Preis des aufrechten Gangs - Prodosh Aich - E-Book

Preis des aufrechten Gangs E-Book

Prodosh Aich

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Beschreibung

Es ist eine politische Neuerscheinung über praktizierten Alltagswiderstand. In Deutschland, wo das Fehlen von Zivilcourage beklagt wird. Schon immer und regelmäßig. Aber keiner beschreibt das Umfeld, den kulturellen Hintergrund, der Zivilcourage erst möglich macht. Und vieles, was damit zusammenhängt. Preis des aufrechten Gangs, eine dokumentarische Erzählung aus den Jahren 1957-1987. Das Buch erzählt Zeitgeschichten über Wissenschaftsbetriebe, Wissenschaftler, Politiker, Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Medienvertreter. Auch Geschichten über das Hegen und Pflegen des kolonialen Erziehungssystems in der Dritten Welt durch Wissenschaftler und Politiker der Ersten Welt. Es sind vor allem auch Geschichten über Moral. Ich lebe in Deutschland länger als die meisten Deutschen. 45 Jahre. Nichts war mir in Deutschland selbstverständlich und vertraut. Ich hatte eine kulturelle Distanz zu den hiesigen Ver-hältnissen. Jede mich unmittelbar betreffende Ungereimtheit hat mich zum Widerspruch provoziert, nach dem Motto: nicht mit mir. Mein Erfahrungsschatz ist angefüllt mit Konflikten. Und dokumentierbar. Soll ich diesen Erfahrungsreichtum mit ins Grab nehmen? Darf ich es? Nun liegt die dokumentarische Erzählung vor. Unzensiert. In meiner Erzählung kommen Leute in großer Zahl vor, die auch wichtige Autoren sind. Verlage nehmen Rücksicht. Schenken aber nicht reinen Wein ein. Kurz: BoD hat diese dokumentarische Erzählung möglich gemacht.

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Acharyya Verlag

für kritische Wissenschaft

Zu diesem Buch

Dokumentarische Erzählung einer Geschichte aus einem bewegten Leben, die sich zwischen 1957 und 1987 in Deutschland und in Indien ereignete. Eine in der Alltagssprache erzählte Widerstandsgeschichte. Akteure sind Deutsche, Inder und andere.

Die Geschichte ermöglicht Einblicke in die Verhältnisse der deutschen und der indischen Gesellschaft, in die moralische Befindlichkeit der Elite, und in die Art und Weise des Wissenschaftbetreibens und vieles mehr. Aspekte, die in beiden Ländern noch nicht thematisiert sind.

Der Autor Prodosh Aich ist geboren 1933 in Kalkutta. Schulbesuch und Studium der Philosophie in Indien. Studium der Ethnologie, Philosophie und Soziologie in Köln. Lehrte Soziologie in Köln, Jaipur und Oldenburg. Hat neben Buchveröffentlichungen und Aufsätzen auch viele Rundfunkfeatures und Dokumentarfilme gemacht.

Prodosh Aich

Preis des

aufrechten Gangs

Lebenserinnerungen

eines Universitätslehrers

aus den Jahren 1957–1987

Februar 2001

Acharyya Verlag, Oldenburg (in Oldenburg)

© 2001 Prodosh Aich

Umschlaggestaltung: [FEINDESIGN] Oldenburg (in Oldenburg)

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-0028-9

Inhalt

Ein unerwarteter Anstoß
Prolog
Die verborgenen Gesichter einer Universität
Jaipur ist auch anderswo, und Mathurs sind überall
Eine „orientalische“ Überraschung in einem undurchsichtigen Stellvertreterkrieg
Und wie mahlen die Mühlen des „Okzidents“?
Zeit zum Auftanken, Zeit zum Nachdenken
Ein Alptraum in Köln
Über die Befindlichkeit der deutschen Elite und von ihrer Moral
Kleine Unwägbarkeiten des Lebens
Von der Moral der deutschen Gerichtsbarkeit
Worauf die uneingeschränkte Despotie deutscher Professoren ruht
Wer sind die Studierenden?
Das ist, was die Universität in Indien produziert
Im Zeichen „Chinatowns“
Epilog

Ein unerwarteter Anstoß

Vor kurzem begegne ich einem Kopten aus Ägypten, wie ich in Deutschland und auch Gesellschaftswissenschaftler. Er hat Lehrverbot in Deutschland, weil er als Nichtmuslim die arabisch erzählte Geschichte über Palästina für wahrheitsnäher hält als die zionistisch erzählte. Karam Khella heißt er. Ich finde ihn sympathisch. Wir tauschen Meinungen, Erfahrungen aus. Eher beiläufig erwähne ich, daß einem Verfasser nicht seine veröffentlichten Bücher wirkliche Erkenntnisse über die moralische Befindlichkeit, den Standort einer Gesellschaft bringen, sondern seine unterdrückten Bücher, die Art und Weise ihrer Unterdrückung, die Skrupellosigkeit der im öffentlichen Leben stehenden Akteure, ihre Verlogenheit, ihre doppelte Moral, der zunehmende Verfall der Werte bei ihnen. Ich habe, erzähle ich ihm, zwei solche Bücher. Und: Stelle dir vor, sage ich ihm, nicht nur der Inhalt der unterdrückten Manuskripte ist nach wie vor aktuell. Aktueller denn je ist das Drum und Dran der Geschichten, vor allem, wie sie unterdrückt wurden. Und die Verhältnisse haben sich wesentlich verschlechtert. Aber wen interessieren solche Geschichten?

Da fragt mich dieser „verrückte“ Kopte aus Ägypten unvermittelt, ob ich wisse, wie viele Menschen in Deutschland leben, die keine Deutschen sind? „Weißt du“, setzt er nach, „daß diese Menschen deutsch sprechen und deutsch lesen, wie du und ich? Diese Menschen haben einen Anspruch darauf, daß du diese Geschichten der Unterdrückung, die auch ein subtiler Ausdruck des Rassismus sind, erzählst. Die deutschsprachige Literatur, die deutsche Sprache kann, darf nicht den Deutschen allein überlassen bleiben. Und diese Menschen werden immer mehr. Sie haben einen Anspruch darauf, daß du Geschichten wie diese erzählst. Damit sie in diesem Land ihre Standorte bestimmen lernen.“

Ja, Karam Khella hat mich nachdenklich gemacht. Ich lebe in Deutschland länger als die meisten Deutschen. Aufgewachsen bin ich in einer anderen Kultur. Nichts war mir in Deutschland selbstverständlich und vertraut. Vom ersten Tag an hatte ich eine kulturelle Distanz zu den hiesigen Verhältnissen. Trotzdem, oder gerade deshalb, habe ich mich hier nicht wenig eingemischt. Jede mich unmittelbar betreffende Ungereimtheit hat mich zum Widerspruch provoziert, nach dem Motto: nicht mit mir. Ungereimtheiten, die die meisten Deutschen widerspruchslos schlucken oder aber nicht einmal wahrnehmen. Die unvermeidliche Folge dieser meiner Haltung sind große und kleine Konflikte gewesen. Nicht zwischenmenschliche Unstimmigkeiten. Nein. Konflikte mit Institutionen bzw. mit einzelnen Vertretern der Institutionen. Je höher ihre Stellung innerhalb der Hackordnung ist, umso weniger scheinen sie sich um die verfaßten Werte ihrer eigenen Institutionen zu scheren. Die Deutschen nehmen diesen Tatbestand ohne sichtbaren Widerspruch hin. Aus der Erfahrung des Alltags heraus: „Die da oben sitzen eh am längeren Hebel.“ Ich hatte keine Gelegenheit, solche Alltagserfahrungen zu verinnerlichen. Mein Erfahrungsschatz ist angefüllt mit Konflikten. Mein Erfahrungsschatz ist ein anderer und reicherer. Und dokumentierbar.

Es ist unfaßbar, wozu viele Vertreter demokratisch verfaßter Institutionen fähig sind, zu welchen Tiefen sie sinken können, wenn sie in die Ecke geraten, wenn ihnen die Argumente ausgehen. Dann vergessen sie das öffentlich geraspelte Süßholz und die gedroschenen Phrasen. Soll ich diesen Erfahrungsreichtum mit ins Grab nehmen? Darf ich es? Ich habe in diesem Land 45 Jahre gelebt. Entsteht daraus die Verpflichtung, so frage ich mich, meinen Erfahrungsschatz zumindest als Baustein für die bitter notwendige Sozialgeschichte anzubieten?

Also blättere ich in den Unterlagen meiner ersten unterdrückten Forschungsarbeit, die einige Umzüge überstanden haben. Sie elektrisieren mich. Wie habe ich diese Geschichte so lange und so gründlich verdrängen können? Ja, dieser Karam Khella! Ich erkenne, daß die ganzen Geschichten eher noch aktueller geworden sind.

Ob auch der öffentlich häufig geleugnete Rassismus bei den vielen meiner Auseinandersetzungen und bei der Unterdrückung zweier meiner Bücher eine Rolle gespielt hat, ist zweitrangig. Klar, es fällt den Angehörigen der „blond-blauäugig-weiß-christlichen“ Kultur (Erläuterungen dazu folgen im „Prolog“) schwer, damit zu leben, daß auch andere denken können, daß andere Menschen Kulturen hervorgebracht haben, denen die kompromißlose Ausbeutung, die Unterdrückung, die Entwürdigung anderer und der Völkermord nicht eingefallen sind. Daß es Angehörige solcher Kulturen nun im Zentrum ihres Machtbereiches in vielen Bereichen ihnen gleich tun, sie auch überragen, ist schwer verdaulich. Mag alles sein. Aber fällt die Art und Weise der Unterdrückung der eigenen Leuten anders aus?

Also habe ich mich überzeugen lassen, die Geschichten meines ersten unterdrückten Buches zu erzählen. Sie spielen sich in und um Universitäten ab, sind diese doch wichtige Facetten der Sozialgeschichte schlechthin. Denn die Universität ist eine prägende gesellschaftliche Einrichtung. Überall.

Sozialgeschichten werden selten erzählt. Solche über Universitäten noch nie. Wer verfügt schon über das belegbare Wissen, um Geschichten aus Universitäten zu erzählen? Auch systematisches Sammeln von nicht mehr belegbaren kleineren Geschichten wäre wichtig. Aber wer soll sie sammeln, wer soll sie aufschreiben? Ist es für die Karriere förderlich, solche Geschichten zu veröffentlichen?

Sozialgeschichten sind Geschichten über soziale Konflikte. Nun gibt es in allen Konflikten Sieger und Besiegte, Gewinner und Verlierer. Die Gewinner und Sieger ziehen es eher vor, über die wirklich angewandten Mittel zu schweigen. Was zählt, ist der Sieg. Sieger verdienen eben den Sieg. Heldenhaft, versteht sich. Und wer soll sich für die Geschichte des Verlierers interessieren? Deshalb werden so selten Sozialgeschichten geschrieben.

Eine kleine, kurzgefaßte, aber doch beispielhafte Episode soll verdeutlichen, was damit gemeint ist. Schauplatz ist die Universität Köln. Mitte der fünfziger Jahre. Noch gibt es keine Massenuniversitäten. Der Grad der Anonymität ist gering. Hans Albert ist noch nicht bekannt als ein hervorragender SoziaIwissenschaftler. Er habilitiert sich gerade in der wirtschafts– und sozialwissenschaftlichen Fakultät. Seine Habilitation hängt an einem seidenen Faden. Nicht weil seine Arbeit dem wissenschaftlichen Anspruch nicht genügt hätte. Nein. Sein wissenschaftstheoretischer Teil ist zu gut, wie später der in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ ausdauernd geführte wissenschaftstheoretische Disput über den „Positivismus“ mit Jürgen Habermas zeigen wird. Dieser methodologische Teil stellt die gängige gesellschaftswissenschaftliche Praxis in Frage, implizit auch jene bestallten Fakultätsmitglieder.

So ist halt die Wissenschaft in der Geschichte, auch wenn dies vielen etablierten Wissenschaftlern so häufig gegen den Strich geht. Die geltenden Erkenntnisse werden immer wieder auf den Prüfstand gebracht, neue Aspekte kommen hinzu, die Wissenschaft entwickelt sich, und das Wissen wächst. So sollte es sein. Aus der Natur der Sache heraus. So wäre es auch immer, wenn die Wissenschaftler nur Wissenschaftler wären. Aber sie sind auch Menschen und zuweilen allzu menschlich. Wie beispielsweise jene Mitglieder der wirtschafts– und sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Köln. Ordinarien. Mitte der fünfziger Jahre. Sie haben die Macht, die Habilitationsarbeit von Hans Albert abzulehnen, auf Änderungen zu bestehen, ihn zum Widerruf zu zwingen, unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität. Und sie sind entschlossen, gegen Hans Albert ihre Macht zu mißbrauchen.

Fakultätsintern, vielleicht auch universitätsintern, wird über den Vorfall getuschelt. Wäre da nicht ein Fakultätsmitglied namens Gerhard Weisser gewesen, der von der Politik als Sozialpolitiker in die Wissenschaft gekommen war, hätte Hans Albert wahrscheinlich wider seines Gewissen große Zugeständnisse machen müssen. Er hätte keine andere Wahl gehabt, wollte er weiterhin im Wissenschaftsbetrieb arbeiten. Und: Er hat bis dahin kein anderes Handwerk als „Wissenschaft“ gelernt. Auch Gerhard Weisser gelingt es nicht, die Arbeit ohne Zugeständnisse durchzubringen.

Nach der erfolgten Habilitation hätte Hans Albert diesen eines Wissenschaftsbetriebs unwürdigen Vorfall öffentlich machen können. Nur, das wäre dann auch das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere gewesen. Höchstwahrscheinlich. Später kann er die Geschichte auch nicht erzählen, weil „Wohlverhalten“ für das Weiterkommen im Wissenschaftsbetrieb wichtig ist. Dieser Wirkzusammenhang stellt sicher, daß sich Ähnliches in der Universität Köln und auch anderswo wiederholte.

Ich habe einfach Glück gehabt, daß ich ohne faule Kompromisse dem Universitätsbetrieb erhalten geblieben bin. Aber erzählt habe ich die Geschichten auch nicht. Noch nicht. Schon immer mal habe ich mir durch den Kopf gehen lassen, ob es nicht meine Verpflichtung wäre, die Geschichten zu erzählen. Aber dann holt einen der Alltag wieder ein. Und Entschuldigungen wie: „Sei doch froh und zufrieden, daß Du den Rücken nicht krumm machen mußtest, daß Du nicht ständig verlogen sein mußtest, daß Du Dich nicht auf die Couch oder aufs Krankenbett legen mußtest“. Bis ich mit einer verrückt erscheinenden Frage von Karam Khella konfrontiert werde.

Auch eine Universität entwickelt sich nicht von selbst. Sie wird entwickelt. Forscher, Lehrer, Studierende, Dienstleister aller Art und auf verschiedenen Ebenen entwickeln sie. Und jene einflußreichen Mitglieder der Gesellschaft, die die materielle Funktionsfähigkeit sicherstellen und aus dem Hintergrund die Drähte ziehen. Also fließen in die Universität vielfältige Interessen ein. Deshalb wird in den Universitäten nicht über alles geforscht, was gesellschaftlich notwendig wäre. Nein, geforscht wird nur in jenen Bereichen und über jene Themen, für die Forschungsmittel zur Verfügung gestellt werden. Steckenpferde einzelner Forscher sind selten, noch seltener sind zufällige Entdeckungen.

Die Lehre richtet sich folgerichtig nach den so gewonnenen Forschungsergebnissen. Selbstverständlich wird auch nicht alles gelehrt, werden auch nicht alle verfügbaren Forschungsergebnisse zur Lehre herangezogen. Nein. Gelehrt werden nur jene Aspekte, mit denen sich die Forscher und Lehrer gerade beschäftigen und die mit dem geringsten Aufwand in die Lehre einzubringen sind. Regelmäßige Wiederholungen sind die Regel. Lehre bringt keinen Ruhm, das tun nur veröffentlichungsfähige Forschungsergebnisse. Und ohne Ruhm keine Karriere. Ohne Karriere kein Reichtum. Und es gibt auch Forschungsergebnisse, die noch wertvoller sind, wenn sie nicht veröffentlicht werden, wenn sie unter Verschluß gehalten werden. Marktgesetze! Auch deshalb hat Forschung Vorrang. Und Forschung kostet Zeit. Viel Zeit.

Dieser Lauf der Dinge pflanzt sich fort. Studierende sind die schwächsten Akteure auf dieser Bühne, schwächer gar als die Dienstleister in den Universitäten. Ihr Anpassungsdruck ist groß. Nischen sind selten. Sie lernen mehr als sie fragen. Kritische Fragen sind weder bei den Lehrenden noch bei den Kommilitonen gern gesehen. Sie entsprängen Profilierungssüchten, heißt es. Sie seien zeittötend. Seltenst haben Studierende Gelegenheit, Einblicke in die Verteilung und Verflechtung der Macht innerhalb der Universität zu gewinnen, über die Handlungen der wirklichen Drahtzieher Bescheid zu wissen. Sie haben nicht einmal die faktische Möglichkeit, ihre Lehrer insoweit zu kennen, daß sie wissen, wie und warum ihre Lehrer zu ihren Forschungsschwerpunkten gekommen sind. Später, mit zunehmendem Alter, sind sie dann selbst in jenen leitenden gesellschaftlichen Funktionen tätig, über die sie sich in ihrer Lernzeit keine Einblicke, keine Durchblicke verschaffen konnten.

Ich weiß, daß es zu dem bisher Gesagten kaum Widerspruch geben wird. Auf dieser allgemeinen Ebene sind diese Worte selbstverständlich und deshalb hätte auf sie eigentlich auch verzichtet werden können. Aber nicht in meiner dokumentarischen Erzählung, wie ich meine. Sie benötigt einen gemeinsamen Merkposten, so etwas wie eine Meßlatte.

Ich bin geboren in Kalkutta, indischer Staatsangehöriger nach wie vor, auf Lebenszeit beamteter Hochschullehrer in Deutschland. Der „Freiheit der Forschung und Lehre“ zum Trotz bin ich wiederholt von meinen wissenschaftlichen Schwerpunkten vertrieben worden. Das Wie und das Warum scheint System zu haben. In allen Universitäten geschieht ähnliches und gleiches. Aber das bleibt unerzählt.

Einige Zitate und Fakten mögen wie Wiederholungen erscheinen. Es sind eigentlich keine Wiederholungen, denn in dem jeweiligen Zusammenhang erhalten sie unterschiedliches Gewicht und unterschiedliche Tragweiten. Eine persönliche Erklärung noch. Ich danke allen, wirklich allen, die – wie in dieser Geschichte erzählt – uns, mich zu Erkenntnissen von unschätzbarem Wert geführt haben. Den Text dieser Erzählung haben Klaus Schleuter, angehender Sozialpädagoge, Rechtsanwalt Volker Felmy und meine Frau kritisch gelesen.

Prolog

August 1966. Gerade angekommen im „off-shore“ von Bombay. Mit einem Frachter der damaligen deutschen Hansalinie. Köln, Rotterdam, Beirut, Port Said, Jidda, Aden. 30 Tage Seefahrt. Dazwischen zweimal festen Boden unter den Füßen. Jeweils für wenige Stunden. Wir sehen die Silhouette der westlichsten indischen Großstadt. Aber an Land gehen dürfen wir nicht – wir, meine Frau, deutsche Staatsangehörige und promovierte Ökonomin, und ich. Der einsetzende Monsun hat, wie alle Jahre wieder, zu einem Entladungsstau bei den Frachtschiffen geführt. Wartezeit von mindestens zwei Wochen. Und wir haben keine Zeit zum ungewissen Warten.

Ich habe eine einjährige Lehrverpflichtung übernommen an der Universität Rajasthan in der Hauptstadt Jaipur des Bundesstaates Rajasthan. Beurlaubter wissenschaftlicher Assistent im Institut für Soziologie an der Universität Köln. Das akademische Jahr hat schon am 7.Juli 1966 begonnen. Also drängen wir darauf, ausgeschifft zu werden. Auch die Reederei hat kein Interesse, uns für eine unbestimmte Zeit durchzufüttern, was nicht billig ist. Passagiere eines Frachtschiffes sind immer Erste–Klasse–Passagiere, mit allem Drum und Dran.

Wir haben Erfolg. Wie machte die Reederei es im durch und durch bürokratischen Indien möglich, Passagiere an Land gehen zu lassen aus einem noch gar nicht richtig in Indien angekommenem Schiff? Wir sind heil froh, am nächsten Tag samt unserem Gepäck mit einem Motorboot zur Zollabfertigungsstelle des Hafens gefahren zu werden. Der Warteraum des Zollamtes ist leer. Passagierschiffe meiden Indien während der Monsunzeit. Die Zollbeamten finden dennoch keine Zeit für unsere Abfertigung. Allesamt sitzen sie an ihren Schreibtischen und bearbeiten ihre Akten. Sie haben uns gesehen, und wir können sie sehen. Und, wie gesagt, wir sind in Eile!

Gut, daß wir zu zweit sind. Die Paßkontrolle ist besetzt. Ich eile nach dem Geldumtausch zum Hauptbahnhof. Die Eisenbahnfahrt nach Jaipur zu organisieren. Es ist eine Reise von eineinhalb Tagen mit der Eisenbahn. Reservierung ist Pflicht, ganz gleich, in welcher Klasse man fährt. Ich instruiere meine Frau, wenn es mit der Zollabfertigung so weit sei, jedes einzelne Gepäckstück zu öffnen und alle Gegenstände – und wir haben einige Gerätschaften für den einjährigen Lehr– und Forschungsaufenthalt mit –, die über das übliche Reisegepäck hinaus gehen, auf dem Abfertigungsbogen einzeln eintragen zu lassen. Eine eher intuitive Vorsichtsmaßnahme.

Die nächsten Tage sind restlos ausgebucht. So wird mir gesagt. Nichts zu machen. Zwar gibt es auch eine Luftverbindung zwischen Bombay und Jaipur, aber wie sollen wir die Flugkosten für das viele Gepäck bezahlen? Niedergeschlagen berichte ich meiner Frau über diese mißliche Situation. Sie ist auch ziemlich betrübt und nachdenklich. Immerhin hat sie inzwischen die Abfertigung hinter sich gebracht, wenn auch nicht ohne Komplikationen. Die Zollbeamten sehen das Ansinnen meiner Frau nicht ein, sich in unnütze Arbeit zu stürzen. Unnütz, weil ich mich ja elf Jahre im Ausland aufgehalten hatte und daher eh berechtigt gewesen wäre, unseren gesamten Hausstand zollfrei mitzubringen. Es war gut, daß ich nicht dabei war. Mein eindringlicher Hinweis an meine Frau hatte gefruchtet. Ich weiß nicht wie – die westfälische Beharrlichkeit meiner Frau und vielleicht auch ihr sich aus der sichtbaren Hilflosigkeit entwickelnder Charme –, aber sie hatte die Zollbeamten überredet, die „unnütze Extraarbeit“ auf sich zu nehmen, ohne dafür etwas auf die Hand überreicht zu bekommen. Meine Frau hatte kein Geld bei sich, und selbst wenn sie Geld gehabt hätte, hätte sie nicht gewußt, wie so etwas zu bewerkstelligen gewesen wäre.

Die Zollbeamten sind von Beruf aus neugierig. Sie fragen meine Frau aus. Nachdem sie so gut wie alles über unser bisheriges Leben wissen, wünschen sie ihr alles Gute. Durchaus zweideutig, ehrlich und ironisch zugleich. Der Leiter des Zollamtes macht eine Eintragung im Reisepaß meiner Frau, unterschreibt diese mit vollem Namen und bittet sie, nach ihm zu fragen, sollten wir unsere Rückreise von Bombay aus antreten. Er würde gern wissen wollen, wie unser Aufenthalt tatsächlich verlaufen ist. Der wohlwollend ironische Unterton kommt bei meiner Frau an. Ein Jahr in Indien, mit einem so „unindischen“ indischen Mann!

Was tun, um schnellstmöglich Jaipur zu erreichen? Ich kenne Bombay nicht, ich war nie in Bombay, ich habe auch keine Verwandten oder Freunde hier, aber wir haben einige Adressen für Bombay mit. Eigentlich hat jeder Inder Adressen mit, wenn er in die Fremde reist. Also rufe ich jemanden an, dessen Anschrift meine Frau von ihrem Hindi−Lehrer, auch ein Inder an der Universität Köln, erhalten hatte. Mr. Metha, ein Geschäftsmann aus dem benachbarten Bundesstaat Gujerat, aber seit langem in Bombay zu Hause. Er kommt auch relativ prompt, hilft uns, unsere Gepäckstücke zur Aufbewahrung zu bringen, und nimmt uns so selbstverständlich mit zu seiner Wohnung, als ob dies schon seit langem verabredet gewesen wäre. Uns tut das gut. Als er hört, daß wir dringend nach Jaipur müssen und für Tage keine Reservierung für eine Bahnfahrt möglich sei, lacht er. Wir können sein Lachen nicht deuten. Auch das belustigt ihn, aber dann beruhigt er uns. Wir sollten uns keine Sorge machen und uns beruhigen. Er will dafür sorgen, daß wir schnellstmöglich nach Jaipur kommen.

Die früheste Möglichkeit wäre ein Zug am nächsten Morgen. Wegen der langen Reise schlägt er die erste Klasse vor. Wir sollten uns ausruhen. Er will sich um die Fahrkarten kümmern. Tatsächlich bringt er zwei reservierte Fahrkarten für den nächsten Zug mit. Bevor wir unser Erstaunen in Worte fassen können, teilt er uns eher beiläufig mit, daß er pro Ticket 10 Rupien „extra“ habe bezahlen müssen. Darüber wird nicht verhandelt. Wie hätte ich das wissen können, daß es ohne „extra“ keine Fahrkarten gibt? Das hat man zu wissen. Mr. Metha verrät uns noch, daß in Indien jeder reibungslose Ablauf seinen festen Preis hat. Wir sollten dies beherzigen.

Diese kleinen Episoden hätten mich schon ernüchtern müssen, mir klar machen müssen, daß ich mein Land nicht kannte, nicht mehr kannte, vielleicht nie richtig gekannt habe. Nichts von alledem. Stattdessen verarbeite ich diese Kleinstepisoden europäisch intellektuell. Als moderner Sozialwissenschaftler identifiziere ich problemlos das Grundübel. Die Rückständigkeit Indiens sei verursacht durch die Traditionalität. Korruption ist nur ein wichtiger Teil davon. Selbstgefällig erkenne ich meine Verpflichtung, als modern ausgebildeter Wissenschaftler einen Beitrag für die Überwindung der Rückständigkeit meines Landes zu leisten. Ja, es stellen sich auch ein gewisser Stolz und eine innere Befriedigung bei mir ein, daß meine Sensibilität auch auf kleinste Hinweise reagiert. Ich weiß nun immer definitiver, daß ich eine wichtige Mission zu erfüllen habe. Zur Skepsis habe ich so keine Veranlassung. Denn zu dieser Gastprofessur wurde ich eingeladen. Gastprofessur im eigenen Land! Der Widerspruch fiel mir damals nicht auf. Wie sollte er auch? Was soll daran denn falsch sein?

Als es feststeht, daß ich nach elf ereignisreichen Lebensjahren in Deutschland nach Indien zurückkehre, ehrt mich Werner Höfer in seinem sonntäglichen „Internationalen Frühschoppen“. Ein bekannter indischer Wissenschaftler und Publizist, in Deutschland ausgebildet, geht in seine Heimat zurück. Das in Deutschland erworbene Wissen soll zum Fortschritt, zur Modernisierung seines Landes beitragen. Nach dieser öffentlichen Verabschiedung im deutschen Fernsehen interviewt mich Werner Höfer noch für seine wöchentliche Kolumne in der Wochenzeitung „Die Zeit.“ Peter Bender, damals in der WDR–Hauptabteilung Politik, regt an, daß ich Tagebuch führen sollte. Die Redaktionen „Morgen– und Mittagsmagazine“ des WDR bitten mich, unmittelbar nach meiner Ankunft in Jaipur meine Telefonnummer nach Köln zu übermitteln, damit die Redaktion mich für die Magazinsendungen einplanen kann.

Vieles ist in den letzten Jahren geschehen, mich in einen Rauschzustand von Dauer zu versetzen. Ich habe es geschafft, es jenen gleich zu tun, deren Vorfahren vom 16. Jahrhundert an in die Welt hinausgegangen sind und sich diese Untertan gemacht haben, jenen blonden, blauäugigen, weißen Christen, denen es gelang, ihrer Kultur weltweit Geltung zu verschaffen. Denen ebenbürtig geworden zu sein, dazu quasi im Zentrum der „blond-blauäugig-weiß-christlichen“ Kultur, ohne blond-blauäugig-weiß-christlich zu sein, hat mich berauscht; wenn nicht berauscht, so doch blind, blauäugig und überheblich gemacht. Später werde ich einsehen, einsehen müssen, daß dies keine besondere Leistung gewesen ist. Unzählige vor mir haben diese Leistung vollbracht und werden sie nach mir vollbringen. Denn alle Eroberer haben in den eroberten Gebieten instinktiv das vorgefundene Erziehungssystem unterminiert, unterwandert und zerschlagen und das eigene eingeführt. Aber die Briten haben diese Politik in Indien mit Bedacht eingeführt. So formulierte der Liberale Thomas Babington Macaulay (1800 – 1859), der 34jährig als Berater zu einem Salär von 10.000 britischen Pfund dem „Supreme Council of India“ diente, 1835 folgende bemerkenswerte Sätze zur Erziehungspolitik in Indien:

„Wir müssen im Augenblick alles tun, um eine Klasse zu formieren, die Vermittler werden könnte zwischen uns und den Millionen von Menschen, über die wir herrschen; eine Klasse von Personen, Inder in Blut und Farbe, aber englisch im Geschmack, in den Meinungen, in den Moralvorstellungen und im Intellekt.“

Der unverheiratete Thomas Babington Macaulay wird 1857 zum 1. Baron von Rothley erhoben.

Es folgte ein neues Erziehungssystem. Indische Aristokraten wie der Bengale Raja Rammohon Roy unterstützten die Politik der systematischen Einführung der blond-blauäugig-weiß-christlichen Kultur in Indien. Wissenschaftler haben dieser Kultur viele Namen gegeben, je nach Opportunität: christlich, westlich, okzidental, europäisch, modern, demokratisch, industriell usw. und usw. All die Bezeichnungen verdecken die wesentlichen Merkmale, die diese Kultur konstruieren: blond-blauäugig-weiß-christlich. Deshalb ziehe ich es vor, diese weltweit dominierende Kultur beim Namen zu nennen, die ja auch meine Kultur geworden ist, auch wenn mir einige Merkmale fehlen. Dank Thomas Babington Macaulay, dem Lord Rothley. All dies werde ich später, viel später, begreifen. Ich war also einer von „Macaulays Klasse" und bin das vielleicht auch heute noch.

Aber damals, 1966, nicht nur in Bombay, habe ich jeden Hinweis, der mich hätte nachdenklich machen müssen, umgedeutet als einen Fingerzeig, als ein Zeichen auf jenen kolossalen Berg von Aufgaben, meiner Mission, Indien zur „Modernität“ zu verhelfen. Vergessen, nein, verdrängt waren viele Ereignisse in den elf ereignisreichen Lebensjahren in Deutschland, die auch anders hätten gedeutet werden können, ja, vielleicht anders hätten gedeutet werden müssen.

*****

Frühmorgens im Mai 1955 komme ich in Hannover an. Über Colombo, Port Suez, Neapel, mit einem Passagierschiff in der billigsten Kabinenklasse. Aber im Gepäck habe ich ein teures Stück Papier: die Zulassung zum Studium des Bauingenieurwesens an der „Technischen Hochschule“ in Hannover. Ein Wunschtraum indischer Eltern war in Erfüllung gegangen. Ja, das Bauingenieurwesen! Nicht Sozialwissenschaften oder Publizistik.

Ein Taxi fährt mich mit meinen drei Gepäckstücken zum Immatrikula-tionsamt. Zwei Mark zeigt das Taxometer. Ich habe nur einen 50–Mark–Schein. Der Taxifahrer hat kein Kleingeld. Er schenkt mir die Fahrt und wünscht mir alles Gute. Am selben Tag der Zulassung werde ich beurlaubt für ein sechsmonatiges Praktikum, dessen erfolgreicher Abschluß Voraussetzung für den Beginn des eigentlichen Studiums ist. Ich bin der zweite Inder, der nach dem Zweiten Weltkrieg an der Technischen Hochschule in Hannover zugelassen wird. Das Immatrikulationsamt bringt mich in einem der wenigen Studentenheime unter. Es ist in Sichtweite des Hauptgebäudes der Hochschule. Der erste indische Student in Hannover lebt auch in diesem Heim. Auch er ist ein Kalkuttaner, ein Bengale also. Er ist kurz vor dem Abschluß seines Studiums. Er ist der Mittelpunkt bengalischer Praktikanten. In den ersten Tagen fühle ich mich wie zu Hause – bengalisches Essen kochen, indische Musik hören, sich in der Muttersprache verständigen in einer kalten, fremden Welt. Angenehme erste Tage!

Die Kriegsschäden sind noch unübersehbar. Auch in der technischen Hochschule selbst. 85 % der Stadt Hannover wurden zum Trümmerhaufen gebombt, wird mir erzählt. 1955 wird überall gebaut. Frühmorgens beginnt die Arbeit, nicht wie in Indien am späten Vormittag. Ich bin beeindruckt. Auch das Praktikum wird vom Immatrikulationsamt vermittelt. An diversen Baustellen. Es wird sogar ein Stundenlohn von einer DM bezahlt. Nicht wenig für die damalige Zeit. Der Stundenlohn hat diese Geschichte, die ich erzähle, nicht nur mittelbar beeinflußt. Körperliche Arbeit war mir bis dahin fremd. Ich lerne, zu arbeiten. Auch nach dem erfolgreichen Abschluß des Praktikums habe ich auf dem Bau gearbeitet, um als angelernter Maurer in den Semesterferien Geld zu verdienen. Das Geld habe ich bitter gebraucht.

Mein Vater, ein Eisenbahner im höheren Dienst im noch ungeteilten Britisch–Indien, hatte bei der Teilung im Jahre 1947 dem Appell Mahatma Gandhis folgend als Nichtmuslim für Ost–Pakistan optiert. So wurde er automatisch Pakistani. Ich blieb zurück in Kalkutta, blieb Schüler in der „Hindu School“ an der College Street, der damals besten Schule in Kalkutta, und erhielt automatisch die indische Staatsangehörigkeit. Nicht einmal zwei Minuten von der Schule entfernt, an der Kreuzung College Street und Harrison Road, ist die einzige „Boys Branch“ der CVJM in Kalkutta. Kein Internat, sondern ein Wohnheim für Schüler. Ich hatte Glück und konnte dort leben. Seit dieser Zeit organisiere ich mein Leben selbst. Mit bescheidenen Mitteln. Mein Vater mußte seinen „ausländischen“ Sohn monatlich mit Geld versorgen. Über den Schwarzmarkt. Pakistan gestattete eine geregelte Überweisung nach Indien nicht.

Und Überweisungen nach Deutschland wären allein wegen des Divisenmangels schwierig gewesen. Für das Studium des ausländischen Sohnes kamen sie überhaupt nicht in Frage. Also wird das Geldschicken nach Hannover kompliziert. Meine sieben Jahre ältere Schwester lebt, seit 1947 verheiratet, in Kalkutta. Sie erhält den monatlichen Wechsel, schwarz versteht sich, um ihn an mich weiterzuleiten. Sie zieht es aber vor, das Geld für sich zu behalten. So bleibt mein monatlicher Wechsel in Hannover aus. Ich nehme an, meine Eltern sind überfordert, das Geld zu überweisen.

Die Wechselkurse von Währungen aus der „Dritten Welt“ waren auch damals nicht günstig. Und dann der Wechsel in zwei fremde Währungen! Statt bei meinen Eltern den monatlichen Wechsel anzumahnen, bemühe ich mich lieber, das nötige Geld selbst zu verdienen. Arbeitsmöglichkeiten für „Werkstudenten“ gibt es genug. Im Semester als Gelegenheitstagelöhner – das Studentenwerk hat eine eigene Vermittlungsstelle –, in den Semesterferien als angelernter Maurer. Ich kann mich so, eher schlecht als recht, finanziell über Wasser halten. Zwölf Jahre später werde ich erfahren, daß meine Eltern tatsächlich regelmäßig das Geld an meine Schwester geschickt hatten, vier Jahre lang, wie verabredet.

Ein Mitbewohner im Studentenheim ist „Bursche“ in einer nichtschlagenden Verbindung, dem Schwarzburg–Bund. Er führt mich dort als „Verkehrsgast“ ein. Damit ich auch Anschluß zu den Deutschen bekomme. Verkehrsgast heißt, dabei sein zu dürfen, ohne Rechte. Aber auch ohne die „Lernzeiten“ als „Fuchs“. Ich fühle mich geehrt. Dort erfahre ich eindringlich, daß ich nicht nur „ich“ bin, sondern auch ein „Inder“, nein, zu allererst ein „Inder“ bin. Bei jeder Begegnung muß ich erzählen, erzählen und erzählen. Ich sollte nicht über mich erzählen, sondern über Indien. Meine Kenntnisse über die indische Philosophie und über die indischen Epen Mahabharata und Ramayana sind mir dabei hilfreich. In der ersten Zeit meines Aufenthaltes in diesem Land ist mein „lnder–sein“ immer wichtiger geworden, als mein „lch–sein“.

Zu meinem Bekanntenkreis in Kalkutta zählte auch Irmgard Bhaduri, Kalkuttanerin seit 1928 und deutsch–jüdischer Herkunft, mehr eine waschechte Berlinerin als eine Jüdin. In den zwanziger Jahren studierten viele Inder in Berlin, die nicht nach Großbritannien wollten. Anadi Bhaduri war einer davon. Irmgard und Anadi heirateten noch in Berlin und landeten in Kalkutta. So wurde Irmgard Bhaduri eine Kalkuttanerin, und ich wurde nicht nur mit dem Klang der deutschen Sprache vertraut. Hätte ich geahnt, welcher Druck zum Erzählen auf mich zukommen würde, hätte ich die deutsche Sprache doch vor meiner Abreise etwas systematischer erlernt. Ich hätte Irmgard Bhaduri mehr in Anspruch nehmen können.

Auch an den Baustellen muß ich viel erzählen. In den Pausen natürlich. Ich nehme immer das hilfreiche kleine Wörterbuch mit: Collins German Gem Dictionary. Ich habe das Wörterbuch heute noch, die erste Ausgabe von 1953, die ich vor meiner Abreise 1955 in Kalkutta kaufte. Während der Arbeit müssen die anderen erzählen, weil ich vieles zu Beginn nicht verstehe und ständig nachfragen muß. Mir wird klar, daß ich jede verfügbare Minute brauche, deutsch zu lernen. Also verzichte ich auf die häufigen bengalischen Essen im Studentenheim und die heimatlichen Klänge. Schon auf meiner ersten Baustelle sagt mir der Polier, ein möbliertes Zimmer mit Frühstück in einem Arbeiterhaushalt würde mir während der Praktikantenzeit hilfreicher sein, als das Leben in einem Studentenheim. Und wesentlich preiswerter. So ist es auch gewesen.

Seit meinem achten Lebensjahr habe ich „Bridge“ gespielt. Schon in den ersten Tagen in Hannover erkundige ich mich nach einem Bridge–Klub. Im Verkehrsverein der Stadt werde ich schließlich fündig. Ich werde im Bridge–Klub freundlich aufgenommen. Die Bridge–Spieler sind eine besondere Sorte von Menschen. Sie sind liberaler, offener, nicht so verbissen. Vom Bridge–Spiel selbst abgesehen. Beim Spiel sind sie mehr als verbissen. In diesem Klub in Hannover sind neben vielen reichbehangenen betagten Damen auch einige jüdische Rückkehrer. Einer von ihnen war nur wenige Monate vor mir nach Hannover gekommen. Norbert Manne. Zurück aus Montevideo. Mein erstes Turnier in Deutschland spielen wir zusammen und gewinnen. In Porta Westfalica. Wir werden Freunde und werden Freunde bleiben bis zu seinem Tod. Das Bridge–Spielen und die Bridge–Klubs spielen in dieser Sozialgeschichte eine nicht unwesentliche Rolle.

Nach dem Auszug aus dem Studentenheim bin ich ganz und gar der deutschen Umgebung ausgesetzt. Und es ist eine facettenreiche Umgebung. Ich lerne schnell die deutsche Sprache zu beherrschen. Nicht in der Grammatik, aber im Ausdruck, immer unmißverständlicher. Ich komme schnell zurecht. Konflikte, auch verursacht durch mein fremdländisches Aussehen, sind für mich selbstverständlich und nicht unerwartet. Sie hinterlassen auf mich keinen nachhaltigen Eindruck. Ich weiß mittlerweile, in welcher allgemeinen Wertschätzung „die Inder“ schon immer in Deutschland gewesen sind. Diskriminiert werde ich nur in Situationen, in denen ich nicht als Inder erkannt werde. Und Alltagskonflikte gibt es halt überall. Später, viel später, werde ich begreifen, daß ich es als Inder in Deutschland viel einfacher gehabt habe als andere dunkelhäutige Ausländer. Viel später werde ich auch begreifen, daß meine schnelle und angenehme Anpassung an die deutschen Verhältnisse auch schnelle Entfremdung von der indischen Wirklichkeit, von der indischen Kultur bedeutet hat.

Ich gründe den Deutsch–Indischen Verein in Hannover und organisiere indische kulturelle Veranstaltungen. Die Doppeldeutigkeit solcher Übungen war mir schon damals nicht ganz fremd. Nach meiner Zeit in Hannover habe ich nicht nur nicht mehr indische Kultur vermarktet, ich bin auch nie wieder Mitglied eines Deutsch–Indischen Vereins geworden – welcher Art auch immer.

Wie schon erwähnt, ein lngenieurstudium ist der Wunschtraum indischer Eltern. Unabhängig von der tatsächlichen Neigung der Kinder. Und mit einem erfolgreich im Westen absolvierten Ingenieurstudium ist man schon oben. Die Familie auch. Dennoch beginne ich zu zweifeln, ob das Bauingenieurstudium für mich das Richtige ist. Im dritten Semester beginnt so richtig die darstellende Geometrie, das Bauzeichnungswesen und Baurechnungswesen. Diese finde ich erheblich uninteressanter als die leitende Organisation eines Deutsch–Indischen Vereins oder auch als das Erzählen vor diverser Öffentlichkeit oder das Bridge–Spielen. Also mache ich mir ernsthaft Gedanken darüber, ob ich mir ein Leben als Bauingenieur wirklich leisten sollte. Außerdem steigt auch der Bedarf an Arbeitszeit für das Studium.

Etwa zur gleichen Zeit lese ich einen ausführlichen Reisebericht über Südostasien von Carlo Schmid. Engagiert, voller Nachdenklichkeit und Sympathie. Spontan schreibe ich ihm, erkundige mich über eine Studienmöglichkeit bei ihm, erhalte von ihm den Rat, nicht bei ihm, sondern mich besser um einen Studienplatz in Bonn zu kümmern, wollte ich mich mehr für Staat und Gesellschaft als für das Ingenieurwesen interessieren, was ich dann auch getan habe. Ich lasse mich am 22. Mai 1957 in Bonn für Staatswissenschaft immatrikulieren. Der nicht erhaltene monatliche Wechsel macht mir diese Entscheidung leichter. Ich glaubte, später, nach meiner Rückkehr, würde ich keine Rechenschaft oder Rechtfertigung meines Sinneswandels schuldig sein.

Das erste Semester in Bonn entspricht meiner Erwartung nicht, bis auf die eine Veranstaltung, „Internationale Wirtschaftsbeziehungen“. Andere erschöpften sich in Statistik, Buchhaltung, Steuerlehre, Betriebswirtschaftslehre, das Rechnungswesen, Volkswirtschaftslehre, Kredittheorie, usw., usw. Die Stadt gefällt mir, überschaubar und wirtlich, alles nah beieinander. Gewohnt habe ich in einem kleinen Studentenheim, unweit vom Poppelsdorfer Schloß. Neben den Veranstaltungen verbringe ich noch viel Zeit in der Universität. Ich beobachte die Aktivitäten des AStA, der politischen Gruppierungen, der Vereine der ausländischen Studierenden – die Inder haben auch einen eigenen Verein –, des WUS (World University Service) und des ISSF (Internationaler Studentenbund und Studenten Föderation). Ich bin auf der Suche nach einer politisierten studentischen Organisation, der ich mich aktiv anschließen will.

Einblicke in die studentischen Verbindungen in Hannover haben mir gereicht. Für diese Art von studentischer Aktivität habe ich mich nicht begeistern können. Nicht daß einzelne Füchse, Burschen und auch alte Herren nicht herzlich und nett gewesen wären. Die Werte und Normen der „Verbindungen“ sind es, die mir nicht behagen. In Bonn sind die Korporationsstudenten auch noch demonstrativ aggressiv. Farben tragen sie auch im Alltag. Und nicht zu knapp. Bierzipfel genügen ihnen nicht. Und dann die Verbindungshäuser! Und die nächtliche Belästigungen der Nachbarschaft. Beinahe jede Nacht. Gesänge sollen das gewesen sein.

Ich entscheide mich relativ bald für den ISSF. Auch der WUS wäre von der personellen Zusammensetzung her durchaus interessant gewesen, aber ihre Aktivitäten erschöpfen sich in Feten, Tanznachmittagen und „Betreuungsmaßnahmen“ eben für die „armen Ausländer“. Er war eher ein GUS (German University Service) für ausländische Studierende. Hilfe für ihre Anpassung. Durch hilflose deutsche Helfer. Nicht daß der ISSF völlig aus dem Rahmen fiel, nein, aber er bemühte sich redlich um die Internationalität und um Verständnis von Politik, vornehmlich von internationaler Politik. Im internationalen Studentenheim an der damaligen Koblenzer Straße ist ein kleines Büro für die Ortsgruppe. Der Bundesvorstand des ISSF sitzt auch im selben Haus und hat wesentlich mehr Räumlichkeiten. Der Veranstaltungsraum des Studentenheims wird mit anderen internationalen Gruppierungen geteilt.

Wirtschaftlich geht es mir in Bonn erheblich schlechter. Die Stadt Bonn war von Kriegsschäden verschont geblieben, also mußte nicht neu aufgebaut werden. Deshalb besteht für einen „angelernten Maurer“, wie ich einer bin, keine Nachfrage. Aber mein Deutsch ist mittlerweile brauchbar. Durch die Vermittlung der „SPD–Baracke“ erhalte ich während der ersten Semesterferien in Bonn eine Praktikantenstelle bei der Tageszeitung „Hannoversche Presse“ in Hannover. Die SPD hatte damals eine ganze Reihe von Tageszeitungen. Auf dem Bau hätte ich sicherlich mehr verdienen können, aber eine Tageszeitung reizt mich mehr.

Ende des Semesters werde ich zum 1. Vorsitzenden der Bonner Gruppe des ISSF gewählt, meiner Ortsabwesenheit während der Semesterferien zum Trotz. Das politische Programm werde eh schon immer zum Semesterbeginn für ein Jahr gemacht. Außerdem würde einer der Stellvertretender in Bonn sein. Ich buche dieses Gewähltwerden durchaus als eine Auszeichnung. Später werde ich es anders bewerten lernen. In Bridge–Klub (in Bad Godesberg) bin ich auch noch, aber nicht so häufig wie in Hannover. Der Tag hat leider nur 24 Stunden!

Am 20. Juli 1957 kann ich noch gerade die Semestergebühren für das Sommersemester 1957 aufbringen. Meine Notgroschen, von Kalkutta mitgebrachte Reiseschecks über 500 englische Pfund, sind beinah verbraucht. Die Praktikantentätigkeit bei der Zeitung würde gerade ausreichend für meinen Aufenthalt in Hannover sein. Also bitte ich jenen stellvertretenden Vorsitzenden der Bonner ISSF–Gruppe, der ein Bonner war, für mich eine „Schlafstelle“ mit Frühstück ab Oktober ausfindig zu machen. Billigst. Ich werde wenig Geld und viel Arbeit haben. Also brauchte ich kein gut möbliertes Zimmer. Das Praktikum bei der Zeitung ist für mich ein großer Gewinn in vielerlei Hinsicht. Das hat aber keinen direkten Bezug zu der Sozialgeschichte, die ich begonnen habe zu erzählen.

Ich beziehe tatsächlich eine der billigsten möblierten Unterkünfte in Bonn. Monatlich 30,- DM mit Frühstück. Nicht weit von der Universität, in der Weberstraße, Weberstraße 96. Am späten Vormittag klingele ich an der Tür. Eine ältere Dame mit offenem Gesicht begrüßt mich freundlich: „Sie sind sicherlich Herr Aich. Herzlich willkommen!“ Ich war wirklich willkommen. Ich werde in das Wohnzimmer geführt. Es ist ein Altbau. Hohe Räume mit Stuckarbeiten, alte, nein, altgewordene Seidentapeten, alte Biedermeiermöbel, ein Flügel im Raum. Auf dem Flügel sitzt eine große, fette braune Katze. Später werde ich wissen, daß diese Katze eigentlich ein kastrierter Kater namens Mutius ist. Der Katzengeruch im Zimmer kann nicht von ihm allein kommen. Mutius hat noch neun Hausgenossen. Meine Wirtin heißt Marga Lehner. Sie legt Wert darauf, als Fräulein Lehner angeredet zu werden. Und sie war, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Wirtin. Neugierig, fürsorglich, und was nicht so häufig vorkommt, gutmütig. Ich habe bewußt auf Adjektive vor diesen Eigenschaften verzichtet. Jedes Adjektiv würde diese Eigenschaften von Fräulein Lehner unzulässig relativieren.

Sie bietet mir eine Tasse Tee an. Dann beschreibt sie das Zimmer. Es ist ein Zimmer, eigentlich ein Nebenzimmer eines großen Zimmers im ersten Stock. Zugang zum Nebenzimmer ist leider nur durch das große Zimmer möglich. Im großen Zimmer wohnt und arbeitet ein verhinderter Gymnasiallehrer, Otto Schuart, der von Nachhilfeunterricht lebt. Eigentlich sei es kein Zimmer, meint sie etwas verlegen, eher eine Schlafstelle. Es hat ein Fenster, ein Bett, einen kleinen Tisch und eine Waschgelegenheit für beide Zimmer. Kalt. Keine Heizung. Das große Zimmer hat einen Kohleofen. Der reicht für beide Räume. Sie zeigt mir das Zimmer während einer Pause des Nachhilfeunterrichts von Herrn Schuart.

Es ist ein Einfamilienhaus eines Akademikers im einst verträumten Bonn. Eine halbhohe Treppe von der Straße zum Eingang. Lange breite Flure zum Treppenaufgang, und dann vorbei an der relativ breiten Treppe noch ein etwas schmalerer Flur bis hin zur Küche, die wenige Stufen niedriger liegt. Zwei Türen rechts vom Flur. Zum Wohnzimmer und zum Eßzimmer. Eine große Schiebetür dazwischen. Ein eher verwilderter Garten hinter dem Haus. Eine Treppe hinunter vom Kücheneingang zum Souterrain. Dienstmädchenzimmer, Bügelzimmer, Badezimmer, Toilette. Eine halbe Treppe aufwärts eine weitere Toilette. Sonst keine Toiletten, keine Bäder. Noch eine halbe Treppe hinauf zu meiner Schlafstelle. Ein Telefon an der Wand, rechts neben dem Eingang, des großen Zimmers. Noch Kinderzimmer an der linken Seite. Derselbe Grundriß im zweiten Stock.

Nach dem Tod der verwitweten Mutter hat Fräulein Lehner kein ausreichendes geregeltes Einkommen mehr. Ihre einzige Schwester lebt nicht mehr. Außer Musizieren haben die beiden Kinder nichts Berufliches gelernt. Fräulein Lehner hat keinen ordentlichen Abschluß in Musik, wird noch eine Zeitlang in Schulen als Musiklehrerin gebraucht. Aber nicht als volle Kraft. Sie hätte es mir nicht übel genommen, wenn ich rückwärts wieder hinausgegangen wäre. Sie konnte noch nicht wissen, in welcher Not ich gewesen bin. Und ich war später dankbar, daß ich in solcher Not gewesen war, ansonsten hätte ich die Begegnung mit einem wertvollen Menschen verpaßt. Sie bleibt meine Wirtin bis ich 1958 heirate. Dann wird sie unsere Wirtin bis 1965. Als wir heiraten wird das große Zimmer mit dem Nebenzimmer im 2. Stockwerk frei. Wir dürfen dort einziehen. Beim Einzug schenkt sie uns eine Siamkatze. Die elfte im Haus. Bis 1973 werden wir mit Fräulein Lehner befreundet bleiben. Sie wird einige Höhen und Tiefen unseres Lebens mitgehen.

Das Wintersemester 1957/1958, an der Bonner Universität hieß es „Winterhalbjahr“, ist für mich arbeitsreich, hektisch, ereignisreich und für meine weitere Entwicklung entscheidend. Ich belege weniger und gänzlich andere Veranstaltungsthemen. Philosophie von Descartes bis Kant, die philosophischen Strömungen seit Hegel, das Naturrecht und Staatsreform. Bei den Professoren Scheuner und Schätzel „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ und „Die wissenschaftlichen Grundlagen der Außenpolitik“.

Im ISSF plane und gestalte ich das Jahresprogramm. Ich will etwas mehr machen als nur Mitgliedertreffen, gesellige Abende, Karneval–Ball und einige wenige Informationsveranstaltungen. Es ist eine bewegte Zeit in der internationalen Politik: die „Blockfreien“ mit Nasser, Nehru, Sukarno und Tito; Dag Hammersköld als Generalsekretär der Vereinten Nationen; Kongo, Lumumba; Absturz von Dag Hammersköld bei einem Flug über dem Kongo, Ermordung von Lumumba, der merkwürdige Aufstieg von Feldwebel Mobuto; der Indochina– und später der Vietnamkrieg und natürlich der „Kalte Krieg“ der beiden Machtblöcke. Also suche ich Referenten für regelmäßige öffentliche Veranstaltungen. Möglichst ohne Honorar, aber doch mit anschließendem informellen Zusammensein mit dem Referenten bei kleinem Umtrunk. Auch die Bonner Gruppe des ISSF hat ein kleines Budget.

ISSF, Internationaler Studentenbund – Studentenbewegung für übernationale Föderation e.V. ist die Jugendorganisation von „World Association of World Federalists“ mit Sitz in Amsterdam und die Deutsche Sektion des „lnternational Students' Movement for United Nations“. Der ISSF hat ein illustres Ehrenpräsidium: Hermann J. Abs, Stefan Andres, Henry Brugmans, Wilhelm Grewe, Ulrich Haberland, Walter Hallstein, Eugen Kogon, Ernst Reuter, um nur einige Namen zu nennen. Auch die Bundesregierung unterstützt den ISSF mit Personal–, Sach– und Tagungsmitteln.

Bekanntlich stellen sich nicht nur Verteilungsprobleme ein, wenn es um Geld geht. Verteilungsprobleme bringen Machtkämpfe und neue Hierarchien. Auch die Beschaffung von Mitteln hat ihre Tücken. Sie wirken sich auf die innere Verfassung einer Organisation aus. Und wer beschafft, bestimmt auch Zusammenhänge, die ich so noch nicht kannte. Im Deutsch–Indischen Verein in Hannover war es schwierig, überhaupt einen Vorstand zusammenzubekommen. Nicht so im ISSF in Bonn. Im Vorstand zu sein heißt: Türen außerhalb der Universität zu öffnen, Kontakte zu knüpfen mit Ministerialbürokraten, Parteifunktionären, Journalisten, Diplomaten. Wichtig für die spätere Karriere. Bonn ist dafür ein wichtiger Platz. Einige der früheren Vorstandsmitglieder sind bereits in Amt und Würden. Sie stehen dem Vorstand mit Rat und Tat zur Seite, wie die „alten Herren“ in den Studentenverbindungen, aber nur als graue Eminenzen ohne Verpflichtungen eines „alten Herren“. Der Begriff „Seilschaften“ ist noch nicht kreiert.

Bei der Programmgestaltung kommt es zu Differenzen und Konflikten. Nicht so sehr über den Inhalt. Denn die bisherige Arbeit beschränkte sich fast auf Organisation geselliger Begegnungen. Es ist der Kölner ISSF–Gruppe beispielsweise bekannt, daß die Bonner Gruppe eine leistungsfähige Musikanlage besitzt. Also werde ich samt der Anlage und Schallplatten nach Köln zum Nikolausabend eingeladen. Nein, der Konflikt entsteht nicht über politische Inhalte. Für die beiden Stellvertreter bin ich zu initiativ und zu aktiv. Ich bin drauf und dran, den älteren Mitgliedern die Schau zu stehlen. Erst jetzt erfahre ich, daß ich ein zufälliger Kandidat für den Vorsitz gewesen bin. Zwei konkurrierende Fraktionen sind fast gleich stark. Beide Fraktionen hofften auf ihr Geschick, um aus dem Hintergrund die Drähte zu ziehen. Ich ließ mich schon immer überzeugen, nicht aber steuern. Um mich zu überzeugen, daß sich der ISSF von den anderen politischen Gruppen an der Universität nicht unterscheiden müßte und sich deshalb nicht hauptsächlich internationalen Problemen zuwenden sollte, reichen die Argumente nicht. Auch der Hinweis, daß der ISSF in der Hauptsache auf die Zuschüsse der Bundesregierung angewiesen ist, überzeugt mich nicht. So kommt es, wie es kommen muß.

Gegen Ende des Semesters ist die Mitgliederversammlung fällig, aber ohne Wahlen. In dieser Mitgliederversammlung wird ein Dringlichkeitsantrag zu meiner Abwahl eingebracht. Der Antrag muß inhaltlich begründet werden. Die Diskussion über diesen Antrag beansprucht Stunden. Ohne Ergebnis, d. h. ohne Abstimmung. Die Mitgliederversammlung muß unterbrochen werden. Nun sind die grauen Eminenzen dran. In mehreren Gesprächen überzeugen sie mich, den Konflikt einvernehmlich beizulegen. Zwei Wochen später wird die Mitgliederversammlung fortgesetzt. Ich trete vom Vorsitz zurück. Dieser Rücktritt ist eine verschleierte Abwahl. Ich mache mir nichts vor. Ich falle, so scheint es mir, in ein tiefes Loch.

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Wie schon erwähnt hat der Bundesvorstand des ISSF sein Büro im selben Haus wie die Ortsgruppe. Der Eingang zum internationalen Studentenheim ist an der Seite. Gleich links, geht eine halbe Treppe hoch zu einem kleinen Raum, dem Büro der Bonner Gruppe des ISSF. Genau gegenüber dieser Treppe, also rechts vom Eingang auf der Straßenseite, ist das Büro des Bundesvorstandes. Ein neuer Vorstand war dort eingezogen. Der 1. Vorsitzende, Günter Krabbe, ein Berliner. Ein diplomierter Politologe vom Otto–Suhr–Institut. Und der 2. Vorsitzende, Rolf Frings, ein Mitglied der Kölner Gruppe, fortgeschrittener Student der Meteorologie, haben den Konflikt innerhalb der Bonner Gruppe hautnah miterlebt. Offensichtlich mit Sympathie für meine inhaltliche Position und auch für meine Person. Sie haben sich selbstverständlich nicht eingemischt. Nach dem „Rücktritt“ bitten sie mich, beim Bundesvorstand als Referent mitzuarbeiten. Die Funktionsträger beim Bundesvorstand erhalten eine Aufwandsentschädigung. Ein Referent ist im Budget nicht vorgesehen. Sie wollen die Mittel dafür sofort beantragen.

Ich hatte mich schon vor dem Eklat in der Bonner Gruppe des ISSF wieder um eine Praktikantenstelle bei einer Tageszeitung bemüht. Wieder hilft mir die „SPD–Baracke“. Diesmal ist es die Lokalredaktion der „Neuen Ruhr Zeitung“ in Köln, die aber im Rheinland die „Neue Rhein Zeitung“ heißt. In Köln ist auch nur die Lokalredaktion. Diesmal darf ich auch schreiben. Ich hätte auch wieder nach Hannover gehen können. Aber die Reisekosten und Zimmermiete in Hannover hielten mich zurück. Mittlerweile ist mir die Schlafstelle in der Weberstraße lieb geworden. Im Haus komme ich bestens zurecht. Mit meinem Studium leider nicht so gut. Ich bin wieder mal im Zweifel, ob meine Wahl, Staatswissenschaft in Bonn zu studieren, die richtige Wahl gewesen ist. Am 4. März 1958 lasse ich mich exmatrikulieren. Ich kann meine Studiengebühren für das WS 1957/1958 nicht bezahlen. Damit ist das an sich intensiv studierte WS 1957/1958 aberkannt. Ich gerate, im wahrsten Sinne des Wortes, in eine tiefe Krise. All dies ist mir damals in Bombay, 1966, nicht präsent. Wäre die Erinnerungen an diese Zeit damals präsent gewesen, hätte ich mich möglicherweise weniger sendungsbewußt und weniger überheblich gefühlt.

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Warum bemühe ich mich trotz meiner finanziellen Nöte nicht um ein Stipendium, werde ich gefragt. Ich habe einfach nicht gewußt, daß es auch für ausländische Studierende Stipendien gibt. Ich habe auch nicht gewußt, daß es zum Erlaß von Studiengebühren die Einrichtung von „Fleißprüfungen“ gibt. Zwei studierte Semester habe ich aus finanziellen Nöten streichen lassen müssen.

Mir wird die SPD–nahe Friedrich–Ebert–Stiftung genannt. Sie ist die erste politische Stiftung überhaupt im Nachkriegsdeutschland und will die demokratische Volkserziehung fördern. Ihr Sitz ist in Bonn in der damaligen Koblenzer Straße, einige Häuser von dem Internationalen Studentenheim in Richtung Regierungsviertel entfernt, also vom Sitz des ISSF. Ich gehe dort hin, hole mir die Bewerbungsunterlagen und bewerbe mich um ein Stipendium zur Förderung des hochbegabten Nachwuchses. Warum auch nicht? In dem Antrag versäume ich nicht, einen eventuellen Universitätswechsel nach Berlin anzukündigen.

Die Arbeit in der Redaktion in Köln läßt mir noch genug Zeit, regelmäßig im Büro des Bundesvorstandes zu sein. Es entwickelt sich so etwas wie eine Freundschaft mit den beiden Vorsitzenden. Rolf Frings, verheiratet, wohnt in Hermülheim bei Köln in einem Haus mit seinen Schwiegereltern. Sein Schwiegervater spielt gern Skat. Auch deshalb bin ich dort willkommen. Günter Krabbe ist allein in Bonn. Er geht nach getaner Arbeit gern in Kino–Spätvorstellungen. Wir gehen immer öfter zusammen.

In der Redaktion in Köln bleibe ich für drei Monate. Eine Verlängerung wäre möglich, aber ein Studium habe ich nicht abgeschrieben. Ich rechne auch mit der „Referentenstelle“ beim Bundesvorstand. Und vage hoffe ich auf ein Stipendium von der Friedrich–Ebert–Stiftung. So habe ich im Augenblick keine konkrete Aufgabe mehr. Und ich besitze wenig Geld. Ich gehe spät ins Bett, stehe spät auf, meist nachmittags zum Frühstück. Immer wenn Fräulein Lehner im Haus ist, habe ich auch nachmittags heißen Tee zum Frühstücksbrötchen. Sonst gibt es halt kalten Tee. Nach dem Frühstück gehe ich zum ISSF. Dann ins Kino. Mit Günter Krabbe. Manchmal auch in zwei Vorstellungen. Kleiner Imbiß danach, dann zu Bett. Zu dieser Zeit gerate ich sogar mit der Mietzahlung in Rückstand. Peinlich. Und perspektivlos. Fräulein Lehner bleibt nach wie vor freundlich. Sie hat mehr Vertrauen in mich, als ich selbst.

Der Bundesvorstand des ISSF muß ein Mitglied für die Wahl im Vorstand des „Young World Federalists“ in Amsterdam benennen. Ich werde benannt und gewählt. Dieser Posten ist zwar ohne eine Aufwandsentschädigung, aber er ermöglicht mir Reisen nach Amsterdam und kostenlose Teilnahmen an außeruniversitären internationalen Seminare. Jeder Reise– und Seminartag bringt mir finanzielle Erleichterung. Die Friedrich–Ebert–Stiftung hat meine Bewerbung bearbeitet und für September zwei Prüfer bestellt: Charlotte Lütkens in Bonn, Sozialwissenschaftlerin und Schriftführerin der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, und Hermann Louis Brill in Wiesbaden, Juraprofessor und Staatssekretär in Hessen.

Im Sommer wird der Bundesvorstand des ISSF von der Unesco, Paris, gefragt, ob er sich zutraue, über die Betreuungssituation der ausländischen Studenten in den deutschen Universitäten einen Bericht zu schreiben. Es stünden dafür 5000,- US-$, also ca. 20000,- DM zur Verfügung. Ein europäischer Vergleich werde angestrebt, um Verbesserungen zur reibungsloseren Integration der ständig wachsenden Zahl der ausländischen Studierenden in Europa zu ermöglichen. Integration als Schlüssel für ein erfolgreiches Studium also. Der Bundesvorstand des ISSF traut sich dieses zu. So werde ich zum Unesco–Referenten des ISSF, noch ohne eine Aufwandsentschädigung.

Beide Prüfer der Friedrich–Ebert–Stiftung, Charlotte Lütkens und Hermann Louis Brill, beurteilen mich so gut, daß ich am 7.November 1958 in die „Hochbegabtenförderung der Stiftung“ aufgenommen werde. Noch ohne ein Stipendium. Die Etatmittel der Stiftung sind für das laufende Haushaltsjahr erschöpft. Die individuelle Betreuung durch Vertrauensdozenten, die Freizeitbegegnungen in der Heimvolkshochschule in Bergneustadt und „Bücherpakete“ gelten ab sofort. Die Stiftung ist großzügig, sie gewährt mir zwei Darlehen mit ordentlichen schriftlichen Verträgen, damit ich über die Runden komme. Zwischenzeitlich habe ich mich an der Universität Köln für das WS 1958/1959 immatrikulieren lassen. Einiges ist inzwischen geschehen.

Ab Herbst bekomme ich eine monatliche Aufwandsentschädigung von 150,- DM. Die beantragten Mittel sind bewilligt. Die 5000,- US-$ aus Paris sind zwar noch nicht da, aber ich beginne unverzüglich mit Erkundungen über Betreuungsmaßnahmen zunächst beim Auslandsamt an der Bonner Universität. Dann in Köln. Die Zeitungen berichten häufig über Diskriminierungen bei der Zimmersuche, in Gastwirtschaften, in Läden, in allen öffentlichen Orten. Das Problembewußtsein beschränkt sich auf Diskriminierung. Und Diskriminierungen seien nicht vorteilhaft für das Ansehen der deutschen Gesellschaft im Ausland. Dies ist auch die Zeit, in der die „Vorurteilsforschung“ ihre Hochkonjunktur erfährt. Vorurteile entständen in der Hauptsache aus Unkenntnis, vor allem bei Personen mit schwachem Ego. Ergo: Die deutsche Bevölkerung sollte mehr Gelegenheit bekommen, die ausländischen Studierenden persönlich kennenzulernen.

Organisierte Begegnungen sind das Rezept. Und Hilfe in allen Lebenslagen: bei der Zimmersuche, beim Erlernen der Sprache, beim Studium „unter die Arme greifen“. Betreuung ist das Zauberwort. Auch studentische Gruppierungen erhalten Mittel für Betreuungsarbeiten. Nur ein Erfolg stellt sich nicht ein. Trotz „Kontaktbörsen“ verschiedener Art. Die Betreuer sehen oft immer die gleichen Gesichter. Die meisten ausländischen Studierenden nehmen die Angebote nicht an. Viele Veranstaltungen fallen aus. Auch im internationalen Studentenheim hat die Bonner ISSF–Gruppe nur bei Tanzveranstaltungen Erfolg. Nach einem Beschluß des Bundesvorstandes besuche ich Betreuungsveranstaltungen der anderen ISSF–Gruppen in der Republik, um diese miteinander vergleichen zu können.

Also schreibe ich sämtliche ISSF–Gruppen an und bitte sie um die Übermittlung der Termine von Veranstaltungen. Die Reaktion ist prompt. Ich reise ohne vorherige Terminvereinbarung. Es ist überall das gleiche trostlose Bild. „Kontaktbörsen“ funktionieren nicht. Die Stammgäste sind relativ gut integriert. Die anderen, die die große Mehrheit bilden, lassen sich nicht anlocken. Wie soll man an sie herankommen?

Ich beginne systematisch Studien über soziale Vorurteile und über gesellschaftliche Benachteiligung zu lesen. Diese sozialpsychologischen, soziologischen und sozialphilosophischen Studien finde ich aufschlußreich. Die Schwägerin von Rolf Frings erzählt mir – ich spiele wiedermal Skat in Hermülheim mit ihrem Vater und ihrem Schwager – von interessanten soziologischen Vorlesungen. Als Nachfolger des eher philosophisch orientierten Leopold von Wiese war der mehr wirtschaftlich und ethnologisch orientierte René König Mitte der fünfziger Jahre zum Lehrstuhl für Soziologie berufen worden. Seine Vorlesungen sollen wegen seiner hervorragenden Rhetorik, seiner breiten Kenntnis über gesellschaftliche Entwicklung und deren Zusammenhänge sehr beliebt gewesen sein. Sie habe einige dieser Vorlesungen gehört, obwohl Soziologie nicht ihr Fach gewesen ist. Sie ist promovierte Volkswirtin der Kölner Universität und arbeitet in der volkswirtschaftlichen Abteilung der Deutschen Bank in Düsseldorf und wohnt in der Woche auch dort.

Also habe ich mich nach der Unterbrechung eines Semesters in Köln wieder immatrikulieren lassen. Aber nicht in der WiSo–, sondern in der philosophischen Fakultät. Soziologie war in den beiden Fakultäten eingebunden. Es ist ja auch für mich nur ein Risiko von 30,- DM als lmmatrikulationsgebühr. Eigentlich gar kein Risiko, weil diese Gebühr die studentische Krankenversorgung sicherstellt. Fräulein Lehner hat die Miete nicht erhöht. Und monatlich 150,- DM war damals nicht wenig Geld. Und dann die vielen Lebenshaltungskosten senkenden „Dienstreisen“ und Seminare.

Vom ersten Tag des Semesterbeginns in Köln macht mir das Studieren zum ersten Mal Spaß. Ich habe eine konkrete Aufgabe im ISSF: Vorschläge zur Verbesserung der Betreuungssituation der ausländischen Studierenden. Eigentlich eine soziologische und ethnologische Fragestellung, wie ich erkenne. Also besuche ich fleißig die Methodenseminare der Fächer Ethnologie, Soziologie, Philosophie und Geschichte. Und noch zwei Hauptseminare: „Geschichte der ethnologischen Theorienbildung“, „Die Angestellten in Betrieb und Gesellschaft“ und die Hauptvorlesung von René König: „Ursprung und Entwicklung von Familie, Wirtschaft, Recht und Staat“.

Jeder Tag an der Kölner Universität läßt mich wachsen. Die 5000,- US-$ von der Unesco, Paris, sind angekommen, aber noch nicht angebrochen. Das Geld ausgeben nur für Beobachtung von „Kontaktbörsen“ an verschiedenen Universitäten? Warum nicht eine Studie zur Überwindung von Vorurteilen? Ich will mir Zeit nehmen für eine solche Entscheidung, und der Bundesvorstand ist damit einverstanden.

Es ändert sich auch sonst einiges. Die Hauptvorlesung von René König ist in einem überfüllten großen Saal. Sie ist unterhaltend, witzig, anregend und informativ. Das erste Mal bin ich früh genug da und sitze in der vorderen Reihe. Der Nachbar zu meiner Rechten interessiert sich für mich. Er spricht mich an. Er hat einen leichten bayerischen Akzent. Nach der Veranstaltung machen wir beim Kaffee „small talk“. Er will freundlicherweise einen Platz frei halten, weil ich ja von Bonn anreise. Er hält sein Versprechen ein. Nach der Vorlesung will er mit König sprechen. Ich weiß nicht warum. Um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, gehe ich hinter ihm her und warte, bis er mit dem Gespräch mit König fertig ist. Anschließend gehen wir zusammen in ein Café.

Er, Josef Gugler aus München, ist in der Endphase seiner Dissertation. Das Thema: die Französische Soziologie. Er war für mehrere Semester in Paris, spricht fließend französisch. Er ist nicht angeberisch und spricht leise. Als er hört, daß dies mein erstes Semester in Soziologie ist, nimmt sein Interesse an mir nicht ab. Wir verabreden uns wie das letzte Mal. Es bahnt sich eine Freundschaft an. Das übernächste Mal will er mich König vorstellen. Wieso? König habe ihm Vorwürfe gemacht, weil er mich nach der 2. Vorlesung hinten hatte warten lassen. Er hätte mich zumindest vorstellen sollen. König war selbst Immigrant. In Italien. Er weiß, was ein Auslandsaufenthalt ist. Ich bin befangen. Ich soll vorgestellt werden, nur weil ich ein Ausländer bin. Ich lerne also König kennen. Aufgeschlossen und freundlich. Wenn ich Probleme hätte, sollte ich ihn im Institut aufsuchen. Das Ganze ist überhaupt nicht formell. Die Atmosphäre ist locker, und ich nehme sein Angebot ernst. Nur habe ich kein Problem. Noch nicht.

Die Skatwochenenden haben Folgen. Die Schwägerin von Rolf Frings ist häufig da. Wir lernen uns kennen, uns lieben und heiraten bereits im Dezember 1958. Für das Studium sollte ich mir mehr Zeit lassen und nicht so wie sie, rastlos durch das Studium hetzen. Als Arbeiterkind mußte sie das Studium selbst finanzieren, mußte immer gut sein. In der Mindestzeit hatte sie den Diplomvolkswirt und Dr. rer. pol. gemacht. Immer am Ende jedes Semesters "Fleißprüfungen" für den Erlaß der Studiengebühren gemacht. Ich sollte es besser haben. Dieser gutgemeinte Wunsch verursacht Unbehagen bei mir. Ich nehme mir vor, Skat, Bridge und Kino kurz zu halten und zum ersten Mal in Deutschland ernsthaft und fleißig mit dem Studium voran zu machen.

König hatte bei seiner Berufung auch die renommierte „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, das Sprachrohr der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, aber herausgegeben im Auftrage des Forschungsinstituts für Sozial– und Verwaltungswissenschaften in Köln, geerbt. Er führte die „Empirische Sozialforschung“ in Deutschland richtig ein. Früh hatte er dazu zwei Lehrbände herausgegeben. Er hält engen Kontakt zu den USA. Die „empirische Soziologie“ hat dort seit Mitte der dreißiger Jahre Hochkonjunktur: die Immigration vieler Wissenschaftler des berühmten „Wiener Kreises“ und anderer Wissenschaftler in die USA dank des „tausendjährigen Reichs“ in Deutschland, die Kriegsforschung, das Anlegen der sogenannten „Human Area Files“ durch die US–Regierung.

Köln ist also der Platz für empirische soziologische Arbeiten. Andere Institutionen nehmen das Institut für Soziologie für Beratungen und Dienstleistungen in Anspruch, vor allem für die Ausbildung der Interviewer für Befragungen. Die Soziologiestudenten in Köln bekommen viele Gelegenheiten für Forschungsjobs: interviewen, das Material aufbereiten, kodieren, rechnen, usw. Und diese Arbeiten wurden gut bezahlt. Ich beteilige mich an diesen Arbeiten von Beginn an.

Ich bin in Köln vollauf beschäftigt. Wochentags den ganzen Tag in Köln, abends regelmäßig im Büro des ISSF in Bonn, nachts in der Schlafstelle in der Weberstraße 96. An den Wochenenden in Düsseldorf. Meine Frau hat eine stressige Arbeit. Die volkswirtschaftliche Abteilung muß auch Reden für Vorstandsmitglieder schreiben. Kollegialität in der Abteilung gab es auch damals nicht. Sie sind Konkurrenten. Und meine Frau hat gerade ihre Promotion hinter sich. Sie will sich keine Blöße geben. Also arbeitet sie viel. Sie bringt regelmäßig Arbeit mit nach Hause. Auch an den Wochenenden. Sie tut dies aus freien Stücken, sagt sie.

Wir diskutieren über das Unesco–Projekt, wann immer die Zeit dafür da ist. Erwartet wird sicherlich – darüber sind wir uns einig – eine Bestandsaufnahme der vielfältigen Betreuungsmaßnahmen für die ausländischen Studierenden und auch eventuelle Verbesserungsvorschläge. Mir ist klar, daß es um die afrikanischen und asiatischen Studierenden und nicht um die ausländischen Studierenden im Allgemeinen geht. Sie und ihre Schwierigkeiten sind im öffentlichen Gespräch. Sie fallen äußerlich auf. Sie werden diskriminiert. Vielfältig. Die Diskriminierung, Arten der Diskriminierung, deren Folgen – nicht nur für das Studium – sind das Problem und nicht die richtigen Betreuungsmaßnahmen. Ihre Lebenssituation in diesem Land müßte beschrieben werden. Wer sonst als die betroffenen Studierenden könnten uns genauer sagen, wie ihre Lebenssituation ausschaut, was sie dabei empfinden, welche Erwartungen sie haben.

Meine Überlegungen diskutiere ich auch im Vorstand des ISSF. Auch darüber, ob es nicht sinnvoller wäre, die 5000,- US-$ für die Beschreibung der Aufenthaltssituation der afrikanischen und asiatischen Studierenden zu verwenden, als für die Reise– und Spesenkosten des Unesco–Referenten, für Veranstaltungen mit kleinem Imbiß und Umtrunk einiger ISSF–Hochschulgruppen zu verplempern. Der Vorstand unterstützt mich. Also warum nicht eine fundierte Befragung dieser Studierenden?

Ich nehme das freundliche Angebot von René König in Anspruch. Ich berichte über das Anliegen von Unesco, über den Stand der Diskussion im ISSF und frage ohne Umschweife, ob er, ob sein Institut, unsere Befragung wissenschaftlich betreuen würde. Seine Antwort ist ein unmißverständliches „Nein“. Noch bevor ich meine Enttäuschung überspielen kann, fügt er hinzu:

„Beratende Unterstützung ja, aber keine Betreuung. Nehmen Sie die Veranstaltungen und Beratungen in Anspruch. Entwerfen Sie ein Erhebungsinstrument. Das Institut kann und wird für Sie diese Arbeit nicht machen.“

Beim Verabschieden bemerkt er, daß er das Gelingen des Projekts begrüßen werde. Ich nehme die Herausforderung an. Dies ist der Stand im Januar 1959.

Das sozialwissenschaftliche Arbeiten lerne ich an diesem Unesco–Projekt, das sich schließlich zu einer wissenschaftlichen Untersuchung mausert. Das nichtuniversitäre Forschungsinstitut für sozialpolitische Fragen, das „Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung e.V.“, ist unweit der Gebäude der WiSo–Fakultät. Dort ist eine von IBM angeleitete Lochkartensortiermaschine der 2. Generation. Nur zum Sortieren und Auszählen. Diese Maschine reicht aus – wenn auch zeitaufwendig –, Tabellen in absoluten Zahlen zu erstellen. Dann die Prozente mit dem Rechenschieber. Diese einfache Aufbereitung des Materials reicht für die Berichte aus, die die Auftraggeber von diesem Institut erwarten. In diesem „Institut für Selbsthilfe und Sozialforschung“ ist immer Bedarf an Hilfskräften, an Tagelöhner. Ich habe häufig in diesem Institut gearbeitet. Bald bin ich kein Tagelöhner mehr. Ich lerne schnell. Interviewen, Schlüssellisten erstellen, kodieren, lochen, sortieren, zählen, Tabellen schreiben, Prozente ausrechnen, also praktisch alle Arbeiten, die zwischen dem Abschluß der Feldarbeiten und dem Schreiben des Ergebnisberichts anfallen.

Der Direktor des Instituts, Otto Blume, ist ein vielbeschäftigter, aber doch umgänglicher Mensch. Er ist auch Habilitationskandidat bei jenem Gerhard Weisser, der Hans Albert aus der Habilitationsmisere geholfen hatte. Gerhard Weisser hat einen guten Ruf. Als Sozialdemokrat achtet und kooperiert er beispielsweise mit Oswald von Nell–Breuning, einem an der katholischen Morallehre orientierten Sozialpolitiker. Er ist auch der Vorsitzende der Friedrich–Ebert–Stiftung. Und Otto Blume ist der Vertrauensdozent für die Stipendiaten in Köln, also auch mein Vertrauensdozent.

Noch vor dem Ende des Wintersemesters 1958/1959 erkundigt sich Blume, ob ich an einer festen Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter interessiert wäre. Nicht in seinem Institut, sondern als Mitarbeiter von Gerhard Weisser. Die ausschließliche Aufgabe wäre englischsprachige sozialpolitische Literatur zu „Entwicklungsländern“ zu sichten, zu bibliographieren, zu lesen und darüber ausführliche Zusammenfassungen anzufertigen. Auf Deutsch, versteht sich. Der Arbeitsplatz wird im vierten Stock in einem angemieteten Haus neben den Hauptgebäuden der Universität sein.

Im 2. Stock des gleichen Hauses ist das Institut für Soziologie und im Parterre ist das Seminar für Ethnologie. Weisser leitet neben seinem Seminar für Sozialpolitik noch die Institute: Institut für Genossenschaftswesen, Institut für Wohnungswirtschaft, Institut für Verwaltungswissenschaft, mit insgesamt ca. 18 wissenschaftlichen Mitarbeitern. König hat nur 2 Institute mit ca. 8 Mitarbeitern.

Meine Frau und ich diskutieren immer wieder, ob es für uns, auch für sie nicht sinnvoller wäre, sich um eine Stelle in Bonn zu bemühen, als sich in Düsseldorf für die Deutsche Bank abzurackern. Mit einem erfolgreichen Studiensemester, mit einigen Nebeneinkünften, mit dem bewilligten Stipendium und schließlich mit der Aussicht auf eine Stelle bei Weisser im Rücken überrede ich meine Frau bei der Deutschen Bank so rechtzeitig zu kündigen, daß sie bereits im Mai 1959 nach Bonn zieht. Ob diese Überredung für sie richtig und günstig gewesen ist, wird für immer ungeklärt bleiben. Unmittelbar nach dem Umzug hat sie eine Magenschleimhautentzündung. Die Ärztin von nebenan verordnet meiner Frau viel Ruhe, geriebene Äpfel und Erdbeeren mit Schlagsahne. Ihr Umzug nach Bonn wird für mein Studium und für unser späteres Leben ausschlaggebend sein.