Predigtstudien 2021/2022 - 2. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2021/2022 - 2. Halbband E-Book

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Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen/Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

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Seitenzahl: 504

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Predigtstudien

Herausgegeben

von Birgit Weyel (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Wilhelm Gräb,

Doris Hiller, Kathrin Oxen, Christopher Spehr

und Christian Stäblein

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände

Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

I Eröffnung

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

II Erschließung des Textes

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

III Impulse

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

Werkstück Predigt

B-Teil: Situationshermeneutik

IV Entgegnung

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

V Erschließung der Hörersituation

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

VI Predigtschritte

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

Werkstück Predigt

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.verlag-kreuz.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book (epub): 978-3-451-82487-6

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82486-9

ISSN 0079-4961

ISBN 978-3-451-60112-5

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Zum Gedenken an Roman Roessler (28.2.1931–20.8.2021)

Predigtvorbereitung im Ringen um eine zeitgenössische Theologie

Wilhelm Gräb/Wilfried Engemann

08.05.2022 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate)

1 Mose 1,1–4a(4b–25)26–28(29–30)31a(31b); 2,1–4a

Jubel – aber nur trotzdem!

Friedhelm Hartenstein/Horst Gorski

15.05.2022 4. Sonntag nach Ostern (Kantate)

Kolosser 3,12–17

Anziehen und Lobsingen

Angela Rascher/Christopher Spehr

22.05.2022 5. Sonntag nach Ostern (Rogate)

Lukas 11,(1–4)5–13

Von Bettlern und Wunschzetteln

Felix Roleder/Jörg Schneider

26.05.2022 Christi Himmelfahrt

Daniel 7,1–3(4–8)9–14

»Die Abenddämmerung der Welt«

Kristin Weingart/Johannes van Oorschot

29.05.2022 6. Sonntag nach Ostern (Exaudi)

Römer 8,26–30

In der Zwischenzeit: Warten und hören

Doris Hiller/Regina Sommer

05.06.2022 Pfingstsonntag

Römer 8,1–2(3–9)10–11

Von der alltäglichen Präsenz des Heiligen Geistes

Christian Stäblein/Wilhelm Gräb

06.06.2022 Pfingstmontag

4 Mose 11,11–12.14–17.24–25(26–30)

Es reicht!

Michael Schneider/Kristian Fechtner

12.06.2022 Trinitatis

Römer 11,(32)33–36

Gotteslob als Ressource

Helge Martens/Christian Butt

19.06.2022 1. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 16,19–31

Lazarus – eine Zu-Mutung

Lars Christian Heinemann/Anna Böllert

26.06.2022 2. Sonntag nach Trinitatis

Jona 3,1–10

Göttlich konsequente Inkonsequenz

Rolf Stieber/Gerhard Zinn

03.07.2022 3. Sonntag nach Trinitatis

Ezechiel 18,1–4.21–24.30–32

Stunde Null

Antje Eddelbüttel/Holger Treutmann

10.07.2022 4. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 8,3–11

Lossagung

Redlef Neubert-Stegemann/Matthias Kempendorf

17.07.2022 5. Sonntag nach Trinitatis

1 Mose 12,1–4a

Sehnen, schweben, anerkennen

Peter Meyer/Lars Charbonnier

24.07.2022 6. Sonntag nach Trinitatis

Römer 6,3–8(9–11)

Eigentlich bin ich ganz anders – manchmal komme ich sogar dazu

Martin Weeber/Ruth Conrad

31.07.2022 7. Sonntag nach Trinitatis

Johannes 6,1–15

Leben in Fülle

Stephan Seidelmann/Marcel Brenner

07.08.2022 8. Sonntag nach Trinitatis

Markus 12,41–44

Geld oder Leben – eine Witwe wagt zu glauben

Bernhard Liess/Rainer Mogk

14.08.2022 9. Sonntag nach Trinitatis

Matthäus 25,14–30

Mit Mut im Herzen und Angst im Gepäck

Christine Siegl/Antonia Rumpf

21.08.2022 10. Sonntag nach Trinitatis/Israelsonntag: Kirche und Israel

Matthäus 5,17–20

Perspektiven für den Frieden

Ricarda Schnelle/Sabine Winkelmann

28.08.2022 11. Sonntag nach Trinitatis

2 Samuel 12,1–10.13–15a

Der Mann, den Gott nicht fallen ließ

Heinz-Dieter Neef/Christoph Vogel

04.09.2022 12. Sonntag nach Trinitatis

Apostelgeschichte 9,1–20

Ein Riss in allen Dingen

Katharina Fenner/Stefanie Arnheim

11.09.2022 13. Sonntag nach Trinitatis

Lukas 10,25–37

Das Leid des Anderen begreifen

Susanne Wolf/Martin Vetter

18.09.2022 14. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 12,1–6

Dankbarkeit hält die Welt

Klaus-Dieter Kaiser/Rüdiger Sachau

25.09.2022 15. Sonntag nach Trinitatis

Galater 5,25–6,10

Befreiung zu christlicher Lebenskunst

Carsten Claußen/Traugott Roser

02.10.2022 Erntedankfest

5 Mose 8,7–18

»Drei Meilen hinter Weihnachten«

Kathrin Oxen/Jan Roßmanek

09.10.2022 17. Sonntag nach Trinitatis

Jesaja 49,1–6

Zwischen Amen und Aber − Lebenslieder

Ernst Michael Dörrfuß/Jeanette Kantuser

16.10.2022 18. Sonntag nch Trinitatis

Epheser 5,15–20

Der nächsten Generation: Seid nüchtern und dankbar zugleich!

Jörg Dittmar/Clemens Monninger

23.10.2022 19. Sonntag nach Trinitatis

Markus 2,1–12

No Go

Katharina Krause/Verena Mätzke

30.10.2022 20. Sonntag nach Trinitatis

Hoheslied 8,6b–7

Die Liebe ist eine Himmelsmacht

Kristina Kühnbaum-Schmidt/Ralf Meister

31.10.2022 Gedenktag der Reformation

Psalm 46

Ein feste Burg ist unser Gott

Hans Martin Dober/Thorsten Moos

06.11.2022 Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Lukas 17,20–24(25–30)

Zeitsprünge

Wolfgang Vögele/Uwe Hauser

13.11.2022 Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres

Lukas 18,1–8

Wir müssen reden!

Christa Usarski/Renate Gerhard

16.11.2022 Buß- und Bettag

Offenbarung 3,1–6

Umkehr, aber echt jetzt

Reinhard Mawick/Ingo-Christoph Bauer

20.11.2022 Letzter Sonntag des Kirchenjahres: Totensonntag

Johannes 6,37–40

Über den Tod hinaus

Stefan Egenberger/Lucie Panzer

Vergleichstabelle zur neuen Perikopenordnung IV

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Predigtvorbereitung im Ringen um eine zeitgenössische Theologie

Zum Gedenken an Roman Roessler (28.2.1931–20.8.2021)

1. Roman Roessler als Mitbegründer und Redakteur der Predigtstudien

Wilhelm Gräb

Am 20. August 2021 ist Roman Roessler gestorben. Mehr als 40 Jahre lang war er der Schriftleiter und Redakteur der Predigtstudien. Roman Roessler hat den Predigtstudien das Format gegeben, mit dem sie zu einem wichtigen, die religiösen, politischen, sozialen und kulturellen Gegenwartsverhältnisse adressierenden homiletischen Ideengeber geworden sind. Es ist keineswegs übertrieben zu sagen, dass ohne Roman Roessler die Predigtstudien nicht das geworden wären, was sie bis heute sind: ein ebenso kritisches wie anregendes Gespräch mit Predigenden über die mögliche Gegenwartsrelevanz des diesem Sonntag durch die Perikopenordnung vorgegebenen biblischen Textes.

Roman Roessler war von Anfang an dabei. Ernst Lange hatte ihn bereits zur Esslinger Tagung (1968), auf der er das Programm der Predigtstudien zur Diskussion stellte, eingeladen. Schon im zweiten Erscheinungsjahr fungierte er als Schriftleiter und gehörte neben Ernst Lange, Dietrich Rössler und Peter Krusche sogleich auch zum Herausgeberkreis. Roman Roessler war es, der Ernst Langes damals geradezu revolutionäre Idee, die Deutung der »homiletischen Situation« mit gleichem Gewicht neben die Auslegung des biblischen Textes zu setzen, im unermüdlichen Gespräch mit den Autoren und Autorinnen zur Durchsetzung verhalf. Im kritisch-konstruktiven Dialog mit ihnen – über die 40 Jahre waren es mehr als 800 Autoren und Autorinnen – betrieb er seine Redaktionsarbeit so, dass sie zur permanenten Herausforderung, aber auch Chance zur Weiterbildung für die Autoren und Autorinnen wurde. Wem die Ehre zuteilwurde, von ihm um einen Beitrag als A- oder B-Autor gebeten worden zu sein, durfte sich freuen, wenn auf die erste Anfrage auch eine zweite und dann weitere folgten. Denn jeder neuen Anfrage war ein längerer, teilweise freundlich zustimmender, dann auch wieder kritisch mahnender Kommentar zum vorangegangenen Beitrag angefügt. Roman Roessler hatte sich notiert, was ihn im Einzelnen besonders überzeugt hatte, aber auch, wo er weniger oder gar nicht folgen konnte bzw. aus theologischen Gründen nicht folgen wollte.

Das war es, was die Redaktionsarbeit von Roman Roessler auf unnachahmliche Weise auszeichnete. Den Autoren und Autorinnen gegenüber, die – mit Ernst Lange geredet – Anwalt des biblischen Textes (A) und mit ebensolcher Dringlichkeit Anwalt der heutigen Situation (B) sein sollen, schlüpfte er in die Rolle eines Anwalts der Predigenden. Roman Roessler hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Autoren und Autorinnen der Predigtstudien sich selbst der Herausforderung der Predigt mit diesem Text an diesem Sonntag stellen müssen. Nicht indem sie bereits anfangen zu predigen, wohl aber, indem sie zur Sprache bringen, wie sie selbst diesen Text verstehen, welche menschlichen Grunderfahrungen der Text für sie zur Sprache und welche religiös provokante Situation heutigen Lebens er ihnen zum Vorschein bringt. Deshalb duldete er es nicht, die Leser der Predigtstudien mit Empfehlungen abzuspeisen, was gesagt werden müsste. Nein, sag es! Roman Roessler wurde nicht müde, seine Autoren und Autorinnen zu einer eigenen Positionierung anzuregen – sowie dazu, sich als theologisches Subjekt zu artikulieren, das sich den Lesern und Leserinnen der Predigtstudien gegenüber zu einer kritischen Zeitgenossenschaft verpflichtet weiß.

Besonderes Gewicht legte er auf die Erkundung und Beschreibung der homiletischen Situation und damit darauf, welche Sicht auf die Wirklichkeit mein Gespräch mit den Hörern und Hörerinnen der Predigt bestimmt. Roman Roessler standen immer auch die kritischen, skeptischen, die kirchlich distanzierten und der Gemeinde entfremdeten Hörer und Hörerinnen vor Augen – denn er zählte sich selbst zu ihnen. Deshalb attackierte er die Unverständlichkeit der traditionellen Glaubenssprache, warnte davor, Glaubensaussagen zu Aussagen über eine andere, supranaturale Wirklichkeit zu machen oder die Predigt an eine mit kirchlichen Gepflogenheiten vertraute Sonntagswelt zu adressieren.

Roman Roessler dachte groß von der Predigt. Für ihn war sie nach wie vor die entscheidende Gelegenheit, öffentlich zur Sprache zu bringen, wofür das Christentum heute steht. Seine große Befürchtung war, dass die Predigt – und mit ihr die evangelische Kirche – mehr und mehr aus der Gesellschaft auswandern und nur noch für die mit der kirchlichen Tradition Vertrauten von Bedeutung sind. Sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen, das war es, was ihn die anstrengende Redaktionsarbeit – jahrzehntelang neben seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Oberkirchenrat – hat auf sich nehmen lassen. Mit den Predigtstudien und ihrem die kritische Zeitgenossenschaft der Predigt intendierenden dialogischen Verfahren verband er die bleibende Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche.

Ein gravierendes Beschwer war und blieb für ihn dabei bis zuletzt die Verpflichtung auf die Perikopenordnung und damit auf Texte, die manchmal beim besten Willen nicht auf die religiösen, politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen der eigenen Zeit zu beziehen sind. Auf die jüngste Revision der Perikopenordnung hat er große Hoffnung gesetzt. Er zeigte sich jedoch bitter enttäuscht, da ihm das Ergebnis dieser Revision dann doch nur einen weiteren Rückzug ins traditionell kirchliche Milieu anzuzeigen schien. Als Roman Roessler 2014 aus dem Herausgeberkreis ausschied, schrieb er mir, der ich nach ihm die Geschäftsführung in der Redaktion übernommen hatte, in einem persönlichen Brief, nicht ohne resigniertem Unterton: »In unserer Jahrzehnte langen Bearbeitung der vorgegebenen Predigttexte hat sich uns doch gezeigt, in wie vielen Fällen die vorgegebene Textwahl mit ganz gravierenden Problemen verbunden war. Oft wussten wir doch nicht, wem man die Bearbeitung von diesem oder jenem Text überhaupt zumuten konnte. […] Jetzt liegt der 632 Seiten starke Revisionsentwurf vor, in dem sich kein einziger Satz über die heute relevanten Kriterien der Textwahl findet. Warum haben wir denn in unserem Kreis darüber keine Diskussion geführt? Die homiletische Perspektive ist nahezu ausgeblendet. Wie ist das möglich? Das Kirchenjahr als Gestaltungsprinzip – ein Haus, das von der Mehrzahl der heute ja doch sporadischen Kirchenbesucher so längst nicht mehr bewohnt wird.«

Roman Roesslers unruhiger, kritischer Geist und seine furchtlos mahnende Stimme werden nicht nur den Predigtstudien fehlen!

2. Roman Roessler als theologischer Impulsgeber und kritischer Wegbegleiter

Wilfried Engemann

2.1 Ringen um theologische Leitlinien

Als Roman Roessler mich 1996 zur Mitarbeit im Wissenschaftlichen Beirat und kurze Zeit später in den Herausgeberkreis der Predigtstudien einlud, ahnte ich nicht, dass die damit verbundenen jährlichen Redaktionssitzungen zu den intensivsten, an Standpunkte rührenden und Argumente hinterfragenden theologischen Diskussionen im akademischen Jahreslauf gehören würden. Eben noch zum gemütlichen Small Talk aufgelegt und entspannt an seiner Zigarette ziehend, nahmen die von ihm geleiteten Gespräche sofort Fahrt auf, wenn der Tagesordnungspunkt »Verständigung über exemplarische Beiträge aus den beiden Bänden des letzten Jahrgangs« erreicht und wieder einmal deutlich geworden war, dass die von uns nach bestem Wissen und Gewissen erstellten homiletischen Leitlinien zum Erstellen der Teile A und B in (immer noch) zu geringem Maße berücksichtigt worden waren.

Die Hingabe, mit der Roman Roessler jahrzehntelang tausende Predigtstudien sorgfältig lektoriert hat, stand in einer markanten Spannung zu der Unruhe, die ihn befiel, wenn uns der Austausch über die Ergebnisse unserer Editionsarbeit (die deren Bewertung einschloss) über theologische Untiefen und Abgründe führte und an grundsätzliche Fragen unseres eigenen Bibeltextverständnisses, unseres Gottes- und Menschenbildes oder unseres Gebrauchs begrifflicher Lösungen der christlichen Dogmatik rührte. Die Sitzungsprotokolle, die er über Jahrzehnte hin selbst verfasst hat, legen ein beredtes Zeugnis davon ab, in welchem Maße ihm daran gelegen war, seine Mitherausgeber als homiletische Zeitgenossen Jahr um Jahr ins Gebet zu nehmen: Wenn wir uns als Fachkollegen nicht redlich darum bemühten, so Roman Roessler, in gegenseitiger Offenheit und Deutlichkeit Klartext zu reden, wie sollten wir dann zu einer überzeugenden Kritik latent anzutreffender, nicht mehr zeitgemäßer homiletischer Kriterien finden? »Wir leben im 21. Jahrhundert: Wir brauchen eine Theologie, die mit unserem heutigen Verständnis der Wirklichkeit nicht in krassem Widerspruch steht. Die immer neue Wiederholung der alten Antworten und Denkmuster kann das nicht leisten.«1

Dieser Fragehaltung und permanenten Aufgabenstellung entsprach es, dass Roman Roessler in den meisten Sitzungen, deren Agenda er uns im Vorfeld zusandte, jeweils auch eine theologische Frage diskutiert haben wollte, von der wir selber fänden, dass sie beim Predigen auf dem Spiel stehe – was sich, das war seine Erwartung, früher oder später natürlich auch auf die Brauchbarkeit jener Leitlinien auswirken sollte, die die Autorinnen und Autoren beim Abfassen ihrer Predigtstudien (bis heute) vor sich liegen haben.

2.2 Positionierungen

Sehr oft kamen die entsprechenden Impulse von ihm selbst. Ich wähle aus den vielen Diskussionsgängen fünf Themen und Positionierungen aus, die exemplarisch für Roesslers Argumentation waren. Sie haben sich gewiss auch in den zahllosen Rückmeldungen an die Autorinnen und Autoren (von denen Wilhelm Gräb oben berichtet hat) niedergeschlagen und lassen sich zudem als eine Art Fortsetzung der Theologie Ernst Langes interpretieren.

2.2.1 Die Sprache des Christentums betreffend

Wir müssen ernst damit machen, dass die Sprache auch der christlichen Religion eine symbolische Sprache ist: »Wir reden, recht verstanden, immer in Bildern und Gleichnissen, wenn wir von Gott und Glauben und Religion reden, weil wir dafür keine andere adäquate Sprache haben. […] Symbole, Bilder, Gleichnisse sind wie bunte Glasfenster, durch die man schaut; sie sind transparent, sie sind vieldeutig und wollen gedeutet werden. Wenn diese Gebrochenheit symbolischen Redens nicht festgehalten wird, entstehen zwei Wirklichkeiten, die sich nicht mehr vermitteln lassen: Dort eine überweltliche biblisch-dogmatische Eigenwelt, hier unser heutiges Bewusstsein von Realität.«2 Diese These zielt auf die Abkehr vom Propagieren einer Wortgläubigkeit hin zu den Prinzipien einer »unverkrampften«, gleichwohl gut durchdachten und entschlossenen Interpretation3 – was die Abwahl eines »vorgegebenen« Textes, bei dem der Grad an Unverständlichkeit dazu verleiten könnte, sich in der Predigt auf exegetische Informationen zu verlegen, nicht ausschließt. »Es gibt genug andere gut verständliche Texte in unserer Bibel.«4 Ein interpretatorischer Umgang mit Texten sollte natürlich seinerseits symbolisch, bildhaft und gleichnishaft genug sein, um beim Predigen ein Fenster aufzustoßen, durch das Lebensmöglichkeiten heute in den Blick kommen, statt in der Erklärung vermeintlicher damaliger Ereignisse zu versinken.

2.2.2 Den Charakter der biblischen Texte betreffend

Roman Roessler wehrte sich mit Nachdruck gegen die in den Predigtstudien oft genug anzutreffende Auffassung, man habe es bei den biblischen Texten mit Dokumenten »absolut singulären Charakters« zu tun, »Selbstmitteilung Gottes« genannt. Man unterstelle fälschlicherweise, die Bibeltexte präsentierten einen »Grenzverkehr übernatürlicher Art zwischen Himmel und Erde, in dem alle beteiligten Personen doch letztlich nur Sendboten, Sprachrohr, Komparsen und Werkzeuge« seien. Demgegenüber war ihm daran gelegen, dass die Autorinnen und Autoren die Texte als Menschentexte in den Blick bekamen, als verschiedenartige Zeugnisse dafür, was es heißt, unter ganz bestimmten Umständen, in je konkreten Situationen aus Glauben leben zu können. Das schließe ein, sich von der Vorstellung zu verabschieden, geschichtliche Texte wie etwa den Pentateuch als historische Dokumentation zu betrachten: »Das so großartig komponierte deuteronomistische Geschichtswerk ist kein Dokument eines extraordinären Heilshandelns Gottes. Es ist religiöse Dichtung.« – Dichtung freilich im Sinne »verdichteter Glaubenserfahrung«.5

2.2.3 Die Gottesvorstellungen biblischer Autoren betreffend

Zu den am häufigsten von Roman Roessler angesprochenen Problemen der Predigt und der Predigtstudien gehörte die weitgehend unkritische Übernahme der Gottesvorstellungen von Menschen, die tausende Jahre vor uns gelebt und dementsprechend ganz im Sinne der Welt- und Wertekonzepte ihrer Zeit Gottes direktes Eingreifen für alles und jedes postuliert haben (für familiäres Fortkommen, für Eroberungen von Land, für den Tod der Feinde bis hin zum Genozid), was zur Sicherung des Überlebens des von Gott erwählten Volkes – so die Geschichten – wichtig erschien. »Dieser Gott«, so Roessler, »ist zudem ein höchst ›eifersüchtiger Gott‹ (5 Mo 4,5), der jede Abtrünnigkeit gnadenlos ahndet (vgl. 2 Mo 32,26-29).«6

Auch wenn die problematischen Texte im Zuge der Perikopenrevision immer weiter reduziert wurden, blieb seines Erachtens als Grundproblem der Predigt die latente Solidarisierung Predigender mit Gott – zu Lasten mangelnder Solidarität mit den Hörerinnen und Hörern. Für Ernst Lange wie für Roessler war klar, dass die Solidarität des Predigers nicht Gott oder einem Verfasser gilt, sondern der jeweils anwesenden Gemeinde. Daher, so darf man Roessler interpretieren, sollten bestimmte Gottesvorstellungen auch nicht einfach verschwiegen werden; sie sind im Horizont gegenwärtiger Glaubens- und Gotteserfahrungen zu diskutieren, durchaus auch im Dialog mit dem zeitgenössischen Judentum,7 das vor vergleichbaren Herausforderungen steht. Es gilt, ein Gottesverständnis zu stärken, das ein Leben aus Glauben nicht als Verletzung von Grundlagen der Menschenrechte erscheinen lässt und mit dem verantwortlich und lebensdienlich gepredigt werden kann. Roessler vertrat Auffassungen, die in den Predigtstudien selbst kaum je so klar zur Geltung gebracht worden sind: »Wenn wir uns heute nur einen Augenblick die kosmischen Dimensionen des Universums vor Augen halten, und dann die Winzigkeit unseres Planeten, und dann dieses abseits gelegene kleine Völkchen in Palästina. […] Dies dann als das von allen Völkern so einzig von Gott erwählte Volk auszugeben – ein solches Gottesbild mag noch in den Köpfen ultraorthodoxer Juden spuken, für Menschen unserer Zeit ist es schlicht absurd.«8

2.2.4 Den Geltungsanspruch des eigenen Glaubens betreffend

»Nichts hat auf Erden mehr Unheil geschaffen als die Verabsolutierung der eigenen Rasse, Klasse, Nation oder eben auch der eigenen Religion, wobei in der Religion die eigenen Glaubenspositionen, Dogmen und Lehren zudem noch mit dem Nimbus göttlicher Wahrheit überhöht werden können. Verbunden dann auch mit eigenen Absolutheitsansprüchen, die zu Spaltungen, Intoleranz und Abstrafung Andersdenkender führen.«9 In seinen Vorträgen sowie in unseren Diskussionen hat Roman Roessler jenen Zug monotheistischer Religionen hinterfragt, der – wie auch im Christentum – in Absolutheitskonzeptionen mündet. Von »Du sollst keine Götter haben neben mir« zu Aussagen wie »Extra ecclesiam nulla salus« ist inhaltlich kein langer Weg, mag er historisch auch langwierig und komplex gewesen sein.

Wer christlich predigen will, steht vor der Herausforderung, Glauben auf eine Art und Weise zu vermitteln, die nicht auf das Für-Wahr-Halten eines Absolutheitsmodells oder auf Zustimmung zu bestimmten (meist schwer zu fassenden) Glaubensinhalten zielt, sondern die Menschen als Subjekte eines lebensdienlichen Glaubens im Blick hat.10 Das ist ein Glaube, der z. B. nicht auf die »Unterscheidung zwischen Frommen und Heiden, Christen und Nichtchristen, Gerechten und Sündern« spezialisiert ist, sondern »Risse in uns selber« überwindet, auf Versöhnung aus ist, auf Freiheit nicht verzichten kann und Liebe als »letztgültigen Maßstab für den christlichen Glauben«11 betrachtet.

2.2.5 Die theologischen Lösungen der Theodizeefrage betreffend

Heftigste Frustrationen lösten bei Roman Roessler theologische Lösungen der Theodizeefrage aus. Es sei dahingestellt, inwiefern und wie oft das in einer Predigt zur Sprache kommen muss – aber wenn schon, dann kann und darf die solidarische, Mit-Leid signalisierende Haltung gegenüber der Hörerschaft nicht ausgeblendet werden. Roman Roessler beobachtete, wie im Rückgriff auf eine »neue Spielform der Kreuzestheologie« (unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer, Walter Kaspar, Eberhard Jüngel, Jürgen Moltmann u. a.) Leid und Elend dadurch als zumutbar erscheinen sollten, dass ja auch Gott selber leide, weshalb – so der Duktus der theologischen Texte bzw. der kritisierten Predigtstudien – menschliches Leiden kein wirklicher Einwand gegen Gott sein könne. »Dies ist für mich freilich eine geradezu abstruse ›Theologie‹, Millionen und Abermillionen leidender Menschen auf dieser Erde als Trost zu verheißen, es habe da angeblich vor 2000 Jahren in Palästina auch einmal einen für ein paar Stunden leidenden Gott gegeben. Das ist blanker Zynismus. […] Das Theodizee-Problem bleibt die offene Wunde auch unseres eigenen Gottesglaubens. […] Es ist mir aus dem Herzen gesprochen, wenn Fulbert Steffensky schreibt: ›Im Alter wird man unversöhnlicher mit dem Leben. Man verschweigt den Zweifel nicht, der einen beutelt. Man weiß, gegen welche Einwände man Gott lobt. Gott ist die Liebe, haben wir gesagt. Wir sagen das immer noch, aber mit schwerer Zunge, und ich kenne mehr Einwände gegen diese Sätze. Wir müssen darauf bestehen, dass alles, was der Welt und dem Leben angetan wird, niemals einen Sinn ergibt, auch nicht unter irgendeiner Hinsicht der Ewigkeit.‹«12

2.3 Wirkungen

Mit diesen Sichtweisen ist Roman Roessler nun auch noch einmal selbst zu Wort gekommen. Die damit exemplarisch markierte Argumentationsweise hat in tausenden Briefen und E-Mails, mit denen er die Arbeit seiner Autorinnen und Autoren begleitetet und gefördert hat, Gestalt gewonnen – und natürlich auch in den schließlich gedruckten Predigtstudien selbst, denen er mit seinen Rückfragen, Impulsen und Verbesserungen seine redaktionelle Handschrift gegeben hat. Dies hat zur nachhaltigen Etablierung der Marke »Predigtstudien« beigetragen und sie zu dem gemacht, was sie heute sind.

Roman Roessler hat sein Vermächtnis in einigen besonders markanten Texten zusammengefasst. Sie reichen von der 1968 mit Dieter Trautwein publizierten Arbeitshilfe »Für den Gottesdienst. Thesen, Texte, Bilder«13über seinen Essay zur »Theologie im Spiegel heutiger Predigtpraxis«14, die 2010 auf einer Konferenz der EKD in Wuppertal präsentierten »Gravamina gegen die geltende Ordnung der Predigttexte«15 bis hin zu seinen scharf formulierten Einwänden gegen die s.E. zu unkritische Rezeption des lutherischen Verständnisses von »Heilsgeschehen« in einem Grundlagentext der EKD.16 Darin werde, so Roessler, die Bedeutung des christlichen Glaubens kritischen Zeitgenossen gegenüber gerade nicht glaubwürdig vertreten; es handele sich um einen »wirklich höchst ärgerlichen Text lutherischer Gralshüter«17.

Welchen Erfolg seine Bemühungen hatten, zeigt sich nicht nur daran, dass die Predigtstudien seit nunmehr 54 Jahren dankbare Abnehmer finden, sondern dass auch eher kritisch bzw. konservativ eingestellte Fachkollegen das Besondere dieses Format gesehen und gewürdigt haben. Ein prominenter Vertreter jenes homiletischen Konzepts, das vorrangig auf hochprofessionelle exegetische Untersuchungen am Urtext setzte und vorsah, durch anschließende profunde systematisch-theologische Reflexionen eine stimmige Predigtidee zu entwickeln, war der Leipziger Praktische Theologe Gottfried Voigt. Er war (und ist) für seine eigenen, ihrerseits eifrig gelesenen »Homiletischen Auslegungen der Predigttexte« bekannt, die er – aufgrund der Perikopenrevision von 1978 – für zwei komplette Predigtreihen in zwölf Bänden verfasst hat.18 Zu seinen homiletischen Prinzipien gehörte in den 1970er Jahren noch der Satz: »Predigt ist – ›Einbahnverkehr‹ – Anrede Gottes an seine Gemeinde.«19 Gleichwohl vermochte er in einer Rezension dreier exemplarischer Predigtstudienbände der Jahrgänge 1976 bis 1977 das besondere Profil der Predigtstudien trefflich zusammenzufassen: »Zweifellos eine stark anregende, weil von vornherein auf Vielstimmigkeit angelegte, das homiletische Geschehen auflockernde, durchaus auf Lebensnähe bedachte Arbeitsweise. Die PrSt sind durch ein stark experimentierendes Denken gekennzeichnet. Oft wiedersprechen A und B einander. Soll der Text entscheiden? Wie könnte er? Er ist ja auch nur eine ihrer Zeit und ihrer Situation zugehörige Bezeugung der ›Christusverheißung‹ (wie E. Lange gern sagte), nicht anders als die von uns zu haltende Predigt von der Situation provoziert. Nicht verwunderlich, dass in den PrSt mit dem Text oft gerechtet wird: nicht nur historisch-kritisch, nicht nur transformatorisch-interpretierend, sondern empirisch-kritisch, so dass das von der Predigt zu Bezeugende hier und da auch ohne oder gar gegen den Text geltend gemacht wird. Das Bemühen, den Text gehorsam nachzusprechen – in der Überzeugung nämlich, dass der Text ›es in sich hat‹ und darum den Hörer von selbst treffen wird –, hat, wie die PrSt meinen, allzu oft zur Sterilität, zur kirchlichen Introvertiertheit, zur pseudogeistlichen Sicherheit, zur Kommunikationslosigkeit geführt, so dass es Zeit wird, nach ganz neuen Wegen zu suchen.

Unter allen vergleichbaren Unternehmungen sind die PrSt das avantgardistischste. Originelle Formulierungen, fesselnde Schlagzeilen, ›Einfälle‹ (ja, was kann einem nicht alles einfallen!), leidenschaftliches Bemühen um den Menschen von heute in der Solidarität des Fragens, der Befremdung, der Ratlosigkeit, des Angefochtenseins. Dies ist unter allen Umständen zu hören und ernstzunehmen, mehr noch: Es ist verpflichtend und mitreißend. Es liegt in der Natur der Sache, dass aus Arbeiten wie diesen – wenn denn ihr eigener Ansatz nicht verleugnet werden soll – nicht gebrauchsfertige Erkenntnisse übernommen werden können, sondern der Benutzer auf einen Weg geschickt wird, den er jedenfalls selbst nicht nur zu gehen, sondern auch zu finden hat.«20

Nun ist aus dem Text zum Gedenken an Roman Roessler auch eine kleine Würdigung des Konzepts der Predigtstudien geworden. Wir konnten das in diesem Fall nicht wirklich voneinander trennen. In seiner bescheidenen Art hätte es ihm sicher gefallen, dass wir nicht nur von seiner Person, sondern auch von der Sache reden, die ihn so viele Jahrzehnte beschäftigt hat. Dass er nicht nur als Mensch, als Kollege und Freund, sondern eben auch als Experte so intensiv mit uns unterwegs war, hat ihn für viele auf vielerlei Weise zum Segen werden lassen.

Berlin/Wien am Reformationstag 2021

1Ich zitiere hier und im Folgenden aus dem Manuskript zu einem Vortrag, den Roman Roessler im Oktober 2013 in Bremen gehalten hat. Er liest sich wie eine Summa all jener Themen, die er im Laufe der Jahre mit uns besprochen, zu denen er sich positioniert – und nun in diesem Text einmal mehr auf den Punkt gebracht hat. Der Titel seines Vortrags nimmt ein Zitat von Heinz Zahrnt (Glauben unter leerem Himmel. Ein Lesebuch, München/Zürich 2000, 31) auf: »›Der metaphysische Himmel ist eingestürzt.‹ Auf der Suche nach einer Theologie im 21. Jahrhundert«. Der Vortrag wurde im Rahmen einer Themenreihe des religionsphilosophischen Salons in der Evangelischen St. Remberti-Gemeinde in Bremen am 25.1.2013 präsentiert. Dieses Manuskript – wie auch einige andere unveröffentlichte Beiträge und vier im Eigenverlag in wenigen Exemplaren hergestellte Bücher (teils aus unveröffentlichten Vorträgen, teils aus publizierten Aufsätzen bestehend) – hat Roman Roessler Freunden und Weggefährten u. a. bei Einladungen zu seinen runden Geburtstagen in die Hand gedrückt, um mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Das Zitat findet sich auf S. 1 des Manuskripts.

2A.a.O., 2.

3Als Beispiel hierfür brachte Roessler gern Gal 4,4f. ins Spiel.

4Vgl. hierzu die sehr konkreten Vorschläge bei Roman Roessler, Gravamina gegen die geltende Ordnung der Predigttexte, in: Amt der VELKD (Hg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision, Hannover 2010, 135–142.

5Vgl. Roman Roessler, »Der metaphysische Himmel ist eingestürzt« (s. Anm. 1), 6.

6Roman Roessler, Unser Wissen ist Stückwerk. Einwilligung in ein fragmentarisches Leben (Eigenverlag), Bremen 2016, 40.

7In seiner Schrift Unser Wissen ist Stückwerk (s. Anm. 6), 42 zitiert Roessler den jüdischen Historiker Shlomo Sand: »Inwieweit ist die jüdisch–israelitische Gesellschaft bereit, sich von der alten Vorstellung zu verabschieden, die sie zum ›auserwählten Volk‹ macht, und aufzuhören, sich selbst abzugrenzen und andere aus ihrer Mitte auszustoßen, gleichgültig, ob das aus fragwürdigen historischen Gründen oder mittels einer dubiosen Biologie geschieht?« (Schlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010, 456).

8Roman Roessler, Unser Wissen ist Stückwerk (s. Anm. 6), 42.

9A.a.O., 37.

10Schon in seiner Promotionsschrift kündigt sich dieses Denken an. Roessler vermittelt in seiner Auseinandersetzung mit Emil Brunner die Frage nach der Gottesbeziehung des Menschen konsequent mit den Kategorien menschlicher Existenz und Erkenntnis, vgl. Roman Roessler, Person und Glaube. Der Personalismus der Gottesbeziehung bei Emil Brunner, München 1965. Dies wurde in der Rezeption dieser Arbeit als wichtige Beobachtung wahrgenommen, vgl. Wendell Gordon Johnson, Soteriology as a Function of Epistemology in the Thought of Emil Brunner (Phil. Diss, Ph. D.), Rice University, Houston (TX) 1989, 3, 5, 63, 70, 102, 157, 209f.; James Horace Maness, The Doctrine of God in two Representative Types of Personalistic Theology (Phil. Diss, Ph. D.), Emory University, Atlanta (GA), 1969, 14, 18f.

11Vgl. Roman Roessler, »Der metaphysische Himmel ist eingestürzt« (s. Anm. 1), 8.

12Roman Roessler, Unser Wissen ist Stückwerk (s. Anm. 6), 60f.

13Roman Roessler/Dieter Trautwein, Für den Gottesdienst. Thesen, Texte, Bilder, Gelnhausen [1968] 31972.

14Roman Roessler, Theologie im Spiegel heutiger Predigtpraxis. Brief an einen Mitstreiter der homiletischen Zunft, in: Wilfried Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 61–67.

15Roman Roessler, Gravamina gegen die geltende Ordnung der Predigttexte (s. Anm. 4), 135–142.

16Rat der EKD (Hg.), Für uns gestorben. Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2015.

17Roman Roessler, Warum Luthers damalige Deutung des »Heilsgeschehens« für uns nicht mehr glaubwürdig ist. Eine kritische Replik zum Lutherjahr, in: Ders., Zielsetzungen. Konturen einer progressiven Theologie (Eigenverlag), Bremen 2019, 21–33, 21.

18Gottfried Voigt, Homiletische Auslegung der Predigttexte (6 Bde., Reihe 1–6); Leipzig 1965–1970; Ders., Homiletische Auslegung der Predigttexte. Neue Folge (6 Bde., Reihe 1–6), Göttingen 1978–1983.

19Gottfried Voigt, Mitten unter ihnen, Berlin 1973, 53f.

20Gottfried Voigt, Rezension zu Peter Krusche/Ernst Lange/Dietrich Rössler/Roman Roessler (Hg.), Predigtstudien für das Kirchenjahr 1976, Perikopenreihe IV/2. Halbband; Predigtstudien für das Kirchenjahr 1976/77, Perikopenreihe V/1. u. 2. Halbband, Stuttgart/Berlin, Kreuz Verlag 1976/77, in: ThLZ, 105. Jg., H. 5., 1976, 382–384, 383.

3. Sonntag nach Ostern (Jubilate) – 08.05.2022

A

1 Mose 1,1–4a(4b-25)26–28(29–30)31a(31b); 2,1–4a

Jubel – aber nur trotzdem!

Friedhelm Hartenstein

I Eröffnung: Und wenn wir scheitern?

In den 1980er Jahren war die Klimakrise schon ein gesellschaftliches Thema, obgleich sie noch nicht unmittelbar in ihren Wirkungen erfahren wurde. Theologisch wurde auf sie mit dem Motto »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« reagiert. Zu Recht wurde dabei erkannt, dass soziale Fragen der Verteilung von Ressourcen sowie das Bemühen um ein konfliktfreies Miteinander notwendige Elemente eines ökologischen Denkens und Handelns im Weltmaßstab sein müssen. Anders sind die Wechselwirkungen zwischen der Menschheit und ihren natürlichen Lebensgrundlagen weder zu verstehen noch zum Positiven zu verändern. Schon damals erhoben sich aber auch kritische Stimmen, die das Leitbild der Bewahrung der Schöpfung als Hybris identifizierten: Mit ihm werde die Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur zwar ins Heilvolle gewendet, jedoch ein mögliches Scheitern nicht mitgedacht. Heute stellen sich die Dinge anders dar: Intuitiv und rational gewinnt ein Zukunftsszenario an Wahrscheinlichkeit, nach dem die Verwandlung der Welt durch technologische Beschleunigung, Kapitalisierung der Erde und Dezimierung der Artenvielfalt nicht mehr aufzuhalten ist. Damit könnte sich eine Schlussfolgerung erfüllen, die der Experimentalphysiker und Essayist Georg Christoph Lichtenberg schon im 18. Jahrhundert angesichts möglicher »menschengemachter Veränderungen der Erdatmosphäre« formulierte: »So könnte die Welt untergehen.« (Detering, 166) Es geht dabei nicht um den Weltuntergang an sich, sondern präzise um die Zerstörung der Voraussetzungen, die uns als Spezies zum dominierenden Faktor des Planeten werden ließen und ohne die wir nicht leben können. Gen 1 enthält wirkmächtige Aussagen und Bilder zu den Aufgaben des Menschen in der einzigen Lebenswelt, die wir haben. Wie alle großen Texte ist er dabei in seiner Ambivalenz zu bedenken.

II Erschließung des Textes: Realistische Rede vom Menschen

Gen 1,1–2,4a eröffnet die Bibel mit dem denkbar weitesten Horizont: dem des Uranfangs, an dem alle Grundlagen unserer Lebenswelt gelegt wurden. Damit bewegen sich die priesterlichen Verfasser der frühnachexilischen Zeit auf Augenhöhe mit den Wissenskulturen ihrer altorientalischen und griechischen Umgebung. Gen 1 ähnelt v. a. weisheitlichen Texten, in denen mythisch das Woher der Weltordnung wie auch ihrer Bedrohung beschrieben und durchdacht wurde (vgl. dazu genauer Gertz, 26–79). Innerhalb der Tora ist der Beginn mit diesem Text nicht zufällig, sondern spiegelt die Einsicht der nachexilischen Schichten des Pentateuchs, wonach der Gott Israels auch der einzige Schöpfer der Gesamtwirklichkeit und mit ihr aller Völker ist. Seine Position wird dabei jenseits von Raum und Zeit verortet. JHWH handelt »im Anfang« (Gen 1,1) ganz unanschaulich und bleibt doch in dem durch ihn gewollten Kosmos wirksam. Seine Ordnungen sind durchdacht. Sie bieten Entfaltungsmöglichkeiten für alle Geschöpfe und folgen einer Struktur, die der menschliche Geist verstehen und annehmen kann und soll. Insofern ist es folgerichtig, dass sowohl in jüdischer (z. B. bei Philo von Alexandrien) wie in christlicher Perspektive (z. B. in Joh 1) Gen 1 zusammen mit der weiteren Urgeschichte zu einer fundamentalen Matrix religiöser Wirklichkeitserschließung wurde, die Glaubende seitdem zum Weiterdenken anregt.

Wenn die Perikopenordnung den Text an Jubilate vorsieht, so hat das vor allem eine doxologische Pointe: Der Lobpreis jenes Gottes, der Jesus nicht bei den Toten ließ, sondern ihn aus dem Nichtseienden ins Leben zurückgerufen hat (vgl. Röm 4,17, wohl unter Anspielung auf Gen 1,1–3), wird nach Ostern weitergeführt. Er schließt die Resonanz aller Lebewesen, besonders der Menschen, auf die Welt als Schöpfung, d. h. vor allem als lebensförderliche Umgebung, ein. Dieses Lob antwortet v. a. auf Gen 1,31: »Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.« Eine weitere lobende Antwort ritueller Praxis besteht nach Gen 2,1–4a in der Heilighaltung des Sabbats bzw. Sonntags als notwendiger Zäsur in der Zeit (Heschel, 11ff.).

Im priesterlichen Gesamtaufriss der Urgeschichte ist zugleich angelegt, dass die überaus positive theozentrische Weltsicht von Gen 1 im Licht einer realistischen Anthropologie der Gewalt zwischen den Lebewesen verdunkelt ist. Diese Gewalt (ḥāmās Gen 6,11.13) geht vor allem vom Menschen aus. Eine wirkmächtige Deutung hat bekanntlich das göttliche »sehr gut« (V.31) zusammen mit der Beauftragung des Menschen (V.26–28) verabsolutiert. (Gottes Urteil über sein Werk war aber niemals anders gedacht als in Bezug auf Gen 6,12: »Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt.«) Indem man die intentionale Überblendung zwischen Schöpfung und Sintflut übersah, konnte Gen 1,28, der Auftrag zur Inbesitznahme der Erde und zur Herrschaft über die Tiere, neuzeitlich als Freibrief im Umgang mit der Natur wahrgenommen werden. Dabei kann die Verderbnis der Erde durch die Menschheit im biblischen Sintflutmythos durchaus aktuell als ungebremste Ressourcenausbeutung gelesen werden.

Dennoch garantieren die Aussagen zur Gottebenbildlichkeit aus V.26f. auch eine Kontinuität zwischen der vor- und nachsintflutlichen Menschheit: Auch wenn die erste Menschheit durch den Schöpfer wegen des durch sie maßgeblich inszenierten Gewaltzusammenhangs vernichtet wurde, wird JHWH die zweite, auf Noah gegründete Menschheit und die Tierwelt nie mehr entsprechend vertilgen (Gen 9,1–7, vgl. Jeremias, 249). Begründet wird das mit der weiterhin geltenden Bestimmung zum Bild Gottes: Die Menschen sind trotz ihrer Fehlbarkeit nicht aus der (Mit-)Verantwortung für die Welt entlassen. Insofern sollte das Lob Gottes an Jubilate auch im Geist des Dankopfers nach der Sintflut geschehen. Was kann daraus für eine Predigt zu Gen 1 folgen?

III Impulse: Trotzdem hoffen und handeln

Angesichts der vorgegebenen Versauswahl sehe ich drei mögliche Ansatzpunkte für eine Predigt, die auch gut verknüpft werden können:

1. Gen 1,1–4: Anhand dieser Verse wäre die Gegenwartsrelevanz der Rede von Schöpfung in jüdischer und christlicher Sicht herauszustellen. Wie kann man angesichts der naturwissenschaftlichen Weltsicht dem biblischen Text noch etwas abgewinnen? Es wäre – gegen den naiven Kreationismus – darauf hinzuweisen, dass wir immer von orientierenden Narrativen leben und dass bewusster Glaube diesen kritisch nachdenkt. Eine Gottesvorstellung wie die von Gen 1,1–4, die alle menschlichen Spielräume transzendiert, bildet eine wichtige Grenzmauer gegen Ideen ungebrochener Machbarkeit. Meine Predigt würde hierzu auch die Transformation des Schöpfungsdenkens durch die Christologie einbringen: Schöpfung im christlichen Sinn meint ja auch die Heilung des Zerbrochenen. Sie kommt her von der Aufhebung der Finsternis am Ostermorgen als einer Resonanz auf das erste Schöpfungslicht. Das berührt eine andere, vielleicht fundamentalere Ebene unseres Seins als die naturwissenschaftliche Weltbeschreibung.

2. Gen 1,26–28: Mit der neueren Forschung wäre die von Anfang an in biblischer Anthropologie angelegte Ambivalenz zu benennen (s. II). Mir geht es nicht um die zur Genüge thematisierte Kritik an einseitiger Rezeption als Ermächtigung zur Naturzerstörung. Wichtiger erscheint die biblische Einsicht, dass die Menschen zwar zum Bild Gottes geschaffen wurden, aber an den Aufgaben eines sorgenden und mitfühlenden Umgangs mit der Lebenswelt (allen voran den Tieren) gescheitert sind. Ohne einem Zurück zur Natur das Wort zu reden, würde ich mit Jonathan Franzen für die Anerkennung der Möglichkeit plädieren, dass die Menschheit den Kampf gegen den Klimawandel nicht gewinnen kann. Auch das Motto der Bewahrung der Schöpfung wäre dann kritisch zu modifizieren. Mit Blick auf die beschleunigte Transformation der Welt im Anthropozän wäre christliches Handeln als Weltliebe, die Nächstenliebe einschließt, zu praktizieren. Im Licht der großen (Oster-)Hoffnung könnten wir uns an kleineren konkreten Hoffnungen orientieren, die wir verwirklichen können, z. B. (metaphorisch wie praktisch) die Pflege unseres Gartens – um das einprägsame Bild aufzunehmen, das einst Voltaire ans Ende seines Candide gestellt hatte, der empfiehlt, sich nach allen Gräueln und Katastrophen »unserem Garten« zu widmen.

3. Gen 2,1–4: Schließlich gehört zu solchem christlichen Realismus im Licht des ersten Schöpfungsberichts auch die Einsicht in die von Anfang an bestehende Gabe der recreatio im Ruhetag Gottes, auf die wir an Sabbat und Sonntag antworten. Sie eröffnet uns Atempausen im Atemlosen.

Werkstück Predigt (Schluss)

Im Licht des Sabbats, so die jüdische Tradition, scheint etwas vom ersten Schöpfungslicht auf, das aus der Finsternis erstmals Struktur und Konturen hervortreten ließ. Das kann auch für unsere Seelenpflege bedeutsam sein. Stehen wir doch vor der Möglichkeit eines unabwendbaren Verlustes der Welt, wie wir sie kennen und brauchen. Am Ostersonntag findet unsere christliche Hoffnung auf die heilende Kraft Gottes ihren größten Anhalt: Rituale wie das Entzünden der Osterkerze und das Verlesen von Gen 1 sind Wiederanknüpfungen an die Welt und ihr Geheimnis, dessen Tiefe wir trotz aller Gefährdung suchen.

Literatur: Heinrich Detering, Menschen im Weltgarten, Göttingen 2020; Jonathan Franzen, Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können. Ein Essay, Hamburg 2020; Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1-11 (ATD 1), Göttingen 2018; Abraham J. Heschel, Der Schabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Berlin 2001; Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (GAT 6), Göttingen 2015.

B

Horst Gorski

IV Entgegnung: Einig im hermeneutischen Framing

Keine Entgegnung. Wie A und B sich ergänzen, wird sich bei der Lektüre erschließen. Zwei Bemerkungen: Ich danke A für den Hinweis auf Gen 6,12. Damit liefert er einen Ansatz für das von mir vermisste hermeneutische Framing für die Auslegung von Gen 1–2: Gott sah, dass es gut war – und dass es nicht gut war auf der Erde. Wenn dieser Spannungsbogen gehalten wird, verbietet sich eine eindimensionale Auslegung von Gen 1–2. Und: A konzentriert seinen Blick auf Schöpfung im Sinne von Umwelt und Nachhaltigkeit. Gen 1–2 hat aber kulturelle Prägekraft auch für die gesellschaftliche Ordnung entfaltet. Das sollte mit im Blick sein.

V Erschließung der Hörersituation: Ein Blick auf die Kulturgeschichte des Abendlandes

Die Hörer assoziieren wahrscheinlich verschiedene Themen: Klima und den Umgang mit Ressourcen, die Ausbeutung der Natur und die Ausrottung zahlloser Arten. Manche werden das Motto von der Bewahrung der Schöpfung im Ohr haben. Kundige werden die Spannung einer Schöpfung in sieben Tagen zur Evolutionstheorie erkennen. In der Pandemie wurde die Frage gestellt, ob die Schöpfung gut sei. Die Ehe für Mann und Frau oder für alle wird als Thema aufgerufen in der Formulierung »er schuf sie als Mann und Frau« (1,27). Auf jedem Stellenangebot prangen heute die Lettern m/w/d. Widerspricht die Annahme eines dritten, diversen Geschlechts der Schöpfungsordnung?

Die Vielfältigkeit der Themen ist ein Hinweis darauf, welche kulturelle Prägekraft dieser Text jahrhundertelang hatte. Allerdings ist damit zugleich die Krisenhaftigkeit dieser Bezüge markiert: Keiner dieser Bezüge besteht heute ohne Fragezeichen, wenn er denn überhaupt noch besteht. Ein Blick auf den ersten Schöpfungsbericht der Bibel ist ein Blick in die Kulturgeschichte der abendländischen Welt und ihre Wandlung von mythischen Erklärungen zur Aufklärung durch Vernunft.

Schöpfungstheologie war im Protestantismus klassisch Ordnungstheologie. Wohin Gott einen Menschen mit der Geburt gestellt hatte, das – so die Annahme – sei seine schöpfungsgemäße Bestimmung, die er zu akzeptieren habe. Die Ordnung, in die der Mensch gestellt ist, sei beschrieben im Schöpfungsbericht der Bibel, in den Briefen des Paulus und den Traditionen der Überlieferung. Diese Ordnungstheologie war durch ihre Verbindung mit deutsch-nationaler Politik und Gedanken von der Offenbarung Gottes in der Geschichte seit dem Kaiserreich und dann in tragischer Verquickung im »Dritten Reich« nach 1945 obsolet geworden. Eine methodisch durchreflektierte Schöpfungstheologie wurde danach im deutschsprachigen Raum nicht mehr entworfen. In dieses Vakuum fiel 1983 das von der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver ausgegebene Motto eines konziliaren Prozesses zu »Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung«. Der Auftrag, die Erde »zu bebauen und zu bewahren« (2,15) wurde in Stellung gebracht gegen das Sich-Untertan-Machen und Herrschen (1,28). Geradezu endemisch wurde die Rede von »Gottes guter Schöpfung«. Doch dieser aus der Ökumene inspirierte Umgang mit dem biblischen Text blieb ein wenig wahllos, weil nie ein Framing entworfen wurde, also ein methodischer Ansatz von Schöpfungstheologie, von dem her hermeneutische Kriterien zur untereinander stimmigen Auslegung der einzelnen Stellen gewonnen werden konnten. So bleibt rätselhaft, warum die Erschaffung der Welt in sieben Tagen nicht wörtlich oder normativ zu glauben sei; warum 1,28 geradezu als Gefahrenherd für einen verfehlten Umgang mit der Natur ausgelegt wird; warum aber 2,15 als normativ anzusehen ist und aus dem wiederholten »Und Gott sah, dass es gut war« geschlossen werden soll, dass die Schöpfung insgesamt gut sei. Und warum – wenn sie gut wäre – es Fressen und Gefressenwerden, Krankheiten und Unglück gibt. Und warum, wenn der Zustand, in dem sie geschaffen wurde – um welchen Zeitpunkt ihrer Evolution sollte es dabei gehen? – gut war, nun das »m« und das »w« durch ein »d« ergänzt werden. Aus einem Text, der als Antwort auf das Handeln Gottes das Gotteslob des Menschen provoziert, wurde ein Zettelkasten, aus dem man sich wahlweise bediente. In der Pandemie gab es denn auch zahlreiche Kritiker solch unreflektierter Reden über die »gute« Schöpfung, die in Zeiten eines grassierenden Virus nichts Taugliches zur Daseinsdeutung beizutragen vermöchten (Thomas).

Wenn die Predigt nicht selbst zum Zettelkasten werden soll, ist eine thematische Entscheidung erforderlich. Es wäre auch gut, sich für einen hermeneutischen Zugang zu entscheiden. Dieser Zugang kann vom Wochenspruch und dem Grundthema des Sonntags Jubilate gewonnen werden: die Neuschöpfung der Welt in Jesus Christus und das Gotteslob des Menschen als Antwort darauf. Auf die Neuschöpfung in Christus sind alle zeitgebundenen, vorläufigen Zugänge zum Thema Schöpfung zu beziehen. Sie lenkt den Blick von einem Standpunkt jenseits dieser Welt auf diese Welt als Schöpfung Gottes. Dieser Blick relativiert jede menschliche Daseinsdeutung und stellt zugleich in die Verantwortung, das eigene Handeln vor dem Horizont der Neuschöpfung dieser Welt zu sehen.

Das Stichwort Neuschöpfung weckt bei den Hörern möglicherweise auch noch andere, politisch-kulturell konnotierte Assoziationen: Am 8. Mai 1945 kapitulierte das Deutsche Reich am Ende des Zweiten Weltkriegs und es begann ein Weg in eine neue demokratische Gesellschaftsform. Vielleicht ist die Hörersituation im Frühjahr 2022 auch von den ersten Schritten einer neuen Regierung geprägt, die sich eine radikale Transformation der Gesellschaft hin auf ein klimaneutrales Wirtschaften und Leben auf die Fahnen geschrieben hat.

VI Predigtschritte: »Unser Freund – das Atom«

Die Atomtechnik war in den 50er und 60er Jahren eine weithin integrierende Idee der Zukunftsgestaltung auf der Basis einer unbegrenzt vorhandenen, sauberen Energie. Mit dem Eintauchen in diese Welt – an die sich ältere Predigthörer erinnern werden – wird auf erzählerische Weise eine geschichtshermeneutische Perspektive geschaffen. Jede Zeit entwickelt ihre eigenen Zugänge zur Daseinsdeutung. Im Rückblick wird die Vorläufigkeit aller Deutungen erkennbar: sowohl die Deutung, die die Autoren der biblischen Schöpfungsberichte vollzogen haben, wie auch unsere eigenen Deutungen heute. Welche das gegenwärtig sind, könnte nach eigenem Geschmack ausgeführt werden. Zielpunkt der Predigt: Keine unserer Daseinsdeutungen kann absolute Geltung beanspruchen. Im Gegenteil, da, wo dies geschieht, wird sie totalitär und gefährlich. Von dieser Gefahr befreit der Glaube an die Neuschöpfung der Welt in Christus, die nicht unsere eigene Sache sein kann, die uns aber in die Verantwortung für unser Handeln hineinnimmt.

Werkstück Predigt

»Unser Freund – das Atom«. Sie schmunzeln, liebe Gemeinde, aber diese Formulierung habe ich mir nicht ausgedacht. So hieß vielmehr eine Beilage zu den Mickey-Maus-Heften in den 50er Jahren, die über mehrere Jahre naturwissenschaftliche Kenntnisse den zumeist jüngeren Leserinnen und Lesern nahebringen wollte. Zahllose Jungen und sicher auch Mädchen sammelten damals diese Reihe und erwarteten die nächste Ausgabe mit Ungeduld. Hier wurde in verständlicher Form über Raketentechnik und Automobile, vor allem aber über die Möglichkeiten der Atomtechnik informiert. Obgleich die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wenige Jahre zuvor gefallen waren, herrschte ein Optimismus vor, Energie, Nahrung und Gesundheit mit Atomtechnik verbessern zu können. Wörtlich heißt es: »Es liegt in unserer eigenen Hand, die Schätze des Atoms mit Weisheit zu nutzen. Dann wird die zauberhafte Energie des Atoms bald für die ganze Welt zu wirken beginnen.« (Welzer, 7) Zu dieser Reihe drehte Walt Disney einen Film, in dem er selbst auftritt und, ein Atommodell in der Hand, die Möglichkeiten dieser zauberhaften Energie erklärt. In der deutschen Fassung ist es der damals populäre Heinz Haber, der das Atom in Händen hält. Und auf dem Cover eines Buches ist eine Frauenhand zu sehen, die ein Atommodell auf den Fingerspitzen hält wie eine Seifenblase, die beim Spülen entstanden ist.

In die Gedankenwelt von damals einzutauchen, dieses Versprechen auf Gestaltbarkeit und guter Zukunft, ist lustig aus heutiger Sicht, aber auch befremdlich und beunruhigend. Nun soll es in dieser Predigt natürlich nicht um politische Fragen der Atomnutzung gehen. Vielmehr zeigt das Eintauchen in diese Gedankenwelt, wie jede Zeit ihren eigenen Zugang zu den Fragen der Weltgestaltung hat, nach dem Woher und Wohin.

Lieder: EG 453: »Schon bricht des Tages Glanz hervor« (als Eingangslied); EG 427: »Solang es Menschen gibt auf Erden« (zur Predigt).

Literatur: Harald Welzer, Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt am Main, 2013.

Internet: Günther Thomas, Gott ist zielstrebig. Theologie im Schatten der Corona-Krise, https://zeitzeichen.net/node/8206

https://de.wikipedia.org/wiki/Unser_Freund_das_Atom

https://www.duckipedia.de/Unser_Freund_das_Atom

Alle abgerufen am 26.10.2021.

4. Sonntag nach Ostern (Kantate) – 15.05.2022

A

Kolosser 3,12–17

Anziehen und Lobsingen

Angela Rascher

I Eröffnung: Es geht ums Ganze

Kantate – der Sonntag ist eine Aufforderung, eine im Plural. Gemeinsam soll gesungen werden. Der 4. Sonntag nach Ostern ist dem Singen gewidmet und vermutlich ist der Predigttext wegen des zweiten Teils des Verses 16 ausgewählt worden: »Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.« Auf den zweiten Blick wird eine weitere Gemeinsamkeit des Sonntags und des Predigttextes erkennbar: Es geht ums Ganze. Beim Singen ist – im besten Fall – der ganze Mensch im Einsatz. Kantate ist nicht die Aufforderung zum halbherzigen Mitbrummen, sondern zum Singen mit Leib und Seele (vgl. die Wochenlieder EG 302 »Du meine Seele singe« oder »Ich sing dir mein Lied« aus den EG Ergänzungen). Auch Kol 3,12–17 ermutigt, den Glauben im ganzen Leben wirksam werden zu lassen. Der letzte Vers der Perikope fasst dies zusammen: »Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.«

II Erschließung des Textes: Gott entsprechend Mensch sein

Kleider machen Leute: Wie ich mich kleide, wie ich mich bewege, wie mein äußeres Auftreten ist, das sagt etwas über mich aus. Kol 3,12–14 fordert dazu auf, bis ins Äußerste den Status als von Gott geliebter und erwählter Mensch zu zeigen. Große Worte werden hier verwendet. Der Text spricht die Leser*innen als Geliebte, Erwählte und Geheiligte an. Kleiner geht es auch nicht. Denn der Kolosserbrief wirbt dafür, als Gemeinde Gott zu entsprechen. Die genannten Eigenschaften: herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut und Geduld sind Begriffe aus der biblischen Tradition, mit denen sonst Gott beschrieben wird. In V.13 wird es dann auch ausformuliert: So wie der Herr vergeben hat, so soll man auch einander vergeben. Und als wäre das nicht genug, soll über allem die Liebe getragen werden, die als Band der Vollkommenheit alles zusammenhält.

Der Kolosserbrief stellt sich selbst als Paulusbrief vor, geschrieben in Gefangenschaft. Eine theologische wie sprachliche Nähe zu den paulinischen Texten ist deutlich erkennbar, dennoch wird meist nicht von einer paulinischen Verfasserschaft ausgegangen. Der Textabschnitt Kol 3,12–17 steht im Zusammenhang mit anderen Fragen des Lebens aus dem Glauben. Das Verhältnis von altem und neuem Menschen wird bedacht, ebenso wird vor möglichem Fehlverhalten gewarnt. Ab Kol 3,18 folgt die sog. Haustafel.

In Kol 3,12–14 wird positiv beschrieben, wie ein Leben aus dem Glauben bzw. als neuer Mensch aussehen könnte. Hier greift der Text wieder auf große Worte zurück. »Lasterkataloge sind also weit stärker traditionell vorgeformt; die Warnung vor dem Bösen ist leichter konkret zu gestalten als der positive Aufruf zum Guten.« (Schweizer, 154) Der Kolosserbrief geht dabei aufs Ganze: Er wirbt nicht für ein bisschen Freundlichkeit hier und da, sondern für ein grundlegendes Umdenken, eine Haltung und einen Lebensstil, der dem neuen Status entspricht: geheiligt – auserwählt – geliebt.

Alle drei Begriffe machen deutlich, dass Gottes Handeln vorausgeht: Gott heiligt und erwählt und liebt. Menschen dürfen dem entsprechen. Sie dürfen zeigen, wer sie sind. Auch die weiteren großen Worte (herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Geduld und Liebe) werben für eine Korrespondenz von Gott und Gemeinde. Selbst wenn die Worte vielleicht erst einmal zaudern lassen: Sie sind Ermutigung. Die Adressat*innen dürfen so sein, wie Gott sie sich gedacht hat. Sie dürfen Gott entsprechen. Sie dürfen hineinschlüpfen in die Kleider, die vielleicht ein wenig zu groß oder zu steif sind oder am eigenen Leib unpassend wirken. Sie dürfen damit in die Welt gehen und sagen: »Seht her, ich bin eine Heilige, ich trage es sogar in den Kleidern.« Das heißt nicht, dass alles perfekt sein muss im Leben. Die Kleider dürfen auch mal einen Fleck haben, schlecht sitzen oder so gar nicht zu einem passen. Was aber bleibt, ist die Zusage Gottes: Geheiligt und auserwählt und geliebt – so sind Gottes Menschen, so ist seine Gemeinde. Hier braucht sich niemand zu verstecken.

Im nächsten Abschnitt, Kol 3,15–17, steht Christus im Mittelpunkt: Der Friede Christi soll die Herzen steuern und das Wort Christi soll unter den Menschen wohnen. Hier geschieht ein Blickwechsel: War vorher von den Kleidern – den Äußerlichkeiten – die Rede, wird nun vom Inneren und Privaten gesprochen, vom Herz und vom Wohnen. Hier ist Christus zuhause und die Gemeinde kann dies dankbar feiern. Die folgenden Verben (lehren – ermahnen – singen) lassen vermuten, wie das Gemeindeleben oder der Gottesdienst ausgesehen haben. Welche Psalmen und Hymnen dabei gemeint sind, lässt sich nur vermuten. Es ist aber deutlich, dass hier etwas geschieht: Menschen treten untereinander und mit Gott in Beziehung. Das erinnert an Luthers Torgauer Formel: »Im Gottesdienst – so sagt er bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche 1544 – solle ›nichts anderes geschehen, als dass unser lieber Herr mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum ihm antworten in Gebet und Lobgesang‹. Damit ist der Gottesdienst als ein Beziehungsund Klanggeschehen beschrieben, in dem sich eine Begegnung zwischen Gott und Mensch ereignet.« (Gottesdienst, 31)

Mit dem letzten Vers 17 weitet sich der Blick: Es gibt keinen Bereich ohne Christus. In allem Reden und Tun soll das erkennbar sein. Der Gottesdienst wird somit ausgeweitet auf den »kosmischen Christusleib, einem ›Heilsbereich‹, der als besondere Sphäre der Versöhnung gedacht ist, die durch die Evangeliumsverkündigung erst noch auf die ganze Welt auszuweiten ist«. (Bormann, 173)

III Impulse: Zeig, wer du bist!

Wo Gott wirkt, passiert etwas. Das klingt banal – doch Kol 3,12–17 versucht genau dies in Worte zu fassen: Gott verändert Menschen, im Innersten und bis ganz nach außen. Das Bild des Anziehens kann aufgenommen werden: Kleider machen Leute, Verkleiden spielen macht nicht nur Kindern Spaß, Dresscodes können eingehalten oder bewusst gebrochen werden. Es gibt passende und unpassende Kleidung, bequeme und unbequeme. Es gibt den Wunsch nach Typveränderung oder Farb- und Stilberatung. Hinter diesen Wünschen steht das Bedürfnis, mit der Kleidung den eigenen Stil zu finden, der der eigenen Persönlichkeit entspricht. So fordert auch Kol 3,12–17 dazu auf, zu zeigen, wer wir sind und wofür wir einstehen. Es geht nicht ums Verkleiden, sondern ums Anprobieren neuer Kleidung, die dem neuen Mensch, dem erwählten, geheiligten, geliebten, entspricht. Wie finde ich eine solche Kleidung, eine solche Haltung, die auch noch (zu mir) passt? Vielleicht kann die Predigt erzählen, wo das gelingt.

Auch wenn im Text alle dazu aufgefordert werden, dieselben Eigenschaften zu tragen, so wird daraus keine Uniformiertheit werden. Die Gemeinschaft entsteht nicht durch äußerliche Gleichheit, sondern durch die Beziehung zu Gott bzw. zu Christus. Vielleicht formuliert Kol 3,12–17 deshalb große Linien mit großen Worten: Was herzliches Erbarmen, Demut oder Liebe konkret bedeuten, muss jede*r selbst für sich und den eigenen Kontext definieren.

In der Gemeinschaft wohnt das Wort Christi. Hier wird miteinander gesungen, es wird gelehrt und ermahnt. Gottesdienst wird gefeiert. Gemeinsam, nicht alleine, wird die neue Kleidung getragen. Alle Aufforderungen sind daher im Plural: Zieht an, dankt, lasst wohnen und – am Sonntag Kantate vielleicht am zentralsten – singt! Kol 3,12–17 ermutigt, etwas von der göttlichen Realität im Hier und Heute spürbar und sichtbar werden zu lassen: im eigenen Verhalten und im gemeinsamen Gemeindeleben. Es geht um Haltung und Spiritualität. Beides ist Ausdruck der Gottesbeziehung: Als Geheiligte, Erwählte, Geliebte gestalten Menschen die Welt und feiern Gottesdienst.

Werkstück Predigt: Zieht die Liebe an!

Lustlos sitzt Lea in ihrem Zimmer. Die Kleider liegen schon bereit. Sie war extra mit Mama einkaufen. Und eigentlich ist schwarz auch cool, sie durfte sogar eine Leggings aussuchen und musste nicht die kratzige Hose nehmen, die Mama passend fand. Doch jetzt scheint sich alles an ihr gegen die Klamotten zu wehren. Sie schafft es nicht einmal aufzustehen.

Sie wusste, dass dieser Tag kommen würde. Opa war lange krank und am Ende so schwach, dass er kaum noch ein paar Sätze sagen konnte. Sie will ja auch zur Beerdigung, aber doch nicht in diesen Sachen. Irgendwie kommt ihr alles, was sie ausgesucht hat, unpassend vor.

Irgendwann rafft Lea sich auf, geht an den Schrank, vielleicht findet sie dort etwas Passendes. Aber was? Sie wühlt sich durch, ganz hinten wird sie fündig. Eine Hose, eine ordentliche Jeans, die Opa ihr gekauft hat, als sie mal mit den zerrissenen Jeans zu ihm kam. So kann eine junge Dame doch nicht herumlaufen, hat er gesagt. Wie haben sie sich gestritten. Er wollte sie nicht verstehen – und sie ihn nicht. Erst ein Jahr später, bei seinem Geburtstag, hatte sie die Hose zum ersten Mal an. Sie schlüpft hinein. Vielleicht nicht ganz passend für eine Beerdigung, aber Opa würde sie schon verstehen. Und da weiß Lea auch, was sie dazu anzieht: eine Bluse, eine bunte – da hat Opa immer gesagt, sie würde ihr so gut stehen. Lea schaut in den Spiegel. Wenn Opa sie so sehen könnte.

Literatur: Lukas Bormann, Der Brief des Paulus an die Kolosser, ThHK X/1, Leipzig 2012; Ulrich Luz, Der Brief an die Kolosser, in: Jürgen Becker/Ulrich Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser, NTD 8/1, Göttingen 1998, 181–244; Eduard Schweizer, Der Brief an die Kolosser, EKK XII, Neukirchen u. a. 1976.

Der Gottesdienst. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Gottesdienstes in der evangelischen Kirche. Herausgegeben im Auftrag des Rates der EKD, Gütersloh 2009.

B

Christopher Spehr

IV Entgegnung: Passende Kleidung oder falsche Größe?

Geheiligt, auserwählt, geliebt! Auf diesen neuen Status, auf diesen neuen Lebensstil macht A aufmerksam und betont zu Recht: Es ist nicht das eigene Tun, sondern Gottes Handeln, das meinem eigenen Handeln stets vorausgeht. Gott heiligt, erwählt, liebt. Von Gott her sind wir Geheiligte, Auserwählte, Geliebte. Innere Veränderung bewirkt auch äußere Veränderung. Das ist gute paulinische Theologie. Das Verb »anziehen, sich bekleiden« (V.12, in V.14 ergänzt) lässt A ans Verkleiden denken, das nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen Freude bereitet. Weniger spielerisch geht es in der Tat ums Anziehen neuer Kleidung, die dem neuen Menschen entspricht. Der neue Status, wie er in Kol 3 beschrieben wird, ist wie neue Kleidung, die sitzt und passt. Die den Menschen verwandelt und ihm ein gutes Gefühl vermittelt.

Aber ist das wirklich der Fall? Manchmal ist das ausgewählte Stück zu groß oder zu klein. Manchmal zwickt es oder entpuppt sich im Alltag als untragbar. Neue Kleidung sitzt keineswegs immer gleich gut. So geht es mir mit Kol 3,12–15. Die Kleidungsstücke scheinen mir eine bis mehrere Nummern zu groß zu sein: Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, einander Ertragen und Vergeben – und alles in Liebe, welches ist »das Band der Vollkommenheit« (V.14), und im Frieden. Das sind große Worte, die A in erquicklicher Leichtigkeit einspielt und zum fröhlichen Ausprobieren empfiehlt. Aber macht sie es sich damit nicht ein wenig zu leicht? Wird der Text dann nicht schnell zu einem Wunschtext, dem der eigene lebensgeprüfte Erfahrungskontext widerspricht? Wie verhält es sich mit der persönlichen, familiären, beruflichen und gemeindlichen Realität? Mit den Erfahrungen von Hartherzigkeit, Unfreundlichkeit, Hochmut, Lieblosigkeit, Ungeduld gepaart mit Eifersucht, Zwanghaftigkeit, Habsucht oder gesteigertem Leistungsdenken? Diese und andere lieb- und friedlosen Erfahrungen erzeugen Enttäuschungen, Verletzungen, Gefühle der Ohnmacht und der Schuld – in den Bezügen des Lebens, meines Lebens. In der Auslegung von Kol 3,12–17 sehe ich daher zwei Gefahren: Entweder wird der Text zum unerfüllbaren Sehnsuchtstext stilisiert, dem kaum jemand entsprechen kann, oder zum mahnenden Gesetzestext degradiert, welcher er von der paulinischen Gnadenlehre her gerade nicht ist.

V Erschließung der Hörersituation: Singen statt Verzagen

Den Hörerinnen und Hörern wird hier einiges zugemutet. Schon die Anrede Auserwählte Gottes, Heilige, Geliebte ist schmeichelhaft, entspricht aber nur bedingt den eigenen Erlebnissen. Ein Heiliger, eine Auserwählte? Ich, mit meinen Schwächen und Lastern? Noch weniger lebensnah erscheinen die aufgeführten Tugenden, die dem neuen, dem christlichen Lebensstil entsprechen sollen. Die neuen Kleider mögen die jungen Christen in der Anfangszeit des Christentums mit der Taufe angezogen und ihnen gepasst haben. Für uns Heutige im Jahr 2022 erscheinen sie längst nicht mehr neu, sondern eher von Motten der Auslegungs- und Erfahrungsgeschichte zerfressen zu sein. Wie sehr sind die einstigen christlichen Ideale in die Jahre gekommen, stumpf und farblos geworden und vom skrupellosen Alltag mit seiner rücksichtslosen Nehmermentalität ad absurdum geführt worden. Wer Schwäche zeigt, hat verloren. Auch unter Christinnen und Christen scheint der Umgangston rauer geworden zu sein. Zwar wird noch über Vergebung und Verzeihen, über Liebe und Frieden gepredigt, doch hat ihre lebensverändernde Strahlkraft vielerorts – auch in Kirchengemeinden und christlichen Familien – abgenommen. Die Worte sind oft zur leeren Floskel geronnen oder zur moralisierenden Gesetzlichkeit verkommen.

Und dennoch gibt es eine große Sehnsucht nach Liebe und Frieden, nach Angenommen- und Geliebtsein. Auch wenn viele diese Sehnsucht nicht mehr religiös füllen und begründen können (oder wollen), ist der Wunsch nach echter, unzerbrechlicher Liebe und wahrem, dauerhaftem Frieden groß. Die Sehnsucht lässt erahnen, wie lebensdienlich die paulinischen Tugenden sein wollen. Doch beim Praxistest stoßen wir immer wieder an unsere Grenzen.

Aber Kol 3,16f. stimmt noch andere Töne an: singen und danken. Die Strahlkraft der Musik ist bekannt und ein elementarer Bestandteil des christlichen Gottesdienstes. Harmonien und Melodien entfalten eine tiefe, innere Kraft. Sie gehen zu Herzen und treffen die Herzen – ob bei Menschen mit oder ohne christlichem Hintergrund. Singen erzeugt Stimmungen, löst Gefühle von Trost und Hoffnung aus und tut der Seele einfach gut. Zudem fördert es die Gemeinschaftserfahrung, was nicht nur Chorsängerinnen und Chorsänger bestätigen können.

Auch das Danken erzeugt eine bejahende Grundstimmung. Der Dank orientiert den Menschen auf Gutes und bietet defizitären Haltungen Kontra. Danken hat wie Singen therapeutische Wirkung. Es richtet den Blick auf, weckt die müden und verzagten Lebensgeister und macht froh und fröhlich. Diese lebensdienliche Funktion des Singens und Dankens lässt den erschöpften Menschen aufatmen – und den Blick auf Gott richten. Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder verstärken den Dank, den Dank für Gottes Wirken und Handeln an mir. Im dankbaren Singen öffnet sich ein Stück weit der Himmel – selbst dann, wenn vieles um mich herum und in mir dunkel erscheint.

Wo Gott wirkt, passiert etwas – so hat es A trefflich formuliert. Im Singen und Danken passiert Veränderung; innere Veränderung, Verwandlung des Herzens, durch die äußere Verwandlung möglich wird. Diese innere Veränderung bewirkt auch einen anderen Umgang miteinander: Statt lieb- und friedloses Gegeneinander beginnt ernsthaftes Vergeben und Verzeihen, wächst echte Liebe und wahrer Frieden in den Bezügen des Lebens. Gibt es einen schöneren Anlass, als dieses am Sonntag Kantate durch Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder spürbar werden zu lassen?

VI Predigtschritte: Loblied des Herzens

Die lebensdienliche Kraft des Lobens und Dankens möchte ich in der Predigt zum Klingen bringen und dadurch die innere Veränderung des Herzens und die äußere Veränderung des Lebens erfahrbar machen.

Loblied des Herzens – praktischer Perspektivwechsel: Am Sonntag Kantate darf kräftig und viel gesungen werden. Als Einstieg kann der Kanon von Johannes Petzold dienen: »Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, und meinen Gott loben, solange ich bin.« (EG 340) Um das Loblied zu verstärken, lohnt es sich, die Predigt an zwei oder drei Stellen durch den Kanon zu unterbrechen. – An diesem Frühlingstag gibt es Grund zum Danken und Loben. Wir sind Auserwählte, Heilige und Geliebte! Von Gott angenommene Menschen, auch wenn wir dies nicht immer glauben wollen. Lob und Dank verändert die Perspektive – weg von der bisweilen trostlosen Selbstbespiegelung, von den eigenen Verletzungen und Schuldgefühlen, hin zu Gott und zum Wir. Egal, ob ich die Töne glockenklar treffe oder die Melodie nur krächzend brumme. Der Blick richtet sich nach oben – und im gemeinsamen Singen auf meinen Nebenmenschen.

Loblied des Herzens – auch im Leiden