Predigtstudien 2023/2024 - 1. Halbband -  - E-Book

Predigtstudien 2023/2024 - 1. Halbband E-Book

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Beschreibung

Die Predigtstudien sind eine bewährte Arbeitshilfe für die qualifizierte und fundierte Predigtvorbereitung. Sie enthalten praxisorientierte Anregungen für die Predigt und die Gestaltung des Gottesdienstes. Jeder Predigttext wird von zwei Theologinnen/Theologen aus Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft bearbeitet. Dieser Dialog verbindet wissenschaftliches Niveau mit homiletischer Praxis.

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Seitenzahl: 520

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Predigtstudien

Herausgegeben

von Birgit Weyel (Geschäftsführung),

Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann,

Wilhelm Gräb (†), Doris Hiller, Christopher Spehr,

Christian Stäblein und Manuel Stetter

Im Jahr erscheinen zwei Halbbände

Darstellungsschema

A-Teil: Texthermeneutik

I Eröffnung

Was veranlasst zu einer Predigt mit diesem Text?

II Erschließung des Textes

Welche Überzeugung vertritt der Verfasser des Textes? Welche existenziellen Erfahrungen ruft der Text auf? Wie verstehe ich heute den Text?

III Impulse

Was folgt aus meiner Textinterpretation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

B-Teil: Situationshermeneutik

IV Entgegnung

Wo ich A nicht folgen kann! Was leuchtet mir ein? Was sehe ich kritisch?

V Zur homiletischen Situation

Welche existenziellen Erfahrungen und exemplarischen Situationen habe ich bei meiner Predigt mit diesem Text im Blick?

VI Predigtschritte

Was folgt aus meiner Interpretation der Situation für das Thema und die Intention der Predigt? Vorschläge für Predigt und Gottesdienst!

© Verlag Kreuz in der Verlag Herder GmbH, Freiburg 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlagkonzeption und -gestaltung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-83024-2

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83025-9

ISSN 0079-4961

ISBN 978-3-451-03436-7

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Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial

Birgit Weyel

Wilhelm Gräb (1948–2023)

Nachruf

Christian Stäblein

Theologe – Hermeneut – Lebensmensch

03.12.2023 1. Advent

Psalm 24,1–10

Die Adventszeit der gemischten Gefühle

Johannes Greifenstein/Georg Raatz

10.12.2023 2. Advent

Offenbarung 3,7–13

Mit Gottes Kraft aus der Echokammer

Michael Tilly/Gerald Kretzschmar

17.12.2023 3. Advent

Matthäus 11,2–10

Mal konkret! Wie soll ich dich empfangen?

Friedemann Magaard/Kay-Ulrich Bronk

24.12.2023 4. Advent

Jesaja 62,1–5

Jerusalem – »Sternwarte des Jenseits«

Martin Weeber/Ruth Conrad

24.12.2023 Heiligabend (Christvesper)

Galater 4,4–7

Die Erbengemeinschaft der Kinder Gottes

Martin Hein/Ernst-Wilhelm Gohl

24.12.2023 Heiligabend (Christnacht)

Lukas 2,1–20

Höchstpersönlich und hochpolitisch

Ralph Kunz/Thomas Schlag

25.12.2023 1. Weihnachtstag (Christfest I)

2Mose 2,1–10

XXmas: Macht gebären statt Machtgebaren

Inge Kirsner/Harald Schroeter-Wittke

26.12.2023 2. Weihnachtstag (Christfest II)

2Korinther 8,7–9

Dankend die Welt verändern

Felix Roleder/Stefanie Wöhrle

31.12.2023 1. Sonntag nach dem Christfest

Johannes 12,44–50

Bilanz gezogen, im Lichte Gottes dennoch heiter

Stephanie Krause/Andreas Hinz

31.12.2023 Silvester (Altjahrsabend)

Prediger 3,1–15

Alles hat seine Zeit

Ursula Roth/Martin Vorländer

01.01.2024 Neujahrstag

Jakobus 4,13–15

Von irdischen und himmlischen Plänen

Sven Petry/Helmut Aßmann

06.01.2024 Epiphanias

1Könige 10,1–13

Frau Weisheit erfüllt den messianischen Raum

Ruth Poser/Fabian Maysenhölder

07.01.2024 1. Sonntag nach Epiphanias

1Korinther 1,26–31

In this space between

Sonja Keller/Anne Wehrmann-Kutsche

14.01.2024 2. Sonntag nach Epiphanias

Hebräer 12,12–18(19–20)22–25a

Von müden Händen und erlahmten Knien

Tobias Sarx/Jennifer Marcen

21.01.2024 3. Sonntag nach Epiphanias

2Könige 5,(1–8)9–15(16–18)19a

Feindschaft und Heilung

Johann Hinrich Claussen/Clemens Monninger

27.01.2024 Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Lukas 22,(31–34)54–62

Der Augen-Blick

Sibylle Rolf/Christian Staffa

28.01.2024 Letzter Sonntag nach Epiphanias

2Korinther 4,6–10

Vertrauen in Gott

Christof Jaeger/Margrit Wegner

04.02.2024 2. Sonntag vor der Passionszeit (Sexagesimä)

Markus 4,26–29

Im Schlaf die Welt retten

Martin Böger/Angelika Behnke

11.02.2024 Sonntag vor der Passionszeit (Estomihi)

Amos 5,21–24

… und nichts als nur Verzweiflung kann uns retten …

Christian Stäblein/Wilhelm Gräb (1948–2023)

18.02.2024 1. Sonntag der Passionszeit (Invokavit)

Matthäus 4,1–11

Kein Pakt mit dem Teufel

Bernd Kuschnerus/Wibke Winkler

25.02.2024 2. Sonntag der Passionszeit (Reminiszere)

4Mose 21,4–9

Wenn dir das Leben in die Ferse beißt …

Corinna Zisselsberger/Juliane Rumpel

03.03.2024 3. Sonntag der Passionszeit (Okuli)

1Petrus 1,(13–17)18–21

Volle Hoffnung voraus

Angelika Obert/Hannes Langbein

10.03.2024 4. Sonntag der Passionszeit (Lätare)

Lukas 22,54–62

Scham und Entschämung

Alexander Arno Heck/Daniel Rudolphi

17.03.2024 5. Sonntag der Passionszeit (Judika)

1Mose 22,1–14(15–19)

Gott sieht

Corinna Körting/Tobias Braune-Krickau

24.03.2024 6. Sonntag der Passionszeit (Palmarum)

Philipper 2,5–11

Vom Parcours der Schande zur Thronbesteigung?

Frank Thomas Brinkmann/Hans-Martin Gutmann

28.03.2024 Gründonnerstag

Johannes 13,1–15.34–35

Mut zur Nähe

Anni Hentschel/Swantje Luthe

29.03.2024 Karfreitag

Matthäus 27,33–54

Gottvertrauen

Friedrich W. Horn/Sebastian Feydt

30.03.2024 Osternacht

Johannes 5,19–21

Wie Ostern geht

Wiebke Köhler/ Cornelia Coenen-Marx

31.03.2024 Ostersonntag

1Samuel 2,1–8a

Wenn das Herz fröhlich wird

Heinz-Dieter Neef/Birgit Weyel

01.04.2024 Ostermontag

1Korinther 15,50–58

Es geht um (mein) Leben und um (meinen) Tod!

Christina Weyerhäuser/Sonja Beckmayer

07.04.2024 1. Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti)

Johannes 20,19–20(21–23)24–29

Verwundet leben

Christine Gerber/Kristin Merle

14.04.2024 2. Sonntag nach Ostern (Miserikordias Domini)

1Mose 16,1–16

Das Leben zwischen den Verheißungen

David Plüss/Maike Schult

21.04.2024 3. Sonntag nach Ostern (Jubilate)

2Korinther 4,14–18

Was bleibt?

Katrin König/Frederike van Oorschot und Philipp van Oorschot

28.04.2024 4. Sonntag nach Ostern (Kantate)

Offenbarung 15,2–4

Singen in der Krise?!

Lukas Grill/Christiane Renner

05.05.2024 5. Sonntag nach Ostern (Rogate)

2Mose 32,7–14

Aufrecht bitten

Albrecht Grözinger/Elisabeth Grözinger

Vergleichstabelle zur neuen Perikopenreihe VI

Perikopenverzeichnis

Anschriften

EditorialWilhelm Gräb (1948–2023)

Birgit Weyel

Wir trauern um Wilhelm Gräb, der am 23. Januar 2023 in Berlin gestorben ist. Als Praktischer Theologe hat er umfassend und vielfältig gewirkt. Er war über Jahrzehnte hinweg immer offen für neue, Theologie und Kirche herausfordernde Themen, die sich durch gesellschaftliche, religiöse und mediale Veränderungen ergeben haben. In allen Feldern seiner Arbeit hat er sich vor allem als Homiletiker verstanden, denn die Predigt sei, so Gräb, Lebensdeutung. Wie sich ein Leben deuten lasse, darin zeige sich die Relevanz des christlichen Glaubens. Das gelte nicht nur für biographisch veranlasste Kasualien, sondern für jede Predigt als »der exemplarische Fall öffentlicher religiöser Rede«1.

Wilhelm Gräb hat sich in vielen homiletischen Seminaren mit Studierenden auseinandergesetzt, Vorlesungen gehalten, Aufsätze und Bücher zur Homiletik2 geschrieben und er hat auch selbst leidenschaftlich gerne gepredigt und Predigten gehört. In seinem Engagement für die Predigtstudien hat er beides miteinander verbunden: die wissenschaftliche Arbeit an einer zeitgemäßen Predigtlehre und die oft mühevolle Arbeit an der eigenen Predigt. Er war seit dem Jahr 2000 im Herausgeberkreis der Predigtstudien und von 2008 bis 2021 ihr geschäftsführender Herausgeber. Zu jedem Band hat er selbst eine Predigtstudie beigetragen. Die Herausgeber, der Verlag und viele Autorinnen und Autoren sind dankbar für die gemeinsame Zeit und sehr traurig über den Verlust.

1Wilhelm Gräb, Leben deuten, in: Lars Charbonnier/Konrad Merzyn/Peter Meyer (Hg.), Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 215–230, 215.

2Um nur zwei zu nennen: Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht (1988) und Predigtlehre. Über religiöse Rede (2013).

NachrufTheologe – Hermeneut – Lebensmensch3

Christian Stäblein

Ich verachte eure Feste, mag eure Versammlungen nicht riechen. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören.

Ich hätte gerne gewusst, was Wilhelm Gräb zu diesen Versen – manchem hier werden sie ja gut vertraut sein: die berühmte Kultkritik des Propheten Amos, fünftes Kapitel –, was er dazu also jetzt als nächstes im A-Teil geschrieben hätte. Wir hatten uns wieder so aufgeteilt in den Predigtstudien: er den A-Teil, ich den B-Teil. Kultkritik, Predigtstudie, homiletische Kunstform. Damit ist vieles versammelt, was diesen großen theologischen Lehrer, und ja, natürlich auch Prediger und Gehilfen, Gefährten fürs Predigen einer ganzen Generation ausmacht. Es war unser nächstes Projekt, seit ein paar Jahren durfte ich mir mit ihm diese altehrwürdige homiletische Aufgabe in der Tradition Ernst Langes teilen, jedes Jahr wieder fragte ich ihn erst, ob er es denn mit mir Nachgeborenem aushalten würde im Duo. Ich weiß, ich habe Wilhelm Gräb jetzt zu würdigen und dabei meine Gefühle im Zaum zu halten. Aber ich sage vorweg in aller Klarheit: Ich werde ihn wie ihr alle furchtbar vermissen, diesen wunderbaren Menschen, verehrten Lehrer, diesen Vermittler und dabei Radikaltheologen bis in die Predigthilfen hinein, diesen phantastischen Hermeneuten, Deuter, Nicht-Locker-Lasser. Diesen genialen Kopf mit scharfer Wort-Grätsche, wortmächtig, ach, diesen so herrlich fröhlichen Menschen, lebendiger Lebensmensch, es war, es ist nicht schwer, ihn zu mögen, zu lieben auf seine Art.

Zur Studie über Amos kommt es nun nicht mehr, so bleiben seine letzten Worte von ihm über Jesajas Berufung und diesen Gott, der – jetzt in den Worten des Verstorbenen, Zitat – »uns angesichts drohender persönlicher oder weltgeschichtlicher Katastrophen nicht in Resignation verfallen, sondern mit kühlem Kopf handeln lässt, der Gott, der hindurchträgt – und deshalb täglich neu unsere Lebenszuversicht erneuert«. – Täglich neu unsere Lebenszuversicht erneuert. – Ich würde das eine Form öffentlicher Seelsorge nennen und also in den drei Erinnerungsverdichtungen, die ich jetzt skizzieren möchte, damit einsetzen:

Theologie als öffentliche Einrede, öffentliche Seelsorge – Seelsorge dabei ganz in seinem, in ihrem eigensten Sinne als Lebenshilfe durch Lebensdeutung, nicht nur individuell, auch, ja gerade auch kollektiv, gemeinschaftlich, in der Mediengesellschaft. Seelsorge gilt ja als so etwas wie die Muttersprache der Kirche, aber dann muss man sie auch verantwortet sprechen, lehren, unverwechselbar, nicht in dogmatischen Formeln oder kirchlichen Stanzen. Er war schon vom Krebs gezeichnet, oder sagen wir lieber: von der Krankheit ins Ringen gezogen, als wir zusammen die Predigtstudien zu König Hiskias Gebet um Heilung schreiben durften.4 Sein Text war eine öffentliche Weise der Deutung von Krankheit, Sterben und Lebenwollen, die so nah und voller persönlicher wie theologischer Überzeugung war, dass es jeder begreifen konnte. Hier deutet einer, der gerne lebt, hier deutet einer heilsam für uns aus den eigenen Wunden heraus. Neben dem vielen, was wir von ihm lernen und weitergeben wollen – in der Kirche und selbstverständlich weit über die Kirchenmauern hinaus – sei auch das: Leben öffentlich redend in den Brüchen, aus den Brüchen heilsam deuten.

Lernen. Der Lehrer Wilhelm Gräb. Ich erinnere einen Tag mit ihm auf Einladung eines Vikarskurses im Predigerseminar in Loccum, es ist also mindestens ein Jahrzehnt her. Es waren tatsächlich 24 Stunden Gespräch, vom Abendbrot bis zum nächsten Abendbrot. Er trug in den vier Einheiten nicht etwa drei Manuskripte vor, er machte impulsartige Einstiege. Und dann wurde geredet, diskutiert, gerungen, gestritten, irritiert, erhellt, eingeleuchtet und heimgeleuchtet, scharf geurteilt, offen gefragt. Es war theologisches Gespräch pur – strukturiert und offen, sortiert und auf Umwegen, ohne die Schutzmauern theologischer Richtigkeiten, die nichts austragen, oder kirchlicher Redeweise, die schon im Verklingen bloß das Gefühl des frommen Geräusches hinterlässt. Ich habe das so selten erlebt, ausgesetzt im Meer von Existenz und Theologie. Nachdem er wieder in Berlin zurück war, schrieb er mir, es sei sehr schön gewesen mit »meinen« Vikaren, aber, nein, nicht aber, sondern: weil, weil doch ziemlich fordernd, ja eigentlich ganz und gar. Es gab diesen Lehrer nicht nur ein bisschen. Es gab ihn immer ganz und gar. Und in voller Wucht. Was für eine Wucht. Wenn die Lust an Klarheit, Prägnanz, der Widerspruch gegen Borniertheit, Lebensferne, ideologische oder kirchliche Selbstabgeschlossenheit, wenn das auf Betriebstemperament kam, dann konnte es kräftig zugehen, die meisten hier werden ihre Erfahrungen damit haben. Er war ein Lehrer, weil er die Zumutung nicht scheute, weil er vor Härte und Schärfe um der Klarheit willen nicht zurückschreckte. Widerstreit gestalten, weil es uns weiterbringt – was für eine Wucht das war. Und dann am Ende auch die Zustimmung, das Einverständnis. Dass Wilhelm Gräb kritisch sein konnte, wissen wir ja. Wie phänomenal er aber loben konnte, zustimmen, mitschwingen, sich freuen, sich einfach mit freuen am Glück des Lebens anderer – welche Wucht das erst haben konnte, das sollte nicht unter den Tisch fallen. Es war soviel mehr eben das. Und es war ja stets um der Sache willen, auch wenn das jetzt ein unpräziserer Ausdruck ist, aber so habe ich es verstanden, wenn er mir etwa schrieb: Sag nicht nur, was die Menschen sowieso von der Kirche hören, erwarten, und also sowieso nicht hören.

Dritte und letzte Erinnerungsverdichtung – und für die ich doch eigentlich hier rede am Sarg, im Abschied, in Schmerz und Dank: Der Kirchenmensch Wilhelm Gräb. Das mag eine komische Formulierung sein, irritierend, wir wissen alle: Die gelebte Religion jenseits von Institution und Organisation hat er gegen institutionelle Selbstabschließung hochgehalten, das Religiöse, bleibend auch im Säkularen und nicht etwa im falschen Sinne gegen das Säkulare. Er hat der Kirche wahrlich gut getan mit seiner klaren Einrede, nehmen wir einen schönen Satz aus dem Jubiläumsjahr 2017: »Dass die Reformation in ihrem Kern Kirchenkritik war, davon hat auch die evangelische Kirche heute keine Ahnung.« So ist es wohl. Und also war es auch ein Dienst an der Kirche, ist es ein Dienst an der Kirche, mit ihr zu streiten, auch öffentlich, unbedingt. Und – das soll nun nicht übersehen werden – dieser sein Dienst ja nicht aus der höheren Warte, sondern aus der Mitte des Tuns und Lebens in ihr, wir sehen es ja heute und diese Kanzel hier hat den Prediger, Universitätsprediger über Jahrzehnte hinaus, Wilhelm Gräb auch nicht nur einmal gesehen. Dazu die Landeskirche und die Synoden und die unendlich vielen unverwechselbaren kirchlichen Zusammenhänge von Kommissionen und Gremien, Synoden und Symposien. In der Mitte, ins Herz und damit ringend. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz dankt diesem national, international überragenden, eine Zeit des Umbruchs in Gesellschaft und Kirche mit gestaltenden Menschen und prägenden Denker, er hat sich gerade auch um diese Kirche verdient gemacht. Möge diese Kirche es merken und daraus lernen. Es ist eine Wende, wir sagen gern: Transformation in Theologie und Gesellschaft, mit der es ernst zu machen gilt. Diese Einsicht hat er gelebt und gelehrt, gelehrt und gelebt.

Damit es jetzt nicht zu lieblich wird, noch einmal Amos 5: Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. Das ist ja das Herz jeder Kultkritik. Und in der Studie dazu im nächsten Jahr darf dann auch getrost stehen, wie es der Verstorbene formuliert hat: Dann ist jede Kirche, wie immer sie sich nennt, zu kritisieren, wenn sie nicht der Menschwerdung des Menschen dient, seinen elementaren Lebens- und Freiheitsrechten. So ist es. In die Freiheit und das Licht dieses lebendigen Gottes glauben wir ihn ganz und gar. Ganz und gar uns voraus. Danke.

3Diesen Nachruf hat Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Mitherausgeber der Predigtstudien und seit einigen Jahren Wilhelm Gräbs Co-Autor, im Rahmen der Trauerfeier am 7. Februar 2023 in der Johanneskirche in Berlin gehalten.

4Wilhelm Gräb/Christian Stäblein, Ins Vertrauen kippen. 19. Sonntag nach Trinitatis – 10.10.2021, in: Predigtstudien III/2 (2020/2021), Freiburg 2021, 183–190.

1. Advent – 03.12.2023

A

Psalm 24,1–10

Die Adventszeit der gemischten Gefühle

Johannes Greifenstein

I Eröffnung: Kasualpredigt und Textpredigt?

Die Predigt am 1. Advent ist kirchenjahreszeitliche Kasualpredigt an einem der wichtigsten Termine im ganzen Jahr. Die Predigt zu Ps 24 verdankt sich der kasualmusikalischen Setzung des Klassikers »Macht hoch die Tür« (EG 1) und dessen Bezugnahme auf V.7–10.

Das Perikopenbuch hört zu Beginn des Kirchenjahres einen »Paukenschlag«, und so kann man den Schöpfer (V.1–2) und König (V.7–10) auch wahrnehmen. Doch sind wir Menschen (V.3–6) nicht nur auf der Ebene der Textstruktur gleichsam in der Mitte dazwischen eingequetscht? Es wird darauf ankommen, nicht über Gott zu predigen, sondern über unser Gottesverhältnis.

Die Predigt sieht die Adventszeit als Zeit des Suchens und Fragens an und kann selbst suchend und fragend verfahren. Es ist verständlich, dass man am Kirchenjahresbeginn und im Vorblick auf Weihnachten die Pauke schlagen will. Aber man vergreife sich nicht in Ton und Lautstärke: Der Gott, um den es mit Jesus geht, muss letztlich durch unsere »Herzens Tür« einziehen (EG 1,5).

II Erschließung des Textes: Advent Christi und eines christlichen Glaubens

Die Perikope kann man in drei Teile gliedern. Nach einer Aussage über Gott (V.1–2) folgt der Blick auf uns Menschen (V.3–6) und zuletzt eine auffällig strukturierte Einheit, die in gewisser Weise Perspektiven zugleich auf Gott und den Menschen enthält (V.7–10). Wie gesagt ist es dieser dritte Teil, der für diese Perikope verantwortlich ist und einen christlichen Zugang zu ihr anzeigt: Der einziehende »König der Ehre« ist Christus! Aber schon für V.1 verweist die Lutherbibel auf Joh 1,11 und damit weg vom alttestamentlichen auf den neutestamentlichen Herrn: »Er kam in sein Eigentum.«

V.1–2 lesen sich wie ein Argument dafür, dass Gott »von Rechts wegen die ganze Menschheit gehört«. (Böhler, 447) Lehrtechnisch würde man diese Verse zunächst auf einen Schöpfungsglauben beziehen und kann man in diesem Kontext durchaus schon an uns (nicht eigens erwähnte) Menschen denken (»die darauf wohnen«). Weshalb aber wäre oder wie wird das für eine Predigt relevant? Wird es nicht vollends zu viel, wenn dann auch noch ein Bezug auf den mit Christus verbundenen Kasus erfolgt?

Das ist keine rhetorische, aber eine auf Nachdenklichkeit und Umsicht zielende Frage. Immerhin gibt es bereits hier eine mögliche Berührung zu einer christologischen Ausdeutung der Perikope, wenn man nämlich an die Universalität der Erde und des Erdkreises noch in anderer Weise denkt: Jesus ist für alle gekommen (EG 11,1: »aller Welt Verlangen«) und will zu allen kommen. Man beachte gleichsam als Erfüllung dieser Vorstellung aus einem der »weiteren Texte« Offb 5,13 sowie Sach 9,10.

V.3 verfällt zuerst (positioneller) Kritik: Es gibt keinen solchen Berg und keine solche Stätte (oder Stätten, vgl. Zeph 2,11). Es braucht so etwas aber auch nicht, man vermisst einen freimütigen Verweis auf Joh 4,19–24. Etwas moderater: Der Glaube selbst eröffnet den Weg in das vermeintliche Heiligtum (vgl. als »weiteren Text« Hebr 10,[19–22]23–25). Man kann aber auch einmal von dem »Wunsch« absehen, ausgerechnet »im Tempel Gottes Gegenwart zu erfahren«. (Spieckermann, 292) Denn keineswegs erübrigen sich die Fragen: Wie stehe ich vor Gott (vgl. Röm 13,8–12, Offb 3,14–22)? Und auch: Wie gelange ich vor Gott?

Auch bei V.4–5 differenziert die homiletische Auslegung. Erstens ist eine Art Belohnungsmotiv wahrzunehmen. Dabei beachte man zuerst den Verweis auf Jes 48,18 (Gerechtigkeit für richtiges Verhalten), dann ist vor allem Ps 15 interessant, den die Lutherbibel unter die Überschrift stellt: »Wen nimmt Gott an?« Zweitens kann man eigens nach der Relevanz unschuldiger Hände, eines reinen Herzens und der Distanzierung von der Lüge fragen. Wie ist das ein Thema für unsere Lebenswelten? Das dritte ist der basale Gedanke, dass wir von Gott etwas bekommen – wobei es ich bin, der etwas bekommen kann, schließlich ist Gott schon grammatisch auf eine einzelne Person bezogen eigens ein Gott »seines Heiles«.

In V.6 bezieht man das »Das« auf das suchende und fragende Geschlecht – das bekanntlich gerade heute nach dem Segen fragt (V.5) –, also auf diejenigen, die V.4–5 auszeichnend vor Augen gestellt werden. Für Luther ist diese Passage von – zuspitzend – sinnvollem Antijudaismus und Antikatholizismus geprägt. Denn das Gottesverhältnis entscheidet sich eben allein am Gottesverhältnis: »Nur reinen Glauben und wahre Demut soll man haben. Das andre gilt nichts.« (Luther, 328) Dazu passt es, wenn die Elberfelder Bibel von 1905 auf Röm 2,28–29 verweist. Bei der »Herrlichkeit für die Seinen« ist »deren persönliches Gottesverhältnis im Blick […], nicht die Zugehörigkeit zum Gottesvolk«. (Spieckermann, 289)

Bei V.7–9 fordert der Gesamteindruck von einem räumlich-äußerlichen Phänomen heraus (vgl. Verweis auf Jes 40,3–4, wiederum beziehbar auf Lk 3,4–6 und Joh 1,23 und damit auf das Täuferwort zu Jesu Ankunft). Die »Religion« der Perikope betrifft eine Ebene des Politischen und Geschichtlichen, Vorstellungen von einem solchen Herrn können Assoziationen etwa in Richtung Russland hervorrufen. In der Tat besteht – wie das Perikopenbuch bemerkt – eine gewisse Spannung zu Vorstellungen von Armut und Frieden, die eine Ankunft Jesu charakterisieren können (vgl. Sach 9,9–10). Gleichwohl besteht auch eine Nähe zu Vorstellungen von einer Königsherrschaft Christi (Jer 23,5). Doch wie hat man sich die Hoheit Jesu als eine grundsätzlich (!) andere, aber deshalb keineswegs weniger starke und mächtige (V.8), sondern eigentümlich siegreiche (EG 11,5) Hoheit vorzustellen?

III Impulse: Freude und Buße des Adventschristentums

Ausgangspunkt im Blick auf Text und Kasus ist eine Umkehr der Perspektive (gegenüber V.3a und dann V.3–6 insgesamt). Advent heißt zuerst und grundsätzlich: Nicht wir gehen irgendwohin, sondern er kommt und bringt den (alle Jahre) immer wieder neuen (Geburt!) Glauben zu uns. Aber der Text spricht auch vom Suchen und Fragen. Man kann überbetonen, dass deshalb nicht alle gemeint sind, sondern nur eine Schar – das läuft auf eine letztlich römisch-katholische (und insofern verkehrte) Differenzierung von Kirche und Welt hinaus (vgl. Spaemann, 195), der freilich auch ein unprotestantisch-übertriebener Liturgizismus huldigen kann. Man vergleiche kritisch aus einem Psalm, »der sachlich und sprachlich sehr nahe bei Ps 24 ist« (Spieckermann, 289): »Ich aber gehe meinen Weg in Unschuld. Erlöse mich und sei mir gnädig!« (Ps 26,11) Wem ist das erschwinglich (vgl. Lk 18,9–14)?

Allerdings lässt sich sinnvoll betonen (Bußzeit!), dass unsere natürliche Haltung gerade nicht die ist, diesem Einzug Gottes (in Jesus) freudig entgegenzusehen. EG 11,10 ist wie V.6 vom Suchen und Lieben im Gegenüber zum Fluchen und im Blick auf ein Gericht die Rede. Deshalb ist die Rücksicht auf das Herz als das entscheidende Tor für den Einzug des neuen Glaubens (EG 1,1) zugleich Rücksicht auf eine innere Adventszeit im Sinne des Wochenlieds »Wie soll ich dich empfangen« (EG 11,1). Ist so gesehen »das reine Herz […] jene offene Pforte« (Spaemann, 192), auf die es ankommt, dann muss man auch die Schärfe und das religionslebensweltliche Problem der knappen (ostkirchlichen) Wendung »Das Heilige den Heiligen« (ebd.) beachten.

Auch bei Luther begegnet der Gedanke an einen menschlich-allzumenschlichen Widerstand. Und während V.4 von unschuldigen Händen spricht, geht das Wochenlied der alten Perikopenordnung »Die Nacht ist vorgedrungen« (EG 16) ausgiebig auf Schuld ein. Da ist eben auch das Geschlecht, »das nicht nach ihm fragt und das da nicht sucht dein Antlitz«. Und wo gehöre ich hin? Wann gehöre ich wo hin – und weshalb?

Zwar interessiert im christlichen Gottesdienst nicht eine den Text möglicherweise interessierende »Bekehrung der Nichtisraeliten zu JHWH«. (Böhler, 445) Erneut aber lautet die in zugleich kritischem wie konstruktivem Sinne adventliche, nämlich auf Jesu Glauben ausblickende und insofern auch auf mich und meinen Glauben und Unglauben rückblickende Frage: Wie gewinne ich ein Verhältnis zu Gott? Und dies in Vielfalt: Erstmalig und neu, aber auch wieder einmal, wieder öfter, wieder stärker. Denn auf unserer sozusagen eigenen Seite der Adventsbewegung geht es darum, wo ich stehe oder wo ich mich eigentlich gerade so bewege. Kann ich bei Gott ankommen? Wo und wie trifft er mich an? Wie – im offeneren Sinn gefragt – findet er mich? Kann er mich finden, da, wo ich bin? Und soll er mich finden, so, wie ich bin?

In dieser Linie wäre zuletzt sogar eine Grenze der Vorstellung vom Advent Gottes in Jesus als Advent des christlichen Glaubens zu bedenken. Aus alttestamentlicher (und historischer) Sicht mag stimmen: »Der Mensch kann sein Heil nur finden, wenn er Gottes Nähe im Tempel sucht.« (Spieckermann, 295) Dazu steht eine überwiegend vorfreudigwartende Adventsfrömmigkeit auf den ersten Blick im Widerspruch. Gleichwohl adressiert die Predigt zumindest direkt Menschen, die sich an diesem Tag auf einen Weg wohin gemacht haben, und die mehr oder weniger wissen (und wieder einmal wissen wollen), was sie auf diesem Weg suchen und finden können. Reflektiert man (empirisch geerdet) das Phänomen der Suche, dann mag der Gedanke an eine förmliche Gott- oder Glaubenssuche zu akzentuiert wirken. Sinnvoll aber ist es, eine adventliche Offenheit für den Glauben auch als Ergebnis eines Sich-Öffnens zu begehen (samt eines Gebets darum, geöffnet zu werden!). Und das impliziert, auch der eigenen Verschlossenheit zu gedenken.

Literatur: Dieter Böhler, Psalmen 1–50, Freiburg 2021; D Martin Luthers Psalmen-Auslegung, hg. von Erwin Mülhaupt, 1. Band Psalmen 1–25, Göttingen 1959; Robert Spaemann, Meditationen eines Christen über die Psalmen 1–51, Stuttgart 2014; Hermann Spieckermann, Psalmen. Band 1: Psalm 1–49, (ATD14) Göttingen 2023.

B

Georg Raatz

IV Entgegnung: Gott zu mir und ich zu ihm

Noch etwas deutlicher als A könnte der kirchenjahreszeitliche Doppelkasus betont werden: Am 1. Advent beginnt die Adventszeit und das neue Kirchenjahr. Vor allem mit dem Evangelium, dem Einzug Jesu in Jerusalem (Mt 21), wird schon ganz am Anfang der Blick auf den Anfang vom Ende des Kommenden gerichtet, die Passion. Insofern handelt es sich um einen »Paukenschlag« (Perikopenbuch), aber doch nicht mit zu viel Aplomb, wie A zurecht rät, sondern vielmehr interrogativ. Denn neben Ps 24, einer altisraelitisch-festlichen Tempel- und Thronbesteigungsliturgie, steht mit besagtem Evangelium der Einzug Jesu auf einer Eselin ins Jerusalem seiner Passion, steht mit dem Wochenlied EG 11 »Wie soll ich dich empfangen?« eine Frage. Auch Ps 24 eröffnet einen weiten Blick nach vorne: Die advenierende Gottheit öffnet sich nicht nur die Tore in unsere Welt, sondern vor Christus, auf den wir den Psalm im Advent übertragen können, öffnen sich auch die Tore des Totenreichs zu Ostern und das Tor zum Himmel an Himmelfahrt. Und schließlich öffnet sich der Heilige Geist (Pfingsten) in der Taufe die Tür in unsere Herzen.

Aber ob der einziehende »König der Ehre […] Christus« ist, wie A sagt, sollte zunächst etwas vorsichtiger als Frage formuliert werden. Nicht nur, um nicht den alttestamentlichen Psalm zu schnell christologisch zu applizieren, sondern auch um der theo-logischen Dimension des Advents willen: »Seht, die gute Zeit ist nah, Gott kommt auf die Erde« (EG 18).

A ist zuzustimmen, dass mit dem schöpfungstheologischen Auftakt von Ps 24 (V.1f.) der christologisch weitestmögliche Rahmen gesetzt ist: Der, der »aller Welt Verlangen ist« (EG 11,1), ist, so ließe sich die Perspektive noch erweitern, der schon an der Schöpfung beteiligte Logos.

Es geht also, ganz so wie A meint, um das Gottesverhältnis – und wie es dazu kommt (adveniert), wie Mensch und Gott zueinanderfinden. Die homiletische Aufgabe wird darin bestehen, einerseits der konkreten adventlichen Frage und Erwartung und andererseits der in Ps 24 angestimmten Grundfrage des christlichen Glaubens gerecht zu werden: Wie kommt Gott zu mir und ich zu ihm?

V Zur homiletischen Situation: Das Endliche für das Unendliche öffnen

Wer am 1. Advent den Gottesdienst besucht, hat gewiss Haus oder Wohnung schon adventlich geschmückt und geputzt, grüne Tannenzweige, geschnitzte Engelchöre, Adventskranz und Pyramide. Hier ist das Allerheiligste, das traute Heim, und die einzige Parallele zum Jerusalemer Tempel besteht vielleicht im Duft des Weihrauchs. Es ist also alles bereit, gemütlich und rein. Diese Art der Bereitung mutet beinahe archaisch an, religionsgeschichtlich noch hinter Ps 24 zurückgehend. Hermann Gunkel weist in seiner populärtheologischen Einführung in Ps 24 darauf hin, dass im alten Ägypten Reinheit für den Eintritt in die inneren Tempelräume vorausgesetzt wurde, sicherlich auch ursprünglich im alten Israel. Dass im Mittelteil des Predigttextes nicht nur kultische Reinheit verlangt wird, zeugt von einem Durchgang durch die prophetische Kultkritik und eine sittliche Vertiefung: Zugang zum heiligen Berg Zion und Jahwes Tempel hat der, der »unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist« (V.4a). Warum dann noch der äußere kultische Rahmen des Tempels, also des Ortes von Opfer und Weihrauch? Die Spannung, die das so fremde Sujet des Psalms zur adventlichen Grundstimmung zunächst aufmacht, spiegelt sich also auch schon im Psalm: Tempelkult auf der einen, kultkritische Anklänge auf der anderen Seite. Dies entspricht etwa der Spannung zwischen der Äußerlichkeit des reinlich-geschmückten adventlichen Heims und der religiösen Innerlichkeit, die im Fokus der Predigt stehen sollte.

Ps 24 beschreibt eine komplexe Festliturgie. Gunkel vermutet, dass es sich um das Neujahrsfest oder um ein Tempelweihfest gehandelt haben könnte. Noch heute gehört Ps 24 zur Festliturgie des jüdischen Neujahrsfestes (Trepp, 123). Beides passt zum 1. Advent: Das Rosch ha-schana der Kirche einerseits; und mit der Weihe des Tempels könnte andererseits auf die frühchristliche Umdeutung des Tempels verwiesen werden: »Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?«, zu ergänzen wäre: durch die Taufe (1Kor 3,16). Also das christliche Tempelweihfest ist die Taufe. Zusammengezogen könnte der Fokus darauf liegen: Am Anfang des Kirchenjahres werden wir uns unseres je individuellen Anfangs im christlichen Glauben durch die Taufe und als Wohnung des Höchsten bewusst und fragen im Anschluss an Ps 24,3–6: Wie stehe ich zu mir selbst als dem Tempel Gottes und wie kann ich mich dazu bereiten, dass ich in mir zu mir selbst finde? Und daran schließt unmittelbar Ps 24,7–10 an: Das, was mir in der Taufe verheißen wird, vollzieht sich immer dann, wenn ich die Tür zu meinem Inneren öffne, wenn ich die Schotten hochziehe und den »König der Ehre« einziehen lasse. Das ist der Anfang und das Wesen von Religion: Selbstreflexion und darin einen Sinn für das, was mich unbedingt angeht, ahnen, das Endliche für das Unendliche öffnen.

Die Dynamik des 1. Adventssonntages vollzieht damit eine doppelte Wendung vom Außen zum Innen: Zum einen geht es um die Bewegung aus der unreinen Welt hinein in den Tempel Jahwes auf dem heiligen Berg. Aber darin verbleibt es doch auch noch im Außen. Daher zum anderen: Das Äußere des Tempels wird ins Innere des Menschen verlagert, das Herz und die Seele als Ort meines Gottesverhältnisses.

VI Predigtschritte: Eu’r Herz zum Tempel zubereit’

Wie zum Sonntagsevangelium, dem Einzug Jesu in Jerusalem, das Lied »Wie soll ich dich empfangen« gesungen werden sollte, so sollte zu Ps 24 das vertraute Lied »Macht hoch die Tür« gesungen werden. »Es ist zugleich Lesungs-Musik, Predigt-Musik und Tor zum Advent.« (Reich, 54) Es bietet sich eine Liedpredigt an, in der die jeweiligen Bezüge zu Ps 24 hergestellt werden. Die Referenzen beider Lieder zu ihren biblischen Bezugstexten sind mit Händen zu greifen; und die Logik der Referenz kann auf den Begriff der Verinnerlichung, der Bewegung von außen nach innen gebracht werden.

1. »Wer ist der König der Ehre?« – Zu dieser Frage bleiben die V.7–10 von Ps 24 eher formelhaft und dem Kriegerischen verhaftet: Jahwe ist »stark und mächtig«, »mächtig im Streit«, denn: »Es ist der Herr Zebaoth«, also der von Kriegsheeren umscharte. Wenngleich es in der 1. Strophe des Liedes noch recht doxologisch zugeht, so klingt doch schon der durch, »der Heil und Leben mit sich bringt«. Diesen Heiland haben wir uns gemäß der 2. Strophe nur noch im symbolischen Sinne als Kriegsgott vorzustellen, denn alle seine königlich-kriegerischen Insignien werden pazifiziert: Er ist ein »Helfer«; als ein solcher kommt er nicht auf einem Streitwagen, sondern auf den Schwingen der »Sanftmütigkeit« dahergefahren. Anstelle einer Königskrone und eines Zepters trägt er »Heiligkeit« und »Barmherzigkeit«. Wenn man in diesem Sinne die V.7–10 des Psalms noch einmal liest, dann könnte man die immer wiederkehrende altisraelitische Festliturgie auch als einmalige Rückkehr Jahwes zu sich selbst als eines Friedensgottes verstehen. Anstelle Jahwes zog im Kriegsfall die Bundeslade dem Kriegsvolk voran; nun kehrt sie zurück in den Jerusalemer Tempel, dessen Tore dafür erhoben werden müssen. Diese Logik hat nun nach der Deutung der 2. Strophe des Liedes ein Ende, Gott kehrt nicht aus einem siegreichen Krieg zurück, sondern mit seinem Einzug »all unsre Not zum End er bringt«. Darin und in nichts anderem ist er »groß von Tat«.

2. »[…] da dieser König ziehet ein«? – In der 3. Strophe verlässt der Lieddichter noch nicht gleich den Bereich des Politischen. Zu nah war Georg Weissel 1623/42 der Krieg, als dass er die Sehnsucht nach einem friedensbringenden Gott zu schnell ins individuell-geistige Leben verlagern wollte. Daher zunächst: »O wohl dem Land, o wohl der Stadt.« Auch wenn klar ist, dass sein Gott nicht mehr an sein Land Israel und seine Stadt Jerusalem gebunden ist, so ist er aber doch ein Gott, auf dessen Heil jedes Land und jede Stadt der Welt seine Hoffnung richten kann. Unterstützt wird diese Deutung durch die Übersetzung der Vulgata: »Öffnet, ihr Fürsten, eure Tore: tut euch auf, Pforten der Ewigkeit.« Und so legt auch noch Luther es aus: »Die Tore und Pforten, das sind die öffentlichen Verwaltungen.« (Mühlhaupt, 330) Mit der adventlichen Hoffnung schwingt auch der Appell an die Fürsten der Welt und die Sehnsucht nach Frieden mit, der »all unsre Not zum End’« bringt. Nicht nur angesichts des Russland-Ukraine-Krieges liegt uns diese Sinndimension des Psalmes und Liedes am Herzen, sondern angesichts einer Welt, in der allerorten Kriege wüten. Nicht nur die Tore des Tempels oder der Fürsten sollen erhoben werden, sondern auch Gott selber, wie im Magnifikat der Maria, dem Adventspsalm schlechthin: Was stark und gewaltig daherkommt, soll demütig werden.

Die innigste und je eigene »Freud und Wonn«, »Lust und Freud« stellt sich dann ein, wenn der König der Ehre mich als seinen Tempel erwählt, mein Herz und meine Seele, so in Strophen 3 und 4: »eu’r Herz zum Tempel zubereit’.« In Ps 24,3f. erfolgt diese Zubereitung im Sinne der alten Prophetie im Tun der Gerechtigkeit, mit Herz und Hand. Im Adventslied wird nichts erwartet, als sich im Glauben (»Gottseligkeit«), in »Andacht, Lust und Freud« für Gottes Einzug zu öffnen.

3. »Komm, o mein Heiland Jesu Christ« – »Dein Heilger Geist uns führ und leit«. – In der 5. und letzten Strophe sind nun die Tore des Herzenstempels weit geöffnet und dem Advent des Heilandes steht nichts mehr im Wege. Und zugleich ist es doch nicht die Geburt in der Krippe, sondern die Hoffnung auf Gottes Geist. Das Zyklische, das unweigerlich mit dem Kirchenjahr verbunden ist, wird zu Beginn desselben gebrochen. Denn bei aller adventlich-weihnachtlichen Sinnlichkeit haben wir Christus nicht mehr kata sarka (nach dem Fleisch, 1Kor 5,16), sondern vielmehr als Geist in unserem Geist. Adventshoffnung ist mehr als das Warten auf das Kind in der Krippe. Weihnachten ist dann, wenn wir im Geist Jesu Geist empfangen, gebären und wachsen lassen, auf dass er »uns führ und leit«.

Literatur: Hermann Gunkel, Ausgewählte Psalmen, übersetzt und erklärt, Göttingen 1905 (zu Ps 24: S. 65–71); Erwin Mühlhaupt, D. Martin Luthers Psalmen-Auslegung, Bd. 1, Göttingen 1959; Christa Reich, Macht hoch die Tür, in: HEG 3/1, Göttingen 2000, 52–57; Leo Trepp, Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart/Berlin/Köln, 1992.

2. Advent – 10.12.2023

A

Offenbarung 3,7–13

Mit Gottes Kraft aus der Echokammer

Michael Tilly

I Eröffnung: Eine apokalyptische Echokammer?

Der metaphorische Begriff der Echokammer verweist auf einen Raum, in dem gewollte Aussagen verstärkt und Störgeräusche, etwa anders lautende Meinungen, geschluckt werden. In ähnlicher Weise meint auch der Begriff der Filterblase, dass die öffentliche Kommunikation einzelner Gruppen, seien sie politisch oder seien sie kirchlich, in voneinander isolierte Räume verlagert wird. Wenn sich aber Menschen mit ähnlichen Ansichten nur noch in solchen geschützten Räumen austauschen, ihre einseitigen Perspektiven dabei gegenseitig verstärkt werden, anders lautende Meinungen hingegen immer weniger Beachtung finden, dann kann es zu einer bedrohlichen Polarisierung kommen, die letztendlich den Gemeinsinn und den Fortbestand der gesamten Gemeinschaft bedroht. Lesen wir die Offenbarung des Johannes nicht als ein Manifest aus der Bubble des exklusiven »Klubs der 144.000« (vgl. Offb 14,3), sondern als einen entschiedenen Aufruf, vermeintlich eindeutige Wahrnehmungen und Einschätzungen der Geschichte und Gegenwart zu relativieren und beherzt danach zu fragen, was diese zwar vermeintlich sicheren, tatsächlich aber einengenden Räume zu überwinden vermag, dann spiegelt sich darin ein wichtiger Aspekt des Propriums des heutigen zweiten Adventssonntags – die Hoffnung auf den kommenden Erlöser.

Eine vermeintlich eindeutige, tatsächlich jedoch bösartige und falsche Wahrnehmung innerhalb der jahrtausendealten christlichen Echokammer war (und ist noch viel zu häufig) die pauschalierende Auffassung vom Judentum als grundsätzlich »anderer«, bestenfalls fremdartiger, schlimmstenfalls unterlegener oder gar feindlicher Religion. Zu den Trägern dieser polemisch verzerrenden Betrachtung gehört auch die kirchliche Auslegungsgeschichte von Offb 2,9 und 3,9. Umso mehr erstaunt es, dass die missverständliche Wendung »Synagoge des Satans« erst im Jahre 1956 Eingang in die Lutherbibel fand; der Wittenberger Reformator selbst übersetzte an diesen Stellen »Schule des Satans«. Seit ihrer Revision im Jahre 2017 bietet die Lutherbibel hier »Versammlung des Satans«, was dem bedeutungsoffenen griechischen Wortlaut viel eher entspricht (vgl. Jak 2,2).

Sicher unzutreffend ist auch die Behauptung, dass sich der Apokalyptiker Johannes und die von ihm angesprochenen Christen im ehemaligen paulinischen Missionsgebiet bewusst vom zeitgenössischen Judentum abgegrenzt hätten. Tatsächlich ist das letzte Buch der christlichen Bibel von Anfang bis Ende mit Anspielungen auf Tora und Propheten durchzogen. Gerade prophetische Heilsworte an Israel werden dabei aufgegriffen und neu kontextualisiert. Immer wieder nimmt der Seher Johannes Bezug auf Vorstellungen aus der jüdischen apokalyptischen Literatur wie die Schilderung einer himmlischen Welt und die zukünftige Umkehr gegenwärtiger Verhältnisse, das Endgericht oder die Ankündigung endzeitlichen Heils exklusiv für die Gerechten. Ebenso betont er wiederholt die andauernde Geltung spezifisch priesterlicher Identitätsmerkmale für Christen (z. B. Offb 5,10; 14,4; 20,9). Sein immenser Autoritätsanspruch wandte sich nicht gegen das Judentum, sondern gegen die Anpassung von Christusgläubigen an die pagane Alltagskultur im Osten des römischen Imperiums, insbesondere an die mächtige religiöse Staatsideologie seiner Zeit. Im Hintergrund standen hierbei wohl keine aktuelle Anfeindung oder eine allgemeine Christenverfolgung, sondern eine von Johannes selbst provozierte Entscheidungssituation im Loyalitätskonflikt zwischen dem Christusbekenntnis und dem universalen Machtanspruch Roms, nämlich die Alternative zwischen der bewussten Distanz gegenüber der hellenistisch-römischen Kultur und der »lauen« (Offb 3,16) Unterordnung unter den gottgleichen Herrschaftsanspruch des römischen Kaisers (vgl. Offb 13,15).

II Erschließung des Textes: »Israel mitten in Israel«

Gegenüber der christlichen Gemeinde im kleinasiatischen Philadelphia präsentiert sich der Christus der Johannesoffenbarung in der einleitenden Botenformel (V.7) des stilisierten Gemeindebriefs als »Heiliger«, »Wahrhaftiger« und Besitzer des »Schlüssels Davids«. Während die ersteren Attribute, die in der jüdischen Tradition allein als Eigenschaften Gottes begegnen (Ps 89,9.15.19), seine besondere Autorität unterstreichen, betont die schriftgelehrte Anspielung auf Jes 22,22 seine eschatische Vollmacht, über den Zugang zur Königsherrschaft Gottes zu entscheiden (Rucker, 133). Das perfektisch formulierte Heilswort in V.8a bedeutet vor diesem Hintergrund Gewissheit für die kleine Gemeinde, dass ihre endzeitliche Rettung bereits jetzt dauerhaft und unverbrüchlich feststeht. Das begründende Lob in V.8b thematisiert ihre außerordentliche Bekenntnistreue. Der Form nach bringt das doppelte »siehe!« in der futurischen Ankündigung in V.9 den Anspruch prophetischer Rede zum Ausdruck. Den Angehörigen der »Versammlung des Satans« (vergleichbare polemische Wendungen begegnen gehäuft in innerjüdischen Kontroversen; vgl. 1QM XV 9; 1QH II 22 u.ö.) wird hier zunächst vorgeworfen, das ehrenvolle Prädikat »Juden« zu Unrecht zu tragen (Frankfurter, 581). Ihr »Lügen« weist sie zugleich als Gegner Christi aus (vgl. V.7). Der Vers nimmt sodann Bezug auf Prophetenworte Jesajas, die das endzeitliche Niederfallen aller fremden Völker vor Israel und seinem Gott ankündigen (Jes 45,14; 49,23; 60,14), wobei er ihren ursprünglichen Wortlaut ins Gegenteil verkehrt und ihren Sinn radikal verändert: Nicht die bloße Behauptung, der wahren Heilsgemeinde anzugehören, sondern allein die Annahme und mutige Anerkennung der im Christusgeschehen Wirklichkeit gewordenen liebevollen Zuwendung Gottes (vgl. die Aoristform!) ist für ihn nunmehr heilsentscheidend. Wer sich auf diesen Christus bezieht und dennoch Kompromisse gegenüber dem allgegenwärtigen Machtanspruch Roms eingeht, gehört eben nicht dazu. So gesehen verläuft die soteriologische Frontlinie nicht zwischen Juden und Christen, sondern mitten durch die Gemeinde von Philadelphia hindurch. Dabei trennt sie solche Christusgläubigen aus Israel und aus den Völkern, die dem allgegenwärtigen Assimilationsdruck nachgeben, von solchen, die standhaft bleiben. Allein diesem passiven Widerstand leistenden »Israel mitten in Israel« (Horn, 148) gilt deshalb die Zusage der rettenden Bewahrung in der kommenden Zeit der Entscheidung für alle Welt. Ihre verheißene Erlösung, die sich bei der Wiederkunft Christi erfüllen wird, hat sie bereits gegenwärtig errungen und darf ihr nun nicht mehr verlorengehen (V.11). Der Überwinderspruch in V.12, dem ein abschließender Weckruf folgt (V.13), enthält nicht nur eine Häufung von Heilsprädikaten, sondern schlägt auch Brücken zum Anfang der Perikope und zum Ende des Buches. Der »Tempel« steht hier für die endzeitliche Heilsgemeinde als eigentlicher Ort der Gegenwart Gottes, die »Säulen« für ihre fortdauernde Beständigkeit und Belastungsfähigkeit. Ihr »neuer Name«, der die Rechtspraxis der Übereignung eines Sklaven durch seinen neuen Herrn assoziiert, verweist auf ihre Zugehörigkeit zur Königsherrschaft Gottes (vgl. V.7) und ihr unverbrüchliches Bürgerrecht im neuen Jerusalem der Heilszeit (vgl. Offb 21,1–22,5).

III Impulse: Ermutigende Erlösungshoffnung

Es sollte hinreichend deutlich geworden sein, dass der Text keine Gegenüberstellung oder Auseinandersetzung von antikem Judentum und frühem Christentum in Philadelphia als konträre religiöse Echokammern bezeugt und erst recht nicht die verhängnisvolle Behauptung einer heilsgeschichtlichen Substitution der Synagoge durch die Kirche zu begründen vermag (Lohse, 6). Die scharfe Polemik des Sehers Johannes gegen »selbsternannte« Juden intendiert vielmehr eine Standortbestimmung der christlichen Gemeinde im Blick auf ihre eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der gekreuzigte und auferstandene Christus hat seine Herrschaft über alle Welt bereits angetreten und er wird als Erlöser wiederkommen, um seine Hoheit offenbar zu machen. Christliche Existenz »zwischen den Zeiten« war und ist deshalb bestimmt von der Möglichkeit, vermeintlich Sicherheit gewährleistende Filterblasen zu verlassen und sich ungesichert und unerschrocken einzulassen auf den »Anderen«, auch auf irritierende Lebensentwürfe, gegensätzliche Überzeugungen und unbequeme Positionen. An unrühmlichen Beispielen für die ängstliche Verweigerung von Dialog und Gemeinsinn ist unsere gesellschaftliche, politische und kirchliche Realität nun wahrlich nicht arm. Gerade hier ist für den Seher Johannes der Geist Gottes aber ganz weit entfernt. So gesehen besteht eine bedeutsame Sinndimension unseres Predigttextes darin, auch in dieser Adventszeit dazu aufzurufen, aus solchen Echokammern herauszutreten und unserer christlichen Hoffnung auf Erlösung durch unser beherztes Reden und mutiges Handeln in unserer eigenen Lebenswelt liebevolle Gestalt zu geben.

Literatur: Eduard Lohse, Synagoge des Satans und Gemeinde Gottes (FDV 1989), Münster 1992; Friedrich Wilhelm Horn, Zwischen der Synagoge des Satans und dem neuen Jerusalem: Die christlich-jüdische Standortbestimmung in der Apokalypse des Johannes, in: ZRGG 46 (1994), 143–162; David Frankfurter, Die Offenbarung des Johannes, in: Wolfgang Kraus, Michael Tilly, Axel Töllner (Hg.), Das Neue Testament – jüdisch erklärt, Stuttgart 2021, 572–615; Timothy M. Rucker, The Temple Keys of Isaiah 22:22, Revelation 3:7, and Matthew 16:19 (WUNT II / 559), Tübingen 2021.

B

Gerald Kretzschmar

IV Entgegnung: Energie für eine anstrengende Zeit?

Nicht nur im profanen Alltagsleben, sondern auch kirchlich und theologisch ist die Adventszeit eine anstrengende Zeit. Dass das so ist, wird hier nicht als Problem markiert. Vielmehr steht die adventliche Anstrengung in Theologie und Kirche für den wichtigen Anspruch des Christentums, die Welt und das Leben in ihr als den maßgeblichen Bezugspunkt zu begreifen, in dem sich der christliche Glaube zu bewähren hat. Schon die Wochen vor der Adventszeit, das sogenannte Ende des Kirchenjahres, sind mit ernsten, anspruchsvollen Themen belegt: Sterben, Tod und Trauer. In der Adventszeit, die bewusst als Bußzeit konzipiert ist, geht es mit dem ungeschminkten Blick auf existenzielle Themen des Lebens gerade weiter. So auch am zweiten Adventssonntag: Hinter dem Proprium dieses Sonntags, der christlichen Hoffnung auf Erlösung, steht, wie A eindrücklich herausarbeitet, die Aufgabe, das weite Feld von Lebensentwürfen, Überzeugungen und Positionierungen aus der Sicht des christlichen Glaubens kritisch zu sichten. Und damit nicht genug. Die Aufgabe stellt sich nicht nur in Bezug auf die eigene Person, sondern auch auf die sozialen Kontexte, in denen wir leben. Wo wir sehen, dass Menschen durch Worte, Taten oder Strukturen diffamiert, diskriminiert, unterdrückt und ausgegrenzt werden, sind wir gefordert, aus unseren Echokammern herauszutreten, in einen Dialog zu gehen und im Sinne der christlichen Hoffnung auf Erlösung beherzt zu reden und mutig zu handeln. Das ist anspruchsvoll, das ist anstrengend. Aus der Sicht des christlichen Glaubens ist es aber auch alternativlos. Dass A diese Spur legt, gefällt mir und da gehe ich gerne mit. Was ich bei A jedoch vermisse, ist ein Antwortvorschlag auf die Frage: Was kann Christinnen und Christen eigentlich die Kraft geben, sich letztlich fortwährend, nicht nur am Ende des Kirchenjahres und im Advent, den Herausforderungen und den schweren Fragen des Lebens zu stellen und im Sinne des christlichen Glaubens in den je eigenen Lebensbezügen tatkräftig aktiv zu sein? Ist das alles nicht zu anstrengend?

V Zur homiletischen Situation: Bedrückung, Leid und die »kleine Kraft«

Vermutlich sind das Jahresende und der Advent die Phasen im Jahr, in denen Menschen am stärksten unter vielfältigen Formen von Druck stehen. Dinge sind noch abzuschließen, anderes ist für das neue Jahr schon auf den Weg zu bringen. Und dann noch die Hoffnung, wenigstens für die Weihnachtstage eine kleine Insel ohne Druck zu schaffen, zum Durchatmen und Ausruhen. Das dauert aber noch über zwei Wochen. Geht das nicht schneller? Kann denn nicht alles hier und jetzt sofort erledigt sein? Geduld ist gefragt. Und Geduld ist das Thema, das der zweite Adventssonntag in die aktuelle Lebenssituation der Menschen einspielt. Dabei geht es nicht um Geduld oder Ungeduld hinsichtlich der ersehnten Weihnachtstage. Nein, es geht um Geduld damit, dass ganz generell vieles im Leben und in der Welt nicht so ist, wie wir das gerne hätten. Es geht um Geduld mit dem Angefangenen, Abgebrochenen, Stillstehenden, Schmerzenden, Enttäuschenden, nur Lähmenden im Leben.

Das unterstreichen die liturgischen Texte des Sonntags. »Erwecke deine Kraft und komm uns zu Hilfe!« (Ps 80, 3), »[…] ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab« (Jes 63,19), wird Gott hier ungeduldig entgegengebracht. Die Texte des Sonntags sagen aber auch etwas zur Hoffnung auf Abhilfe. »Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt« heißt es im Hohenlied (2,8) und der Jakobusbrief (5,7) wählt die Worte: »So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn.«

Doch was genau trägt der Predigttext aus dem Buch der Offenbarung des Johannes zum Thema Geduld bei? Mit dem mitteldeutschen Wort »gedult, gedulde« geht der Aspekt des Tragens einher. Somit ist Geduld nicht mit stoischem Erleiden oder Etwas-über-sich-ergehen-Lassen zu verwechseln. Stattdessen hat Geduld etwas mit Dynamik, mit Kraft zu tun. Wer geduldig ist, handelt. Er oder sie hat eine Energiequelle, die ihn oder sie stärkt und handlungsfähig hält. Und genau auf eine solche Energiequelle weist der Predigttext aus dem Buch der Offenbarung hin: »[…] denn du hast eine kleine Kraft«, steht in V.8.

Diese »kleine Kraft« ist von entscheidender Bedeutung für ein Grundprinzip des christlichen Glaubens. Was hier als klein bezeichnet wird, hat es in sich. Es ist die Kraft des Wortes Gottes, es ist der Heilige Geist. »Klein« ist hier nicht mit geringer Stärke oder eingeschränkter Wirksamkeit zu verwechseln. Stattdessen geht es um Zartes, Subtiles, Potentielles, um einen kraftvollen Möglichkeitsraum. Hier ist das Symbol des Kleinen in der gleichen Weise gemeint, wie es mit dem kleinen Kind in der Krippe im Stall von Bethlehem begegnet. Es ist so klein und steht doch für nicht weniger als das in die Welt gekommene Reich Gottes. Angesichts all dessen, was Menschen im Leben und in der Welt bedrücken kann, mag die Kraft Gottes klein daherkommen. Faktisch ist sie aber unauslöschlich. Einmal in die Welt gekommen, in die Welt gesprochen, ist sie nicht mehr zu beseitigen. Sie wird immer da sein. Und am Ende wird sie alles, was der Liebe Gottes zu uns Menschen und zur Welt im Wege steht, überwunden haben.

So gesehen ist die Geduld, von der der Predigttext redet (V.10), untrennbar mit der Kraft Gottes verbunden. Die Kraft, die in dieser Geduld steckt, arbeitet auf Veränderung und Verwandlung hin. Es ist die Kraft, die gemeint ist, wenn wir in der Perspektive des Glaubens davon sprechen, dass Gott mit uns durch das Leben geht und uns trägt: Wenn es leidvolle Situationen auszuhalten gilt, Konflikte in Beziehungen herrschen, es Probleme in der Schule oder am Arbeitsplatz gibt. In Bezug auf die Zeit zeichnet sich die göttliche Kraft dadurch aus, dass sie unsere Geduld in schmerzhaften Situationen, die man gerade nicht schnell ändern kann, trägt und aufrechterhält. Die von der göttlichen Kraft getragene Geduld versetzt uns in die Lage, uns und anderen die Zeit zu lassen, die notwendig ist, damit sich etwas wandeln kann. Um es noch einmal zu unterstreichen: Inmitten von Problemen oder Leid ist die von Gott geschenkte Kraft vordergründig klein. Vom Ende des Weges her gesehen, den Gott mit uns Menschen und seiner Schöpfung geht, ist es aber die Kraft, die nicht für schlechte Arrangements, für faule Kompromisse oder gar Resignation steht, sondern für die Erlösung dieser Welt (vgl. zu diesem Abschnitt Grün, 68f.).

In Bezug auf die Hörerinnen und Hörer soll diese Deutungsvariante des Textes zwei Dinge leisten: Einerseits wird offen angesprochen, dass das Leben und die Welt vieles in sich tragen, das die Hörerinnen und Hörer bedrückt und leiden lässt. Das Attribut »klein«, mit dem die göttliche Kraft näher beschrieben wird, bringt die massive Präsenz des Bedrückenden und Leid Hervorrufenden zum Ausdruck. Andererseits spielt das Symbol der kleinen, aber unauslöschlichen Kraft in diese Situation etwas Subversives ein. Etwas, das das übermächtig Bedrückende letztlich überwinden wird. Eine die Geduld der Hörerinnen und Hörer tragende Kraftquelle wird namhaft gemacht. So wird Geduld nicht zur Vertröstung. Auch wenn die Geduld in den konkreten Lebenssituationen der Hörerinnen und Hörer in zeitlicher Hinsicht lange anhalten muss und immer wieder auf die Probe gestellt wird, werden Bedrückung und Leid an der vermeintlich kleinen Kraft Gottes letztlich scheitern. Den Hörerinnen und Hörern wird eine stärkende Hoffnungsperspektive geboten und die lässt sie – so die Hoffnung – nach dem Gottesdienst gestärkt und zuversichtlich weiter gehen.

VI Predigtschritte: Was wäre, wenn irgendwann doch alles gut würde?

Zu Beginn der Predigt steht eine Anknüpfung an das zuvor gesungene Lied »O Heiland, reiß die Himmel auf« (EG 7). Hier kann die (Un-)Geduld im Zusammenhang mit dem Warten auf das bevorstehende Weihnachtsfest angesprochen werden, vor allem sollte aber die generelle Präsenz des Themas Geduld und Ungeduld im Leben ins Zentrum gestellt werden. Darauf folgt ein Abschnitt, der exemplarisch einige Erfahrungen mit Geduld und Ungeduld anspricht. Denkbar sind Themen wie Beruf, Beziehung, materielle Wünsche, Gesundheit, Glück, Ansprüche an sich selbst (Ideale, Gefühle, Umgang mit Fehlern usw.). Aber auch Ungeduld im Zusammenhang mit der Beseitigung von Missständen wie Hass, Gier, Ausbeutung von Menschen und Umwelt, Unterdrückung und Krieg können hier zur Sprache kommen (vgl. Josuttis, 14f.). Am Ende der Betrachtungen kann die Frage stehen: Wie kann man da die Geduld behalten? Als Lösungsperspektive spielt der nächste Abschnitt den unter V entfalteten Gedankengang des Predigttextes ein. Der Fokus sollte dabei ganz auf dem Aspekt der »kleinen Kraft« liegen, die die Geduld trägt. Die im Text geschilderte Situation der Gemeinde in Philadelphia kann in der Paraphrase darauf fokussiert werden, dass es bis zur Wiederkehr Jesu zwar bedrohliche Situationen für die Gemeinde gibt oder geben kann, die Gemeinde in ihrer Geduld aber vor allem von der »kleinen Kraft« getragen wird. Diese Kraft ist nichts anderes als die Gegenwart und Begleitung Gottes. Der folgende Abschnitt schaut voraus auf Weihnachten. Hier wird dargelegt, dass die »kleine Kraft« nicht nur im Fall des Predigttextes ein zentrales Wirkungsprinzip des christlichen Glaubens ist, sondern mit der Erzählung der Geburt Jesu als Menschenkind im Stall von Bethlehem sogar an zentraler Stelle platziert ist: Mit dem Jesuskind ist die Kraft Gottes ganz klein in die Welt gekommen. Im Lebensweg dieses Kindes hat sich diese Macht als stärker erwiesen als alle anderen Mächte und Kräfte zusammen. Ausgestoßene und Unterdrückte erfuhren die liebende Zuwendung Gottes, Kranke wurden geheilt und am Ende wurde durch Tod und Auferstehung Christi sogar der Tod besiegt. Der Schlussabschnitt der Predigt spricht nochmals die eingangs thematisierten lebensweltlichen Erfahrungen von Geduld und Ungeduld an. Diesen Erfahrungen wird nun der Gedanke der »kleinen Kraft« Gottes zur Seite gestellt. Es wird eine Hoffnungsperspektive benannt und beschrieben, wie Gott die Hörerinnen und Hörer in ihrer Geduld wie auch ihrer Ungeduld mit seiner Kraft stärkt und trägt. Gegebenenfalls kann die Predigt mit einem Text von Miriam Hoffmann enden, den sie angeregt von Apg 2 im Rahmen der Initiative beymeister formuliert hat:

»Eine Geschichte. Von Menschen ohne Mut. Sie schlossen sich ein, weil der Tod plötzlich in ihr Leben kam und sie die Wunder um sich herum nicht fassen konnten. Neues würde man wagen müssen. Aber die Ideen und die Kraft reichen nicht. Müdigkeit gebiert die Sprachlosigkeit und Unverständnis für die Zukunft. So sitzen sie beisammen. Und dann kommt in dieser Geschichte plötzlich, aus heiterem Himmel eine Energie zum Vorschein. Eine Erinnerung tief durchzuatmen und damit: aufzuatmen und plötzlich wieder Leben zu spüren. Und den Stillstand Stillstand sein lassen, um sich endlich wieder zu bewegen. Und dieser Atem ist ein Herzöffner, der Mut schenkt Dinge anzugehen, die vorher undenkbar waren. Und diese Kraft ist eine Heilige, die den Geist und den Körper umhüllt und manchen die Tränen in die Augen treibt. Und dieser Geist ist die Gewissheit, die sich ausbreitet, eine Gefährtin zu haben die ganz und gar für das Leben ist.« (Miriam Hoffmann, beymeister 2021 [unveröffentlichter Text]).

Literatur: Anselm Grün, 50 Engel für das Jahr. Ein Inspirationsbuch, Freiburg 1997; Manfred Josuttis, Erleuchte uns mit deinem Licht. Gedanken und Gebete zu den Gottesdiensten des Kirchenjahres, Göttingen 2009.

Internet: Miriam Hoffmann, beymeister, https://erprobungsraeume.de/inhalt/beymeister/ (zuletzt abgerufen am 31.03.2023).

3. Advent – 17.12.2023

A

Matthäus 11,2–10

Mal konkret! Wie soll ich dich empfangen?

Friedemann Magaard

I Eröffnung: Zeitansage: Schaut genau hin!

Auch im Dezember 2023 wird die Nachrichtenlage unübersichtlich sein. Die Welt zu lesen, die Zeit zu verstehen – es wird immer schwieriger. Die Fülle der Informationen ist überfordernd riesig. Die Verwaschungen zwischen News und Fakenews machen immer ohnmächtiger. Mediale Jahresrückblicke versuchen zu sortieren und zu gewichten. Eigentlich wollen sie unterhalten. An einen Jahresausblick auf 2024 wagt sich niemand. Prognosen seien heikel, wusste Karl Valentin, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Worauf sollen wir uns einstellen? Wer gibt uns eine Zeitansage mit Hoffnungsleuchten?

Wer sehnsüchtig mehr Klarheit erhofft, wird heute beglückt. Den Desorientierten und denen, die von der zunehmenden Weltbeschleunigung verwirrt sind, ruft der Predigttext zu: Schaut genau hin! Lest die Zeichen der Zeit. Nehmt es wahr, es liegt doch auf der Hand: Die Heilszeit ist da!

Diese überraschende Klarheit muss sich erst noch trotzig durchkämpfen, gegen Zweifel und Verwirrung, damals wie heute. Johannes der Täufer sitzt im Gefängnis, er hat seinen inneren Kompass verloren. Kann die Zeichen nicht mehr lesen: »Bist du wirklich, der da kommen soll?« 2023 ist der Sinn für Heilszeiten ebenso abhandengekommen. Angesichts von Krieg, Klimakrise, global bedrohten Freiheiten lesen wir im großen Bild der Zeit Katastrophisches, geradezu Dystopisches. Gordische Knoten, unentwirrbar. Und gerade deshalb: Nehmt es wahr, es liegt doch auf der Hand: Die Heilszeit ist da!

Surprise! Damit stellt sich Mt 11 nicht nur störend dem Zeitgeist in den Weg. Mit seiner Freude an der Gegenwart des Heils steht der Predigttext auch noch durchaus quer zum Grundton des 3. Advents. »Mit Ernst, o Menschenkinder« erklingt das Wochenlied, und ermahnt zur Vorbereitung, denn »bald wird das Heil der Sünder […] bei allen kehren ein« (EG 10,1). Die Mehrzahl der Texte sprechen das »Noch nicht« aus: »[…] bis der Herr kommt« (1Kor 4,5); »bereitet dem Herrn den Weg« (Jes 40,3; Lk 1,76; 3,4). Dagegen ist heute das »Schon jetzt« zu predigen. Eine Zeitansage mit einem Evangelium der offenen Augen: »Blinde sehen, Lahme gehen, Taube hören« – schon jetzt.

II Erschließung des Textes: Vom Heil erzählen, gegen den Zweifel

Am Anfang steht der Zweifel. Gerade im Kontext des Matthäus-Evangeliums überrascht die Täuferfrage. Denn Johannes hat nach Mt 3 Jesus nicht nur getauft, sondern ihn auch erkannt als den, der kommen soll. Er war Ohren- und Augenzeuge der Gottessohnschaft (Mt 3,17). Später, in seiner Gefängniszelle, überkommt den Täufer der Zweifel. Vielleicht ist Jesus doch nicht der Verheißene. »Sollen wir auf einen anderen warten?«

Der Zweifel ist die produktive Unruhe des Glaubens. Ohne diese innere Irritation droht der Glaube hart und zugleich leer zu werden. Sören Kierkegaard hat die Erstarrung in bürgerliche Gewohnheit gehasst und bekämpft. Sein Verbündeter ist dabei der echte Zweifel, der stets bohrend hinterfragt. Der Täufer stellt hier keine rhetorische Frage. Ehrlich ist seine Verwirrung, seine Irritation. Meine eigene Desorientierung hat reichlich Raum in der Täuferfrage, ist darin gehalten. Wo finde ich Spuren von Hoffnung? Gibt es Anzeichen davon, dass irgendetwas diese Zeit heilen kann, Anzeigen vielleicht auch nur in homöopathischer Dosierung, aber immerhin? Verborgen ist nicht nur, was die Zukunft bringen wird, sondern auch, wie die Gegenwart zu deuten ist.

Herzstück des Predigtabschnitts ist die Antwort Jesu. Die Jünger des Johannes, mit der Frage ihres Meisters zu Jesus geschickt, sollen berichten, was sie hören und sehen. »Hören und sehen«, das sind die Kategorien, in denen das anbrechende Heil von alters her erkannt wird (Jes 29,18; 35,5; 42,18). So konkret erfahrbar, sinnlich anfassbar zeigt sich, wonach Johannes im Gefängnis grübelnd sucht. Das Heilsgeschehen ist erzählbar. Es offenbart sich nicht in kosmologischen Zusammenhängen, sondern in diakonischer Konkretion: Blinde, Lahme, Aussätzige und Taube sind die Zeugen, Tote, die aufstehen, Arme, die primär im Fokus der Guten Nachricht stehen. Das Heil zeigt sich nicht in einem Lehrinhalt, sondern in der Wirklichkeit. Höre und sieh. Und du begegnest Menschen, die, statt eine korrekte messianologische Antwort zu geben, davon erzählen. Mit Worten und mit ihrem Leben erzählen sie davon, wie sie sich auf eine Erfahrung mit Jesus tatsächlich eingelassen haben. Hilfreich ist hier der Begriff einer narrativen Christologie von Ulrich Luz (Luz, 170). Andere christologische Texte beschreiben das Wirken Christi von vor aller Zeit bis in alle Ewigkeit (etwa Phil 2,5–11). Dagegen macht Mt 11 die Bedeutung des Christus an den Erzählungen seiner Wirksamkeit in Galiläa fest. Daran, dass sich die Wirklichkeit dramatisch verändert. Das Heil ist zum Greifen nah. Hört und seht.

Die Aufzählung schließt mit einer Seligpreisung Jesu ab: Selig, wer sich nicht an mir ärgert. Ausgangspunkt ist die Irritation des Täufers. Zielpunkt ist die Auflösung des Ärgernisses: Selig, wer hört und sieht – und versteht, was die Zeichen der Zeit bedeuten.

Ich entscheide mich, über die Perikope V.2–6 zu predigen. Die V.7–10 öffnen eine völlig neue Fragestellung. Luz unterstreicht, wie unklar diese Deuteworte zum Täufer in der Literatur bleiben. So reizvoll die Palastkritik V.8 sein mag, so wichtig die Einordnung des Täufers als hervorgehobenen Propheten, die ersten Verse bilden als klar komponierten Abschnitt mit deutlicher Aussage den geeigneten Rahmen für die Predigt.

III Impulse: Die Wahrheit ist immer konkret

Gesprächsnotizen aus Nicaragua. Alejo fällt auf, dass Jesus gerade nicht sagt: »Seht, wie die Leute fasten, wie sie beten und jeden Tag zur Messe gehen. Nein, er sagt […] sie finden Befreiung von ihren Nöten.« Und seine Mutter ergänzt: »Die Ärmsten der Armen sind so schlecht dran […], dass sie nicht einmal an ihre Befreiung denken können.« Frauen und Männer aus Solentiname lesen die Bibel gemeinsam mit dem Priester und Befreiungstheologen Ernesto Cardenal, und auch Mt 11. Der Transfer liegt auf der Hand, findet Oscar: Jesus »befreite sie von ihrer Sklaverei, in der sie lebten. Genau wie das Volk heute, das zu blind ist, um die Realität zu sehen (die Realität, die auch materiell ist), und zu taub, um die Wahrheit zu hören (es hört nur die Propagandasender der Regierung)«. (Cardenal, 274f.)

»Die Wahrheit ist konkret.« Diesen Schriftzug hatte Bert Brecht im dänischen Exil in Svendborg auf den Deckenbalken seines Arbeitszimmers gesetzt. Dorothee Sölle hat diesen Satz oft zitiert. Für sie gab es keine abstrakten Wahrheiten. Wahrheiten werden auf die Situation bezogen, mehr noch: aus der Situation erhoben. Deshalb wird der Begriff der Gerechtigkeit zum Herzstück jüdischer und christlicher Tradition: »Ohne die Armen keine Nähe zu Gott. Gerechtigkeit ist der Weg zu Gott, den wir finden können. Sie ist der Wille Gottes […]. Die Bibel ergreift die Partei der Ärmsten.« (Sölle, 266)

Christlicher Glaube gründet nicht auf zeitlosen Allgemeinplätzen. Inkarnation meint doch genau dies: dass sich Gott konkretisiert. Der Ewige wird Fleisch und wohnt unter uns. Das konkrete Wort, der inkarnierte Logos Jesus spricht in konkrete Situationen zu konkreten Menschen. Blinde, Lahme, Taube, Arme. Ihr Leben verändert sich nicht in abstrakter Weise. Sie sehen, gehen, lauschen. Sie tanzen der Freiheit entgegen. Es geht um Muskeln, um Blutbahnen, um Gleichgewichtssinn. Es geht um Gemeinschaft, Aufbruch und Veränderung. Die Armen werden zu den Lehrern, so benennt Sölle den Grundsatz aller Befreiungstheologie. (Sölle, 335) Mit ihren Augen die Welt sehen, durch ihre Augen das Unrecht zuerst überhaupt erkennen, nicht als abstrakte Relation, sondern in aller unappetitlichen Konkretion. Wenn aber den Armen das Evangelium verkündet wird, in eben diesem Moment wächst in ihnen der Widerstand gegen herrschendes Unrecht und die Energie zum Aufbruch. Die Heilszeit bricht an.

Jesus selbst predigt narrativ. Die Gleichnisse setzen Alltagssituationen in Beziehung zu den tiefen Fragen von Schuld, Vergebung, Annahme und Einsamkeit, Leben und Tod. Bauernregeln der himmlischen Gerechtigkeit. Vom Säen, vom Saatgut, vom Landbesitz, aus der Weinlese. Die Erzählung von Jesus in den vier Evangelien macht das narrative Element zur wesentlichen Qualität der Verkündigung: Hört und seht, was geschehen ist. Die Welt ist mit Jesus eine andere geworden.

Am 3. Advent 2023 wird in meiner Gemeinde der zweite Teil von Bachs Weihnachtsoratorium aufgeführt werden. In der 5. Kantate erklingt ein Terzett mit dem Text:

Ach, wann wird die Zeit erscheinen? / Ach, wenn kömmt der Trost der Seinen? / Schweigt: er ist schon würklich hier! / Jesu, ach! so komm zu mir!

Dem »Noch nicht« wird der Mund zugehalten. In das hübsche Duett von Sopran und Tenor grätscht die Altstimme hinein: Schweigt! Schweigt! Schweigt! Eine herrlich intonierte Störung. Der Trost ist schon da. Hört und seht: Das Heil bricht an.

Wenn das Heil nicht mehr warten will, werden die Christinnen und Christen zu Kollaborateuren Gottes. Es reicht nicht, fromm die Hände zu falten. Im Gedicht »Sonntagsherz« von Kristin Jahn fordert Gott den Transfer von der Fürbitte in die Aktion. Martins-Taten, mit denen der Mantel halbiert wird, um am Ende die Wärme zu verdoppeln. Das, was am Sonntag gesagt wird, soll sich montags auch einlösen. Wir werden doch Gott nicht allein lassen damit, wenn er die Welt heilt.

SONNTAGSHERZ

Im Beten seid ihr schon ganz gut, sprach Gott / Für die Kranken, die immer so einsam sind / für die Gefangenen / für die Flüchtlinge in aller Welt / Aber jetzt bitte auch die Tür auftun / und wie einer sein, der seinen Mantel teilt /weil er Wärme sucht / Ab und zu wenigstens das / mich nicht allein lassen mit der Welt

Literatur: Ernesto Cardenal, Die Bauern von Solentiname, Wuppertal 31991; Alfred Dürr, Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. Mit ihren Texten, Bd. 1, München/Kassel 51985; Kristin Jahn, Rehtango. Gedichte, Hauzenberg 2020; Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK, I/2), Neukirchen-Vluyn u. a. 1990; Dorothee Sölle, Gesammelte Werke, Bd. 3: Stellvertretung, Stuttgart 2006.

B

Kay-Ulrich Bronk

IV Entgegnung: Zeitansage Gestaltlosigkeit