04.2022

Osternacht

Kolosser 3,1–4

Ein unwahrscheinlicher Freiheitsraum

Albert Gerhards/David Plüss

17.04.2022

Ostersonntag

Markus 16,1–8

Ostern ist eine Bewegung

Karsten Schaller/Emilia Handke

18.04.2022

Ostermontag

Jona 2,(1–2)3–10(11)

Lachen im Bauche des Fisches

Frank Thomas Brinkmann/Martin Gutmann

24.04.2022

1. Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti)

Kolosser 2,12–15

Verletzte Vollkommenheit

Kord Schoeler/Simon Kuntze

01.05.2022

2. Sonntag nach Ostern (Miserikordias Domini)

Johannes 21,15–19

Liebe auf Nachfrage? – Der notwendige unmögliche Auftrag an Petrus

Marcus Friedrich/Astrid Kleist

Vergleichstabelle zur neuen Predigtperikopenreihe IV

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Editorial

Der Verlag hat in einem Editorial Wilhelm Gräb für seine langjährige Tätigkeit als Geschäftsführer der Predigtstudien bereits gedankt und sein homiletisches Wirken gewürdigt (Elke Rutzenhöfer in Bd. III/1, S. 9). Für den Herausgeberkreis möchte ich gerne den Dank an Martin Kumlehn für seine Arbeit als Redakteur anschließen. Martin Kumlehn hat zwölf Jahre lang die Predigtstudien mit großer Sorgfalt und homiletischem Feingefühl begleitet. Das termingerechte Erscheinen der beiden Bände für jedes Kirchenjahr über den Zeitraum von zwölf Jahren lag in seiner Verantwortung. Für die Geschäftsführung, den Herausgeberkreis, den Verlag und die Autorinnen und Autorinnen ist der Redakteur die wichtigste Ansprechperson. Martin Kumlehn war darüber hinaus für die Predigtstudien als einer der wichtigen Predigthilfen auch bei der Mitarbeit an der Revision der Perikopenordnung gefragt. Wir sagen Dank für 24 Bände, die er betreut hat, und sind froh, dass er auch neben seiner erweiterten pfarramtlichen Tätigkeit den Predigtstudien weiterhin als erfahrener Prediger und routinierter Autor zur Verfügung stehen wird.

Die Corona-Krise hat den beruflichen und privaten Alltag der Prediger:innen und Autor:innen einschneidend und nachdrücklich geprägt. Unabhängig vom gottesdienstlichen Format waren und sind die Predigtstudien auch in dieser Zeit für viele das, was sie sein wollen: eine dialogische Hilfe für die eigene Predigt. Daher möchten wir an dieser Stelle auch ausdrücklich den Autor:innen danken, die unter teilweise schwierigen Bedingungen die zeitlichen und kreativen Freiräume für ihre Beiträge geschaffen haben. Das ist nicht selbstverständlich.

Für den Herausgeberkreis: Birgit Weyel

1. Advent – 28.11.2021

A

Jeremia 23,5–8

Da kommt noch was!

Sven Petry

IEröffnung: Alle Jahre wieder: Erinnern, Warten, Hoffen

Er ist gerecht, ein Helfer wert … Als im Corona-Advent 2020 der gottesdienstliche Gemeindegesang nach und nach verstummte, gehörten diese Worte zu jenen, die zuletzt verklangen. Kaum ein Adventsgottesdienst ohne »Macht hoch die Tür«. Und wenn schon nicht das ganze Lied gesungen werden kann, fällt die zweite Strophe eher selten weg, jedenfalls am 1. Advent mit dem passenden Wochenspruch aus dem Buch des Propheten Sacharja: »Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.« Alle Jahre wieder beginnt das Kirchenjahr mit der Verheißung des gerechten Herrschers und der Gerechtigkeit, die sich unter seiner Herrschaft ausbreitet. Im Corona-Jahr hat das Virus die Gerechtigkeitsfrage auf mancherlei Weise verschärft ins Gedächtnis gerufen oder neu aufgeworfen. Wie weit sind wir als Gesellschaft in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit wirklich, wenn die familiären Lasten der Krise überproportional von Frauen getragen wurden? War es gerecht, dass Friseursalons öffnen durften, Kosmetikstudios aber nicht? Dass Fachmärkte im Einzelhandel geschlossen blieben, während ihre Angebotspalette im Supermarkt neben Plätzchen und Glühwein weiter verkauft werden durfte? Kult blieb unter Einschränkungen und Auflagen öffentlich möglich, während Kultur in den Winterschlaf geschickt wurde. Waren die Priorisierungskriterien beim Impfen nicht nur richtig oder falsch, sondern auch gerecht? Und was schließlich die Frage nach Arm und Reich betrifft, kann auch in dieser Krise als Faustregel gelten: Wer viel hatte, hatte viel zu gewinnen, wer wenig hatte, hatte dagegen viel zu verlieren.

Wenn am 1. Advent 2021 die Verheißung des gerechten Sprosses aus dem Haus Davids immer noch zur Predigt anzuregen vermag, dann ist die Gerechtigkeit weiterhin nicht ausgebrochen. Die Verheißung des gerechten Herrschers geschieht dann immer noch auf Hoffnung hin. Eine Hoffnung, die für Christ*innen im Glauben gründet, dass sich die Verheißung des kommenden Königs in Jesus von Nazareth gleichwohl bereits erfüllt hat. Entsprechend ist die erste Hälfte des Predigttextes eine der als Lesungen für die Christvesper vorgeschlagenen Weissagungen. Erfüllte Ankunft und Hoffnung auf vollendende Wiederkunft sind in der Botschaft des Advents ineinander verwoben. Die Erinnerung an Vergangenes soll den Boden bereiten, aus dem Hoffnung auf und für die Zukunft emporsprießt. Alle Jahre wieder bedienen wir uns dazu eingeübter Traditionen und Rituale. Über das Erinnern des Vergangenen kann dabei der Blick in die Zukunft, über das Warten aufs Christkind das Warten auf Christus in Vergessenheit geraten.

IIErschließung des Textes: Zukunft jenseits des Gerichts

Ob die Gegenwart im Hintergrund der Verheißung des gerechten Sprosses in Jer 23,5–8 jene des historischen Propheten Jeremia oder eine literarische ist, ist für die Predigt zweitrangig. Das Prophetenwort konnte noch sechs Jahrhunderte später als Wort der Verheißung und Hoffnung gehört werden, weil sich Grunderfahrungen des Lebens seit den Tagen der letzten Könige von Juda nicht grundsätzlich geändert hatten. Das Exil dauerte an, ob nun als Leben in der Fremde oder als Leben unter Fremdherrschaft. Gerecht ging es nicht zu, man wartete auf bessere Zeiten.

Der Blick in die Zukunft und die Hoffnung auf bessere Zeiten sind von der Hoffnung auf einen neuen gerechten König nicht zu trennen. Zur Verheißung der neuen, der besseren Zeit greift der Prophet auf alte Vorstellungen zurück. Für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen ist nach dem im gesamten Alten Orient verbreiteten Herrschaftsverständnis die erste und vornehmste Aufgabe des Königs, die er im Auftrag Gottes auszuführen hat. Im weiteren Kontext des Predigttextes wird ausdrücklich festgestellt, dass Jojakim, der Sohn des großen Königs Josia, an dieser Aufgabe gescheitert ist (Jer 22,13–16). Falls hinter der Notiz am Ende des 2. Buches der Könige (2Kön 25,27–30) mit Jojakims Sohn und Nachfolger Jojachin verbundene Hoffnungen auf ein Wiederaufleben der Dynastie stehen sollten, würden diese durch Jer 22,30 entschieden zurückgewiesen. Und auch mit Zedekia, dem letzten König von Juda, kommt man in Sachen gerechter Herrschaft auf keinen grünen Zweig. Der Name des verheißenen gerechten Sprosses Davids (»der Herr ist unsere Gerechtigkeit«) scheint ausdrücklich gegen Zedekia gerichtet zu sein. Zwar führt auch dieser die Gerechtigkeit im Namen (»meine Gerechtigkeit ist der Herr«), trägt diesen Namen aber auf Anweisung Nebukadnezars (2Kön 24,17). Er hat seine Herrschaft nicht von Gott, er ist König von Babels Gnaden. Als Onkel seines Vorgängers ist er dynastisch ohnehin bestenfalls ein Aufguss, jedoch kein Neuanfang. Mit diesem Davididen ist kein Staat mehr zu machen.

»Es kommt die Zeit.« »Zu seiner Zeit soll …« »Siehe, es wird die Zeit kommen.« Die Verheißung des Neuen wird formuliert, da ist im Erzählzusammenhang des Jeremiabuches das Alte noch gar nicht vergangen, das Unheil des Untergangs von Tempel und Königtum noch gar nicht vollendet. Wann genau die besseren Zeiten kommen, auf die das Volk wartet, bleibt offen. Der gerechte Spross, mit dem die Zeit des Heils anbrechen wird, scheint noch nicht in Sicht, aber er ist ursprünglich auch keine Endzeitgestalt. Erst im Laufe der Jahrhunderte wird sein Kommen eschatologisch gedeutet, noch wird die Heilszeit in der Geschichte erwartet. Eine Heilszeit allerdings, die das bisher in der Geschichte Dagewesene überbietet.

Jenseits des Gerichts der Gegenwart sieht der Prophet eine Zukunft, in welcher der Angelpunkt der Beziehung Gottes zu seinem Volk nicht mehr die Herausführung aus Ägypten sein soll, nicht ein Ereignis der Vergangenheit, sondern ein zukünftiger, ein neuer Exodus, der das verstreute Volk »aus allen Landen« zurückführt. Und anders als nach dem ersten Exodus soll Israel dann nicht mehr bedroht sein, sondern sicher wohnen. Die kommende Heilszeit ist kein schrittweiser Umbau des Gegenwärtigen, auch nicht einfach die Wiederherstellung des Alten, die Rückkehr in ein (vermeintlich) goldenes Zeitalter. Gottes Taten in der Vergangenheit sind deswegen jedoch kein Schnee von gestern. Sie sind bleibender Bezugspunkt und Grund der Hoffnung auf Gottes Handeln in der Zukunft. Der Gegenstand dieser Hoffnung ist weder ihre Wiederholung noch ein Zurück zu den Anfängen, sondern das Neue, das hinter der Gegenwart liegt. Die Zukunft Gottes kommt sicher, so sehr die Gegenwart mit Verweis auf die Vergangenheit noch ihren Platz zu behaupten sucht.

IIIImpulse: Gegenwartsfragen und Zukunftsmusik

»Siehe, es kommt die Zeit …« – wenn einer so anfängt, dann weiß man, dass alles, was er im Folgenden aufzählt, Zukunftsmusik ist. »Siehe, es kommt die Zeit …« heißt: Jetzt ist sie noch nicht da. In der Gegenwart wird nicht immer verständig regiert, kommen Recht und Gerechtigkeit vielfach unter die Räder. Unsicherheit allenthalben statt allseits sicherem Wohnen.

»Siehe, es kommt die Zeit …« – das lässt Gott den Propheten Jeremia in eine Zeit höchster Unsicherheit und Not sagen. In Jerusalem herrscht Zedekia, ein Marionettenkönig von Babylons Gnaden. Seinen Vorgänger hat die damalige Supermacht abgesetzt, ihm dafür auf den Thron verholfen. Ein Herrscher aus dem Geschlechte Davids zwar, aber einer, der den Anforderungen an einen König nicht gerecht wird. Die sozialen Missstände häufen sich, die Regierenden, die Elite des Volkes, wirtschaftet in die eigene Tasche. Die Kriegsgefahr steigt, weil die Herrschenden sich nicht einig sind, ob nicht ein Überlaufen von der einen zur anderen Großmacht, aus dem Schutzbereich der Babylonier in den Schutzbereich der Ägypter, sinnvoll wäre. Das Chaos steht vor der Tür, die Menschen erhoffen sich einen Retter – den sollen sie bekommen, lässt Gott den Propheten verkünden: »Siehe, es kommt die Zeit …«

Es gibt Menschen, die meinen, wir befänden uns heute in einer vergleichbaren Lage: Unsere Gesellschaft sei nur noch durch ein radikales Umsteuern zu retten. Die Zeit für eine Wende sei jetzt da, die Zeichen der Zeit eindeutig: Währungskrise, Flüchtlingskrise, Corona-Krise. Schicksalsjahre für die westliche Welt. Jetzt sei die Zeit, endlich aufzuräumen und die Fehlentwicklungen der Vergangenheit zurückzudrehen. Sicherheit wird im Vergangenen gesucht. Was früher richtig war, das kann doch heute nicht falsch sein. Es gilt, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und endlich etwas zu tun. Nicht: Es kommt die Zeit! Sondern: Jetzt ist die Zeit für Veränderung!

Zeit für Veränderung ist freilich immer. Das Leben ist Veränderung, die Welt steht nicht still. Die Frage ist, wer die Veränderung vorantreibt und in welche Richtung. Ob die Krisen, die Klimakrise voran, nur als Bedrohung des Gegenwärtigen oder auch als Beginn des Zukünftigen betrachtet wird. Ob der Blick auf die Zukunft gerichtet ist oder auf die Vergangenheit fixiert bleibt. Und welche Rolle Gott dabei zukommt. Sein Wille ist es, an dem der Prophet Jeremia die Eliten seiner Zeit misst. So soll regiert werden: mit Recht und Gerechtigkeit.

B

Helmut Aßmann

IVEntgegnung: Heilszeit ist gut. Aber wovon reden wir?

Jeremia kündigt an, dass Gott nun selbst eingreifen und einen Spross aus davidischer Linie aufrufen will, der – endlich – »wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben« soll (23,5). Die Erinnerung an goldene Zeiten soll der Hoffnung auf Besserung in der Zukunft den Boden bereiten. Nicht als Wiederherstellung des Alten, aber auch nicht als schrittweiser Umbau des Gegenwärtigen. Der Gegenstand der Hoffnung, so die Überlegungen in Teil A, ist »das Neue, das hinter der Gegenwart liegt«.

Daran leuchtet unmittelbar ein, dass die Hoffnung auf Recht und Gerechtigkeit nicht durch ein Zurückdrehen der Geschichte eingelöst werden kann. Sei es in den Krisen der Geschichte, sei es in den aktuellen Topthemen unserer Zeit. Denn jegliche vermeintlich goldenen Zeiten waren bekanntermaßen so golden nicht, wie die Erinnerung sie in Szene setzt. Desgleichen ist ein ambitioniertes Herumbasteln an den Verhältnissen der Gegenwart mit iterativen Optimierungen oder gar gelegentlichen Verschlimmbesserungen etwas sehr anderes als der solenne Aufzug einer Heilszeit. Die Abgrenzung von derlei Missverständnissen ist wichtig, wann immer von kommenden Epochen des Glücks oder des Rechts gesprochen und die Geste prophetischer Rede aufgerufen wird.

Damit ist eine Präzisierung dessen, worum es sich in der Sache substantiell handelt, aber auch noch nicht gegeben. Je unbestimmter die Zukunftshoffnung, umso handlungs- und emotionsloser der Bezug darauf. Das »Neue, das hinter der Gegenwart liegt«, entwickelt nur dann Tätigkeitsimpulse und leidenschaftliche Hingabe, wenn es mit einer Richtung und einem in Aussicht stehenden Gewinn verbunden werden kann, die in das eigene Leben hineinspielen oder zu dem wir uns mit Leib oder Seele (am besten mit beidem) positionieren und verhalten können.

Ich sehe zwei Momente, die für eine solche Richtungsangabe bzw. einen Gewinn fruchtbar gemacht werden können. Als Richtungsangabe lese ich den Hinweis auf die davidische Linie, die das strenge dynastische Konzept verlässt und eher unbestimmt von einem »Spross« spricht, also den Erwartungshorizont weiter zieht. Das »Neue« verbindet sich nicht mit klassischen Traditionsbeständen, sondern kann auch aus anderen Quellen schöpfen. Die Aufnahme der Exodustradition in V.7f. weist in dieselbe Richtung. »David«, modern gesprochen, ist ein Prädikat, kein genealogisch zwingender Bezug.

Als theologischen ›Gewinn‹ lese ich, zugegebenermaßen schon ein wenig über den Predigttext hinaus, die noch weitergehenden jeremianischen Überlegungen zum neuen Bund (31,31ff.), in dem Recht und Gerechtigkeit nicht mehr Sache königlichen Regierungshandelns sind, sondern in den Herzen der Menschen verankert werden. Hier verändert sich der Modus der Gottesherrschaft von extrinsischen Vorgaben in intrinsische Haltungen. Der Ort der Gerechtigkeit wird damit neu bestimmt. In V.6 ist durch die Formulierung »unsere Gerechtigkeit« ein erster Schritt in diese Richtung bereits gegangen.

VErschließung der Hörersituation: Zeichen der Hoffnung

Die aktuelle Situation der Gottesdienstgemeinde ist geprägt durch eine doppelte Ernüchterung. Einerseits ist festzustellen, dass »Recht und Gerechtigkeit« als Leitparameter von Regierungshandeln wie eh und je gern als Stichworte für Sonntagsreden herhalten müssen, aber ein entschlossener Wille, ihnen auch Kraft und Raum zu geben, an allen Ecken und Enden fehlt. Allfälliger Zorn über schlechte Hirten, Königinnen und Präsidenten haben hier ihren verdienten Platz. Auf der anderen Seite hat die Erfahrung der Pandemie gezeigt, dass auch die beste Politik gegenüber den unvorhersehbaren Wechselfällen des Lebens keine einfachen Rezepte ins Feld bringen kann und der Globus zu klein geworden ist, um mit einfachen Verantwortungszuschreibungen die ethischen Fragen zu delegieren, die es zu beantworten gilt. Die Hoffnung auf den guten Hirten, den wahrhaftigen König oder die redliche Präsidentin ist brüchig geworden, nicht weil es keine Probleme mehr gäbe, sondern weil die Vorstellung einer gottgleichen Regierung angesichts der Komplexität der Verhältnisse ihre Plausibilität verloren hat. Trotz aller nationalistischen und populistischen Umtriebe weltweit ist zu konstatieren: Der Weg in vermeintlich goldene Zeiten und einfache Gegebenheiten ist verbaut. Und nicht nur verbaut: Er ist sinnlos. Das gilt auch für alle religiösen Amalgame in dieser Hinsicht, ob sie nun christlich, muslimisch oder hinduistisch daherkommen.

Dieser doppelten Ernüchterung ist aber mit dem Predigttext zweierlei entgegenzuhalten. Zum einen, auf V.6 bezogen: Der Name des davidischen Sprosses lautet: JHWH ist »unsere« Gerechtigkeit. D. h. wir sind nicht nur Gegenstand, sondern Co-Autoren der neuen Zeit. Der Ton liegt dabei in der Tat auf der Kooperation. Gott handelt, aber wir auch. Und umgekehrt: Wir arbeiten, Gott aber auch. Es ist nicht so, dass Gott ausschließlich unsere Hände und Füße hätte, wie ein Slogan aus der Tradition des Politischen Nachtgebets es formuliert hat, sondern er verfügt über eigene Ressourcen, Mittel und Wege, die er mit unseren zusammenbringen will, kann und – so Jeremia – wird.

Wir selbst sind damit Orte, Urheber und Ausgangspunkte von Recht und Gerechtigkeit. Nicht einfach im Sinne einer Verpflichtung, dies auf jeden Fall und unter allen Umständen sein zu müssen: Da wäre die Überforderung bereits im Ansatz zu greifen. Sondern als Zusage und Verheißung, es sein zu dürfen und sein zu können. Was das konkret im Licht des Evangeliums bedeutet, wäre im Einzelnen situations- und gelegenheitsbezogen auszuführen, dürfte allerdings kein theologisches Hexenwerk sein.

Vor allem aber legt dieser Umstand nahe, nach Gottes Handeln in Recht und Gerechtigkeit zu schauen und darauf zu vertrauen, dass derlei tatsächlich geschieht. Auch ohne, dass wir es veranlasst haben. Es wäre ein unerhörter Gewinn, wenn kirchliches Leben zuerst dadurch ausgezeichnet wäre, dass nach Gottes Lebendigkeit aktiv gesucht und nicht dessen Fehlen beklagt werden würde.

Denn, und das wäre der zweite Hinweis, die bemerkenswerten Aktivitäten junger Menschen rund um den Globus, die sich für Recht und Gerechtigkeit stark machen, lese ich als Nachweis göttlicher Aktivität, mitten in reichlich deprimierenden Umständen. Felix Finkbeiner pflanzt Bäume, Bojan Slat säubert den Ozean, Yousafzai Malala kämpft für Bildung von jungen Frauen, Greta Thunberg rüttelt die ökologischen Fragen in die Öffentlichkeit. Damit ist keine christliche Heiligsprechung verbunden, ebenso wenig ein Verzicht auf Kritik im Detail und im Verfahren. Freilich auch keine feindliche Umarmung, wie es gelegentlich auf Seiten kritisierter Unternehmen oder Gremien den Anschein hat. Es ist nicht mehr und nicht weniger als der keineswegs risikolose Versuch, »Jahwe, unsere Gerechtigkeit« in den konkreten geschichtlichen Akten der Geschichte zu identifizieren und mit gerichteter, substantieller Hoffnung auszukleiden.

VIPredigtschritte: Heraus aus dem Gejammer!

Eine ehrliche Frage: Geht es eigentlich gut aus mit uns Menschen? – Die Frage ist ernst gemeint. Von ihrer Beantwortung hängt nämlich ab, wie wir uns verhalten und was wir tun. Die Sache ist nicht leicht zu entscheiden. In den vergangenen Jahren ist deutlich geworden, dass niemand die Umwälzungen beherrscht oder kontrolliert, die gerade über die Menschheit gehen. Niemand hat das Klima im Griff. Keiner kann die Migrationen steuern, die durch seinen Wandel ausgelöst werden. Kein Mensch kann vorhersagen, was die digitale Revolution aus uns analogen und kohlenstoffbasierten Lebewesen macht. Wir fahren in einen Zukunftsnebel hinein und haben keine wirkliche Ahnung, auf welche Untiefen wir stoßen werden. Also, durchaus naheliegend: Geht es gut aus mit uns?

Der alte Prophetentext aus dem Jeremiabuch schwelgt in Hoffnung. Da kommt noch etwas. Genauer: Es wird jemand kommen, der richtet und renkt es wieder ein, was an Weltgeschichte und Menschenwerk aus dem Lot geraten ist. Gott lässt nicht im Stich, was er einmal in sein Herz geschlossen hat, angefangen bei seinem erwählten Volk Israel bis hin zu allen Menschen und am Ende auch mit allem, was lebt. Es geht gut aus, keine Angst. Die Dinge kommen wieder auf den Weg. »Sicher wohnen« sollen alle am Ende.

Man hört oder liest das und weiß nicht so recht: Ist das jetzt das übliche fromme Pfeifen im Wald angesichts der Ratlosigkeit, wie mit den drängenden Fragen umzugehen ist? Hat am Ende der liebe Gott tatsächlich noch immer »einen im Sinn«? Soll man so etwas glauben, daran sein Herz hängen und seinen Verstand darauf ausrichten?

Große Sprüche sind schnell gemacht. Sie helfen dem Glauben und verleihen ihm Kraft. Aber wenn sie keinen Anhalt an der Wirklichkeit finden, verlieren sie ihren Schub. Niemand kann immer nur ins Blaue hoffen. Dazu reichen unsere psychischen Ressourcen nicht aus. Wir benötigen gelegentliche Zeichen, Aufmunterungen, seelische Wegzehrung, damit wir nicht aufhören zu hoffen, zu glauben und zu schauen, wo und wie sich die Dinge doch zum Besseren wenden. Es bedarf kleiner göttlicher Impulse, dass er seine Welt und seine Menschen nicht im Stich gelassen und seine Verheißungen von Recht und Gerechtigkeit nicht vergessen hat.

Um ein Beispiel zu nennen: Mohammed Yunus aus Bangladesch und seine Erfindung der Mikrokredite. Eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Recht und Gerechtigkeit in Mikroform. Man muss nur genau hinschauen: Gott kümmert sich um seine geschundene Welt. Durch Menschen. Aber: Er kümmert sich.

2. Advent – 05.12.2021

A

Jesaja 63,15–64,3

Die Lebensdienlichkeit der Sehnsucht

Heinz-Dieter Neef

IEröffnung: Adventsbegehren

Es gibt in unserem Kirchenjahreslauf wohl kaum eine Zeit, in der Sehnsucht und zugleich Bedürftigkeit so zu greifen sind wie in der Zeit des Advents. Auch pandemische Zeiten machen darin keine Ausnahme. Immer wiederkehrend können wir dies an den Kindern sehen. Sie basteln in den Kindergärten und Schulen für Weihnachten, sie singen Weihnachtslieder und freuen sich auch an den absonderlichsten Festbeleuchtungen in den Straßen. Adventszeit ist für sie Wartezeit. Bei den Erwachsenen ist diese Zeit ambivalenter. Doch immer noch viele von ihnen machen sich vor Weihnachten auf den Weg, um den Eltern, Kindern und Nächsten mit Geschenken eine Freude zu bereiten, um so ihre Verbundenheit und Liebe mit ihnen zum Ausdruck zu bringen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie sich Menschen weltweit auf allen Kontinenten auf den Weg machen und weder Kosten noch Mühen scheuen, um ihren Liebsten an Weihnachten nahe zu sein. Es ist doch sicherlich nicht nur Konvention, Zwang oder die Verführung durch eine raffinierte Werbung, dies zu tun, sondern hier zeigt sich bei den Menschen die tiefe Sehnsucht nach Liebe und Gemeinschaft. In die Zeit des Advents gehören wie selbstverständlich die Sehnsucht nach Frieden in den Häusern, ebenso die Hoffnung auf eine Atempause, wenn nicht gar das Ende der Krisen der Welt und die Auflösung der Widersprüchlichkeiten des menschlichen Alltags hinzu. Aus dem Predigttext des Jesajabuches drängt diese Sehnsucht.

IIErschließung des Textes: Israels Notschrei

Gliederung: Die alttestamentliche Wissenschaft geht seit dem epochemachenden Jesaja-Kommentar von Bernhard Duhm (1892) bis heute von der Eigenständigkeit von Jes 56–66 aus. Sie ist sich darin einig, dass die elf als Tritojesajabuch bezeichneten Kapitel in Inhalt, Sprache und geschichtlichem Hintergrund so deutlich von Jes 40–55 abweichen, dass hier ein anderer Verfasser am Werk sein muss. Es ist allerdings umstritten, ob es sich in Jes 56–66 um einen einzigen Verfasser handelt oder ob man hier mehrere Autoren am Werk sehen muss. Die Perikope Jes 63,15–64,3 gehört zu dem Abschnitt 63,7–64,11, den man als Volksklage mit der Bitte um Hilfe überschreiben kann. Sie hat in 59,1–15 inhaltlich eine Entsprechung, auch hier liegt eine Volksklage mit Schuldbekenntnis vor. Beide Volksklagen umrahmen 60–62, in denen sich Heilsansagen für Zion finden.

Gattung: Jes 63,15–64,3 ist klar als Klagelied des Volkes zu bestimmen. Dafür spricht vor allem die Verwendung des Plurals in der ersten Person in V.16.17.18. Zum Klagelied gehört ebenso die Bitte: V.15a (vgl. Ps 80,15); die Bitte wird durch drängende Fragen unterstützt: V.15b »Wo sind dein Eifer und deine Macht?«, V.17 »Warum lässt du uns abirren von deinen Wegen?«. V.15bß enthält das Vertrauensmotiv: den Rekurs auf JHWHs Barmherzigkeit; ebenso V.16: »Du bist doch unser Vater«; V.18: Klage – Hinweis auf die Gottlosen und die Feinde; V.19b – verzweifeltes Ausrufen der Hilfe Gottes; 64,1–3 Vergewisserung; V.3 Vertrauensmotiv: Gott wird das Warten belohnen. – Insgesamt steht der Vergleich der traurigen Gegenwart mit der herrlichen Vergangenheit im Zentrum. Es geht um die Krise der Gegenwart und um die Bitte um durchgreifende Hilfe.

Datierung: Anhaltspunkte für die Datierung des Abschnittes sind Jes 63,18; 64,9f. Man kann das hier beschriebene Geschehen deutlich auf die Katastrophe von 586 beziehen. Daraus ergibt sich als Entstehungszeit von 63,7–64,11 die Zeit von 586–520. Für eine genauere Datierung hilft Jes 64,8f, wo davon die Rede ist, dass wieder ein »Volk« in Jerusalem beim Tempel zu finden sei. Diese Bemerkung führt in die Zeit nach 538. Es scheint zudem so, dass die Zerstörung des Tempels und Jerusalems schon längere Zeit zurückliegen. Der Hinweis auf die Mosezeit (63,7–14) kann als Parallele zwischen der Rückkehr aus Babylon und dem Auszug aus Ägypten angesehen werden. So sprechen gute Gründe dafür, 63,7–64,11 in die Zeit zwischen 538 und 520 zu datieren. Das Gottesvolk blickt auf verheerende Erfahrungen zurück. Tempel und Jerusalem lagen danieder, der größte Teil der Bevölkerung war ins Exil nach Babylon verschleppt worden. Erst nach Jahrzehnten konnte das Volk wieder in sein Land zurückkehren. Aber was fanden sie vor: traumatisierte Menschen und eine daniederliegende Infrastruktur.

IIIImpulse: Die Sehnsucht der Enttäuschten

Die Perikope aus dem Jesajabuch bietet so manchen Anhaltspunkt zur Aufnahme in der Predigt:

Notschrei: Das Gottesvolk schreit eindringlich um Gottes Kommen. Wer Gott so drängend um seine Machterweise bittet, ruft selbst seine Machtlosigkeit heraus. Aus diesem Vakuum heraus erwächst der sehnsuchtsvolle Notschrei. »Die Sehnsucht entsteht, wo der Mensch erkennt, dass er mehr braucht, als er hat.« (Steffensky, 11) Zu dieser Sehnsucht gehört die Erfahrung einer heilvollen Vergangenheit. Das Gottesvolk erinnert sich an die Zeit, in der der Tempel noch nicht zerstört war und es regelmäßig Gottesdienste feiern konnte. In dieser heilvollen Zeit war es noch ein geeintes Volk und musste nicht im Exil fremdbestimmt sein Dasein fristen. Zugleich wirkt die Sehnsucht lebenssteigernd, sie wird umso größer, je schlimmer die eigene Situation als beklemmend und bedrohend empfunden wird. Wer so drängend zu rufen weiß, lässt die eigene Lethargie und Machtlosigkeit hinter sich, indem er sich an den wendet, von dem er sich alles erhofft. Ebenso wie Jes 63,15–64,3 ist Psalm 126,1 ein gutes Beispiel für die Kraft, die aus dem Notschrei erwächst: »Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden.«

Bitte: Es ist eindrücklich zu sehen, wie sich das Gottesvolk in dieser bedrohlichen Situation auf seinen Gott beruft. Der Predigttext ist voller Bitten an Gott: »Schau doch herab vom Himmel, sieh herab von deiner heiligen Wohnung, kehre zurück um deiner Knechte willen!« (V.15a) Der Höhepunkt dieser Bitten ist der tiefe Sehnsuchtsseufzer: »Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!« (V.19b)

Vertrauen: In dieser verzweifelten Situation zeigt das Gottesvolk großes Gottvertrauen. Es weiß, dass nur Gott selbst in dieser Situation für es zum Retter werden kann. Sie reden Gott sogar als »unseren Erlöser« (63,16) an. Das ist der Name Gottes. Sie selbst können sich nicht mehr helfen, nur Gott allein kann dies tun. Sie erinnern sich dabei an die Taten, die dieser große und heilige Gott einst ihren Vätern getan hatte. Das Gottesvolk wünscht sich das Kommen Gottes als eine mächtige Gotteserscheinung. Die Berge sollen zerfließen, die Himmel sollen zerreißen. Die ganze Welt, ja der ganze Kosmos sollen durch Gottes Kommen erschüttert werden. Für das Gottesvolk war es selbstverständlich, dass dieser Gott dies tun kann. Einen Gott außer ihm gibt es nicht, dies war ihr Bekenntnis.

Advent: Gott kommt immer anders: Der Wunsch des Gottesvolkes, dass Gott den Himmel zerreißt und herabfährt, hat sich erfüllt, allerdings auf andere Weise als erhofft. Er kommt nicht in einer großen Machtdemonstration, sondern unscheinbar, aber nicht weniger wirkungsvoll. Gott kommt leise, aber dennoch hörbar. Gott kommt nicht durch seine himmlischen Heere oder durch einen Machterweis, sondern er kommt selbst auf diese Erde. Gott ist sich nicht zu schade, vom Himmel herabzusteigen, um den Menschen nahe zu sein. Kann es ein größeres Wunder als dieses geben? Gott, der sich selbst genug ist, der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist, vor dem tausend Jahre wie ein Tag sind, der Himmel und Erde allein durch sein Wort geschaffen hat und der beide mit seiner Hand und seinem Geist erhält, hat sich auf den Weg gemacht, um seinen Menschen nahe zu sein. Hierin liegt das Wunder von Advent und Weihnachten.

Konkretionen: Ich denke an zwei Konkretionen, mit denen man die Perikope anschaulich aktualisieren könnte. Die erste bezieht sich auf das Lied »O Heiland, reiß die Himmel auf«. Der Text stammt von Friedrich Spee 1622. Er verarbeitet in diesem Lied seine Erfahrungen von Leid und Tod im Dreißigjährigen Krieg sowie seine scharfe Kritik an den Hexenverfolgungen in diesen Jahrzehnten, an denen er selbst als Beichtvater der angeblichen »Hexen« beteiligt war. Jede Strophe des Liedes lässt sich auf diese furchtbaren Ereignisse beziehen. Dieses Lied ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr menschlicher Notschrei direkt zu Gott führen kann.

Die zweite Konkretion bezieht sich auf die Verwendung des Wortes »Sehnsucht« in den beiden Pandemiejahren 2020/2021. Sehe ich recht, so ist mir das Wort niemals so oft begegnet wie in diesen Jahren. »Ich sehne mich danach, mein Geschäft wieder öffnen zu dürfen!« – »Die Leute sehnen sich nach Normalität!« »Ich sehne mich nach einem schönen Weihnachtsfest mit Gottesdienst und der Feier mit der ganzen großen Familie!« Diese Aussagen zeigen, wie sehr die Sehnsucht aus der Erfahrung des Mangels und der Not entsteht.

Werkstück Predigt

»Auf ihn harren, auf ihn sehnsüchtig warten«, das kann als der cantus firmus dieses Adventsgebetes angesehen werden. Dieses Warten wird belohnt, denn Gott kommt zu denen, die auf ihn warten, sein Licht erhellt von nun an unser Leben. Die Kerzen an unseren Adventskränzen symbolisieren dieses Warten auf das Kommen Gottes. Gott kommt in die Intensivstationen der Krankenhäuser, er kommt in Seniorenstifte und Pflegeabteilungen, er kommt in die Lager der Geflüchteten und in die Gefängnisse der Welt … Der »Stern der Gotteshuld« (EG 16) wandert mit uns allen. Gott als Kind in der Krippe, so und nicht anders naht sich unsere Erlösung.

Lieder: EG 7 »O Heiland, reiß die Himmel auf«; EG 16,4 »Die Nacht ist vorgedrungen«.

Literatur: Hans Walter Wolff, …wie eine Fackel. Predigten aus drei Jahrzehnten, Neukirchen-Vluyn 1980, 136–144; Fulbert Steffensky, Die große Sehnsucht, in: Ders., Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2005, 9–23.

B

Birgit Weyel

IVEntgegnung: Vielstimmigkeit

A zeigt anschaulich, wie vielstimmig der Text ist. Die adventliche Partitur bringt unterschiedliche Stimmungen zur Geltung, die man als redaktionelle Collage und zugleich als Ausdruck von Stimmungsschwankungen lesen kann: die Erinnerung an eine »herrliche Vergangenheit«, das Motiv des Vertrauens auf Hilfe, die Enttäuschung darüber, dass man nach dem Exil nicht nahtlos an diese mittlerweile hochstilisierte Vergangenheit (Tempel, Jerusalem) anknüpfen kann, Verzweiflung, aber auch die Vergewisserung »heilvoller« Erfahrungen. Ob hier jeweils unterschiedliche Überlieferungen kombiniert wurden oder der Text aus einer Feder stammt – es stehen jedenfalls nicht nur Gefühlslagen gegen- und nebeneinander, sondern sie überlagern sich und erzeugen im Zusammenklang eine Sehnsucht, die im Klagelied eine sprachliche Form gefunden hat. A weist darauf hin, dass adventliche Sehnsucht als »tiefe Sehnsucht nach Liebe und Gemeinschaft« eng mit der Erfahrung von Widersprüchlichkeiten verknüpft ist. Ambivalenzen werden im Advent nicht ausgesetzt, damit sich zu Weihnachten Ruhe und Besinnlichkeit einstellen können, vielmehr liegt eine enorme Vitalität darin, die Vielschichtigkeit der Erfahrungen nicht einzuebnen. A spricht treffend von der Lebensdienlichkeit der Sehnsucht. Dazu gehört auch die Provokation, die nicht als unverschämte Unverhältnismäßigkeit des Menschen gegenüber Gott aus dem Klagelied herausredigiert wurde. »Verheerende Erfahrungen« (A) werden nicht aus falscher Rücksichtnahme gegenüber Gott und den Mitmenschen verschwiegen. In dieser Zuspitzung liegt ein Wirklichkeitsgewinn. Man muss nicht noch in der Katastrophe etwas Sinnvolles entdecken wollen. Stärker als A würde ich die Erfahrung der Sinnlosigkeit in der Predigt zur Sprache bringen. Eine Pointe des Predigttextes aus nachexilischer Zeit scheint mir die zu sein, dass zwar die Zeit des Exils in religiöser Hinsicht eine sehr produktive Zeit gewesen zu sein scheint, aber nun der Zugang zu den Traditionsbeständen der eigenen Religion, dem Heiligen Kosmos, verloren gegangen ist. Die Erzählungen der Väter und Mütter gehen an der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit vorbei. Sie werden aber nicht einfach stillgelegt, sondern als sich stabil präsentierende Tatbestände der Überlieferung aufgemacht, einer kritischen Revision unterzogen und neu anschlussfähig gemacht. Auch der Widerspruch ist bei diesem homiletischen Verfahren möglich. Das ist allemal glaubwürdiger als eine Anschlussfähigkeit dadurch plausibel machen zu wollen, dass man den Eigensinn von Überlieferungen umzudeuten versucht.

Wieder einmal lese ich in einen Aufsatz von Joachim Matthes hinein, der die Suche nach dem Religiösen als komplexe und in sich widersprüchliche Arbeit der Theologie beschreibt. Seine intelligente Analyse der empirischen Religionssoziologie betrifft im Kern auch die homiletische Situation, die sich den Prediger:innen stellt: Zu den Routinen des Predigens gehört es, die gespeicherten Traditionsbestände auf ihre Erfahrungshaltigkeit hin zu bearbeiten, dass sie für die Deutung gegenwärtiger Erfahrungswirklichkeit produktiv werden. Diese Suche stellt sich nicht etwa so dar, dass das – von Matthes pointiert in Anführungszeichen gesetzte – ›Religiöse‹ bzw. ›die Religion‹ ermittelt und analysiert werden könnte. In freiem Anschluss an seine Skizze könnte man daher sagen: Predigtarbeit ist keine Detektivarbeit. Sondern die Spurensuche ist die Frage nach der Frage, »wie ›Religion‹ und ›Religiöses‹ zum Thema von gesellschaftlichen Diskursen geworden sind und werden« (Matthes, 129). Im Blick auf christliche Theolog:innen stellt sich das Problem einer kulturellen Logik der Bestimmtheit. Was nicht von dieser Welt sei, müsse dennoch in dieser Welt fassbar, greifbar, anschaulich und fixierbar sein. Die Religion werde dadurch aber dingfest gemacht. Und vielleicht ist das ja eines der Probleme der Predigt, dass vieldeutige Erfahrungen vereindeutigt und dadurch für die Predigthörer:innen unglaubwürdig werden. Im Sinne einer homiletischen Selbstreflexion würde ich daher festhalten wollen: Von Hoffnung und Sehnsucht kann ich nur so sprechen, dass ich auch von Verzweiflung und Enttäuschung spreche; und nicht etwa so, dass das eine die (un-)verschämte Kehrseite des anderen wäre.

VErschließung der Hörersituation: Auf der Suche nach dem Religiösen

Vermutlich werden wir alle froh sein, wenn Kontaktbeschränkungen aufgehoben sind, die Pandemie ihre Schrecken und das soziale Leben an Restriktionen verloren haben. Ob alles wieder genauso sein wird wie vorher – da bin ich eher skeptisch. Die globale und kollektive Erfahrung der Irritierbarkeit der Lebensumstände lässt sich nicht mehr so einfach übergehen. Die Erfahrung der Verletzlichkeit wird sich nicht so einfach verdrängen lassen. Auf der anderen Seite erscheint es mir entweder banal oder übertrieben zu meinen, nichts werde mehr sein wie zuvor. Dazu werden sich dann wohl auch Routinen einstellen, die an das soziale Leben vor der Krise anschließen können. Es ist eine Schwellensituation, in der aus meiner Sicht nicht das alte Leben, die Normalität, als Gegenstand der Sehnsucht zu thematisieren ist, sondern die Erfahrungen der Irritation, der Verwirrung und Unsicherheit, ein Gefühl der Verlassenheit und der Trauer über das nichtgelebte Leben. In erster Linie ist an die vielen Verstorbenen selbst zu denken, an die Menschen, die an und mit Corona sterben, aber auch die Menschen, die an Krankheiten, die andere Namen tragen, leiden und sterben, die verstörenden Besuchsregelungen für die Angehörigen und die Abschiede unter erschwerten Bedingungen für die Hinterbliebenen. Vielleicht gelingt es ja, über diese Erfahrungen der Unverfügbarkeiten als menschliche Abhängigkeit und Bedürftigkeit ins Gespräch zu kommen. Eine Studentin sitzt in ihrer Zoom-Kachel vor mir auf meinem Bildschirm und spricht von ihrer Trauer darüber, dass ihr Studium nun schon das dritte Semester im digitalen Modus stattfindet, aber sie fügt schon gleich dazu, dass sie ja, gemessen an dem, was andere erleben, überhaupt keinen Grund zur Klage habe. Vielleicht gelingt es, auch die Trauer über abgesagte Feste und Reisen zur Sprache zu bringen, ohne Selbstzensur und ohne, dass die Klage selbstbezogen klingt oder als banales Gejammer abgetan werden muss.

In meiner Predigt versuche ich, für die Vielstimmigkeit zu werben und der Versuchung zu widerstehen, die Religion dingfest machen zu wollen. Ich werde sie nicht der argumentativen Belastung aussetzen, für christliche Hoffnung und Zuversicht auch noch in den absurdesten Lebenssituationen einstehen zu müssen. Ich werde mich bewusst allem Ansinnen verweigern, auf der Kanzel eine umfassende Welterklärung bieten zu müssen. Als Predigerin kann ich auch nur meine eigene Erschütterung zur Sprache bringen, aber meine Erschütterung zugleich als Ausdruck religiösen Bewusstseins begreifen und als solche darzustellen und mitzuteilen versuchen. Ziel meiner Predigt ist es, im Medium der Symbolsprache des Textes zur Klage zu ermutigen und dadurch die Sehnsucht freizulegen.

»Das religiöse Bewusstsein macht eine auf absoluten Sinn ausgreifende Sinndeutung auch noch jener Tatbestände des Lebens, die unseren endlichen Gestaltungs- und Erfahrungshorizont transzendieren. Es bildet Überzeugungen, Empfindungen, Vorstellungen und Symbolsprachen aus, mit denen wir uns zur Erfahrung absoluter Kontingenz und damit zu all jenen Abhängigkeiten und Unverfügbarkeiten verhalten können, die sich unserer Bestimmbarkeit und unseren Handlungsmöglichkeiten entziehen, aber gleichwohl uns unbedingt angehen, die auf uns zukommen und uns betreffen.« (Gräb, 190)

VIPredigtschritte: (K)eine geschlossene Wolkendecke

(I.) Wir hören den verzweifelten Ruf nach Gott. Beim näheren Hinhören fällt mir auf, es sind doch eigentlich mehrere Stimmen, die sich zu Wort melden. Klagen, die von einem einzelnen hervorgebracht werden: Deine Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Klagen, die von einer Gruppe von Menschen, ja ganz Israel, gemeinsam gebetet werden: Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute über die dein Name nie genannt wurde. Diese Stimmen sind ineinander verwoben, zusammengezogen zu einem Text – Stimmen, die Erfahrungen der Gottesferne, der Finsternis, der Traurigkeit und der Trostlosigkeit zum Ausdruck bringen.

(II.) Menschen sind untröstlich. Abgeschnitten von den Sinnvorräten, die sie über lange Zeit genährt haben. Die Zeit der Entbehrungen, das emotionale Auf und Ab hat an ihnen gezehrt. Manchmal ist es so, dass sich innere Leere einstellt, wenn Schlimmes schon überstanden ist. Es ist ja gar nicht so einfach, das einzugestehen und es auszusprechen: die Leere und das Gefühl, dass sich die Wolkendecke über uns geschlossen hat.

(III.) Klagen hilft. Nicht nur der Dank und die Fürbitte für andere sind Formen des Gebets, sondern auch die Klage. Die Klage ist kein Gejammer, kein Selbstmitleid, sondern Ausdruck der Not. Wir muten sie nicht nur anderen Menschen zu, sondern wir muten sie Gott zu. So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Diese Worte sind eine Ermutigung, Gott in Anspruch zu nehmen für das, was uns bewegt. Schau nun, sieh herab! Gott wäre demnach ein souveränes Gegenüber, ein Beziehungspartner, den wir ansprechen, aufrütteln und für uns in Anspruch nehmen können.

(IV.) Bescheidenheit sieht anders aus. Gott soll zur Umkehr bewegt werden. Seine Menschenvergessenheit steht in der Kritik. Die Klage legt schließlich die Hoffnung auf das Erscheinen Gottes in der Welt frei, auch wenn die Gotteserscheinung anders ist, als Menschen das erwartet haben. Gott kommt als Kind zur Welt, er wird Mensch unter Menschen, er hält sich nicht fern von dem, was Menschen erleben und erleiden.

Literatur: Wilhelm Gräb, Vom Menschsein und der Religion. Eine praktische Kulturtheologie, Tübingen 2018; Joachim Matthes, Auf der Suche nach dem »Religiösen«. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologia Internationalis 2 (1992), 129–142.

3. Advent – 12.12.2021

A

1 Korinther 4,1–5

Vom Geheimnis des Lebens

Albrecht Grözinger

IEröffnung: Das gelingende Leben ist das gefährdete Leben

Die Theologie des Paulus zeichnet sich dadurch aus, dass sie singuläre Situationen in grundsätzliche Konstellationen zu überführen vermag. Dies können wir an unserer Perikope exemplarisch studieren: Paulus nimmt einen begrenzten Konflikt mit der Gemeinde in Korinth zum Anlass, die Conditio humana zu thematisieren.

Ganz offensichtlich sind die Angriffe auf Paulus aus der Gemeinde vehement. Sie werden zum Gericht über Paulus. Wo ein Mensch vor einem menschlichen Gericht steht, wird über einzelne Taten seines Lebens geurteilt. Wo ein Mensch sich selbst zum Gericht wird, steht sein Selbstverständnis zur Diskussion. Wo ein Mensch vor dem Gericht Gottes steht, steht das gesamte Leben eines Menschen auf dem Prüfstand: Es geht dann um das Gelingen und Verfehlen des menschlichen Lebens. Das ist das Thema des Paulus in diesem Abschnitt – es geht um das gelingende Leben. Und dieses gelingende Leben – so Paulus – ist nicht einfach da, es gehört ganz offensichtlich zu den Geheimnissen Gottes. Dass unser menschliches Leben in Frage steht, dass es ein gefährdetes Leben ist – das muss man den Menschen in den vielfältigen Krisenerfahrungen unserer Zeit nicht erst nahebringen. Dieses Gefühl, diese Einsicht begleiten uns alltäglich. Ulrich Beck hat bereits vor knapp vierzig Jahren den Begriff der Risikogesellschaft geprägt. Damals war dies ein Novum, heute eine banale Selbstverständlichkeit. Das »Unbehagen an der Moderne« (Charles Taylor) oder auch das »Unbehagen in der Postmoderne« (Zygmunt Bauman) – dieses Unbehagen ist uns zum vertrauten und ständigen Begleiter geworden.

Wo das Leben unsicher wird, möchten wir es sicherer machen. Das ist ein menschlicher Impuls, der nicht diskreditiert werden sollte. Die Frage ist nur: Wie sichern wir das unsichere Leben? Viele versuchen dies – so würde ich es gerne nennen – durch einen direkten Zugriff auf das Leben. Man möchte das eigene Leben ›durchregieren‹. Wir können dieses Vorgehen gegenwärtig vielfältig beobachten. Ausdruck dafür ist, dass das Thema einer starken Identität in den Vordergrund rückt. Identitätspolitik ist immer auch ein Kampf um starke Identität, um den Platz an der Sonne. Noch einmal: Nicht die Frage nach unserer menschlichen Identität ist zu kritisieren, sondern ein bestimmter Umgang mit ihr. Wo Identität durch Ausgrenzung, durch Daseins-Kampf, durch totalen Zugriff gesichert werden soll, verfehlen wir die Conditio humana. Das ist die Mahnung des Paulus in unserer Perikope. Paulus wird so zu einer aktuellen Stimme in einer aktuellen Situation. Wie sieht die Alternative des Paulus aus? Wir können dies in der Perikope erkunden.

IIErschließung des Textes: »Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden …« (1Joh 3,2)

In Vers 1 hebt Paulus ganz ›barthianisch‹ an: Er beginnt zwar mit sich selbst, um dann nach ganz wenigen Worten von sich selbst wegzuweisen. Es geht um Jesus Christus und um Gottes Geheimnisse. Er stellt also seine eigene Person und den ganzen Konflikt mit der Gemeinde in Korinth unter eine externe Perspektive. Die Conditio humana wird nicht aus sich selbst heraus erklärt, sondern sie wird in das Licht gerückt, das von Gottes Geheimnissen auf die Welt scheint. Die Geheimnisse Gottes sind aber nicht das »Minus vor der Klammer« (wie der Krisen-Theologe Karl Barth in seiner Frühzeit noch formulierte), sondern sie sind das »große Plus vor der Klammer« oder das »große JA Gottes« zu uns Menschen (wie der späte Barth formulierte, der dabei war, die »Menschlichkeit Gottes« zu entdecken). Ein Rätsel lässt sich lösen, ein Geheimnis nicht. Ein Geheimnis begleitet uns im besten Fall. Zu diesem besten Fall lädt Paulus uns ein. So wie Jesus die beiden Emmaus-Jünger geheimnisvoll begleitete (Lk 24,13–35), so sollen uns die Geheimnisse Gottes auf unserem Lebensweg begleiten. Diese Begleitung öffnet und weitet unser Leben und unsere Lebensgeschichte. Das Streben nach Identität hat immer die Gefahr, uns in unserer Identität einzuschließen. Deshalb erinnert Theodor W. Adorno immer wieder an die Nicht-Identität des Menschlichen, um dem Totalitätszwang von Identität zu entrinnen.

Man kann nun die Verse 4 und 5 unserer Perikope interpretieren als eine Rettung vor einer abschließend-totalitären Identität im Hier und Heute. Das letzte Urteil über mein Leben spreche nicht ich, und es sprechen auch nicht andere Menschen, sondern dieses letzte Urteil ist Gott vorbehalten. Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus an dieser Stelle vom Kyrios spricht. Der, der das letzte Urteil über mein Leben und alles menschliche Leben spricht, trägt das Antlitz Jesu Christi – es ist der Gott, der im 1. Johannesbrief mit der Liebe identifiziert wird: »Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm« (1Joh 4,16). Das ist alles andere als harmlos. Wir alle wissen, dass Liebe auch Schmerzen bereiten kann. Auch das gehört dazu. So wie auch ein Urteil über mein Leben schmerzlich sein kann. Der Schmerz der Liebe zerstört jedoch nicht, sondern er macht uns sensibel und aufmerksam. Wenn die Wahrheit unseres Lebens – so die Perspektive des Paulus – ans Licht gebracht wird, dann wird dieses Urteil vom Lob Gottes begleitet sein, wie kritisch dieses Urteil auch ausfallen mag. Kühner kann man über das menschliche Leben nicht sprechen, als es Paulus hier tut.

IIIImpulse: Das Geheimnis des Lebens

Ich schlage eine Predigt vor, die sich schlicht am Gedankengang des Paulus orientiert. Es geht um unsere Treue zu den Geheimnissen Gottes, die unser Leben umgreifen. Das bestimmt auch unseren Umgang mit unserem eigenen Leben und dem Leben der Mitmenschen. Wir Menschen sind in unserer Lebensgeschichte verletzlich und wir sollten Respekt zeigen vor dieser Verletzlichkeit des eigenen Lebens und des Lebens unserer Mitmenschen. Am Ende unseres Lebens sprechen nicht wir das letzte Wort, sondern dieses letzte rettende Wort spricht der liebende Gott selbst.

Ein möglicher Predigtanfang: »Die Zeit des Advents ist eine Zeit des Wartens. Ein Warten, das immer schon von dem weiß, auf was es wartet. Es ist eine geheimnisvolle Zeit. Kinder wissen das sehr genau. Sie wissen um das Geheimnis des weihnachtlich geschmückten Zimmers, das Geheimnis des erstrahlenden Weihnachtsbaumes, wenn die Tür zum Weihnachtszimmer sich öffnet. Kostbare Momente des Lebens, an die wir uns immer wieder gerne zurückerinnern. Nicht immer ist Weihnachten das Geheimnis, das uns wichtig ist. Geheimnisse können sehr intime Momente unseres Lebens sein, von denen nur wir wissen. Geheimnisse können aber auch Widerfahrnisse unseres Lebens sein, die wir gerne mit anderen teilen. Paulus spricht von einem Geheimnis, das über allen menschlichen Leben steht und in alle menschlichen Leben hineinstrahlt…«

Ein möglicher Predigtschluss: »Advent ist die Zeit der Erwartung und Hoffnung. Beide – Hoffnungen und Erwartungen – können enttäuscht werden. Das wissen wir alle. Und das wusste auch der große Realist Paulus. Deshalb ist es ihm wichtig uns daran zu erinnern, dass am Ende unseres Lebens, dass am Ende allen menschlichen Lebens nicht eine große Ungewissheit steht, sondern das Lob Gottes über unser Leben. Es ist der Gott, der die Liebe ist, wie es die Bibel sagt. Es ist die Liebe selbst, die das letzte Wort über uns und unser Leben spricht…«

Als weitere Anregung ein Zitat aus einer Oster-Besinnung von Karl Barth, das sich aber auch auf die adventliche Zeit beziehen lässt: »Es gibt vermeintlich viele und vielerlei Geheimnisse: alte und neue, lösbare und vorläufig unlösbare. Es gibt technische, militärische, politische Geheimnisse – öffentliche Geheimnisse, die die Spatzen von den Dächern pfeifen, und andere, von deren Vorhandensein wirklich nur Wenige wissen. Es gibt das Arztgeheimnis, das Beichtgeheimnis, das Geschäftsgeheimnis. Es gibt auch persönliche Geheimnisse. Manche Geheimnisse sind wichtig, so dass sie irgendwie Alle angehen, auf die Alle achten, die Alle respektieren, um die sich irgendwie auch Alle bekümmern und bemühen müssen. Mann und Frau sind sich gegenseitig ein Geheimnis – und wie! Das Kind in allen seinen Gestalten ist es auch. Der Tod ist ein für alle Menschen wichtiges Geheimnis. Es gibt besonders im Bereich der Kunst wichtige Geheimnisse…

In Wirklichkeit ist das Geheimnis des Ostertages das einzigartige nicht nur, sondern das einzige eigentliche Geheimnis zu nennen. Sicher steht jene ganze Rätselwelt in Beziehung zu ihm, ist sie von ihm umfasst und begrenzt und beleuchtet, können alle Rätsel von ihm her ihre heilsame Richtigstellung und werden sie von ihm her auch ihr barmherziges Gericht erfahren. Man kann auch sagen, dass die vielen Rätsel das eine Geheimnis aus großer Ferne anzeigen. Und schließlich: dass in seiner künftigen Offenbarung auch sie alle sich lösen werden. Insofern gehören sie mit ihm zusammen.« (Neue Zürcher Zeitung vom 26.3.1967.)

Literatur: Karl Barth, Osterbesinnung, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26.3.1967; Zygmunt Bauman, Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999; Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 1995.

B

Elisabeth Grözinger

IVEntgegnung: Conditio humana versus Krise konkret

Mir imponiert, wie souverän A den Paulus-Text auf unser Leben als ein von Misslingen, von Verfehlung bedrohtes Leben bezieht, dessen Gestaltung sich letztlich menschlicher Kontrolle versagt (Conditio humana). Dadurch erreicht A jedoch eine Generalisierung, die der spezifischen Krise, die meiner Ansicht nach im Korintherbrief vorliegt, nicht gerecht wird. Mit kollektiven Risiken lernten wir zu leben. Aber wie geübt sind wir im Umgang mit individuellen Krisen, die durch persönliche Infrage-Stellungen ausgelöst werden? Wie halte ich eine Erschütterung aus, die durch den Vorwurf ausgelöst wird, ich sei meinen Aufgaben nicht gerecht geworden? Es geht in solchen Krisen wohl schon um die Verarbeitung von Kränkungen, aber zugleich um die gescheiterte Hoffnung, die eigenen Kompetenzen so einbringen zu können, dass die Menschen, die sie abfragten, davon etwas hatten – sei es auf privater oder beruflicher Ebene.

Im Hintergrund des Paulus-Textes scheint eine Krise zu stehen, die durch die Konfrontation mit Kritik an der Art seiner Arbeitspraxis ausgelöst wird. Bei Paulus und meinem Co-Autor scheint es allerdings gar nicht zur Krise zu kommen. Es schimmert eine Orientierung an einem Dritten hervor, um die ich beide zwar beneide, die mir jedoch schwerfällt. Ich kann einen Satz wie »Am Ende unseres Lebens sprechen nicht wir das letzte Wort, sondern dieses letzte rettende Wort spricht der liebende Gott selbst«, obwohl ich ihn verstehe, kaum als Trost übernehmen. Die Orientierung von A am Geheimnis Gottes kann ich aber aufgreifen und als Resilienzfaktor ins Spiel bringen.

IVErschließung der Hörersituation: Evaluationen und die Suche nach Resilienzfaktoren

Menschen stehen heute permanent in Evaluierungsprozessen. Das trifft auch für das Privatleben zu, da sich z. B. durch die sozialen Medien hohe Standards an die Ausübung unserer Rollen als Partnerin/Partner in der Familie und in Freundschaften etabliert haben. Sobald hier Störungen auftreten, kann die Selbst-In-Fragestellung beginnen. Dieser Prozess kann – je nach der persönlichen Konstitution des Betroffenen – noch relativ leicht gebremst werden, indem man die Situation analysiert und Argumente zur Selbstverteidigung findet. Problematischer scheint mir die Situation zu werden, sobald Evaluationen berufliche Auswirkungen haben. Da hängt die Zukunft von der Beurteilung anderer ab, denen man mehr oder weniger ausgeliefert ist. Belastend kann der Evaluationsdruck auch da werden, wo man die Arbeit nicht allein aus finanziellen Gründen tut, sondern weil sie dem eigenen inneren Anliegen entspricht. Wie bewältigt man eine Krise, wenn der Beruf als essentieller Pfeiler des eigenen Selbstverständnisses nicht mehr trägt?

Paulus engagierte sich für die Gemeinden, weil er sich zu dieser Aufgabe berufen fühlte. Er sah auch in seinen Briefen die Chance, das Urteil der anderen zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Paulus wurde zwar von seiner Peergroup validiert, aber er fühlte sich nicht auf diese angewiesen. Insofern ist seine Situation nur bedingt mit der aktuellen Lage vergleichbar, in der Menschen Bewertungsprozessen aller Art ausgesetzt sind und oft wenig Chancen haben, auf das Fremdbild einzuwirken.

Wenn der Selbstwert aufgrund der Kritik von Autoritäten zu sinken droht, kann die Angst auftauchen, die Liebe derer zu verlieren, die einem existentiell wichtig sind. Dazu schreibt die Traumaexpertin Luise Reddemann: »Verlassenheitsgefühle aktivieren neurobiologisch betrachtet unser Paniksystem… Das Paniksystem wird durch Oxytocin deaktiviert. Im Falle nicht möglicher Beruhigung kann es zu Dissoziationen kommen. Dissoziation ist ein Rückzug aus einer bedrohlich erlebten Welt. Diese dissoziativen Zustände sind besonders deshalb quälend, weil sie gleichzeitig Erstarrung und höchstgradige Erregung im Inneren bewirken können.« (Reddemann, 84f.) Reddemann rät dazu, eine Musik zu finden, die einen persönlich beruhigt: etwa Bachs Kantate »Gottes Engel weichen nie«. Die Imagination einer nicht-menschlichen Größe könne die Panik des Allein-Gelassen-Seins mildern (vgl. a.a.O.). Religiöses Coping kann lebensrettend sein. Aber während Paulus dies offenbar problemlos zugänglich war, muss heute oft mühsam gesucht werden, welche Art von imaginierten ›inneren Helfer‹ einen anspricht. Dieser anstrengende Prozess kann sich als heilsam erweisen. Die Advents- und Weihnachtszeit könnte als Impuls genutzt werden, alle Jahre wieder nach der eigenen Resilienz zu fragen und zu erkunden, was einen selbst anrührt und beruhigt. Nicht Paulus, sondern Kirchen sind heute Verwalterinnen des Evangeliums, das Transzendenz jenseits einer alles bewertenden Gesellschaft aufstrahlen lässt. Die Frage stellt sich nur, ob es hier gelingt, die Geschichte Jesu Christi als eine Geschichte anzubieten, die die Kraft schenkt, sich nicht vollständig gerade einflussreichen Werten zu überantworten.

Dietrich Bonhoeffer schrieb: »Nicht in der treuen Leistung seiner irdischen Berufspflichten als Bürger, Arbeiter, Familienvater erfüllt der Mensch die ihm auferlegte Verantwortung, sondern im Vernehmen des Rufes Christi, der ihn zwar auch in die irdischen Pflichten hereinruft, aber niemals in ihn ihnen aufgeht, sondern immer über sie hinaus, vor ihnen und hinter ihnen steht.« (Bonhoeffer, 271) Dieser Satz ist allein aus Gründen der Gendergerechtigkeit übersetzungsbedürftig, aber auch weil das Verständnis eines »Rufes Christi« nicht vorausgesetzt werden kann. Die Übersetzung dieses Satz sehe ich als eine Aufgabe der Predigt.

VIPredigtschritte: Kostbarer noch als Transparenz: Transzendenz

Ziel ist die Einladung zu der Frage, in welcher Weise die christliche Tradition es erlaubt, Resilienz zu entwickeln und das Gefühl für den eigenen Wert als menschliches Geschöpf zu behalten, falls eine Leistung negativ bewertet wird. Es geht darum, die Suche nach dem anzuregen, was einen persönlich unterstützt und welche Dimensionen des Christentums dabei für einen persönlich zentral werden könnten. Letzteres könnte etwa das Bild eines Gottes sein, der nicht nach menschlichen Kriterien richtet. Es könnte das Bild eines Gottes als Kind in der Krippe sein.

Im einleitenden Teil wird es zunächst um berufliche Situationen gehen, die gegenwärtig im Interesse eines effizienten Einsatzes von »Human resources« routinemäßig evaluiert werden. Wie Paulus verwalten Menschen heute – wo immer sie professionelle Aufgaben ausführen – ›fremdes Gut‹ und stehen in der Verantwortung für andere. Dies gilt ähnlich im privaten Bereich, wo wir allerdings mit der Verantwortung für unser eigenes Leben betraut sind. Hier wäre die Ambivalenz von Evaluierungsmaßnahmen aufzuzeigen: Ratingskalen und Beurteilungen dienen der Transparenz und der Standortbestimmung, sind aber auch Stressfaktoren.

Im Mittelteil geht es um die Ressourcen, die in Selbstwert-Krisen aktiviert werden können. Hier können Beispiele angeführt werden: Der ›Kollege‹ Paulus unterstellt sich einem Gott, dessen richterliche Praxis unbekannt ist. D. Bonhoeffer spricht vom »Ruf Christi«; L. Reddemann rät zu ›imaginierten hilfreichen Wesen‹ (vgl. Reddemann, 84f.). C.G. Jung setzte 1957 auf die therapeutische Beziehung: »Die psychische Situation des Individuums ist … sowieso schon von Reklame, Propaganda und anderen mehr oder weniger wohlgemeinten Ratschlägen und Suggestionen dermaßen bedroht, daß dem Patienten wenigstens einmal in seinem Leben eine Beziehung angeboten werden darf, in welche die bis zum Überdruß wiederholten ›man sollte, man müßte‹ … nicht vorkommen.« (Jung, 3039)

Zuletzt lade ich dazu ein, sich ins Bewusstsein zu rufen, was es einem selber ermöglicht, das Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Es ist möglich, dass man auf diverse Resilienzfaktoren zurückgreifen kann. Eine davon kann die christliche Tradition sein. Die hält mehr bereit als das Bild des richtenden Gottes. Advent ist die Zeit der Erwartung eines Gottes, der als Kind zur Welt kommt, welches Windeln braucht. Die Advents- und Weihnachtszeit konfrontiert uns mit dem Gott, der Mensch wird und so auch daran erinnert, dass jede und jeder von uns mehr wert ist als alles, was mit Evaluationsskalen erfassbar ist. Diese Zeit ist eine Zeit, die die unberechenbaren und geheimnisvollen Aspekte des Schöpfers und der Schöpfung vor Augen führt.

Werkstück Predigt (Schluss)

Ich kann nicht mit der Empfehlung schließen, es wie Paulus zu machen und auf den Gott zu vertrauen, der das letzte Wort haben wird, wenn wir von Beurteilungen oder Zuschreibungen erschüttert werden. Paulus’ Weg ist eine gute Möglichkeit, aber sie ist nicht jedem/jeder zugänglich. Schlichtes Nachahmen bringt ohnehin wenig. Die eigene Suche nach dem, was uns hilft an der Geschichte des biblischen Gottes, mag mühsam sein. Die Mühe kann einem vielleicht nicht erspart bleiben.

Der Gott, der sich allen Beurteilungen und Zuschreibungen entzieht, er macht es uns sogar dann nicht leicht, wenn wir Unterstützung brauchen. Er macht uns nicht zu Babys, die mit Seelennahrung gefüttert werden müssen. Dieser unglaubliche Gott traut uns wohl zu, dass wir letztlich spüren, dass keine Evaluationsskala dieser Welt uns im Innersten zu erfassen zu mag. Ein Geheimnis bleiben wir, jede und jeder – kostbar und achtenswert. Genau wie der Gott, »dem alle Engel dienen, der aber ein Kind wird und ein Knecht« (Klepper).

Lied: EG 16 »Die Nacht ist vorgedrungen«.

Literatur: Luise Reddemann, Überlebenskunst, Stuttgart 62011; Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1975; Carl G. Jung, Gegenwart und Zukunft, Gesammelte Werke Bd. 10, Solothurn/Düsseldorf 1995.

4. Advent – 19.12.2021

A

Lukas 1,26–38(39–56)

Gnade macht Freude!

Stefanie Wöhrle

IEröffnung: Staunt über dieses Kind – staunt über Gottes Gnade!

Am vierten Sonntag im Advent herrscht in vielen Gemeinden ›Ruhe vor dem Sturm‹. Häufig kommt an diesem Sonntag (nur) die treue Gottesdienstgemeinde in die Kirche, da die Mehrheit plant, am Heiligen Abend den Gottesdienst zu besuchen. Doch diejenigen, die kommen, nehmen den letzten Adventssonntag bewusst wahr. Sie wollen sich auf das, was da kommt, vorbereiten. Die Verse aus dem Lukasevangelium erzählen davon, vom Kind der Maria, das nicht nur ihr, sondern auch Gottes Sohn ist. Maria und der Engel Gabriel stehen im Mittelpunkt des Predigttextes. Man wird bei der Predigt der Gefahr widerstehen müssen, sich in der Diskussion über die Jungfrauengeburt zu verlieren oder sich an der besonderen Bedeutung Marias, die sie in der katholischen Kirche erfährt, abzuarbeiten. Interessanter erscheint der Blick auf die Person Maria selbst, und zwar so wie sie bei Lukas vorgestellt wird: Sie ist eine einfache, gewöhnliche Frau oder besser: Sie ist eine einfache, gewöhnliche Jugendliche im Konfirmandenalter, die bei Gott Gnade gefunden hat und der mit der Geburt ihres Kindes Großartiges, ja, Unglaubliches verkündet wird. Maria erschrickt über die Gnade, die ihr durch ihre Schwangerschaft von Gott erwiesen wird. Ihr Erschrecken kann all denen die Augen öffnen, die die Weihnachtsgeschichte in- und auswendig kennen, die verlernt oder vergessen haben, über das Wunder der Heiligen Nacht zu staunen, über Gottes große Gnade, die er den Menschen in diesem Kind auf seine ganz eigene Art und Weise zuteilwerden lässt.

IIErschließung des Textes: Ein Hoch auf die Unbedeutende!

Die Erzählung von der Begegnung des Engels Gabriel mit Maria entspricht in ihrer Form der alttestamentlichen Geburtsverheißung. Der Engel Gabriel erscheint bei Maria und grüßt sie: »Sei gegrüßt, du Begnadete!« Maria erschrickt, aber nicht über die Erscheinung des Engels als solchen, sondern über dessen Gruß und damit die Gnade Gottes, die ihr zuteilwird. Der Engel verheißt Maria die Geburt eines Sohnes. Dieser wird der Sohn Gottes sein. Maria wendet ein, dass dies aufgrund ihrer Jungfräulichkeit nicht möglich sein kann. Doch der Engel Gabriel erklärt ihr daraufhin, dass die Geistkraft über sie kommen und sie so den Gottessohn zur Welt bringen wird. Zur Bestätigung seiner Botschaft bekommt Maria ein Zeichen: Elisabeth, ihre bis dato unfruchtbare Verwandte, erwartet so wie sie ein Kind. Auf diese Ansage hin schenkt Maria dem Engel Glauben, so dass dieser, gewissermaßen nach erfolgreicher Mission, wieder verschwinden kann.