Predigtstudien 2022/2023 - 1. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2022/2023 - 1. Halbband E-Book

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Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theolog:innen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

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Seitenzahl: 523

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Predigtstudien

Herausgegeben

von Birgit Weyel (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,

Wilhelm Gräb, Doris Hiller, Kathrin Oxen,

Christopher Spehr und Christian Stäblein

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände

Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

I Eröffnung

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

II Erschließung des Textes

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

III Impulse

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

B-Teil: Situationshermeneutik

IV Entgegnung

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

V Erschließung der Hörersituation

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

VI Predigtschritte

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

Satz: Arnold & Domnick GbR, Leipzig

Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book (epub): 978-3-451-82742-6

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82743-3

ISSN 0079-4961

ISBN 978-3-451-60117-0

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Zum Gedenken an Dietrich Rössler (20.01.1927–16.12.2021)

Birgit Weyel

27.11.2022 1. Advent

Offenbarung 3,14–22

Lauwarm geht gar nicht

Ralph Kunz/Thomas Schlag

04.12.2022 2. Advent

Hoheslied 2,8–13

»Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!«

Ruth Poser/Kristin Merle

11.12.2022 3. Advent

Jesaja 40,1–11

Den Nächsten trösten – wie sich selbst

Matthias Lobe/Johann Hinrich Claussen

18.12.2022 4. Advent

Philipper 4,4–7

Freut euch! – Wie in einer zerrissenen Welt Freude predigen?

Lukas Grill/Christian Nottmeier

24.12.2022 Heiligabend (Christvesper)

Lukas 2,1–20

Fürchtet euch nicht! Vom Gloria zum Susaninne

Harald Schroeter-Wittke/Inge Kirsner

24.12.2022 Heiligabend (Christnacht)

Ezechiel 34,23–31

Lichtblicke in bedrohlichen Zeiten

Ulrike Wagner-Rau/Julia Koll

25.12.2022 1. Weihnachtstag (Christfest I)

Kolosser 2,3(4–5)6–10

Weihnachtliche Weisheit

Martin Vorländer/Ursula Roth

26.12.2022 2. Weihnachtstag (Christfest II)

Matthäus 1,1–17

»Dass er unser Bruder worden ist«

Helge Martens/Senta Zürn

31.12.2022 Silvester (Altjahrsabend)

Römer 8,31b–39

Mit unerschütterlicher Zuversicht

Stefanie Wöhrle/Nina Spehr

01.01.2023 Neujahrstag

Lukas 4,16–21

Nach vorne sehen

Christina Weyerhäuser/Sonja Beckmayer

06.01.2023 Epiphanias

2 Korinther 4,3–6

Wahrheit im Zwielicht

Doris Hiller/Wiebke Bähnk

08.01.2023 1. Sonntag nach Epiphanias

Johannes 1,29–34

Geistes Gegenwart

Georg Raatz/Johannes Greifenstein

15.01.2023 2. Sonntag nach Epiphanias

2 Mose 33,18–23

Lass mich deine Herrlichkeit sehen!

Stephanie Krause/Maximilian Baden

22.01.2023 3. Sonntag nach Epiphanias

Römer 1,13–17

Dynamis – Wie weit wir gehen können

Dirk Vanhauer/Kord Schoeler

27.01.2023 Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

1 Mose 4,1–10

Das Blut schreit zu uns

Inken Rühle/Christian Staffa

29.01.2023 Letzter Sonntag nach Epiphanias

Matthäus 17,1–9

Loslassen, um zu leben

Fabian Maysenhölder/Christiane Renner

05.02.2023 3. Sonntag vor der Passionszeit (Septuagesimae)

Matthäus 9,9–13

Grenzen überschreiten

Hans-Ulrich Probst/Gerald Kretzschmar

12.02.2023 2. Sonntag vor der Passionszeit (Sexagesimae)

Jesaja 55,(6–7)8–12a

Wenn die Wirklichkeit überfallartig die Gedanken aus eingefahrenen Wegen hinauswirft

Frank Thomas Brinkmann/Hans-Martin Gutmann

19.02.2023 Sonntag vor der Passionszeit (Estomihi)

1 Korinther 13,1–13

Die Liebe schafft sich ihre Menschen

Wiebke Köhler/Cornelia Coenen-Marx

26.02.2023 1. Sonntag der Passionszeit (Invokavit)

Hiob 2,1–13

Grund-los glauben

Wilhelm Gräb/Ernst Michael Dörrfuß

05.03.2023 2. Sonntag der Passionszeit (Reminiszere)

Markus 12,1–12

ZuMUTungen Gottes?!

Martin Böger/Angelika Behnke

12.03.2023 3. Sonntag der Passionszeit (Okuli)

Lukas 22,47–53

Showdown

Christof Jäger/Margrit Wegner

19.03.2023 4. Sonntag der Passionszeit (Lätare)

Jesaja 54,7–10

Daseinsfreude

Heinz-Dieter Neef/Birgit Weyel

26.03.2023 5. Sonntag der Passionszeit (Judika)

Hebräer 5,(1–6)7–9(10)

Tränen der Erlösung

Doris Gräb/Johan Cilliers

02.04.2023 6. Sonntag der Passionszeit (Palmarum)

Johannes 12,12–19

Das Blatt wendet sich

Bernd Kuschnerus/Wibke Winkler

06.04.2023 Gründonnerstag

Lukas 22,39–46

Beten – zwischen Zweifel und Zuversicht

Katrin König/Carolyn Decke

07.04.2023 Karfreitag

Kolosser 1,13–20

Blutiger Friede

Dieter Beese/Hans-Joachim Petsch

08.04.2023 Osternacht

Jesaja 26,13–14(15–18)19

»Protestleute gegen den Tod«

Albrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger

09.04.2023 Ostersonntag

1 Korinther 15,1–11

Bei den Basics bleiben – die Zeitenwende bezeugen

Friedrich W. Horn/Sebastian Feydt

10.04.2023 Ostermontag

Lukas 24,13–35

Aufbrechen in den Alltag, beflügelt vom Auferstandenen

Tilman Fuß/Andreas Hinz

16.04.2023 1. Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti)

1 Mose 32,23–32

Gewinn für alle

Wibke Janssen/Henning Theurich

23.04.2023 2. Sonntag nach Ostern (Miserikordias Domini)

1 Petrus 5,1–4

Hirten sein in schwierigen Zeiten

Claas Cordemann/Michael Kösling

30.04.2023 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate)

Johannes 16,16–23a

Keine Fragen mehr!

Sven Petry/Helmut Aßmann

07.05.2023 4. Sonntag nach Ostern (Kantate)

1 Samuel 16,14–23

Aufgespielt! – Von einer Botschafterin Gottes, der Musik

Astrid Kleist/Marcus A. Friedrich

14.05.2023 5. Sonntag nach Ostern (Rogate)

1 Timotheus 2,1–6a

Das Gebet stark machen

Ulrike Suhr/Sonja Keller

Vergleichstabelle zur neuen Perikopenreihe V

Perikopenverzeichnis

Anschriften

Zum Gedenken an Dietrich Rössler (20.01.1927–16.12.2021)

Birgit Weyel

Kurz vor Vollendung seines 95. Lebensjahres ist der Tübinger Praktische Theologe Dietrich Rössler im Dezember letzten Jahres nach kurzer Krankheit gestorben. Dietrich Rössler war von 1968 bis 2015 Mitherausgeber der Predigtstudien und gemeinsam mit Peter Krusche und Ernst Lange Initiator der Arbeitstagung »Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit«, die im Waldheim Esslingen in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Bad Boll und dem Kreuz-Verlag vom 22. bis 24. September 1967 stattgefunden hat. In diesem Gesprächszusammenhang prägte Dietrich Rössler das homiletische Programm einer jüngeren Generation maßgeblich mit. Die Predigt sollte aus ihrer Umklammerung durch dogmatische Ansprüche befreit und als Kommunikationsbemühung begriffen werden.

»Predigt ist formal gesehen ein Auftrag zur Kommunikation. Sie ist Mitteilung an den Hörer, die auf sein Einverständnis und seine Einwilligung zielt. Sind Einverständnis und Einwilligung dabei als Akte persönlicher Entscheidung letztlich unverfügbar, so setzen sie doch allemal Verständigung voraus. Für das Gelingen solcher Verständigung sind die Kommunizierenden voll verantwortlich. Verständlichkeit der Predigt ist daher unabdingbares Kriterium ihrer Auftragsgemäßheit. Das bestimmt die Vorbereitung der Predigt in allen ihren Phasen« (Theorie und Praxis, 44).

Kommunikation, Verständigung und Verständlichkeit zeichnen die Konturen eines homiletischen Programms, das die wirkliche Predigt in den Mittelpunkt rückt und die Predigtarbeit als eine Aufgabe beschreibt, die gestaltbar wird. Neben Kommunikation, Verständigung und Verständlichkeit tritt bei Rössler die Verantwortlichkeit des Predigers. Denn das Problem der Homiletik bestehe darin, dass »der Predigtbegriff und die sonntägliche Aufgabe des Pfarrers in einer nicht mehr zu überbietenden Weise belastet und befrachtet« seien (Das Problem der Homiletik, 27). Die Gestaltbarkeit der Predigtaufgabe stehe und falle mit einer praktischen Predigtlehre, einem geordneten Verfahren, das Prinzip und Erfahrung miteinander vermitteln kann. Die Predigtarbeit wird einerseits methodisch orientiert und dadurch auch besser zu bewältigen. Andererseits aber rückt die Verständlichkeit der Predigt stärker in den Verantwortungsbereich des Predigers, der sich nicht länger mit dem Hinweis, er predige nur den Text und verkündige das Wort Gottes den Rückfragen nach seiner konkreten Predigt entziehen kann.

Dietrich Rössler war gemeinsam mit Ernst Lange und weiteren Weggefährten Teil einer homiletischen Bewegung, die der Predigt, der vielfach geteilten Diagnose der »Belanglosigkeit« (Gerhard Ebeling, zitiert in: Theorie und Praxis, 8) zum Trotz, eine große Bedeutung für das kirchliche Leben und alle weiteren gesellschaftlichen Felder wie Politik, Wirtschaft u. a.m. zugemessen hat. Die Frage nach dem Hörer und seiner Situation habe daher selbständigen Rang neben oder sogar vor der Frage nach der Überlieferung (Theorie und Praxis, 45). Deshalb müsse eine Predigthilfe mehr bieten als nur eine Exegese und meditative Impulse für Anwendungsbezüge, sondern eine Gegenwartshermeneutik, die den Prediger dazu anregt, mit seinen Predigthörern ins Gespräch zu kommen. »Predigt und Predigtvorbereitung tragen daher prinzipiell dialogische Struktur. Sie sind ein aus dem Dialog erwachsendes und den Dialog wiederum eröffnendes Geschehen« (a. a. O., 45).

Eine Predigthilfe kann und soll daher nicht die Verantwortlichkeit der Prediger:innen sistieren, sondern will nicht mehr und nicht weniger sein als eine »Hilfe zur Selbsthilfe« (a. a. O., 46). Neben den von ihm verfassten Predigtstudien zeigt sein 1979 im Kreuz-Verlag erschienener Predigtband Vergewisserung. 22 Beispiele christlicher Rede eindrücklich, wie er selbst in der Stiftskirche Tübingen gepredigt hat: sowohl text- als auch lebensnah, sprachlich klar, nicht ohne Ironie, die sich aber nie gegen seine Hörer:innen wendet, vor allem aber verständlich.

In Dietrich Rösslers Leben spiegeln sich zentrale Etappen der jüngeren Theologiegeschichte. Immer wieder gingen von ihm Impulse aus, etwa für die Reform des Theologischen Studiums oder die Gründung der International Academy for Practical Theology im Jahr 1991. Sein umfänglicher Grundriß zur Praktischen Theologie, 1986 und in 2. Auflage 1994 erschienen, bietet einen Theorierahmen, der die Vielfalt religiöser Phänomene empirisch und systematisch zugleich aufschließt. Wie eng die Etablierung empirischer Zugänge und die Verwissenschaftlichung der Praktischen Theologie miteinander verbunden sind, hat Albrecht Grözinger beschrieben (Grözinger, 479). Der Praktischen Theologie wird von Dietrich Rössler vor allem die Vermittlungsleistung zugeschrieben, denn sie sei »[d]ie Verbindung von Grundsätzen der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung zu der wissenschaftlichen Theorie, die die Grundlage der Verantwortung für die geschichtliche Gestalt der Kirche und für das gemeinsame Leben der Christen in der Kirche bildet« (Grundriß der Praktischen Theologie, 3). Prinzip und Erfahrung, beide Pole müssen in die Balance gebracht werden.

Vieles von dem, was sich mit der Homiletik Dietrich Rösslers verbindet, ist heute keineswegs überholt. Die Funktion der Predigt als christliche Rede in der Gesellschaft verändert sich und bleibt daher immer wieder neu zu bestimmen. Der Mediatisierung unserer Lebenswelt ist dabei nur ein Aspekt neben anderen. Die Predigt ist als Verständigungsbemühung mit den Hörer:innen zu gestalten, dialogisch und ergebnisoffen. Und nicht zuletzt bleibt es die kritische Aufgabe einer praktischen Predigtlehre, die wirkliche Predigt vor unrealistischen Zuschreibungen in Schutz zu nehmen.

Literatur: Albrecht Grözinger, Die dreifache Gestalt des Christentums: Dietrich Rössler, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck, Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 1999, 471–500; Dietrich Rössler, Das Problem der Homiletik, in: Albrecht Beutel/Volker Drehsen/Hans Martin Müller, Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1986, 23–38 (zuerst erschienen in: Theologia Practica 1 [1966], 14–28); Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 21994; Dietrich Rössler, Vergewisserung. 22 Beispiele christlicher Rede, Stuttgart 1979; Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit. Predigtstudien Beiheft 1, hg. von Ernst Lange in Verbindung mit Peter Krusche und Dietrich Rössler, Stuttgart/Berlin 1968.

1. Advent – 27.11.2022

A

Offenbarung 3,14–22

Lauwarm geht gar nicht

Ralph Kunz

I Eröffnung: Zum Kotzen?

In der Alten Kirche war die Adventszeit eine Fastenzeit zur Vorbereitung auf das Geburtsfest Jesu. Später betonten irische Missionare die endzeitliche Wiederkunft Christi und das Jüngste Gericht. Die Akzentverschiebung zur Buße ist bis heute als adventliche Ambivalenz spürbar. Sie kommt an den unterschiedlichen Adventssonntagen liturgisch zum Ausdruck. Mit der Entscheidung, die Perikope Offb 3,14–22 vom Buß- und Bettag auf den 1. Advent zu legen, wird nun der Aufruf zur Umkehr an den Anfang gestellt. Das könnte für eine Gottesdienstgemeinde, die sich auf einen behaglichen Auftakt in die Adventszeit einstellt, wie eine kalte Dusche wirken. Warum nicht? Wenn die Predigt den geistlichen Thermostat wechselweise auch auf Heiß stellt, folgt sie dem Impuls des siebten Sendschreibens. Was sich nach einer Kneipp-Kur anhört, ist tatsächlich therapeutisch gemeint. Es geht darum, nicht lauwarm zu werden. Laues Wasser galt in der antiken Medizin als Brechmittel. (Lichtenberger, 114) Dazu passt, dass der göttliche Sprecher der angesprochenen Gemeinde mitteilt: »Ich spucke dich aus.« (V.16) Im Griechischen steht hier das Wort »kotzen«. Das ist heftig! Was macht ein diskretes Christentum, das wohltemperierte Predigten schätzt, mit einem solchen pädagogischen Grenzfall der Beschämung? (Fechtner, 162 f.) Kann die in Aussicht gestellte Erhöhung den Tiefschlag kompensieren? Wie lässt sich die Spannung der beiden adventlichen Akzente halten?

II Erschließung des Textes: Apokalyptisches Wechselbad

Der forcierte Schamdruck, den die Schelte auslöst, entblößt nicht nur die Adressatin. Auch der göttliche Sprecher gibt sich eine Blöße. Er zeigt Gefühle. An diesem Exempel zeigt sich wie im Brennglas, was Apokalypse ist und was sie bewirken will. Zwar ist die siebte der kleinasiatischen Gemeinden äußerlich gesehen in einer guten Verfassung – sie ist reicher und angesehener als die Schwestergemeinden, die im Rundschreiben angesprochen werden – aber sie hat auch mehr zu verbergen. Sie behauptet, sie sei reich, aber in Wahrheit ist sie bettelarm. Sie meint, sie habe den Durchblick, aber in Wahrheit ist sie stockblind. Und wie der König in Hans Christian Andersens Märchen, der sich von Betrügern umgarnen lässt, kann auch die Gemeinde ihre eigene Nacktheit nicht erkennen. Coram publico, öffentlich vorgeführt, wird ihr wahrer Zustand offenbar.

Warum hört die Fehlbare den Tadel nicht im geschützten Rahmen eines seelsorglichen Tête-à-Têtes? Weshalb stößt das Haupt den Leib vor den Kopf? Der Grund liegt in der eklatanten Selbstverblendung. Laodizea hat Erfolg, ist eine reiche Stadt, die sich nach einem verheerenden Erdbeben aus eigener Kraft wieder aufrappeln konnte; das Finanzwesen, die Pharmazie und die Textilindustrie florieren. Es entbehrt also nicht der Ironie, dass die als arm, blind und nackt (V.17) bloßgestellte Gemeinde von Christus aufgefordert wird, geläutertes Gold der Erkenntnis, weiße Kleider der Vergebung und Augensalbe zum Sehen der Wahrheit zu kaufen (V.18). Im Sendschreiben ist es Christus selbst, der sagt »kauft«, und zwar »von mir« (V.19). Das ist die Pointe. Denn »so spricht Er, der Amen heißt, der treue und zuverlässige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes.« (V.14) Anspielungen zuhauf! Gott, der sein Amen in Christus gesprochen hat, will, dass das Ja der Gemeinde ein Ja und ihr Nein ein Nein ist (Mt 5,37). Und sagt nicht Paulus, dass das Amen der Gemeinde eine Antwort auf das Ja in ihm sei (2Kor 1,18–21)? Laodizea aber sagt »Jein« zum Reich Gottes und »Jein« zum Imperium. Es laviert und wurstelt sich halbherzig zwischen Gottesdienst und Kaiserkult durch. Man arrangiert sich. Schließlich macht sich, wer dem Cäsar seinen Tribut verweigert, verdächtig. Besser man gehört dazu, läuft mit und wird nicht auffällig. Auch darin sind die Christen in Laodizea erfolgreich. Sie fallen nicht auf. Wird Christus deshalb so ausfällig?

Ja, denn Apokalypse ist angesagt, allerdings nicht so, wie das katastrophal verkürzte Modewort im Deutschen zu verstehen gibt. (Tilly, 10) Den Menschen in Laodizea droht kein Weltuntergang. Das Gerichtswort trifft sie in einer inneren Krise. (Vollenweider, 313) Sie haben es zwar zu etwas gebracht, aber haben vergessen, was ihnen fehlt. Sie haben Gott ausgeschlossen. Deshalb hat der Pantokrator höchstpersönlich seinen Auftritt als Apokalyptiker. Der Christus, der von Anfang an da war, und der Christus, der am Ende kommen wird, ist der Christus, der Gefühle zeigt.

Dem göttlichen Gefühlsausbruch im Tonfall der Prophetie folgt die Erklärung im Tonfall der Weisheit: »Wen ich liebe, weise ich zurecht.« (V.20) Der auffällige Wechsel ist typisch adventlich. Der enttäuschte Liebhaber klopft an und ruft zur Umkehr. (V.19) Ist also doch so etwas wie Diskretion? Gott fällt nicht mit der Tür ins Haus, sondern wartet, bis ihm aufgetan wird. (V.21) Dazu passt, dass das Ganze in der Ankündigung einer höchsten Anerkennung der Gemeinde gipfelt. Sie wird siegen, wie Christus gesiegt hat. Ohne eine Spur von Ironie! In der anfänglich so heftigen Zurückweisung lodert die Flamme der leidenschaftlichen Hingabe, Gottes inniger Wunsch nach Gemeinschaft.

III Impulse: Spuck es aus!

Das Sendschreiben an Laodizea lässt einen nicht kalt. Es ist eindrücklich, wie emotional der Christus spricht, aber irgendwie auch höchst befremdlich. Vom Ende her, von der Aussicht also, dass auch die Menschen in Laodizea eingeladen sind, mit Christus eine neue Form der Herrschaft zu errichten, lässt sich die Demütigung und Beschämung der Gemeinde pädagogisch erklären. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, d.h. ihm nicht zu Kreuze zu kriechen (Wengst, 62–64) und Gott zurückzugeben, was Gott gegeben hat und weiterhin geben will: Liebe »von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft«. (Dtn 6,5)

Ich könnte als Prediger:in durchaus auf die Idee kommen, dass Ähnlichkeiten zwischen einem imaginären Wir und der antiken Gemeinde bestehen. Sind wir doch wie Laodizea nicht gerade arm und verglichen mit Gemeinden in anderen Weltgegenden reicher. Ich könnte mir auch vorstellen, mit der Fantasie zu spielen, was sich der Engel anhören müsste, der meine Gemeinde im Himmel repräsentiert. Aber sind wir wie Laodizea? Sind wir derart arrogant und selbstsicher? Leben wir ein Christentum, das zum Kotzen ist?

Hin und Her zwischen der Gemeinde im Sendschreiben und der Gemeinde im Jetzt ist in einer Predigt, die zur Umkehr ruft, wichtig. Es verhindert den Zusammenschiss am ersten Adventssonntag, der eher zur Abkehr als zur Umkehr führen würde. Zudem besteht bei zu großem Schamdruck ein gewisses Risiko, den zweiten Teil der Enthüllung zu verpassen. Besser man klärt, wer vor wem mit wem mit welchen heißen Ohren hier spricht. Wer sich dann selbst in der Rolle des Apokalyptikers gefällt, soll sich bitte keine Blöße geben. Also frage ich als erstes, was in uns den Wunsch weckt, mit diesem Gott Mahl zu halten. Erst dann wage ich zu fragen: Vermissen wir Gott? Haben wir Angst davor, dass uns Christus zu nahe auf den Leib rückt? Wäre es uns am Ende doch lieber, wenn der Pantokrator draußen vor der Türe bliebe? Buße im Advent heißt, sich dessen gewahr zu werden, dass »der erhöhte Herr und König Zielpunkt nicht nur des Kirchenjahres, sondern unserer irdischen Wanderschaft überhaupt […] ist«. (Adam, 148) Buße im Advent heißt auch, aus der Ignoranz der Erfolgreichen herausfinden und der Arroganz der modernen Cäsaren mutiger entgegentreten, ihren Kult enthüllen und ihre menschenverachtenden Machtspiele anprangern. Für den Gottesdienst kann der Akzent der Buße im Adventslied gesetzt werden, wenn die Gemeinde den Christus mit der Frage einlässt: »Wie soll ich dich empfangen?« (EG 11) Gerade weil das ein so warmes, verlangendes und liebevolles Singen ist, darf die Predigt am ersten Sonntag im neuen Kirchenjahr auch einmal Tacheles reden. Das jiddische Tacheles aus dem hebräischen tachlit meint eine Rede, die das Ende und Ziel einer Sache anspricht und ist im eigentlichen Sinne des Wortes apokalyptische Rede. (Kluge, 902) Die adventliche Apokalypse bleibt ambivalent (Vollenweider, 321–323), weil wir ambivalent sind. Die Predigt enthüllt es. Apokalypse ist Evangelium, nicht weil ich eine harte Botschaft aufweichen will, sondern weil der sanftmütige König (Sach 9,9) und nicht ein gewalttätiger Kotzbrocken Tacheles redet. Wenn er Ja sagt, sagt er Ja. Wer Ohren hat zu hören, hört auch sein Nein. Und hofft darauf, dass die Zeit kommt, da alle sehen werden, dass der Cäsar splitterfasernackt ist.

Literatur: Adolf Adam, Das Kirchenjahr mitfeiern, Freiburg/Basel/Wien 1979; Kristian Fechtner, Diskretes Christentum. Religion und Scham, München 2015; Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York 2001; Herrmann Lichtenberger, Die Apokalypse (ThKNT 23), Stuttgart 2014; Michael Tilly, Apokalyptik, Tübingen 2014; Samuel Vollenweider, Die Beschwörung der Mächte. Überlegungen zur Botschaft der Johannesapokalypse, in: ZPTh 45 (1993), 271–286; Klaus Wengst »Wie lange noch?« Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010.

B

Thomas Schlag

IV Entgegnung: Wenn einem der Engel heimleuchtet

A hat es schon auf den adventlichen Punkt gebracht. Ja, die Adventszeit ist voller Ambivalenzen und der apokalyptische Text schlägt heftig aufs vorweihnachtliche Gemüt, das es sich doch viel lieber gemütlich im privaten Lebkuchen-Häuschen einrichten mag. Die imaginierte Adventsstimmung der Gemeinde ist vermutlich von ganz anderer Art als der eingeforderte Bußgang. In glühweinseliger Laune kriecht man nicht zu Kreuze, sondern bestaunt bestenfalls die fein gedrechselten Engels- und Krippenfiguren der Weihnachtsmärkte – und dies aus sicherer Distanz.

Nun aber schwingt sich ein anderer Engel auf. Von ihm aus ertönt, worauf es wirklich ankommt. Besser: wer nun wirklich und nachhaltig bedeutsam in diese Zeit hineinkommt. Temperatursensibel bringt A die Worte des Engels an die siebte Gemeinde zum Klingen, ohne dass einem die Ohren heißklingeln, man nur noch beschämt das Büßergewand anlegen kann oder sich gleich ganz und gar aller Zumutung durch Flucht in das postmoderne Laodizea aus Goldrausch, Outlet-Stores und Parfümerien entzieht.

Wenn mit A nun Tacheles geredet wird, geschieht dies nicht einfach aus purer Beschämungslust und schon gar nicht aus weltabständigem Spielverderbertum. Sondern die selbstverblendete Gemeinde geht dem Verkünder unmittelbar auf die Nerven beziehungsweise existenziell an die Nieren. Übrigens kommt keine andere der sieben angesprochenen Gemeinden so schlecht weg wie Laodizea – für Lob gibt’s offenbar nicht den geringsten Grund. Das macht das Ganze so heiß. Die Lauheit der Gemeinde, ihr unerträglich pragmatisches Jein und ihre Anbiederung an das römische Mindset ist dabei wahrscheinlich gar nicht das Schlimmste, auch wenn es zum Kotzen ist. Sondern viel schlimmer ist, dass Liebesfeuer und Leidenschaft überhaupt erloschen zu sein scheinen. Nichts belastet den eigenen Gefühlshaushalt tiefer und nachhaltiger als enttäuschte Lieb(haber)schaft – da hilft auch der profane Goldschmuck nicht weiter. Nichts von dem, was da glänzt, ist jedenfalls Gold im wahren Sinn. Kein Hemd ist wirklich weißgewaschen, und schon gar nicht riecht irgendetwas wohltuend. Wer wollte dem Engel deshalb die harten Worte verdenken.

Aber wer nun erwarten würde, dass überhaupt alle Geschenketische und Stände in vorösterlichem Schwung abgeräumt und umgestoßen werden, täuscht sich theologisch zutiefst. Was auf den ersten Blick bedrohlich nahegeht und eine Entscheidung erfordert, soll nicht das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Adventszeit braucht keine weitere Angsterzeugung. Dazu sind die äußeren Verhältnisse schon bedrängend genug. Die Kehrtwende von A hin zu Christus selbst, »der sagt ›kauft‹, und zwar ›von mir‹«, gibt der apokalyptischen Emphase dann alsbald wieder einen hellen Anerkennungssinn – Gott sei Dank.

Der Engel sucht nicht heim, sondern leuchtet heim, auf das eigentliche – hoffentlich gute – Ziel und Ende hin, und hält damit die Verbindung zwischen Himmel und Erde aufrecht. (Kovacs/Rowland, 53) Denn Engel sind »Gesten in der Bewegung«, sie verweisen auf etwas anderes, als sie sind: »Gerichtet auf ein Hinaus aus der Welt und auf ein Hinüber haben sie einen Zeichencharakter.« (Lehnert, 21) Und so tut die nackte Gemeinde gut daran, die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich zu überlegen, was es vorweihnachtlich »bedeuten soll«, Jesus Christus als neues Gewand anzuziehen (Röm 13,14). Und dann wird durch die wortmächtige Anwesenheit des Engels hoffentlich spürbar, dass nicht zuletzt der heiße Glühwein (schon an sich ein eigentlich unmögliches Getränk) eben in Wirklichkeit doch nur laue Plörre ist und Kopfschmerzen verursacht, die nicht auf ernsthafte Denkprozesse zurückzuführen sind.

V Erschließung der Hörersituation: Wer Ohren hat zu hören, der höre, wenn es klopft

Tatsächlich ist es mutig, diesen Bußtext in die Vorweihnachtszeit einzuspielen. Es muss damit gerechnet werden, dass die Gemeinde am 1. Advent eben mit ganz anderem – im Zweifelsfall mit Erbaulich-Stimmungsvollem rechnet. Und schon allein das Ritual der ersten warm flackernden Adventskerze geschieht auf kleiner, aushaltbarer, nicht unerträglich heißer Flamme. Für die adventliche Auferbauung der Gemeinde erscheinen die Engelsworte zuerst einmal als erhebliches Störpotenzial. Zugleich ist es legitim und auch theologisch angezeigt – A erwähnt dies zu Recht –, dass die Adventszeit historisch gesprochen immer auch eine Zeit der gleichsam ganzheitlichen Besinnung auf das Eigentliche und auch unbedingte Möglichkeit zur Umkehr war. Insofern darf auch in dieser Zeit ein Wechselbad der Gefühle eingegossen werden – der bayerische Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) hat schon zu seiner Zeit übrigens höchst natur- und menschensensibel vorgemacht, was aktive Durchblutung fördert, ohne dass man sich verbrüht oder zum Eisblock erstarrt.

Die im Text aufgerufenen Begrifflichkeiten und dazu noch die auf den ersten Ton wüste Anklage an die reiche Gemeinde sind deshalb sogleich eminent aufklärungsbedürftig: Denn die dunkle und bedrohliche Drastik der Bußworte könnte sonst von Beginn an zum Hörverlust und zur Bußverweigerung führen. Erst recht dann, wenn man durch die Predigt das negative Klischee bestätigt sieht, dass der Offenbarungstext samt seiner InterpretationskünstlerInnen in Wort und Tat ohnehin schon längst aus der Zeit gefallen sind. Um somit »Demütigung und Beschämung« recht in den größeren Gesamtzusammenhang einzuordnen, sollte das Achtergewicht auf die vom Engel her aufleuchtende Christusfigur selbst gelegt werden und die Botschaft unbedingter Anerkennung im Zentrum stehen. Hier treffen sich im christologisch gegründeten Verheißungswort »wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet« (V.20) Zuspruch und Zumutung für die ganze Gemeinde. Es gilt also, die innere Krise der Gemeinde zum Ausgangspunkt und Prüfstein für das zu machen, was nun innen und nach außen nottut. Insofern richtet sich die adventliche Perspektive durchgehend – und dies ist ebenfalls zu verdeutlichen – auf das innere und äußere Erscheinungsbild der Gemeindewirklichkeit inmitten der gegenwärtigen Krisen unterschiedlichster Couleur. Die religiöse Selbstdeutung im Horizont der richtigen Temperatur kommt nicht ohne den Blick und die aktive Tat für diejenigen aus, die in diesen Zeiten – aus welchen guten Gründen auch immer – an die Tür klopfen und in der Regel verzweifelt um Einlass bitten. Der goldene Reichtum hat auch apokalyptisch gesehen sein dunkles Gegenüber in unendlich dunkler Armut (Matthews, 144–166). Das engelhafte Heimleuchten ist insofern nicht ohne den engen Zusammenhang zum gemeindlichen Auftrag zu denken, im Ernstfall bedingungslos »Heimat zu geben«, weil genau dies überhaupt der existenziell notwendige Ausgangspunkt für alles Weitere ist (Schmid).

VI Predigtschritte: Das lauwarme Salzwasser von Pamukkale

Auch wenn der Perikopentext von grundlegender christologischer Bedeutsamkeit für die vorweihnachtlich-gemeindliche Ein-Stimmung ist, muss sein Kontext erläutert werden. Nicht nur die Johannesoffenbarung ist in ihrem Wortreichtum eminent deutungsbedürftig, sondern auch Laodizea ist schon territorial gesehen weit weg. Für die Anschaulichkeit bietet sich hier tatsächlich ein erster Hinweis auf Pamukkale in der südwestlichen Türkei an, den nur rund 8 Kilometer von Laodizea entfernten Ort, auf den der Text mit dem Hinweis auf das laue Wasser anspricht. Pamukkale liegt nicht nur in einer atemberaubenden Szenerie, sondern ist für das mineralhaltige Thermalwasser bekannt, das über die weißen Sinterterrassen herabfließt. Manche der Gemeindeglieder mögen auch schon selbst dort gewesen sein. In jedem Fall lässt sich sofort unschmackhaft nachvollziehen, welche Wirkungen 35 Grad lauwarmes, salzhaltiges Wasser hat. Schon die Imagination, dieses Wasser zu trinken und »auszuspeien«, bringt die Gemeindewahrnehmung des Engels auf den Punkt. Das ist schon beim Zuhören alles andere als angenehm, ermöglicht aber von dort aus, die Dringlichkeit der apokalyptischen Evangeliumsbotschaft deutlich zu machen. Damit es aber nicht bei diesem Eindruck bleibt, ließe sich im Ausgangsteil auf Jesu Selbstankündigung des frischen, lebendigen Wassers (Joh 4) sowie auf die Offenbarung selbst verweisen: »Und er zeigte mir den Fluss mit dem Lebenswasser, der klar ist wie Kristall, und er entspringt dem Thron Gottes und des Lammes.« (Offb 22,1)

Was wollen wir schmecken, wenn wir trinken? Was passiert und wie reagiert der Körper, wenn das erhoffte, erfrischend kalte oder das wohltuend heiße Getränk nur lauwarm serviert wird und womöglich sogar salzig daherkommt? Unser Körper verträgt Salzgetränke nur in geringen Mengen. Versalzene Speisen sind praktisch ungenießbar. Sonst reagiert er sofort im besten Fall mit Enttäuschung, im schlimmsten Fall mit Brechreiz. So ungefähr muss man sich die Reaktion vorstellen, die die Gemeinde von Laodizea durch ihr Verhalten auslöst. Alles, was dort passiert und zu erleben ist, ist gelinde gesagt, von irritierender Lauheit. Schon längst hat man sich in das Schicksal der römischen Herrschaft gefügt und es sich inmitten des, antik gesehen, riesenhaften Reichtums überaus behaglich eingerichtet. Die materiellen Verhältnisse sind so, dass man eigentlich das ganze Jahr über Weihnachten feiern könnte. Und so darf einen die gesalzene Schärfe, mit der der Apokalyptiker Johannes seine Engelsbotschaft übermittelt, keinesfalls verwundern.

Literatur: Albrecht Koschorke u. a., Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt am Main 2002; Judith Kovacs/Christopher Rowland, Revelation. The Apocalypse of Jesus Christ, Malden u. a. 2004; Mark D. Mattews, Riches, Poverty, and the Faithful. Perspectives on Wealth in the Second Temple Period and the Apocalypse of John, Cambridge 2013; Wilhelm Schmid, Heimat finden. Vom Leben in einer ungewissen Welt, Berlin 2021.

2. Advent – 04.12.2022

A

Hoheslied 2,8–13

»Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!«

Ruth Poser

I Eröffnung: Frühlingsgefühle im Advent

Mit diesem neu aufgenommenen Predigttext aus dem Hohelied bekommt der 2. Adventssonntag neue Klangfarben. Anders als in den weiteren Predigtperikopen und dem Wochenspalm 80, denen eine gewisse Schwere anhaftet, bricht sich hier leidenschaftliche Erwartung Bahn, zutiefst bewegte und bewegende Sehnsucht. Diejenige, die hier spricht, muss nicht erst ermuntert werden, den Kopf zu heben (Wochenspruch Lk 21,28), sie hält, alle Sinne geöffnet, längst Ausschau – und sieht den, von dem sie Gutes erhofft, schon auf sich zukommen, leichtfüßig und anmutig. Immerhin: Auch im Wochenlied (EG 7) wird der Heiland zum Laufen und Springen aufgefordert.

Ist das nicht alles ein bisschen ver-rückt? Ein Frühlingsliebeslied – jetzt, wo (zumindest in nördlichen Gefilden) nichts grünt und blüht, es draußen grau und ungemütlich ist und manchmal kaum richtig hell wird? Ich muss an das Lied »Mitten im Winter« (1987) von Klaus Hoffmann denken: »Mitten im Winter / Wurde es warm / Mitten im Winter / Nahm dein Lachen mich in den Arm / Mitten im Winter / Schmolz das Eis / Mitten im Winter / Wurde mir heiß.« Gesungen aus der Perspektive eines jungen Schnösels, der von einer alten Lady angebaggert wird – anders als im Liebeslied Hld 2,8–17, das, wie weite Teile des Hohelieds, einer jungen, unverheirateten Frau in den Mund gelegt ist. Gleichwohl handelt es sich auch bei Letzterem um weltliche Liebeslyrik, der ein (expliziter) Gottesbezug fehlt (vgl. [aber] Hld 8,6: »Flammen J*hs« oder »gewaltige Flammen«?).

Das wirft eine weitere Frage auf: Müssen Predigende, um dem Proprium des 2. Adventsonntags vom kommenden Erlöser zu entsprechen, nun notgedrungen auf typologische oder allegorische Auslegungen zurückgreifen, die neueren exegetischen Erkenntnissen, nach denen das Hohelied eine im 3. Jahrhundert v. Chr. redigierte Sammlung von profanen Liebesliedern darstellt, kaum standhalten? Andererseits: Von allem, auch vom adventlichen Entgegenkommen Gottes, können wir ohnehin nur menschlich reden, weltbezogen, vor dem Hintergrund unserer Erlebnisse und Erleidnisse – andere Sprache(n) haben wir nicht. Das gilt auch von unseren Sprachen der Liebe.

II Erschließung des Textes: Coming out

Insgesamt erweist sich das Lied der Lieder als schwer zu gliedern. Nach dem noch mehrfach vorkommenden Aufruf an die Frauen Jerusalems, die Liebe nicht aufzuschrecken, in Hld 2,7 (vgl. 3,5; 5,8; 8,4) beginnt mit 2,8 ein neues Lied einer jungen Frau, das, wie die in V.8–9 und V.17 auftauchenden parallelen Motive anzeigen, bis 2,17 reicht.

In Hld 2,8–9 besingt die Frau das äußerst dynamische Herannahen ihres Geliebten von den Bergen und Hügeln; sein leichtfüßiger Sprunglauf ähnelt dem einer Gazelle oder eines jungen Hirschs (vgl. V.17). »Unsere Mauer«, d.h. die Wand des Hauses, in dem sich die Sprecherin befindet, bremst den Geliebten jedoch abrupt aus – ins Haus gelangt er nicht. Er bleibt stehen, blickt oder linst durch Fenster und Gitter – und erhebt seine Stimme.

Innerhalb des Liedes der jungen Frau erscheinen V.10–14 als Rede des Geliebten durch die Wand, der sie auffordert, sich aufzumachen und aus dem Haus heraus und nach draußen zu kommen (vgl. EG 11,6?). Der Ruf zum Aufbruch kommt zweimal vor (V.10b=V.13b); der Geliebte verstärkt ihn zunächst mit einer Beschreibung des Frühlingserwachens »im Land« bzw. »in unserem Land«, das allgemein Neues zu sehen, zu hören und zu riechen gibt (V.11 f.). Den zweiten Lockruf hingegen bekräftigt er mit Hinweisen auf die eigene Sehnsucht nach der Gefährtin, die verborgen ist (»meine Taube in den Felsen«) und die zu sehen und zu hören er sich zutiefst wünscht. Wenn er ihre Stimme und ihre Erscheinung als wohltuend und wunderbar preist, deutet das darauf hin, dass er sie, allen Hindernissen zum Trotz, schon hat hören und sehen können (V.14).

Die Frage ist jedoch, ob sie einfach nach draußen kommen kann. Andere Stellen im Hld zeigen, dass sie von ihren Brüdern, die im Hld die patriarchale Ordnung repräsentieren, kontrolliert und gemaßregelt wird (1,6; 8,8 f.; evtl. geht auch der Aufruf in 2,15, die Füchse [d.h. mögliche Liebhaber], die die Weinberge [d.h. die jungen Frauen] ruinieren, in diese Richtung) und dass sie, als sie nachts im öffentlichen Raum nach ihrem Geliebten sucht, mit »den Wächtern«, einer Art Polizeistreife, vielleicht Handlangern der (griechischen) Besatzungsmacht konfrontiert wird (vgl. 3,1–5) und sogar massive Gewalt erfährt (vgl. 5,6 f.). Weitere Texte aus hellenistischer Zeit machen deutlich, dass die Bewegungsfreiheit junger Frauen eingeschränkt ist und dass sie der ständigen Überwachung der Männer, denen sie gehören, ausgesetzt sind (vgl. Sir 42,9–14; 2Makk 3,19). Das Lied der jungen Frau wirft damit die Frage auf, ob und wie sie »unsere Mauer« (V.9), d.h. die herrschende Ordnung, überwinden und in »unser Land« (V.12), den Raum freier Bewegung und Begegnung, gelangen kann.

Spannend ist nun, dass im zweifachen Ruf zum Aufbruch lekî-lāk (fem.) an die Gefährtin in der Rede des jungen Mannes (V.10.14) das zweifache Herausgerufenwerden ins Land der Verheißung læk-lekā (mask.) Abrahams durch Gott anklingt (Gen 12,1; 22,2). Aber nicht nur Abrahams Geschichte wird eingespielt, sondern auch die Saras als derjenigen, die »schön von Angesicht« (Gen 12,11) ist, während die Geliebte als »meine Schöne« bezeichnet wird (V.10.13), die »ihr Angesicht sehen lassen möge« (V.14). Während Sara in dem eingespielten Textzusammenhang (Gen 12) keine Stimme hat, wird die Geliebte im Hld zum Sprechen aufgefordert – und sie spricht ja bereits! In diesem Sinne erweist sich Hld 2,8–17 als herrschaftskritische re-lecture der Erzählung von der Preisgabe Saras durch Abraham, die schildert, wie Sara von den im Land Ägypten herrschenden Gewaltverhältnissen, die durch Sehen-und-Nehmen charakterisiert sind, verschluckt wird (Gen 12,14 f.; vgl. auch Gen 34,2; 2 Sam 11,2–4): »Weil der Pharao haben will, was er sieht und schön findet, kann Sara [...] ihr Angesicht nicht sehen lassen. Sie wird genommen. Dieser Tatbestand entlarvt das Land Ägypten als Antitypos des Verheißenen. Zugleich wird das Geschlechterverhältnis als der Prüfstein der Unterscheidung von Bedrückung und Befreiung, von Ägypten und Israel benannt. Das Land, das Gott sehen lassen will, wird an Lebensverhältnissen sichtbar, die eine grundsätzliche Frage bejahen lassen: Kann eine Frau in Erscheinung treten, ohne dass sie von anderen in Besitz genommen wird? Saras Befreiung aus dem Harem des Pharao wird darum mit der Befreiung des ganzen Volkes aus der Sklaverei in Ägypten verglichen [...] (Gen 12,17). Gottes letzter Schlag gegen Pharao, der den Auszug aus Ägypten in Gang setzen wird (Ex 11,11), wird zitiert. Um Saras willen werden menschenverachtende Verhältnisse umgestürzt.« (Butting 126 f.)

Auch wenn die erhoffte Begegnung, das Sichtbarwerden »in unserem Land« in Hld 2,8–17 nicht geschildert wird – in V.16 f. erklingt die widerständige Stimme der jungen Frau, die in einer Art Bundesformel die Möglichkeit eines freien, gleichberechtigten Beziehungsgeschehens von Angesicht zu Angesicht festhält und in aller Öffentlichkeit hörbar macht: »Mein Geliebter für mich und ich für ihn.«

In diesem Sinne lässt sich die Predigtperikope also auch als theopolitische Aktualisierung des Exodusgeschehens begreifen – je und je neu werden Menschen herausgerufen aus versklavenden, unterdrückerischen, entwürdigenden Verhältnissen! Auch dieser Aspekt könnte neben der allegorischen Auslegung auf die Beziehung zwischen JHWH und Gottesvolk sowie den im Text versprachlichten Frühlingsbotschaften dazu beigetragen haben, dass das Hld ab dem 8. Jahrhundert zur (Fest-) Rolle (megilla) für das im Frühlingsmonat Nisan gefeierte Pessach-Fest wurde.

III Impulse: Let the Revolution Begin!

Der Text mit seinen Hinweisen auf den Frühling mitten im Winter (vgl. auch EG 30,1) eröffnet, so Alexander Deeg, die Möglichkeit, in der Predigt den Eros des Advent wiederzuentdecken und die wunderbare Verrücktheit der Gottheit, deren größte Sehnsucht es ist, zur Welt zu kommen, ins Zentrum zu stellen: »Genau darum geht es im Advent: Gott kommt, wie ein Geliebter, hüpfend über Berge und Hügel, so dass er sich in den Augen der Welt ziemlich lächerlich macht«, »als Kind in der Krippe am Rande der Stadt liegt und gut dreißig Jahre später spöttisch erhöht wird ans Kreuz [...] – und dass sich dadurch schon jetzt die Welt verändert.« (Deeg/Schüle 78)

Dieser Aspekt der wunderbaren Verrücktheit Gottes lässt sich noch weiter ausziehen – mit Hld 2,8–17 lässt sich Gottes Advent, Gottes Entgegen- und Zur-Welt-Kommen auch begreifen als Aufbruch aus überkommenen und übernommenen Rollenbildern und Herrschaftsstrukturen. Das gilt nicht zuletzt für unsere Bilder von Gott und von Gottes Handeln in und für diese(r) Welt. Unsere vielfach verkrusteten, vereisten, verblassten Vorstellungen werden in frische Frühlingsfarben getaucht.

Herausfordernd wäre es deshalb, die adventliche Gottheit nicht allein mit dem Geliebten, dem männlichen* Part, sondern auch mit der Geliebten, der jungen Frau*, zu verknüpfen: Gott, die sich nichts sehnlicher wünscht, als herausgerufen zu werden und in Erscheinung treten zu dürfen; Gott, auf der Flucht vor denen, die sich ihrer bemächtigen, die sie kontrollieren, schlagen, einsperren wollen; Gott, Konventionen ausschlagend, voll innigem Verlangen, gesehen, gehört, entdeckt zu werden von, da-zu-sein-mit einem, ihrem Du – den Menschen.

Nicht zuletzt bietet der Predigttext die Chance, unsere Vorstellungen von Liebe zu hinterfragen, aufzumischen, vielleicht gar umzustürzen – und damit auch vom Fest der Liebe, auf das die adventliche Gemeinde zugeht. In ihrem Buch »Und sie rührte sein Kleid an« (engl. Orig. 1982, dt. 1986) entwirft die US-amerikanische Theologin und Pfarrerin Carter Heyward »[E]ine feministische Theologie der Beziehung«. Hätte sie über Hld 2,8–17 zu predigen, würde sie, so vermute ich, Gott weder in dem noch in der Geliebten versinnbildlicht sehen. Denn sie versteht Gott als dynamische Kraft, die zur Welt kommt, die tragfähig wird, wo Menschen freund(schaft)liche, wechselseitige, leidenschaftliche, alles wahrnehmende Begegnung und Beziehung (ver)suchen. Wo Menschen so lieben, da vergegenwärtigt sich Gott, da wird Gott zum Tun – Heyward gebraucht sogar das Tu-Wort »to god«, und setzt gelegentlich die (weihnachtlich anmutende?!) Formulierung »to make God incarnate« parallel. Damit wird Lieben frei – frei von Romantisierungen, Trivialisierungen, Pervertierungen – und revolutionär: »To love you is to advocate your rights, your space, your self, and to struggle with you, rather than against you, in our learning to claim our power in the world. To love you is to make love to you, and with you, whether in an exchange of glances heavy with existence, in the passing of a peace we mean, in our common work or play, in our struggle for social justice, or in the ecstasy and tenderness of intimate embrace that we believe is right for us – and for others in the world. To love you is to be pushed by a power / God both terrifying and comforting, to touch and be touched by you. To love you is to sing with you, cry with you, pray with you, and act with you to re-create the world. To say I love you means – let the revolution begin.« (Heyward 1984, 93; dt. Übersetzung: dies. 1992, 207)

Literatur: Klara Butting, Die Buchstaben werden sich noch wundern. Innerbiblische Kritik als Wegweisung feministischer Hermeneutik, Wittingen 32003 (1993); Alexander Deeg/Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 52021 (2018); Carter Heyward, Our Passion for Justice: Images of Power, Sexuality, and Liberation, Cleveland, Ohio 1984; dies., Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 41992 (1986).

B

Kristin Merle

IV Entgegnung: Bitte keine Stereotype!

Ich seh’s schon kommen: Konfirmand:innen kichern, einige wärmen sich an der Erinnerung an ihre eigene Verliebtheit, und manch andere Person stöhnt innerlich auf: Schon wieder eine Inszenierung von heterosexuellen, binären Geschlechterkonstellationen und -vorstellungen. Alles in allem – zumindest in der Antizipierung – eine gemischte Gemengelage, derer sich die Person, die predigt, bewusst sein sollte. Solange in unmittelbarer Weise die Nähe zur Bildwelt des Textes gepflegt wird, bleibt die Bemühung von Stereotypen eine Gefahr. Trotz ihrer luziden und in positivem Sinne herausfordernden Skizzen kann auch A dies nicht lösen, da die Anlage im Text entsprechend ist.

Überhaupt habe ich Schwierigkeiten, religiöse Beziehungsverhältnisse mit einer Erotisierung zu labeln, wie es die Locierung im Kirchenjahr nun nahelegt. Nicht nur ersinnt sich in der in Hld 2 wiedergegebenen Liebeslyrik ein »Mann« das Begehren einer »Frau« – ein altes patriarchales Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen, A spricht davon, dass ein Großteil des Hld einer »jungen, unverheirateten Frau in den Mund gelegt ist« –, heute wissen wir mehr denn je von Verletzungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts, auch in religiösen Kontexten. Jegliche Verwendung von patriarchaler Brautmetaphorik, Reden von »Füchse[n], die die Weinberge verderben« (V.15) etc. muss das im Blick haben: dass in den Kirchen Menschen mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt sitzen, die u.U. religiös geframt (und möglicherweise durch Täter:innen erotisch überformt) worden sind. All dies sind keine Gegenargumente gegen die Reflexionen von A, sie bezeichnen mein Unbehagen mit dem Predigttext. Ich will an dieser Stelle die Interpretation des Verstehens des Texts von A als »theopolitische Aktualisierung des Exodusgeschehens« und den Gedanken des revolutionären Liebens verstärken: Beide Figuren zielen auf die Idee der Befreiung aus unterdrückenden Strukturen ab – den Gedanken, der sich in nuce in der Hoffnung auf das Zur-Welt-Kommen-Gottes verdichtet.

V Erschließung der Hörersituation: Von Trennendem und Wandlungen

Die Herausforderung im Umgang mit der Perikope scheint mir darin zu bestehen, Zuschreibungen nicht zu personalisieren und zu naturalisieren.

(1) Bewegungen der Seele: divergente Erfahrungen mit sich selbst und die Sehnsucht nach Einswerdung. – Die Gedanken von A, dass »die adventliche Gottheit« in beiden Stimmen und Figuren zum Ausdruck kommt, will ich wenden: Ich kann in den Stimmen, die im Text zu hören sind, auch innere Dialoge, Bewegungen der Seele erkennen. Hld 2 inszeniert einen (extrovertieren) Part (draußen), der werbend und sehnsüchtig in die Freiheit und ins Leben ruft und drängt, und einen (eingekehrten) Part drinnen, der eingehegt ist: Gitter und Wände trennen beide. Was eingehegt ist, hat nur für Augenblicke an der Erfahrungswelt draußen teil. Beide Parts können als Facetten menschlichen Lebens gelesen werden: das Leidenschaftliche, Spielerische, Freiheitsliebende wie die Erfahrung des (in sich und mit sich) Abgeschlossenseins, des Mangels, ja, auch der Beschädigung des Lebens. In dieser Perspektive liegt es nahe, die Figuren der Liebenden im Text als Personanteile zu verstehen, die zueinander vermittelt werden wollen.

Dabei erinnert das Motiv der Wand an das gleichnamige Buch von Marlen Haushofer aus den 1960er-Jahren (2012 verfilmt von Julian Pölsler). Buch wie Film haben unterschiedliche Deutungen erfahren, die »Wand« ist auch innerpsychisch verstanden worden (Gefangen, 2012). Wände, symbolisch gesprochen, bilden sich als Schutz gegen als bedrohlich erfahrene Einflüsse, und sie sind störendes Relikt, wenn sie biografisch ihre Funktion verloren haben. Die Wand kann auch als Zeichen der Entfremdung von sich selbst und der Umwelt gelesen werden. Wie die namenlose Protagonistin bei Haushofer kann man sich in und mit dieser Umgrenzung organisieren. Das Fragmentierte mag aber auch über sich hinausdrängen, in der Hoffnung auf ein Ganzes hin (vgl. Luther, 1991). Der liebende Blick ist es, der die divergierenden Anteile zusammensehen kann; auf die Liebe hin kann Mut aufkommen, Altes, nicht mehr Funktionsfähiges, zu wandeln.

(2) Nos resurgemus: eine andere Liebesgeschichte. – Was macht das Aufstehen (vgl. V.10), das Auf-er-stehen im Leben, was macht Wandlung möglich? Vor dem Hintergrund von Hld 2 wie alltagsweltlichen Erfahrungen lautet die Antwort: Liebe. Aber nur eine solche Liebe befreit, die sich nicht abhängig von Leistungen der geliebten Person macht, die nicht besitzen will und die die andere Person um ihrer selbst willen frei gibt. Eine solche Liebe findet ihren Ort nur fragmentarisch unter den Bedingungen dieser Welt. Das anzuerkennen ermöglicht wiederum die Einsicht, dass diese das Irdische notwendig übersteigende Liebe symbolisch ihren Ausdruck findet in dem Unbedingten, das sich zugleich in das Tiefste der menschlichen Existenz einzuweben weiß (die Ambivalenz drückt sich im Gedanken der adventlichen Vorfreude aus, die schon um Tod und Auferstehung weiß).

Anders als im Hld, mit Blick auf ihre transformatorische Kraft gleichwohl eindrücklich, gewinnt Liebe Gestalt in dem Film »Portrait de la jeune fille en feu« (Frankreich 2019). Im Grunde ähnlich wie in Haushofers »Die Wand« entfaltet sich der Plot unter Ausklammerung patriarchaler Verhältnisse. Erzählt wird von der Liebe zwischen zwei Frauen, der Malerin Marianne und der jungen Adligen Héloïse, die sich auf einer einsamen bretonischen Insel begegnen, die Geschichte spielt im ausgehenden 18. Jahrhundert. Es ist diese Ausklammerung konventionalisierter Vorurteile, die zu einer neuen Form des Sehens und Erkennens, zu einer veränderten Praxis des Miteinanders führt. »Nos resurgemus«, singt ein mystischer Frauenchor im Film: Gemeint ist damit zunächst die die Verhältnisse transzendierende Beziehung der beiden Frauen. Im weiteren Sinne geht es aber um die Durchbrechung alter Machstrukturen und das Wissen, dass es die Liebe ist, die Abgründe im Leben überbrücken kann und die der Selbstbestimmung über das eigene Begehren und den eigenen Lebensausdruck das Wort redet.

(3) Vergittertes Leben? – Neben individuell-biografisch bedingten Gründen, die als solche auch nur so zu ergründen sind (s.o.), werden unsere Ansichten und Lebensverhältnisse auch aus strukturellen Gründen vergittert. Weltwahrnehmungen formen sich entlang bestehender Machtkonstellationen. Sehen ist eine soziokulturelle Praxis, die in Relation zu »Wahrnehmungskompetenzen« steht, die das Subjekt »durch die wiederholte Auseinandersetzung mit den perzeptiven Anforderungen seiner Umwelt erworben hat, sowie andererseits von dem räumlichdinglichen und sozialen Kontext, in dem es aktuell situiert ist«. (Prinz, 8 f.) Was sind die konventionalisierten, mitunter auch menschen- und lebensfeindlichen Dispositive, mit denen wir es zu tun haben? Wer profitiert von einem vergitterten, vorurteilsbezogenen Wahrnehmen und Handeln – und wer wird durch ein solches diskriminiert und um Ressourcen und Rechte gebracht? Von strukturellem Rassismus etwa profitieren Weiße, die sich einen Mangel an Rassismuskenntnissen (vgl. Otoo, 66) »leisten« können. »Drinnen und Draußen sind weder eindeutige noch klar voneinander getrennte Kategorien«, schreibt Mithu Sanyal über Kriterien sozialer Zugehörigkeit im Band »Eure Heimat ist unser Albtraum« (103) und mahnt beteiligungsoffene, verbindende Debatten zur Frage der Arbeit an gemeinsamen Zukunftsnarrativen an.

VI Predigtschritte: »Reiß ab, wo Schloss und Riegel für!«

Hoffnung auf Wandlung ist das Thema am 2. Advent – es geht um die Möglichkeiten der Überwindung von unter-/bedrückenden Strukturen. Die Predigt geht der Frage nach: Unter welchen Bedingungen kann sich Wandlung vollziehen? Entsprechend ist die Intention der Predigt zweiteilig. Zunächst will die Predigerin die Hörer:innen zu einer Revision ermutigen: Welche Riegel und Schlösser, welche Wände und Gitter gibt es in meinem Leben? Welchen Sinn haben sie? Welche können abgebaut werden (sei es im Blick auf innere Genesung oder politische Verhältnisse)? Welche Grenzen gibt aber auch das Leben an sich vor? Unbedingt geht es dann auch um die Frage, was Wandlung, die in unseren Händen liegt, intrinsisch motivieren kann. Insofern tut die Predigt gut daran, mögliche Für und Wider stellvertretend abzuwägen, um zu einem begründeten Schluss zu kommen: Neuer, kreativer Raum eröffnet sich, wenn wir uns (auch mit unseren verschiedenen Personanteilen) im Ökosystem des Lebens zueinander ins Verhältnis setzen, vernetzen, einander annehmen (vgl. V.1–3). Liebe ist der Treibstoff für die Überwindung lebensundienlicher Grenzen, die Menschwerdung Gottes, auf die im Advent gehofft wird, ist das zentrale Symbol dafür. Ihren besten Aufhänger findet die Predigt dabei im Wochenlied, das seinen Platz vor der Predigt hat und in diesem Fall auch haben sollte: »O Heiland, reiß die Himmel auf, / herab, herab, vom Himmel lauf, / reiß ab vom Himmel Tor und Tür, / reiß ab, wo Schloss und Riegel für!« (EG 7,1)

Literatur: Marlen Haushofer, Die Wand, Gütersloh 1963; Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, WzM 43 (1991), 262–273; Sharon Dodua Otoo, Liebe, in: Aydemir, Fatma / Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 42021, 56–68; Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014; Mithu Sanyal, Zuhause, in: Aydemir / Yaghoobifarah (Hg.), Eure Heimat ist unser Albtraum, Berlin 2019, 101–121.

Internet: Gefangen hinter der unsichtbaren Mauer. Julian Roman Pölsler im Gespräch mit Liane von Billerbeck, DLF Kultur 07.10.2012. https://www.deutschlandfunkkultur.de/gefangen-hinter-der-unsichtbarenmauer-100.xhtml (zuletzt abgerufen am 15.04.2022).

Film: Portrait de la jeune fille en feu (Frankreich 2019; Regie: Céline Sciamma); Die Wand (Österreich / Deutschland 2012; Regie: Julian Pölsler).

3. Advent – 11.12.2022

A

Jesaja 40,1–11

Den Nächsten trösten – wie sich selbst

Matthias Lobe

I Eröffnung: »Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?«

Dieser Text ist eine Aufforderung und mehr als das: ein Appell, der poetisch und dringlich, emphatisch und massiv ergeht. Bereits der Beginn mit dem wiederholten Imperativ Plural (V.1: »Tröstet, tröstet mein Volk!«) hat eine bezwingende Kraft, der man sich kaum entziehen kann. Es folgt eine ganze Reihe von weiteren Imperativen: »Redet, predigt, bereitet!« (V.1–3) und später (V.9 f.): »steig auf einen hohen Berg, erhebe deine Stimme, fürchte dich nicht, sage, siehe!«

Dazwischen gewichtige Worte: Da ist die Rede von »Knechtschaft«, von »Schuld«, von »doppelter Strafe«, vom »Wege bereiten« und von der »Herrlichkeit des Herrn«, die »gewaltig« kommt und mittels derer JHWH »herrschen« wird. Am Ende mündet dieses beinahe brutale Bild einer Invasion in die Stadt Jerusalem ein in eine pastorale Idylle, dem Bild des seine Herde weidenden Hirten oder des seine Lämmer »im Bausch seines Gewandes« bergenden Patrons – quasi als eine männliche Schutzmantelmadonna.

Ein Text von Wucht, mitreißend und aufwühlend. Ein Text, der – in gegenwärtigen Zeiten des Krieges – die Bilder in den Zuhörenden hervorholen wird, die gerade um die Welt gehen. Bilder von Macht und Überwältigung, von Not und Elend, aber auch von Mitmenschlichkeit und Selbstlosigkeit.

Ein adventlicher Text, aber einer, der nicht dem Warten eine Stimme gibt, sondern der die Atmosphäre kurz vor dem Eintreffen des mit Spannung Erwarteten einfängt. Eine Stimmung, die Friedrich Spee 1622 diese Liedstrophe hat dichten lassen: »Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal« (EG 7,4). Gott wird herbeigesehnt in einer Welt, die so sehr des Trostes bedarf, wie das Volk Israel am Ende seiner Zeit im babylonischen Exil.

II Erschließung des Textes: »… im Bausch seines Gewandes«

Der Text der Perikope wird Deuterojesaja, dem Zweiten Jesaja, zugeschrieben, dessen Wirksamkeit auf die Endzeit des Exils 550 bis 540 v. Chr. anzusetzen ist (Koch, 124). Er bildet als »Prolog himmlischer Wesen« (Koch, 124) den Anfang eines Buches, das in der Lutherbibel (2017) mit der redaktionellen Überschrift »Trostbuch von der Erlösung Israels« versehen worden ist. Im vorliegenden Abschnitt wechseln die Sprechenden bzw. Hörenden, ohne dass dies explizit gemacht würde. Für einen gelesenen Vortrag schlägt W. Engemann (PS V/1, 2000, 27) deswegen völlig zurecht vor, hier erläuternde Einschübe zu machen:

Ein Himmlischer wendet sich an das Heer der Engel: »Tröstet ….« (V.1–2). Und ein anderer fährt fort: »Räumt Gott den Weg …« (V.3–5). Und mit einem Mal – das Gespräch auf höchster Ebene ist zu Ende – fühlt sich der Prophet selbst angesprochen: »Verkünde es …« (Wechselrede V.6–8. Für einen Moment verschlägt es dem Propheten die Sprache, dann bricht es aus ihm hervor: »Hast du gehört, Zion, du Botschafterin der Freude …« (V.9–11).

Der Text ist als »Audition« des Propheten zu verstehen und lässt sich in folgende Unterabschnitte gliedern:

V.1 f.: Ein Ruf ergeht von einem Himmlischen an andere Himmlische: »Tröstet mein Volk.« »Der Frondienst unter fremder Besatzung ist erfüllt« (Koch, 125).

V.3–5: Die »Stimme eines geheimnisvollen Vermittlers« (Koch, 125) zwischen JHWH und dem Propheten fordert dazu auf, den Weg für den Einzug und die Offenbarung der kābôd JHWH zu bereiten: »Bau einer Prachtstraße quer durch die Wüste« (Koch, 126).

V.6–8: Anrede an den Propheten – Einwand desselben – Ewigkeit des Wortes JHWH.

V.9–11: Anrede an Zion (Jerusalem) durch den Propheten: Ankündigung des Kommens und der Herrschaft JHWHs – das Bild vom Hirten und seiner Herde.

Ein Ende der Knechtschaft des Volkes Israel, die Offenbarung der Herrlichkeit von JHWH für alle Welt in einem triumphalen Zug aus dem Osten durch die Wüste in der Stadt Jerusalem und schließlich die Rückkehr von JHWH auf seinen heiligen Berg und die Rückkehr der Exilierten in das zerstörte Jerusalem: »die bevorstehende unerhörte Wende bringt nicht nur die Wiederherstellung Jerusalems, sondern die weltweite Machtergreifung Gottes« (Koch, 127). Von anfänglichem Trost gestärkt wird das Häuflein der Exilierten zu Jubel über die Restitution der heiligen Stadt und ihre Wiederinbesitznahme durch JHWH geführt. Dabei ist die kosmologische Bedeutung dieses Ereignisses in diesem Abschnitt zwar angedeutet, aber nicht zentral. Der Abschnitt zielt vielmehr auf das Bild von Erlösung, dem das Gefühl von Geborgenheit korrespondiert: »Er wird die Lämmer in seinem Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen« (V.11).

III Impulse: »Trost der Religion«

Das Thema der Predigt nimmt den zweimalig vorgetragenen Imperativ des Perikopenanfangs auf und sinnt nach über den Trost als eine, vielleicht sogar als die Grundfunktion von Religion. Die Predigt könnte dies beispielsweise tun, indem sie ein Gedicht von John Updike hinzuzieht. In »Trost der Religion« ist Updike sehr auf die eigene Gegenwart bezogen und betont dennoch das Elementare jedes frommen Tuns. »Eine Größe passt allen. Gestalt und Farbe des Gottes / oder des Paradieses sind nicht so wichtig wie dies: / dass einer da ist, wie und wo auch immer, / der das Stoßgebet hört und das Scherflein verbucht, / das die Witwe in den Tempel bringt. Ein Kind, / allein mit schrecklichen Wahrheiten, sehnt sich weinend / nach einer Grenze, einer warmen Wand, von deren Steinen / eine Antwort kommt, wie leise sie auch sein mag. / Seltsam, dies Übertriebene – wer braucht / die achtzehnarmigen Kalis, die verstaubten Heiligen, / deren Knochen und blutende Wunden den guten Geschmack / verletzen, die Räucherstäbe, Huris, Buddhas und die Bücher, / die Wort für Wort auf goldnen Tafeln geschrieben stehn? / Wir. Wir brauchen mehr Welten. Diese wird vergehn.«

Eines nur muss die Religion erfüllen, alles weitere ist nebensächlich: Sie muss den Trost bieten, dass »einer da ist, wie und wo auch immer, der das Gebet hört«. Wenn sie das gewähren kann, dann passt sie, denn tröstet sie, dann ist sie Religion. Weil Beten so elementar ist wie Bitten, darf der Glaube uns darin nicht enttäuschen, dass er uns dieses eine vorenthält. Was ist es, wonach der »Religionskunde« sucht? Nach Erhörung des Gebets? – Sicher, aber die Erhörung des Gebetes sieht er nicht plump darin, dass ihm seine Wünsche erfüllt werden. Die Erhörung liegt bereits darin, dass das Gebet gehört wird. Eben: »dass da einer ist, der hört«. Mehr braucht es nicht, damit es tröstlich ist und damit dem erschrockenen Kind das Leben auf einmal wieder wie eine warme Wand vorkommt, die stützt und hält. Bombastisch ist das nicht, was der Dichter von der Religion fordert, sondern klar und entschieden: dieses eine, aber das ganz bestimmt. Dann, wenn ein Schock das Leben aus der Bahn zu werfen droht, muss er mich hören, wie ich schreie; dann, wenn ich großzügig bin oder ungerecht, muss er es sehen und einstehen dafür, dass es nicht egal ist, wie die Dinge laufen; dann, wenn ich alleine bin und ganz verlassen, muss ich wissen und spüren, dass das falsch ist und wahr das ist, was ich auch noch spüre, »wie leise [es] auch sein mag«.

John Updike guckt sich die bunte Welt der Religionen aus einem gehörigen Abstand an. Er schaut befremdet, vielleicht auch belustigt auf das, was es da so gibt: im Hinduismus findet er die grotesken Figuren der Göttin Kali mit ihren achtzehn Armen, im Katholizismus den schauerlichen Kult um Blut und Knochen, im Buddhismus die Schwaden von würzigen und betäubenden Räucherdüften und im Judentum die buchstabengenaue Verehrung von Worten. Wie in einem gut sortierten Museum des Atheismus führt er die Absurditäten der Religionen genüsslich vor. Aber wir wissen ja bereits, dass er ihr nicht feindlich gegenübersteht, sondern ihren großen Wert achtet: den Trost, der daraus erwächst, dass einer mein Gebet hört. Störend muss dem Dichter das Gerümpel der religiösen Sitten und Kulte vorkommen. »Wer braucht das?«, fragt er und antwortet doch nach der Aufzählung knapp: »Wir.«

Auch wenn Updike angibt, welches der religiöse Strumpf ist, der allen passt, den sich alle überziehen können und müssen, auch wenn er den Nukleus des frommen Lebens hierin schon längst ergriffen hat, auch dann noch weiß er die Bilder und Vorstellungen, das Bunte und Vernunftfreie der Religionen in seiner Bedeutung zu schätzen. Wir Menschen sind bedürftig und bitten. Wir sind auf etwas aus, wir gehen mit unseren Bitten über das hinaus, was uns vor Augen ist: »Wir brauchen mehr Welten.« Denn in jeder und in jedem von uns schlummert tief verborgen das Wissen darum, dass diese Welt vergeht.

Literatur: Klaus Koch, Die Profeten II, Stuttgart 1995; John Updike, Trost der Religion, in: Spiegelungen. Biblische Texte und moderne Lyrik. Eine Anthologie, hg. von Johann Hinrich Claussen, Zürich 2004.

B

Johann Hinrich Claussen

IV Entgegnung: Trost für mein Volk

Und wer tröstet eigentlich unser Volk? In der jüngsten Vergangenheit hat es mehrere Gelegenheiten gegeben, in denen ich mir einen öffentlichen Tröster gewünscht hätte: eine Person, die die Bevölkerung aus dem Exil der Vereinsamung, dem Gefängnis der Angst, dem Labyrinth der Lügen, den Kreisläufen des Hasses führt, die aufrichtet und ausrichtet, die Sorge in Mut, Verzweiflung in Tatkraft, Resignation in Hoffnung verwandelt. Ich habe vergeblich gewünscht. Wer hätte das auch leisten sollen? Für gewöhnlich schaut man, wenn es um öffentliche Tröstungen geht, auf die Regierungsverantwortlichen. Aber das notorisch krasse rhetorische Unvermögen der meisten Politikerinnen und Politiker hierzulande – man hatte es ihnen lange als Ausweis ihrer Sachlichkeit zugutegehalten, sich selbst in der Illusion wiegend, von ihnen ordnungsgemäß regiert zu werden – zeigt nur zu deutlich, dass hier nichts zu erwarten war, ist und sein wird. Wer dann?

Als Büchermensch richte ich Erwartungen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Aber die meisten von ihnen scheuen das Wort Trost, als sei es eine Obszönität. Zu sehr scheinen sie darauf bedacht zu sein, ihren Ruf als anspruchsvolle, moderne, avantgardistische Gestalten der Weltliteratur zu wahren – und das soll sich wohl daran zeigen, dass bei ihnen gar nichts Erbauliches zu finden ist. Dabei übersehen sie, dass sehr viele Menschen überhaupt nur Bücher lesen, weil sie sich von ihnen gesehen, gehört und angesprochen – eben getröstet fühlen. Das kleine Buch »Trost« von Thea Dorn von 2021 war vielleicht kein literarischer Gipfelsturm, aber zumindest ein frecher Vorstoß in die richtige Richtung. Aber es blieb bisher bei einem einsamen Versuch.

Oder soll es doch wieder die Kirche richten? Es ist ja auffällig, wie in Krisenzeiten nach kirchlichen Äußerungen gerufen wird, wobei die Enttäuschung von Beginn an mitgedacht wird. Man wünscht sich etwas herbei, von dem man schon weiß, dass es nicht geliefert werden wird. Wie auch? Kirchliche Leitungspersonen werden in Medien wie Politiker behandelt oder handeln selbst so, sie sind allzu oft bloße sound-bite-Lieferanten, die darauf hoffen müssen, mit einem episkopalen Satz, einem frommen Slogan irgendwie durchzudringen. Doch welcher Trost soll sich auf diesem Wege einstellen? Die Pfarrerinnen und Pfarrer, die in ihrem weniger prominenten, medial – manche sagen: zum Glück – irrelevanten Dienst tatsächlich tröstlich wirken, tun dies in einem kleinen, stillen Rahmen: in Einzelgesprächen, in der Begleitung einer Familie, in der Leitung einer Gruppe, in der Betreuung ihrer Gemeinde. Aber »das Volk« erreichen sie damit natürlich nicht.

Auffällig ist allerdings, dass über diese zentrale Frage – was trägt die evangelische Kirche dazu bei, dass der Bevölkerung Trost zuteilwird? – weder in der Theologie, der verfassten Kirche oder der Diakonie gesprochen wird. Da wünschte ich mir Dialoge, wie sie im Predigttext imaginiert werden: auf Synoden, in all den Räten, den ungezählten Dienstbesprechungen. Eine Stimme beginnt und ruft: »Tröstet unser Volk!« Eine andere fordert: »Redet mit Deutschland freundlich!« Eine dritte jauchzt: »Eine freie Bahn für unseren Gott!« Aber eine vierte fragt zurück: »Was soll ich denn predigen?« Eine fünfte gibt zu bedenken: »Wir sind nur Menschen, schwach und sterblich.« Eine sechste entgegnet: »Aber Gottes Wort ist ewig und er selbst ist wie ein guter Hirte.«

V Erschließung der Hörersituation: Wie geht das überhaupt – das Trösten?

Gern folge ich der Anregung von A, in dieser Predigt über diese Verse an diesem Tag den Trost und das Trösten in den Mittelpunkt zu stellen. Aber so einfach ist das nicht. Denn mir scheint, dass man nicht (mehr) auf einem allgemeinen Wissen um den Trost und einer breiten Zustimmung zum Trösten aufbauen kann. Die Unsicherheit bei diesem Thema zeigt sich schon daran, dass sofort, wo immer das Gespräch darauf kommt, davor gewarnt wird, keinen billigen Trost zu spenden und nicht zu vertrösten. Warum kommt man immer gleich mit dem Missbrauch? Vielleicht weil der rechte Sinn außer Gebrauch geraten ist? Man lässt sich therapieren, man lässt sich coachen. Aber wer würde öffentlich zugeben, getröstet werden zu wollen? Vielleicht liegt es daran, dass im Trost die Ergebung eingeschlossen ist, die Einsicht, dass nicht alles wieder gut und so wie vorher werden wird, dass Wunden bleiben, die sich nicht heilen lassen, dass man das frühere Leistungsoptimum nicht wieder erreichen wird, dass man sich wird bescheiden müssen. Es gibt eben diese dunkle Seite des Trostes, die in Therapie und Coaching eher nicht mitgedacht werden darf. Aber nur wer sie in den Blick nimmt, wird auch die helle Seite sehen. Ungewohnt dürfte das für viele sein, weshalb es sinnvoll ist, an den Sinn des Trostes zu erinnern.

Was also ist Trost? Wie tröstet man andere oder vielleicht sogar sich selbst? Und wie kann man in seinem Glauben Trost finden? Wenn eine Not schier unerträglich geworden ist, wird nicht selten nach einem großen Tröster gerufen, der mit einem mächtigen Wort die Angst vertreibt und Hoffnung schenkt. Doch aus guten Gründen hat sich die christliche Seelsorge schon vor Jahrzehnten von solch einem autoritären Verständnis verabschiedet. Denn Trösten ist weniger eine Sache des Zusprechens als des Zuhörens, des Dabeiseins und Dabeibleibens. Man muss sich nur vergegenwärtigen, was Eltern – hoffentlich – tun, wenn ihre kleinen Kinder Angst oder einen Schmerz haben. Sie nehmen sie in den Arm. Dann sprechen sie auch mit ihnen, aber es ist eher so, dass sie ihre Kinder auch mit Worten umarmen und ihnen zeigen: Ich bin bei dir, ich empfinde mit dir, ich nehme dich ernst, lass uns einen Moment ausruhen, und dann schauen wir gemeinsam, wie es weitergehen könnte, schau einmal, da hinten wird es hell. Das geht nicht so schnell. Trost muss wachsen. Dafür braucht man auch Geduld. Man muss warten können und Vertrauen haben.