Prekariat - Guy Standing - E-Book

Prekariat E-Book

Guy Standing

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Beschreibung

Neoliberalismus, Globalisierung und institutioneller Wandel haben einen wachsenden Teil der Bevölkerung wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen ausgesetzt, die denen einer neu entstehenden Klasse entsprechen. In seinem Buch gibt Guy Standing eine Einführung in das, was er ›Prekariat‹ nennt: Jene durchaus völlig inhomogene Gruppe von Menschen rund um den Globus, die unter unsichersten Bedingungen arbeiten, gewöhnlich in kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen ohne langfristige Perspektiven, meist ohne genügende soziale Absicherung oder andere Schutzmechanismen. Standing legt dar, dass diese neue Klasse die westlichen Industriegesellschaften destabilisieren wird. Das Prekariat wird zunehmend frustrierter und gefährlicher. Jene, die keine Stimme haben, sind folgerichtig anfällig für die Lockrufe populistischer und insbesondere rechtsextremer Parteien. Guy Standing stellt diesem Szenario ein modernes auf Solidarität basierendes Gesellschaftsmodell gegenüber, das auf allen Ebenen mehr Beteiligung der Bürger_innen ermöglicht und so eine Antwort auf die Prekarisierung der Weltgesellschaft gibt. Wesentliches Moment der sozialen Solidarität ist für Standing ein staatlich garantiertes Grundeinkommen.

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Seitenzahl: 460

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Guy Standing ist Wirtschaftsprofessor an der University of Bath in England. Er ist Mitbegründer und Co-Präsident des Basic Income Earth Network (BIEN), einer internationalen NGO, die sich weltweit für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt. Sein 2011 erschienenes Buch The Precariat ist bereits in 12 Sprachen übersetzt.

Guy Standing

Prekariat

Die neue explosive Klasse

aus dem Englischen von Sven Wunderlich

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Guy Standing: Prekariat

1. Auflage, Juni 2015

eBook UNRAST Verlag, Juni 2022

ISBN 978-3-95405-118-2

Copyright der Originalausgabe © 2011 Guy Standing

Aus dem Englischen: The Precariat: The New Dangerous Class

Erstveröffentlicht von Bloomsbury Publishing Plc

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Sven Wunderlich

Umschlag: kv, Berlin

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort

1. Das Prekariat

Das Prekariat regt sich

Folgen der Globalisierung

Eine Definition des Prekariats

Lohnarbeit, Arbeit, Unterhaltung und Muße

Verschiedene Formen des Prekariats

Prekarisierung

Die prekarisierte Psyche

Wut, Anomie, Angst und Entfremdung

Abschließende Bemerkungen

2. Warum wächst das Prekariat?

Die globale Transformation

Der Lockruf der Arbeitsflexibilität: die Rekommerzialisierung der Arbeit

Prekäre Arbeitslosigkeit

Die Prekariatsfalle

Die Finanzkrise

Die Demontage des öffentlichen Sektors

Der subventionierende Staat: Fluch des Prekariats

Die Schattenwirtschaft

Der Niedergang der sozialen Mobilität

Schlussfolgerungen

3. Wer wird Teil des Prekariats?

Frauen: wird das Verdienen des Lebensunterhalts feminisiert?

Die Jugend: städtische Nomad_innen

Die Alten: Zufriedene und Unzufriedene

Kulturelle Minderheiten

Menschen mit ›Behinderung‹: eine Vorstellung im Wandel?

Kriminalisierte Menschen: Prekariat hinter Schloss und Riegel

Abschließende Bemerkungen

4. Migrant_innen: Opfer, Schurk_innen oder Held_innen?

Die neuen Unterbürger_innen

Das Prekariat als variables Arbeitskräftereservoir

Von Warteschlangen zu Hürden?

Migrant_innen: billige Arbeitskräfte in Entwicklungsländern

Ein System des Arbeitskräfteexports entsteht

Abschließende Überlegungen

5. Arbeit, Lohnarbeit und Zeitdruck

Was ist Arbeit?

Tertiäre Arbeitsplätze

Tertiäre Zeit

Die Intensivierung der Lohnarbeit

Arbeit für Lohnarbeit

Tertiäre Qualifikation

Arbeit für Reproduktion

Jugend und ›Vernetzung‹

Die Verknappung der Freizeit

Schlussfolgerungen

6. Teuflische Politik

Die Überwachungsgesellschaft

Das Prekariat ›glücklich‹ machen

Der heilende Staat

›Workfare‹ Sozialleistungen unter Vorbehalt

Die Dämonisierung des Prekariats

Ausdünnung der Demokratie und Neofaschismus

Schlussfolgerungen

7. Paradiesische Politik

Unterbürger_innen in Bürger_innen verwandeln

Gleichheit wiederentdecken

Die Rettung der Bildung

Arbeit, nicht nur Lohnarbeit

Die vollständige Kommerzialisierung der Lohnarbeit

Berufliche Freiheit

Arbeiterrechte

›Workfare-System‹ und Konditionalitäten bekämpfen

Freie Vereinigung: das Programm des Prekariats

Die Wiederbelebung der Gleichheit

Grundeinkommen

Die Umverteilung der Sicherheit

Die Umverteilung des Finanzkapitals

Kontrolle über die Zeit gewinnen

Die Wiederentdeckung des Gemeinschaftlichen

Mehr Zeit für Muße

Schlussfolgerungen

Bibliografie

Index

Anmerkungen

Vorwort

Dieses Buch handelt von einer neuen Klasse in der Welt, die sich auf dem Weg der Entstehung befindet. Ich möchte auf den folgenden Seiten fünf Fragen beantworten: Wer ist Teil dieser Klasse? Warum sollte uns ihre Ausbreitung interessieren? Warum wächst sie? Wer wird in sie hineingezogen? Und wohin wird sie die Gesellschaft führen?

Die letzte Frage ist entscheidend. Wenn wir das Prekariat nicht verstehen, könnte seine Ausbreitung die Gesellschaft zu einer ›Politik der Hölle‹ führen. Dies ist keine Vorhersage, sondern eine beunruhigende Möglichkeit, und ihr Eintreten kann nur verhindert werden, wenn das Prekariat zu einer selbstständigen und wirklich handlungsfähigen Klasse heranwächst – eine Kraft zur Verwirklichung einer ›Politik des Himmels‹, die über etwas visionäre Programmatik verfügt und über eine Strategie, wie sie von Politiker_innen übernommen werden könnte, und desgleichen von einer Gesellschaft, die sich beschönigend ›Zivilgesellschaft‹ nennt, aber zahlreiche Nichtregierungsorganisationen beheimatet, die nicht selten mit dem Gedanken spielen, selbst regierungsähnlich zu werden.

Das globale Prekariat muss dringend wachgerüttelt werden. Um uns herum herrschen eine Menge Wut und eine Menge Angst. Doch auch wenn dieses Buch eher die leidende als die befreiende Seite des Prekariats in den Vordergrund stellt, will ich gleich zu Anfang betonen, dass es in die Irre führen würde, das Prekariat lediglich als Ansammlung leidender Menschen darzustellen. Viele, die in das Prekariat hineingezogen werden, wünschen sich etwas Besseres, als Industriegesellschaft und Sozialdemokratie ihnen im 20. Jahrhundert geboten haben. Obwohl das Prekariat den Namen ›Helden‹ genauso wenig verdient wie als ›Opfer‹ bezeichnet zu werden, beginnt es uns vor Augen zu führen, dass es ein Vorbote für eine funktionierende Gesellschaft im 21. Jahrhundert sein könnte.

Die Hintergründe gestalten sich derart: Während das Prekariat wuchs, kam mit dem Schock der Finanzkrise 2008 die versteckte Realität der Globalisierung zum Vorschein. Zu lange war ignoriert worden, dass die weltweit vorgenommenen Anpassungen die einkommensstarken Länder nach unten und die einkommensschwachen Länder nach oben gezogen haben. Wenn die von den Regierungen in den letzten beiden Jahrzehnten bewusst ignorierten Ungleichheiten nicht von Grund auf überwunden werden, könnten die Qualen und Rückschläge zu einer Explosion führen. Vielleicht wird die globale Marktwirtschaft – wie selbst ihre Kritiker_innen zu hoffen wagen sollten – letztlich den Lebensstandard überall erhöhen, doch zweifellos können nur Ideolog_innen leugnen, dass sie vielen Millionen wirtschaftliche Unsicherheit gebracht hat. Das Prekariat steht zwar in vorderster Linie, muss aber noch ein Sprachrohr finden, um seine Vorhaben ins Rampenlicht zu rücken. Das Prekariat besteht weder aus einer ›unter Druck gesetzten Mittelschicht‹, noch aus der ›Unterschicht‹ oder der ›unteren Arbeiterklasse‹. Die Menschen im Prekariat teilen bestimmte Ungewissheiten und werden ebenso charakteristische Forderungen stellen.

Als sich mein Buch noch im Anfangsstadium befand, stellte ich meine Gedanken einer Gruppe von Leuten vor, die sich größtenteils als alternde Akademiker_innen mit sozialdemokratischen Überzeugungen erweisen sollten. Die meisten von ihnen belächelten meine Überlegungen mit Geringschätzung und sagten, dies sei nur ein alter Hut. Sie meinten, die Antwort auf die Probleme der heutigen Zeit wäre dieselbe wie in ihrer Jugend: Mehr Arbeitsplätze müssten geschaffen werden – eine größere Zahl annehmbarer Arbeitsplätze. Ich will diesen hochgeschätzten Persönlichkeiten nur sagen, dass die Menschen im Prekariat von ihren Vorstellungen wahrscheinlich unbeeindruckt wären.

Hinter den Ideen dieses Buches stehen zu viele, als dass ich allen einzeln danken könnte. Ich möchte jedoch den zahlreichen Student_innen und Aktivist_innen in 16 Ländern danken, die während der Vorbereitungszeit der Präsentation meiner Gedanken gelauscht haben. Ich hoffe, ihre Einsichten und Fragen sind bis zum endgültigen Inhalt des Buches vorgedrungen. Als letztes will ich noch sagen, dass der Autor eines Werkes wie diesem vorwiegend die Gedanken anderer weitergibt.

Guy Standing, im November 2010

1. Das Prekariat

In den 1970er Jahren vereinnahmte eine Gruppe ideologisch motivierter Ökonomen Gehör und Gemüter der Politiker_innen. Der entscheidende Punkt ihres ›neoliberalen‹ Modells war, dass Wachstum und Entwicklung von der Konkurrenz an den Märkten herrühren würden und daher alles darangesetzt werden sollte, ein Höchstmaß an Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit einzuführen und Marktprinzipien sämtliche Aspekte des Lebens durchdringen zu lassen.

Ihr Ziel bestand unter anderem darin, Länder zu einer flexibleren Gestaltung ihrer Arbeitsmärkte zu bringen. Dies bedeutete letztlich Maßnahmen, die Risiken und Ungewissheiten auf Arbeiter_innen und deren Familien abwälzten. Die Folge war die Schaffung eines globalen ›Prekariats‹, dem viele Millionen Menschen weltweit angehören, die über keine stabile Grundlage verfügen und zur neuen ›gefährlichen Klasse‹ geworden sind. Nicht selten neigen sie dazu, unlauteren Persönlichkeiten zu folgen und ihre Stimmen und ihr Geld zu verwenden, um ihnen eine politische Plattform mit wachsendem Einfluss zu verschaffen. Die großen Erfolge der ›neoliberalen‹ Projekte, die im Grunde von Regierungen jedweder Couleur übernommen worden sind, haben dazu geführt, dass mit der Erschaffung eines politischen Ungetüms begonnen wurde. Wir müssen handeln, bevor dieses Ungetüm zum Leben erwacht.

Das Prekariat regt sich

Am 1. Mai 2001, dem Tag der Arbeit, versammelten sich 5.000 Menschen, vorwiegend Student_innen und junge Gesellschaftsaktivist_innen, in Mailands Stadtzentrum, um einen alternativen Protestmarsch abzuhalten. Vier Jahre später, am 1. Mai 2005, war ihre Zahl bereits auf weit über 50.000 gestiegen – nach einigen Schätzungen sogar über 100.000 –, und so war der ›EuroMayDay‹ gesamteuropäisch geworden: Hunderttausende Menschen, besonders junge Leute, gingen in Städten überall im kontinentalen Europa auf die Straße. Ihre Demonstrationen markierten die ersten Reaktionen des globalen Prekariats.

Die alternden Gewerkschafter_innen, die gewöhnlich die Veranstaltungen am Tag der Arbeit organisierten, konnten angesichts dieser neuen umherziehenden Massen nur Verwirrung empfinden. Deren Forderung nach freier Migration und allgemeinem Grundeinkommen hatte wenig mit den traditionellen Zielen der Gewerkschaften zu tun. Die Gewerkschaften sahen die Antwort auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse in einer Rückkehr zum ›Arbeitsmodell‹, bei dessen Einführung sie Mitte des 20. Jahrhunderts so entschieden mitgewirkt hatten: die Schaffung einer größeren Zahl stabiler Arbeitsplätze, langfristige Beschäftigungssicherheit und damit verbundene Rentenleistungen. Doch viele der jungen Demonstrant_innen hatten mit angesehen, wie ihre Elterngeneration sich dem ›Modell Henry Fords‹ gefügt hatte, eintönigen Vollzeitbeschäftigungen nachgegangen war und sich Industriemanagern wie auch den Diktaten des Kapitals unterworfen hatte. Ihnen fehlten zwar schlüssige Alternativen, doch zeigten sie keinerlei Verlangen, das ›Arbeitsmodell‹ wieder einzuführen. Zuerst war am ›EuroMayDay‹ in Westeuropa etwas bewegt worden, doch bald nahm die Bewegung einen globalen Charakter an. Japan wurde zu einem bedeutenden Zentrum dieser Kraft, die als Bewegung junger Menschen begonnen hatte – gebildete Europäer_innen, verärgert und befremdet vom (neoliberalen) Marktansatz des ›Projekts Europäische Union‹, das auf Konkurrenz ausgerichtet war und sie in ein Leben aus Beschäftigung, Flexibilität und Wirtschaftswachstum drängte. Sie erkannten, dass ihre missliche Lage und Ungewissheiten damit zusammenhingen, was anderen weltweit widerfuhr, und so verwandelten sich die auf Europa konzentrierten Anfänge bald in internationale Bemühungen, und Migrant_innen wurden zu einem wichtigen Teil der Proteste des Prekariats.

Die Bewegung ging auch auf Menschen mit unkonventionellem Lebensstil über. Unentwegt bestand eine lebendige Spannung zwischen den Menschen im Prekariat im Sinne von Opfern, die von alteingesessenen Institutionen und von der Polizei bestraft und verleumdet wurden, und im Sinne von Held_innen, die diese Institutionen in gemeinsamen Anstrengungen intellektuellen und emotionalen Ungehorsams ablehnten. Im Jahr 2008 stellten die Demonstrationen am ›EuroMayDay‹ die parallel dazu stattfindenden Gewerkschaftsaufmärsche in den Schatten. Auch wenn dies vom Großteil der breiteren Öffentlichkeit und von den meisten Politikern unbeachtet blieb, war es eine bemerkenswerte Entwicklung.

Die doppelte Opfer-Helden-Identität des Prekariats führte überdies zu mangelnder Geschlossenheit. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass man es versäumte, Kämpfe in den Mittelpunkt zu stellen. Wer oder was war der Feind? Alle bedeutenden Bewegungen der Geschichte, wie immer sie ausgingen, waren klassenbezogen gewesen. Eine Interessengruppe kämpfte gegen eine andere (oder mehrere gegeneinander), weil die eine die andere ausgebeutet und unterdrückt hatte. Meist drehte sich der Kampf um die Nutzung und Kontrolle der jeweiligen Schlüsselfaktoren in der Produktion und im Verteilungssystem. Ungeachtet all seiner Vielschichtigkeiten schien dem Prekariat ein klares Verständnis dieser Schlüsselfaktoren zu fehlen. Zu den intellektuellen Held_innen des Prekariats zählen Pierre Bourdieu (1998), der den Begriff

›Prekariat‹ in die Diskussion hineinbrachte, Michel Foucault, Jürgen Habermas, sowie Michael Hardt und Tony Negri (2000), deren bahnbrechendes Werk Empire eine Brücke zu Hannah Arendt (1958) schlug. Es bestehen auch Verbindungen zu den Aufständen von 1968, die das Prekariat mit der Frankfurter Schule von Herbert Marcuse und seinem One Dimensional Man (1964) in Zusammenhang bringen.

Eine geistige Befreiung vollzog sich, und es entstand ein Bewusstsein des geteilten Unsicherheitsgefühls. Doch eine einfache Erkenntnis bringt noch keine ›Revolution‹ hervor. Die Verärgerung zeigte noch keine Wirkung, und bisher waren keine politischen Programme oder Strategien entwickelt worden. Der Mangel an programmatischen Reaktionen zeigte sich durch die Suche nach Symbolen und durch den dialektischen Charakter interner Diskussionen und Spannungen innerhalb des Prekariats, die fortbestehen und nicht aufhören werden.

Die Wortführer_innen der Proteste am ›EuroMayDay‹ taten ihr Bestes, um in ihren Schriften, Bildern und Plakaten die existierenden Spaltungen zu verschleiern. Manche betonten die Interessengleichheit von Migrant_innen und anderen (migranti e precarie war eine Botschaft, die ein Plakat am Tag der Arbeit 2008 in Mailand schmückte) sowie die Interessengleichheit von Jüngeren und Älteren, deren Wünsche auf einem Plakat am Tag der Arbeit 2006 in Berlin wohlwollend miteinander verbunden wurden (Doerr, 2006).

Doch als linker Befreiungsbewegung steht es dem Prekariat noch bevor, Angst und sogar erst einmal äußeres Interesse zu erregen. Selbst die begeistertsten Protagonist_innen des Prekariats würden eingestehen, dass die Demonstrationen bisher mehr Schauspiel als Drohung waren und mehr damit zu tun hatten, Individualität und Identität im Rahmen gemeinsamer prekärer Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Soziologisch formuliert drehten sich die öffentlichen Zurschaustellungen um den Stolz prekär lebender Subjekte. Ein Plakat am ›EuroMayDay‹, das für einen Protestmarsch in Hamburg angefertigt worden war, vereinte vier Menschen in auflehnender Pose – eine Reinigungskraft, eine_n Pfleger_in, eine_n Geflüchtete_n oder Migrant_in sowie eine_n sogenannte_n ›Kreativarbeiter_in‹ (vermutlich dem/r Gestalter_in des Plakats ähnlich) – zu einer einzigen Person. Ein besonderer Platz auf dem Plakat kam einer Tragetasche zu, die in einer zur Globalisierung neigenden Welt als Kultsymbol des aktuellen ›Nomadentums‹ gepriesen wurde.

Symbole spielen eine wichtige Rolle. Sie helfen Gruppen, sich zu mehr als einer bloßen Ansammlung fremder Menschen zusammenzuschließen. Sie fördern die Bildung einer Klasse und Identität, die das Bewusstsein gemeinsamer Interessen stärkt und eine Basis für solidarisches Handeln und Geschwisterlichkeit schafft. Der Weg von Symbolen zu politischen Programmen ist Thema dieses Buches. Wenn das Prekariat zum Vermittler einer ›Politik des Himmels‹ heranwachsen soll, muss es von Schauspielerei und bildlichen Emanzipationsdarstellungen zu Forderungen übergehen, die den Staat angreifen statt ihn nur zu verwirren oder zu verärgern.

Auffällig an den Demonstrationen am ›EuroMayDay‹ war ihre Karnevalsatmosphäre mit Salsamusik, Plakaten und Reden, die in Spott und Humor eingebettet waren. Viele der Aktivitäten, die mit dem losen Netzwerk im Hintergrund verbunden waren, hatten keinerlei Strategie und waren anarchisch und draufgängerisch, statt der Gesellschaft zu drohen. In Hamburg erteilte man Demonstrationsteilnehmer_innen Ratschläge, wie die Zahlung von Bustickets oder Kinokarten vermieden werden konnte. 2006 überfiel im Rahmen eines Gags, der in die Folklore der Bewegung eingegangen ist, eine Gruppe 20 junger Leute, die Karnevalsmasken trugen und sich Namen wie Spider Mum, Multiflex, Operaistorix oder Santa Guevara gaben, vormittags einen Feinkostladen und befüllte einen Einkaufswagen mit luxuriösen Lebensmitteln und Getränken. Sie posierten und fotografierten sich, nur um sich schließlich wieder zu verkrümeln, nachdem sie der Kassiererin eine Blume mit einem Zettel ausgehändigt hatten, auf dem stand: ›Wir produzieren Wohlstand, in dessen Genuss wir nicht kommen werden‹. Ihre Aktion war lebensnahe Kunst, die sich den Film Die fetten Jahre sind vorbei zum Vorbild nahm. Die Gruppe, die als Robin-Hood-Gang bekannt geworden ist, ist nie gefasst worden. Sie schrieb einen Internet-Blog und verkündete, dass sie die Lebensmittel an Praktikant_innen verteilt hatte, welche sie als die am stärksten ausgebeuteten und prekärsten Arbeiter_innen der Stadt betrachtete.

Streiche von solchen Gruppen sind kaum dazu geeignet, sich Freunde zu machen oder Einfluss auf die alteingesessene Gesellschaft zu nehmen, rufen aber ähnliche geschichtliche Situationen ins Gedächtnis. Womöglich befinden wir uns in einem Entwicklungsstadium des Prekariats, in dem die Menschen, die sich gegen die Wesensmerkmale des Prekariats auflehnen – prekäre Wohnsituationen, prekäre Arbeit, prekäre Beschäftigungen und prekäre soziale Absicherung – jenen ›primitiven Rebell_innen‹ verwandt sind, die bei allen bedeutenden sozialen Umbrüchen, in deren Verlauf die althergebrachten Ansprüche und Gesellschaftsverträge aufgehoben wurden, in den Vordergrund getreten sind. Wie Eric Hobsbawm (1959) bekanntermaßen würdigte, hat es seit Menschengedenken Leute wie Robin Hood gegeben. Sie erlebten ihre Blütezeit immer dann, wenn die Entwicklung einer einheitlichen politischen Strategie, welche die Interessen der neuen Klasse stärkte, kurz bevorstand.

Die Menschen, die an den Protesten am ›EuroMayDay‹ und ähnlichen Veranstaltungen in anderen Teilen der Welt teilgenommen haben, bilden nur die Spitze des Prekariats. Viel mehr Menschen leben in Angst und in Unsicherheit, und die meisten von ihnen neigen nicht dazu, sich mit den Demonstrationen am ›EuroMayDay‹ zu identifizieren. Doch deswegen gehören sie nicht weniger zum Prekariat. Sie treiben steuerlos und sind womöglich verärgert. Sie könnten sich politisch der extremen Rechten oder extremen Linken zuwenden und populistische Demagog_innen unterstützen, die mit ihren Sorgen und Ängsten spielen.

* * *

Prato, eine Stadt direkt bei Florenz, war 1989 noch fast vollständig italienisch. Über Jahrhunderte war sie ein bedeutendes Manufakturzentrum für Textilien und Bekleidung gewesen. Die meisten ihrer 180.000 Einwohner_innen waren von Generation zu Generation an diese Industrien gebunden. Die toskanische Stadt spiegelte althergebrachte Werte wieder, war politisch stabil nach links gerichtet und schien soziale Solidarität und Besonnenheit zu verkörpern.

1989 kam eine Gruppe von 38 chinesischen Arbeiter_innen nach Prato. Eine neue Art der Bekleidungsindustrie war im Entstehen – im Besitz chinesischer Immigrant_innen sowie einiger weniger Italiener_innen, die Verbindungen zu den Chines_innen hatten. Sie brachten immer mehr chinesische Arbeiter_innen in die Stadt, darunter viele ohne Arbeitsvisum. Sie wurden wahrgenommen, aber toleriert. Sie trugen zum Erblühen der Wirtschaft bei und beanspruchten keinerlei öffentliche Gelder, weil sie keine staatlichen Leistungen erhielten. Sie blieben unter sich und waren in einer Enklave in der Nähe der chinesischen Fabriken eingepfercht. Die meisten stammten aus einer bestimmten Stadt, der Küstenstadt Wenzhou in der Provinz Zhejiang, einer Region mit einer langen Geschichte von Unternehmensmigrationen, und gelangten mithilfe dreimonatiger Touristenvisa über Frankfurt nach Prato. Sie arbeiteten heimlich weiter, nachdem ihre Visa abgelaufen waren, und waren dadurch angreifbar und leicht auszubeuten.

Im Jahr 2008 waren 4.200 chinesische Unternehmen in der Stadt gemeldet, und 45.000 chinesische Arbeiter_innen, ein Fünftel der Gesamteinwohnerzahl (Dinmore, 2010a,b). Sie produzierten täglich eine Million Kleidungsstücke, was (wie Stadtbeamte ausrechneten) in 20 Jahren ausreichen würde, um die gesamte Weltbevölkerung einzukleiden. In der Zwischenzeit entließen ansässige italienische Firmen, die von den Chines_innen unterboten worden und durch die Konkurrenz mit Indien und Bangladesch angeschlagen waren, ihre Arbeiter_innen in Scharen. 2010 beschäftigten sie nur noch 20.000 Arbeiter_innen – 11.000 weniger als im Jahr 2000. Während sie schrumpften, verschoben sie immer mehr Arbeiter_innen von regulären zu prekären Beschäftigungsverhältnissen.

Dann kam der Schock der Finanzkrise, welcher Prato im Grunde genauso traf wie viele andere alte Industrieregionen Europas und Nordamerikas. Die Insolvenzen mehrten sich, die Arbeitslosigkeit stieg, und die Feindseligkeiten wurden widerlich. Innerhalb weniger Monate wurde die politische Linke von der ausländerfeindlichen Lega Nord hinweggefegt. Sie führte umgehend eine Razzia gegen die Chines_innen durch und begann mit nächtlichen Übergriffen auf ihre Fabriken und ›Ausbeuterbetriebe‹, bei denen Massen von Arbeiter_innen festgenommen und an den Pranger gestellt wurden. Zur selben Zeit sprach der politische Verbündete der Lega Nord, Premierminister Silvio Berlusconi, von seiner Entschlossenheit, ›illegale‹ Einwander_innen – die er die ›Armee des Bösen‹ nannte – zu besiegen. Der chinesische Botschafter war erschüttert, eilte nach Rom und sagte, diese Ereignisse erinnerten ihn an die Taten der Nazis in den 1930er Jahren. Die chinesische Regierung schien die Migrant_innen merkwürdigerweise nur widerwillig zurückzunehmen.

Die Probleme wurden nicht nur durch das intolerante Verhalten ansässiger Italiener_innen verursacht, mit Schuld war auch die Beschaffenheit der Enklave. Während Pratos alte Fabriken kämpften, um bei der Konkurrenz mithalten zu können, und es ihren italienischen Arbeiter_innen überließen, sich neue Einkommensquellen zu suchen, bildeten die Chines_innen eine Gemeinschaft in der Gemeinschaft. Berichten zufolge organisierten chinesische Gangs die Auswanderung aus China und führten die Enklave – wenngleich sie mit russischen, albanischen, nigerianischen und rumänischen Gangs und der Mafia um die Kontrolle der Enklave wetteifern mussten. Und sie beschränkten sich nicht auf Prato. Die chinesischen Gangs schufen Allianzen mit chinesischen Unternehmen, um in italienische Infrastrukturprojekte zu investieren, darunter ein geplanter ›chinesischer Umschlagplatz‹ in der Nähe des Hafens von Civitavecchia.

Prato ist zu einem Symbol der Globalisierung wie auch der Zwangslage geworden, die die Ausbreitung des Prekariats verursacht hat. Als die chinesischen Ausbeuterbetriebe wuchsen, verloren italienische Arbeiter_innen ihre proletarische Rolle, und man ließ sie um prekäre Arbeitsplätze kämpfen oder überhaupt keine haben. Überdies wurden die Migrant_innen im Prekariat den Vergeltungsmaßnahmen der Behörden ausgesetzt, während sie in ihrer Enklavengemeinschaft zugleich von zwielichtigen Seilschaften abhängig waren. Prato ist keineswegs ein Einzelfall und verkörpert den Sog der Globalisierung.

Folgen der Globalisierung

Ende der 1970er Jahre erkannte eine Gruppe von Soziolog_innen und Ökonom_innen – ich werde sie nachfolgend ›Liberale‹ oder ›Neoliberale‹ nennen (auch wenn beide Begriffe eigentlich nicht synonym sind) –, dass man ihren Ansichten wieder Gehör schenkte, nachdem man sie jahrzehntelang ignoriert hatte. Die meisten Neoliberalen waren so jung, dass sie weder Narben von der Großen Depression davongetragen hatten noch mit den sozialdemokratischen Projekten verbunden gewesen waren, die nach dem Zweiten Weltkrieg große Teile der Gesellschaft beherrscht hatten.

Der Staat missfiel ihnen, und sie setzten dessen Planungs- und Regulationsapparat mit einer zentralisierten Regierung gleich. Sie betrachteten die Welt als immer offener werdenden Ort, an dem Investitionen, Arbeitsplätze und Einkommen dorthin fließen, wo die besten Bedingungen herrschen. Sie behaupteten: Würden insbesondere die europäischen Länder nicht die Absicherungen rückgängig machen, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg für die industrielle Arbeiterklasse und die Bürokratie des öffentlichen Sektors geschaffen hatten, und die Gewerkschaften nicht ›gezähmt‹ werden, beschleunige sich die Deindustrialisierung (damals ein neuer Begriff ), stiege die Arbeitslosigkeit, ließe das Wachstum der Wirtschaft nach, flössen Investitionen ins Ausland, und die Armut nähme dramatisch zu. Ihre Analyse war ernüchternd. Sie befürworteten einschneidende Maßnahmen und fanden in Politiker_innen wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan Anführer_innen, die ihrer Analyse Folge leisteten.

Das Tragische daran war, dass ihre Analyse teilweise Sinn ergab, ihre Therapie jedoch kaltschnäuzig war. In den folgenden 30 Jahren wurde die Tragödie dadurch verschlimmert, dass sozialdemokratische Parteien – die jene Systeme aufgebaut hatten, zu deren Demontage die Neoliberalen aufriefen – nach einer kurzen Zeit des Widerstands gegen die neoliberale Analyse letzten Endes leider sowohl der Analyse wie auch der Therapie zustimmten.

In den 1980er Jahren kristallisierte sich als neoliberale Forderung unter anderem heraus, dass die Länder ›ihre Arbeitsmärkte flexibel gestalten‹ mussten. Wenn dies nicht geschähe, würden die Arbeitskosten steigen, und die Unternehmen ihre Produktion und ihre Investitionen an Orte verlagern, wo die Kosten geringer wären; dann würde Finanzkapital in diese Länder statt ›ins eigene Land‹ investiert werden. Die Flexibilität hatte viele Dimensionen: Lohnflexibilität bedeutete, Anpassungen an die veränderte Nachfrage zu beschleunigen, vor allem Löhne zu kürzen; Beschäftigungsflexibilität bedeutete, dass Unternehmen ohne viel Aufwand und ohne Kosten die Möglichkeit hatten, die Zahl ihrer Angestellten zu ändern, vor allem zu senken, was zu einer Verringerung der Arbeitsplatzsicherheit und des Arbeitssschutzes führte; Berufsflexibilität bedeutete, die Angestellten innerhalb des Unternehmens hin und her bewegen zu können und die Art der Arbeit mit minimalen Widerständen und Ausgaben zu ändern; und Qualifikationsflexibilität bedeutete, die Eignung der Arbeiter_innen ohne viel Aufwand neu festzustellen.

Im Kern bedeutete jene von den dreisten neoklassischen Ökonom_innen verfochtene Flexibilität einen systematischen Sicherheitsverlust bei den Beschäftigten, der den angeblich notwendigen Preis für die Erhaltung von Investitionen und Arbeitsplätzen darstellte. Jeder Rückschlag der Wirtschaft wurde zum Teil – zu Recht oder Unrecht – auf mangelnde Flexibilität sowie auf mangelnde ›Strukturreformen‹ der Arbeitsmärkte zurückgeführt.

Während die Globalisierung voranschritt, und während Regierungen und Konzerne sich gegenseitig darin übertrafen, die Arbeitsverhältnisse flexibler zu gestalten, stieg die Zahl der Menschen in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen um ein Vielfaches. Die Ursache dafür war keineswegs die technologische Entwicklung. Durch die Ausbreitung flexibler Beschäftigungen wuchs die Ungleichheit, und die der Industriegesellschaft zugrundeliegende Klassenstruktur bereitete den Weg für komplexere Verhältnisse, die aber zweifellos nicht weniger auf Klassen basieren (wir werden später darauf zurückkommen). Die politischen Veränderungen und die Reaktion der Konzerne auf die Diktate der globalisierten Marktwirtschaft leiteten eine weltweite Entwicklung ein, welche weder die Neoliberalen noch die politischen Führungspersonen, die ihre Projekte umsetzten, vorhergesehen hatten.

Millionen Menschen in wohlhabenden und entstehenden Marktwirtschaften wurden in das Prekariat hineingezogen – ein neues Phänomen, auch wenn Verbindungen zu früherer Zeit bestehen. Das Prekariat gehörte nicht mehr zur ›Arbeiterklasse‹ oder zum ›Proletariat‹, denn beide Begriffe deuten eine Gesellschaft an, die größtenteils aus Arbeiter_innen in langfristigen, stabilen Beschäftigungsverhältnissen mit fester Stundenzahl besteht, mit bewährten Beförderungsmöglichkeiten, gewerkschaftlicher Organisation und Lohnvereinbarungen, mit Berufsbezeichnungen, die die Elterngeneration der heutigen Arbeiter_innen noch gekannt hätte, und lokalen Geschäftsführer_innen mit vertrautem Namen und Charakter.

Viele der Menschen, die in das Prekariat hineingezogen werden, kennen ihre Geschäftsführer_innen nicht und wissen auch nicht, wie viele andere zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihnen arbeiten oder künftig arbeiten werden. Genauso wenig gehören sie zur ›Mittelschicht‹, denn sie erhalten keine stabilen oder vorhersehbaren Löhne und verfügen nicht über das Prestige und die Annehmlichkeiten, die Leute aus der Mittelschicht gewöhnlich haben.

Im Laufe der 1990er Jahre fanden sich immer mehr Menschen (nicht nur in ›Entwicklungsländern‹) in Bedingungen wieder, die Entwicklungsökonom_innen und Anthropolog_innen ›informell‹ nennen. Menschen in diesen Verhältnissen würden es wohl nicht als vorteilhaft erachten, sie so zu beschreiben, geschweige denn als Weg, der sie veranlasste, dies bei anderen als alltägliche Art zu leben und zu arbeiten anzusehen. Folglich sind sie kein Teil der Arbeiterklasse oder Mittelschicht und befinden sich auch nicht in ›informellen‹ Verhältnissen. Zu wem also gehören sie? Eine erste Erkenntnis könnte sich anbahnen, wenn wir die Definition gelten lassen, dass sie eine prekäre Existenz führen. Freunde, Verwandte und Kolleg_innen befänden sich zeitweise ebenso in einer solchen Situation, ohne dass man sagen könnte, ob dies in einigen Jahren oder vielleicht nur wenigen Monaten oder Wochen noch der Fall wäre. Oft würden sie eine solche Beschreibung sogar nicht einmal wünschen oder zu geben versuchen.

Eine Definition des Prekariats

Wir können auf zwei Arten definieren, was wir mit ›Prekariat‹ meinen. Zum einen lässt es sich als eine bestimmte sozioökonomische Gruppe beschreiben, sodass man schon per Definition zu ihr gehört oder nicht. Dies ist in bildlichen Darstellungen und Analysen sinnvoll und erlaubt uns die Verwendung von Max Webers ›Idealtypus‹. Demgemäß ließe sich ›Prekariat‹ als neugebildetes Wort betrachten, bei dem das Adjektiv ›prekär‹ mit dem verwandten Subjekt ›Proletariat‹ verknüpft ist. In diesem Buch verwende ich ›Prekariat‹ oft in dieser Bedeutung, obwohl wir dabei auf Grenzen stoßen. Man könnte das Prekariat als eine Klasse auf dem Wege der Entstehung bezeichnen, wenn es nicht sogar schon – in der Marx’schen Bedeutung des Wortes – zu einer eigenen Klasse geworden ist.

Aus der Perspektive sozialer Gruppen (Agrargesellschaften lassen wir hier beiseite) könnten wir sagen, dass das Globalisierungszeitalter zu einer Aufteilung der nationalen Klassenstrukturen geführt hat. Als die Ungleichheiten wuchsen und die Welt auf einen flexiblen und offenen Arbeitsmarkt zusteuerte, sind die Klassen nicht verschwunden; vielmehr entstand eine globale, stärker zersplitterte Klassenstruktur.

›Arbeiterklasse‹, ›Arbeiter‹ und ›Proletariat‹ waren Begriffe, die jahrhundertelang in unsere Kultur eingebettet waren. Die Menschen konnten sich Klassen zurechnen, und andere verstanden sie in dieser Weise – durch die Art sich zu kleiden, sich auszudrücken und sich zu verhalten. Heute sind dies jedoch kaum mehr als wohlklingende Bezeichnungen. 1982 schrieb André Gorz, die ›Arbeiterklasse‹ habe bereits vor langer Zeit ›ihr Ende gefunden‹. Andere haben nicht aufgehört, über die Bedeutung des Begriffs und seine Klassifikationskriterien nachzudenken. Vielleicht benötigen wir ein neues Wort, das die Klassenbeziehungen im globalen Marktsystem des 21. Jahrhunderts widerspiegelt.

Auch wenn in Teilen der Welt die alten Klassen fortbestehen, können wir grob sieben Gruppen voneinander unterscheiden. An der Spitze steht die ›Elite‹ – eine winzige Zahl unfassbar reicher globaler Bürger_innen, die mit ihren Milliarden Dollar über das Universum herrschen und im Magazin Forbes zu den ›Großartigen und Guten‹ gerechnet werden. Sie können überall Regierungen beeinflussen und sich in freigiebigen und menschenfreundlichen Gesten ergehen. Unter dieser Elite stehen die ›Angestellten‹, die nach wie vor über stabile Vollzeitbeschäftigungen verfügen. Manche von ihnen hoffen, in die Elite aufzusteigen, doch die meisten genießen schlicht ihren Status mit Pensionen, bezahltem Urlaub und Unternehmensvergünstigungen, die häufig vom Staat subventioniert werden. Die Angestellten finden sich größtenteils in großen Konzernen, Regierungsbehörden und in der öffentlichen Verwaltung, einschließlich des Beamtenapparates.

Neben der komplexen Gruppe der Angestellten steht die (bislang) kleinere Gruppe der ›professionellen Experten‹, ein Begriff, der die üblichen Begriffe ›Professionelle‹ und ›Experten‹ vereint. Er umfasst all diejenigen, die eine Reihe von Fertigkeiten besitzen, die sie vermarkten können, wobei sie als Sachberater_innen oder unabhängige Arbeiter_innen in eigener Verantwortung auf Grundlage eines Vertrags hohe Einkommen erzielen. Die professionellen Expert_innen gleichen den Freibauern, Rittern und Gutsbesitzern im Mittelalter. Sie leben in der Erwartung und in dem Wunsch umherzuziehen, ohne die Neigung, langfristige Vollzeitbeschäftigungen in einem bestimmten Unternehmen anzunehmen. Das ›übliche Beschäftigungsverhältnis‹ wollen sie nicht.

Im Hinblick auf die Einkommen steht unterhalb der professionellen Expert_innen ein schrumpfender ›Kern‹ handwerklich Tätiger, die den Großteil der früheren ›Arbeiterklasse‹ bildeten. Der Wohlfahrtsstaat wurde mit Rücksicht auf sie errichtet, genauso wie die Systeme der Arbeitsregulation. Die Masse der Industriearbeiter_innen, die die Arbeiterbewegungen bildete, ist jedoch geschrumpft und hat ihren Sinn für soziale Solidarität verloren.

Unterhalb von diesen vier Gruppen steht das wachsende ›Prekariat‹, flankiert von einer Armee Arbeitsloser und einer losgelösten Gruppe sozialpathologischer Außenseiter_innen, die den Bodensatz der Gesellschaft bilden. Die Merkmale dieser zerstückelten Klassenstruktur habe ich an anderer Stelle beschrieben (Standing, 2009). Jetzt wollen wir uns dem Prekariat zuwenden.

Soziolog_innen denken gewöhnlich im Sinne von Max Webers Arten der Hierarchisierung – Klasse und Status –, wobei sich die Klasse auf die Sozialbeziehungen in der Produktion sowie auf die Position im Arbeitsprozess bezieht (Weber, [1922] 1968). In den Arbeitsmärkten wurde die Hauptunterscheidung, außer bei Vorständen und bei Selbstständigen, zwischen Lohnarbeiter_innen und bezahlten Angestellten getroffen. Erstere umfassen Akkordarbeiter_innen und Stundenlohnarbeiter_innen, die mit dem Begriff ›Geld für Anstrengung‹ beschrieben werden können; letztere werden vermutlich durch Vertrauen und Leistungen für ihre Dienste entlohnt (Goldthorpe, 2007, Band 2, Kap. 5; McGovern, Hill und Mills, 2008, Kap. 3). Angestellten sah man stets näher bei Manager_innen, Vorständen und Besitzer_innen, während Lohnarbeiter_innen grundsätzlich entfremdet sind, was zwangsläufig Disziplinierung und Unterordnung sowie verschiedene Leistungsanreize und Sanktionen zur Folge hat.

Im Gegensatz zur Klasse wurde der Begriff des Status mit dem Beruf in Zusammenhang gebracht, wobei Berufe mit höherem Status solche sind, die professionellen Dienstleistungen, der Geschäftsführung und der Verwaltung näherstehen (Goldthorpe, 2009). Eine Schwierigkeit liegt darin, dass innerhalb der meisten Berufe Unterteilungen und Hierarchien herrschen, die mit sehr verschiedenem Status einhergehen.

Wenn wir das Prekariat betrachten, scheitert jedoch die Einteilung in Lohnarbeit und bezahlte Angestellte ebenso wie der Begriff des Berufs. Das Prekariat hat Klasseneigenschaften. Es besteht aus Menschen, die ein minimales Vertrauensverhältnis zu Kapital und Staat haben, was einen großen Unterschied zu den Angestellten darstellt. Zudem verfügt es, im Gegensatz zum Proletariat, nicht über einen Gesellschaftsvertrag, welcher Beschäftigungssicherheit im Austausch für Unterordnung und bedingte Loyalität bot. Ohne Vertrauen und Sicherheit im Austausch für Unterordnung ist das Prekariat in Klassenfragen etwas Eigenes. Zudem verfügt es über eine besondere Statusposition, denn im Grunde lässt es sich nicht in professionelle Berufe mit hohem Status und in Handwerksberufe mit mittlerem Status einteilen. Eine Möglichkeit der Einordnung wäre zu sagen, dass das Prekariat einen ›reduzierten Status‹ aufweist. Wie wir noch sehen werden, fügt sich die Struktur seines ›soziales Einkommens‹ überdies nicht in althergebrachte Vorstellungen über Klassen und Berufe.

Japan veranschaulicht die Schwierigkeiten, auf die man bei einer Untersuchung des Prekariats stößt. Japan wies verhältnismäßig geringe Einkommensunterschiede auf (was es nach Wilkinson und Pickett (2009) zu einem gut funktionierenden Land‹ machte). Im Hinblick auf die Statushierarchie ist die Ungleichheit jedoch gewaltig und wurde durch das wachsende Prekariat verstärkt, dessen wirtschaftliche Notlage durch übliche Messungen der Einkommensungleichheit unterbewertet wird. Hohe Statuspositionen in der japanischen Gesellschaft beinhalten zahlreiche Belohnungen, die soziale und wirtschaftliche Sicherheit ermöglichen und weit mehr wiegen, als allein durch die Geldeinkünfte gemessen werden kann (Kerbo, 2003: 509-12). Dem Prekariat fehlen all diese Belohnungen, und deshalb wird die Einkommensungleichheit massiv unterbewertet.

Der deskriptive Begriff ›Prekariat‹ wurde erstmals in den 1980er Jahren von französischen Soziolog_innen zur Beschreibung von Zeit- und Saisonarbeiter_innen verwendet. Auch wenn wir den Begriff hier in anderer Bedeutung verwenden, ist ein zeitlich begrenzter Beschäftigungsstatus ein zentrales Merkmal des Prekariats. Wir sollten jedoch bedenken, dass zeitlich begrenzte Arbeitsverträge nicht unbedingt dasselbe wie Zeitarbeit sind.

Manche wollen dem Prekariat ein positives Image verleihen und verbinden damit romantische Freidenker_innen, die die Verhältnisse der mit Fließbandarbeit beschäftigten alten Arbeiterklasse ebenso ablehnen wie den bourgeoisen Materialismus der bezahlten Arbeitsplätze höherer Angestellter. Diesen freigeistigen Ungehorsam und die offenherzige Nichtkonformität sollten wir nicht vergessen, denn sie passen ins Bild des Prekariats. Die Kämpfe Jüngerer und Älterer gegen das Diktat der abhängigen Arbeit sind nichts Neues. Etwas Neueres ist, dass ›Ältere‹ prekäre Arbeit und Beschäftigung gutheißen und eine solche Existenz nach einer langen Periode der stabilen Beschäftigung befürworten. Wir werden später darauf zurückkommen.

Die Bedeutung des Begriffs Prekariat hat sich gewandelt und ist in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. In Italien hat precariato eine Bedeutung erlangt, womit mehr als nur diejenigen gemeint sind, die gelegentlichen Beschäftigungen mit niedrigen Einkommen nachgehen. Es meint eine prekäre Existenz als normale Lebensbedingung (Grimm und Ronneberger, 2007). In Deutschland wurde der Begriff nicht nur zur Beschreibung von Zeitarbeiter_innen verwendet, sondern ebenso von Arbeitslosen, die keinerlei Aussicht auf soziale Integration haben. Dies steht Marx’ Begriff des Lumpenproletariats nahe und entspricht nicht der Bedeutung, die in diesem Buch gemeint ist.

In Japan wurde ›Prekariat‹ gleichbedeutend mit ›mittelloser Arbeiterschicht‹ verwendet, obwohl es als eigener Begriff entstand, der mit der japanischen 1.-Mai-Bewegung in Verbindung gebracht wurde, und mit sogenannten ›Gewerkschaften für Teilzeitbeschäftigte‹, die sich aus jungen Aktivist_innen zusammensetzen, die bessere Arbeits- und Lebensbedingungen einfordern (Ueno, 2007; Obinger, 2009). In Japan hat sich eine Gruppe junger Arbeiter_innen, sogenannte ›freeter‹, herausgebildet (ein Begriff, der kurioserweise das englische Wort ›free‹ und das deutsche Wort ›Arbeiter‹ miteinander verbindet) und bezeichnet Menschen, die in Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse gedrängt wurden.

Es wäre unzutreffend, das Prekariat mit der mittellosen Arbeiterschicht oder lediglich mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen gleichzusetzen, obwohl beides damit zusammenhängt. Die Zugehörigkeit zum Prekariat bedeutet auch einen Mangel an stabiler arbeitsbezogener Identität, wobei sich manche Arbeiter_innen in Niedriglohnjobs eine Karriere aufzubauen vermögen. Einige Autor_innen haben diesen Gedanken mit einer mangelnden Kontrolle über die Arbeit in Verbindung gebracht. Dies ist problematisch, da es mehrere Merkmale der Arbeit und Beschäftigung gibt, über die man Kontrolle haben kann – bei der Bildung und dem Einsatz von Qualifikationen, bei der für die Arbeit benötigten Zeit, bei der Zeiteinteilung innerhalb der Arbeit und Beschäftigung, bei der Arbeitsintensität, bei der Ausstattung, bei den Rohmaterialien und weiterem. Es gibt verschiedene Arten der Kontrolle und der kontrollierenden Personen, nicht nur den Einfluss der gewöhnlichen Vorgesetzten und Manager_innen, die über den Arbeiter_innen stehen.

Dass das Prekariat aus Menschen bestehe, die keine Kontrolle über ihre Arbeit oder Beschäftigung haben, wäre zu einschränkend, weil hier stets Zweideutigkeiten herrschen und implizite Verhandlungen über Leistung, Kooperation und die Anwendung der Qualifikationen stattfinden, und dasselbe gilt für das Ausmaß an Sabotage, Diebstahl und Verschwendung. Für eine Beurteilung der Zwangslage des Prekariats sind bestimmte Gesichtspunkte der Kontrolle jedoch von Bedeutung.

Eine vielleicht ebenso interessante Beschreibungsmöglichkeit bezieht sich auf den sogenannten ›Statuskonflikt‹. Wenn Menschen mit verhältnismäßig hoher formaler Bildung Beschäftigungen annehmen müssen, die unterhalb des Status oder Einkommens liegen, die ihnen gemäß ihren Qualifikationen vorschweben, werden sie wahrscheinlich unter Statusfrustration leiden. Dieses Gefühl ist bei jungen Menschen im japanischen Prekariat vorherrschend (Kosugi, 2008).

Für die Zwecke unserer Untersuchung können wir sagen, dass das Prekariat aus Menschen besteht, denen sieben Arten der Sicherheit in ihrer Arbeit fehlen (im Kasten zusammengestellt), die die Sozialdemokrat_innen, Arbeiterparteien und Gewerkschaften als Programm der ›industriellen Bürgerschaft‹ nach dem Zweiten Weltkrieg für die Arbeiterklasse bzw. für das industrielle Proletariat erreichen wollten. Nicht alle im Prekariat würden alle sieben Formen der Sicherheit nennen, doch bei jeder schneiden sie schlecht ab.

Formen der Arbeitersicherheit in der industriellen Bürgerschaft

Sicherheit im Arbeitsmarkt

– Angemessene Einkommensmöglichkeiten; auf makroökonomischer Ebene verkörpert durch die Verpflichtung einer Regierung zur ›Vollbeschäftigung‹.

Beschäftigungssicherheit

– Schutz vor willkürlicher Entlassung, Regeln bei Anstellungen und Entlassungen, Auferlegung von Gebühren für die Geschäftsführung, wenn sie sich nicht an die Regeln hält usw.

Berufssicherheit

– Die Fähigkeit und Möglichkeit, eine Beschäftigungsnische beizubehalten, Grenzen der Ausnutzung von Qualifikationen, Möglichkeiten zur Mobilität ›nach oben‹ im Hinblick auf Status und Einkommen.

Sicherheit am Arbeitsplatz

– Schutz vor Unfällen und Krankheiten am Arbeitsplatz, beispielsweise durch Sicherheits- und Gesundheitsnormen, durch eine Begrenzung der Arbeitszeit, der kontaktarmen Zeit, der Nachtarbeit für Frauen und durch Entschädigungen für Unfälle.

Qualifikationssicherheit

– Die Möglichkeit, Fertigkeiten zu erlangen durch Ausbildungen, Angestelltenfortbildungen usw., und die Möglichkeit, von seinen Fertigkeiten Gebrauch zu machen.

Einkommenssicherheit

– Die Garantie auf ein angemessenes, stabiles Einkommen, beispielsweise durch Mindestlöhne, Lohnbindung, allgemeine Sozialhilfe, progressive Besteuerung zur Minderung der Ungleichheit und als Ausgleich bei niedrigen Löhnen.

Repräsentationssicherheit

– Kollektiver Einfluss am Arbeitsmarkt, beispielsweise durch unabhängige Gewerkschaften oder durch Streikrecht.

In Diskussionen über die heutige Unsicherheit der Arbeiter_innen wird der Beschäftigungsunsicherheit die meiste Beachtung geschenkt – dem Mangel langfristiger Verträge und dem fehlenden Schutz vor Entlassungen. Das ist nachvollziehbar, aber die Berufsunsicherheit ist ebenfalls ein charakteristisches Merkmal des Prekariats.

Der Unterschied zwischen Beschäftigungs- und Berufssicherheit ist entscheidend. Schauen wir uns ein Beispiel an: Zwischen 2008 und 2010 begingen 30 Beschäftigte der Französischen Telekom Selbstmord, woraufhin man einen Außenstehenden zum neuen Geschäftsführer ernannte. Zwei Drittel der 66.000 Beschäftigten verfügten über einen Beamtenstatus mit garantierter Beschäftigungssicherheit. Die Geschäftsführung hatte sie jedoch einer systematischen Berufsunsicherheit ausgesetzt, im Rahmen eines Systems, das ›Zeit zur Bewegung‹ genannt wurde und von ihnen forderte, alle paar Jahre schlagartig Büro und Arbeitsplatz zu wechseln. Der dadurch verursachte Stress erwies sich als Hauptursache für die Selbstmorde. Die Berufssicherheit war hier ausschlaggebend.

Die Berufssicherheit ist auch im öffentlichen Dienst von Bedeutung. Angestellte unterzeichnen Verträge, die ihnen die höchst willkommene Beschäftigungssicherheit verschaffen. Doch sie verpflichten sich ebenfalls, je nach Willkür der Geschäftsführung in andere Positionen versetzt zu werden. In einer Welt des strikten ›Personalmanagements‹ und der funktionellen Flexibilität haben Versetzungen häufig schädliche Auswirkungen auf die Betroffenen.

Ein weiteres Merkmal des Prekariats ist ein prekäres Einkommen und eine Einkommensstruktur, die sich von allen anderen Gruppen unterscheidet. Dies lässt sich am ›Volkseinkommen‹ sehen. Natürlich müssen Menschen überall ein Einkommen haben, um zu überleben. Dies können auch Geldverschiebungen oder Naturaleinkommen sein – das, was eine Person oder ihre Familie produziert. Das Einkommen lässt sich daran messen, was man im Falle des Bedarfs zu verdienen erwartet. Die meisten Menschen in den meisten Gesellschaften haben mehrere Einkommensquellen, doch manche verlassen sich auf eine einzige.

Die Zusammensetzung des Volkseinkommens lässt sich in sechs Teile gliedern. Erstens; die Eigenproduktion – Lebensmittel, Waren und Dienstleistungen, die direkt produziert und konsumiert, gehandelt oder verkauft werden, einschließlich der im eigenen Garten oder auf dem eigenen Stück Land angebauten Lebensmittel. Zweitens; der durch Beschäftigung erhaltene Lohn oder das verdiente Geldeinkommen. Drittens; die Höhe der Unterstützung durch die Familie oder das Gemeinwesen, die häufig in Form informeller gegenseitiger Absicherungsansprüche geleistet wird. Viertens; Unternehmensleistungen, die vielen verschiedenen Gruppen von Angestellten gegeben werden. Fünftens; staatliche Leistungen, darunter Sozialversicherungsleistungen, Sozialhilfe, bedingte Transferleistungen, direkt oder durch Vorgesetzte bezahlte Zuschüsse, und subventionierte soziale Dienstleistungen. Sechstens; private Einkommen, die von Ersparnissen und Investitionen herrühren.

Jedes dieser Elemente kann in mehr oder weniger sichere oder gesicherte Formen unterteilt werden, die ihren vollständigen Wert bestimmen. So können etwa Löhne in Formen eingeteilt werden, die auf langfristigen Verträgen basieren, und in Formen, die variabel oder flexibel sind. Wenn man ein Gehalt erhält, das im darauffolgenden Jahr jeden Monat dasselbe Einkommen abwirft, dann ist das Einkommen im aktuellen Monat wertvoller als dasselbe Geldeinkommen bei einem Gehalt, das von der Laune des Wetters oder vom unbekannten Produktionsplan eines Vorgesetzten abhängt. Desgleichen können staatliche Leistungen in allgemeingültige ›Bürgerrechte‹ und Versicherungsleistungen eingeteilt werden, die von geleisteten Beitragszahlungen abhängen und folglich im Prinzip ›gesichert‹ sind, sowie in eher willkürliche Transferleistungen, die abhängig von unvorhersehbaren Bedingungen entweder verfügbar sein können oder nicht. Unternehmensleistungen können eingeteilt werden in solche, die alle im Betrieb erhalten, solche, die von der Position oder früheren Tätigkeiten abhängen, und in solche, die willkürlich zugeteilt werden. Dasselbe gilt für Leistungen der Gemeinschaft, die in Ansprüche gegenüber Familie und Verwandten eingeteilt werden können, und in solche, die in Zeiten der Bedürftigkeit gegenüber dem größeren Gemeinwesen gelten.

Das Prekariat lässt sich durch die besondere Struktur des Volkseinkommens erkennen, die zu einer Anfälligkeit führt, die die Bedeutung von Geldeinkünften zu einem bestimmten Zeitpunkt weit übersteigt. In einer Zeit der raschen Kommerzialisierung der Wirtschaft eines ›Entwicklungslands‹ merken etwa neue Gruppen, von denen viele in Richtung des Prekariats steuern, dass sie viele der früheren öffentlichen Leistungen verlieren und keine staatlichen oder Unternehmensleistungen mehr erhalten. Sie sind anfälliger als viele mit niedrigem Einkommen, denen frühere Formen öffentlicher Leistungen verbleiben, und anfälliger als Festangestellte mit ähnlichem Geldeinkommen, die jedoch zu einer Reihe staatlicher und Unternehmensleistungen Zugang haben. Ein Merkmal des Prekariats ist nicht die Höhe des Geldeinkommens oder Lohns zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern fehlende öffentliche Unterstützung im Falle der Bedürftigkeit, das Fehlen gesicherter staatlicher oder Unternehmensleistungen und das Fehlen privater Leistungen, um Geldeinkommen zu ersetzen. Die Folgen werden wir im zweiten Kapitel betrachten.

Neben Arbeitssicherheit und sicherem Volkseinkommen fehlt den Menschen im Prekariat eine arbeitsbezogene Identität. Wenn sie einen Arbeitsplatz bekommen, befinden sie sich in Beschäftigungen ohne Karrieremöglichkeiten und ohne ein weitergegebenes soziales Gedächtnis, und fühlen sich keiner Berufsgemeinschaft zugehörig, die geprägt wäre von stabilen Tätigkeiten, ethischen Richtlinien und Verhaltensnormen, Gegenseitigkeit und Geschwisterlichkeit.

Die Menschen im Prekariat fühlen sich keiner solidarischen Berufsgemeinschaft zugehörig, was ihr Gefühl der Entfremdung und Instrumentalisierung bei der Arbeit verstärkt. Aus der prekären Situation hervorgehende Handlungen und Meinungen tendieren zu Opportunismus. Über ihrer Tätigkeit hängt nicht mehr der ›Schatten der Zukunft‹, der ihnen das Gefühl verleihen könnte, dass ihre gegenwärtigen Worte, Handlungen und Emotionen starke und bindende Wirkungen auf ihre langfristigen Beziehungen haben werden. Die Menschen im Prekariat wissen, dass die Zukunft keinen Schatten wirft, und dass ihre Arbeit keine Zukunft hat. Morgen ›rausgeschmissen‹ zu werden wäre keine Überraschung, und Aufzuhören womöglich keine schlechte Entscheidung, wenn eine andere Stelle oder der Beginn einer neuen Tätigkeit winkt.

Dem Prekariat mangelt es an beruflicher Identität, auch wenn einige im Prekariat berufliche Qualifikationen oder Stellen mit schicken Namen haben. Manche fühlen eine gewisse Freiheit, weil sie keinerlei moralischen oder verhaltensmäßigen Verpflichtungen haben, die ihre berufliche Identität bestimmen würden. Die Vorstellung der ›städtischen Nomad_innen‹ und die damit einhergehende Vorstellung von ›Ausländer_innen mit permanenter Aufenthaltserlaubnis‹, die keine vollwertigen Bürger_innen sind, werden wir später betrachten. Genauso wie manche ein Nomadendasein vorziehen und Reisende sein wollen, statt sich niederzulassen, sollten nicht alle im Prekariat als Opfer dargestellt werden. Dennoch fühlen sich die meisten in ihrer Unsicherheit unwohl und haben keine realistische Möglichkeit auf einen Ausweg.

Lohnarbeit, Arbeit, Unterhaltung und Muße

Die historischen Vorläufer des Prekariats waren die banausoi im antiken Griechenland, jene, die für die produktive Arbeit in der Gesellschaft benötigt wurden (im Gegensatz zu den Sklav_innen, die ausschließlich für ihre Besitzer arbeiteten). Die banausoi, die von ihren Obrigkeiten als ›körperlich verkrampft‹ und ›geistig ungebildet‹ bezeichnet wurden, hatten keinerlei Möglichkeit, die soziale Leiter hochzusteigen. Sie arbeiteten Seite an Seite mit den Metöken (ortsansässige Ausländer_innen), anerkannten Handwerker_innen mit eingeschränkten Rechten. Zusammen mit den Sklav_innen verrichteten diese beiden Gruppen die gesamte Arbeit, ohne jegliche Aussicht, irgendwann einmal am Leben der polis teilnehmen zu können.

Die alten Griech_innen verstanden den Unterschied zwischen Arbeit und Lohnarbeit sowie zwischen Unterhaltung und Muße (die sie schole nannten) besser als unsere heutigen politischen Entscheidungsträger_innen. Wer sich abmühte, war kein Bürger. Die Bürger rackerten sich nicht ab; sie gingen der praxis nach, der Arbeit im und um das eigene Haus, mit Familie und Freunden. Es war eine ›reproduktive‹ Tätigkeit, Arbeit um ihrer selbst willen, zur Stärkung persönlicher Beziehungen, die mit der öffentlichen Beteiligung am Leben der Gemeinschaft einherging. Nach unseren Maßstäben war ihre Gesellschaft ungerecht, besonders der Umgang mit den Frauen. Doch sie begriffen, warum es lächerlich ist, alles an der Lohnarbeit zu messen.

Eine These dieses Buches ist, dass eines der Hauptziele des Prekariats bei der Überwindung seiner ›Schattenseite‹ im voranschreitenden 21. Jahrhundert darin besteht, Tätigkeiten zu retten, die keine Lohnarbeit sind, und Muße zu retten, die keine Unterhaltung ist. Im gesamten 20. Jahrhundert lag der Schwerpunkt auf einer Maximierung der Zahl hart arbeitender Menschen, während Arbeit, die keine Lohnarbeit war, verleumdet wurde oder unbeachtet blieb. Das Prekariat soll sich abmühen, sofern und wo immer es nötig ist, und unter Bedingungen, die es größtenteils nicht selbst wählen kann. Und es soll einer Menge Unterhaltung nachgehen. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, wird vom Prekariat außerdem erwartet, dass es viel unbezahlte Arbeit für Lohnarbeit verrichtet, während die Muße des Prekariats als Nebensache abgetan wird.

Verschiedene Formen des Prekariats

Unabhängig davon, wie man das Prekariat definiert – es ist keinesfalls eine homogene Gruppe. Ein Jugendlicher, der ins Internetcafé hinein- und herausrennt, während er mit kurzlebigen Beschäftigungen überlebt, ist nicht in derselben Situation wie ein Migrant, der mithilfe seiner Klugheit überlebt und sich fieberhaft mit anderen zusammenschließt, während ihm die Polizei Sorgen bereitet. Keiner von beiden ist mit einer alleinerziehenden Mutter vergleichbar, die sich sorgt, woher sie das Geld für den nächsten Essensschein bekommen soll, oder mit einem Mann in seinen Sechzigern, der Gelegenheitsjobs annimmt, um einen Teil seiner Arztrechnungen zu bezahlen. Doch sie alle teilen das Gefühl, dass ihre Arbeit nur Mittel zum Zweck ist (um überleben zu können), opportunistisch (nehmen, was kommt) und prekär (unsicher).

Eine Möglichkeit zur Beschreibung des Prekariats ist im Sinne von Unterbürger_innen (›denizen‹). Unterbürger_innen sind Personen, deren Rechte aus bestimmten Gründen eingeschränkter sind als die von Staatsangehörigen. Den Begriff des ›denizen‹ , der bis in die römische Zeit zurückverfolgt werden kann, verwendete man meist für Ausländer_innen, denen man Wohnoder Handelsrechte, aber keine vollen Bürgerrechte gab.

Dieser Gedanke lässt sich weiterführen. Denken wir an die vielen Rechte, die in Anspruch genommen werden können – zivile Rechte (Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht auf Schutz vor Verbrechen und körperlichem Leid), kulturelle Rechte (gleicher Zugang zu kulturellen Vergnügungen und ein Anspruch darauf, sich am kulturellen Leben der Gemeinschaft beteiligen zu können), soziale Rechte (gleicher Zugang zu allen Arten der sozialen Absicherung, einschließlich Rente und Gesundheitsfürsorge), wirtschaftliche Rechte (gleicher Anspruch auf Tätigkeiten zum Geldverdienen) und politische Rechte (gleiches Wahlrecht, das Recht, sich zur Wahl zu stellen und am politischen Leben des Gemeinwesens teilzunehmen). Immer mehr Menschen auf der Welt fehlt mindestens eines dieser Rechte, und folglich zählen sie, wo immer sie leben, zum ›Unterbürgertum‹ statt zum Bürgertum.

Dieser Gedanke könnte auch auf das Leben innerhalb von Konzernen ausgedehnt werden, wobei es verschiedene Typen von Konzernbürger_innen und Konzernunterbürger_innen gibt. Die Angestellten können als Konzernangehörige mit zumindest implizitem Wahlrecht in der Firma betrachtet werden. Dazu gehören eine Reihe von Entscheidungen und Verfahren, die von der anderen Gruppe von Konzernangehörigen, den Anteilseignern und Besitzern, implizit akzeptiert werden, wobei sie eigene explizite Rechte auf strategische Entscheidungen innerhalb der Firma haben. Die übrigen mit den Konzernen verbundenen Menschen – Zeitarbeiter_innen, Gelegenheitsarbeiter_innen, abhängige Vertragsarbeiter_innen und andere – sind Unter-Konzernangehörige mit wenigen Ansprüchen und Rechten.

Im Weltmaßstab betrachtet sind die meisten Unterbürger_innen Migrant_innen der einen oder anderen Art; wir werden sie später betrachten. Eine weitere Kategorie sticht jedoch heraus – die umfangreiche Schicht derer, die kriminalisiert und verurteilt wurden. Im Globalisierungszeitalter wurde eine wachsende Zahl von Aktivitäten als kriminell eingestuft. Mehr Menschen als je zuvor werden verhaftet und ins Gefängnis gesperrt, was zum größten Umfang kriminalisierter Menschen aller Zeiten geführt hat. Ein Teil der gestiegenen Kriminalisierung ist auf geringfügige Verbrechen zurückzuführen, etwa bestimmte Reaktionen auf Sozialhilfepläne, die zu unmoralischen Risiken führen würden – Situationen, in denen Unterprivilegierte Bestrafungen riskieren, wenn sie sich mit der Wahrheit selbst belasten würden, und so mit irgendeiner bürokratischen Regel in Konflikt geraten.

Vorübergehend erwerbslose Arbeiter_innen, migrantische Unterbürger_innen, kriminalisierte Protestierende, Sozialhilfeempfänger_innen und so weiter – es werden mehr. Leider sind die Darstellungen in Arbeits- und Wirtschaftsstatistiken nicht geeignet, die Gesamtzahl der Menschen im Prekariat abzuschätzen, geschweige denn deren Anzahl in den verschiedenen Teilen des Prekariats. Wir sind deshalb gezwungen, uns auf der Grundlage ungefährer Näherungswerte ein Bild zu machen. Schauen wir uns die Hauptgruppen des Prekariats an und beachten wir dabei, dass nicht alle Gruppen nahtlos ineinander übergehen. Ein einzelnes Erkennungsmerkmal ist nicht immer ausreichend, um eine Person dem Prekariat zuzuordnen.

Für den Anfang können wir annehmen, dass die meisten in befristeten Beschäftigungen dem Prekariat nahestehen, denn sie haben unsichere Beziehungen zum Produktionsprozess, bekommen verglichen mit anderen, die eine ähnliche Arbeit verrichten, geringere Löhne, und haben geringere berufliche Möglichkeiten. Die Anzahl der Menschen mit befristeten Bindungen an ihre Arbeit ist im Zeitalter der flexiblen Märkte enorm gestiegen. In Ländern wie beispielsweise Großbritannien haben strenge Definitionen befristeter Arbeit es schwer gemacht, die Zahl derer zu bestimmen, die sich in Jobs ohne Beschäftigungssicherheit befinden. In den meisten Ländern zeigen die Statistiken jedoch, dass Anzahl und Anteil der nationalen Arbeitskräfte in befristeten Verhältnissen in den letzten drei Jahrzehnten stark gestiegen sind. In Japan, wo sich ein Drittel der Arbeitskräfte in befristeten Beschäftigungen befindet, sind die Zahlen rasant gewachsen. In Südkorea ist deren Anteil womöglich am größten; dort befindet sich nach realistischen Schätzungen über die Hälfte aller Arbeiter_innen in befristeten, ›irregulären‹ Beschäftigungen.

Obwohl befristete Beschäftigungen ein Anzeichen dafür sind, dass sich jemand in einer Beschäftigung ohne Karrieremöglichkeiten befindet, gilt dies nicht in jedem Fall. Tatsächlich gehen jene, die wir professionelle Expert_innen nennen, einer projektorientierten Existenz nach, in der sie sich von einem kurzfristigen Projekt zum nächsten bewegen. Längere Beschäftigungen, bei denen dieselben wenigen Aufgaben wieder und wieder verrichtet werden müssen, bieten kaum soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Eine befristete Beschäftigung ist dann in Ordnung, wenn die sozialen Bedingungen befriedigend sind. Werden im globalen Wirtschaftssystem jedoch zahlreiche Menschen in befristeten Beschäftigungen benötigt, dann sollten sich politische Entscheidungsträger_innen für die Ursachen der Prekarisierung interessieren.

Befristete Beschäftigungen sind derzeit ein starkes Anzeichen für eine bestimmte Art der Prekarisierung. Für manche mag es ein Sprungbrett zum Aufbau einer Karriere sein, doch für viele andere könnte es ein Sprungbrett nach unten zu niedrigeren Einkommensverhältnissen bedeuten. Nach einer längeren Periode der Arbeitslosigkeit eine befristete Beschäftigung anzunehmen, wie viele politische Entscheidungsträger_innen fordern, kann langfristig zu geringeren Einkommen führen (Autor und Houseman, 2010). Wenn jemand eine Beschäftigung mit niedrigerem Status annimmt, verringert sich die Chance auf einen sozialen Aufstieg oder ein ›angemessenes‹ Einkommen dauerhaft. Die Annahme eines Gelegenheitsjobs mag für viele notwendig sein, doch die soziale Mobilität wächst dadurch wahrscheinlich nicht.

Ein weiterer Weg ins Prekariat sind Teilzeitbeschäftigungen – ein raffinierter Euphemismus, der zu einem Merkmal unserer tertiären Wirtschaft geworden ist und im Gegensatz zur Industriegesellschaft steht. In den meisten Ländern ist Teilzeitarbeit so definiert, dass sie eine Beschäftigung oder Bezahlung für weniger als 30 Stunden in der Woche bedeutet. Es wäre treffender, dies als sogenannte Teilzeitarbeit zu bezeichnen, denn viele, die eine Teilzeitbeschäftigung wählen oder dazu gezwungen sind, stellen fest, dass sie länger arbeiten müssen als gedacht und nicht ausreichend dafür bezahlt werden. Teilzeitarbeiter_innen, in vielen Fällen Frauen, die die Karriereleiter nach unten steigen, werden am Ende womöglich stärker ausgebeutet und müssen viel unbezahlte Arbeit für Lohnarbeit außerhalb ihrer bezahlten Zeit verrichten. Zudem müssen sie sich stärker ›selbst ausbeuten‹, weil sie zusätzlich arbeiten müssen, um sich bestimmte Marktnischen offenzuhalten.

Der Anstieg von Teilzeitbeschäftigungen war dabei behilflich, das Ausmaß an Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung zu verschleiern. In Deutschland etwa hat die Verschiebung von immer mehr Menschen in ›Minijobs‹ die Illusion hoher Beschäftigung aufrechterhalten und manche Ökonom_innen törichterweise dazu veranlasst, nach dem Zusammenbruch des Finanzsystems von einem deutschen Beschäftigungswunder zu sprechen.

Weitere Kategorien, die sich mit dem Prekariat überschneiden, sind ›unabhängige Vertragsarbeiter_innen‹ sowie ›abhängige Vertragsarbeiter_innen‹. Sie zählen nicht zum Prekariat, denn viele Vertragsarbeiter_innen verfügen über gewisse Sicherheiten und über eine ausgeprägte berufliche Identität. Man denke dabei an selbstständige Zahnärzt_innen oder Steuerberater_innen. Doch die Einteilung in abhängige und unabhängige Vertragsarbeiter_innen hat allen möglichen Anwält_innen im Arbeitsrecht Kopfschmerzen bereitet. Es wurde endlos darüber diskutiert, wie man zwischen Anbieter_innen von Diensten und Anbieter_innen von Dienstarbeit unterscheiden könne, wie auch zwischen jenen, die von irgendwelchen Vermittler_innen abhängig sind, und jenen, die versteckte Beschäftigte sind. Letztlich sind Einteilungen willkürlich und abhängig von den Ansichten über Kontrolle, Unterordnung und der Bindung an andere ›Marktteilnehmer_innen‹. Dennoch sind diejenigen, die bei Aufgabenzuweisungen von anderen abhängig sind und wenig Kontrolle darüber haben, stärker gefährdet, ins Prekariat abzustürzen.

Eine weitere, mit dem Prekariat in Verbindung stehende Gruppe sind die wachsenden Menschenmassen in Call-Centern. Sie sind allgegenwärtig – ein unheilvolles Symbol der Globalisierung, des elektronischen Lebens und der entfremdeten Arbeit. 2008 zeigte der britische Channel 4 eine Fernsehdokumentation mit dem Titel ›Raserei am Telefon‹, die beiderseitige Missverständnisse zwischen jungen Call-Center-Mitarbeiter_innen und wütenden Kund_innen hervorhob. Der Sendung zufolge verbringen Brit_innen durchschnittlich einen vollen Tag im Jahr mit Anrufen bei Call-Centern, und der Zeitaufwand wächst weiter.

Des Weiteren gibt es das merkwürdige moderne Phänomen der Praktikant_innen: Frische Hochschulabsolvent_innen, Student_innen und selbst junge Leute vor dem Studium, die eine Zeit lang bei geringer oder keiner Bezahlung arbeiten und unbedeutende Bürotätigkeiten verrichten. Einige Französische Autor_innen haben Prekariat und Praktikant_innen gleichgesetzt. Das ist zwar unzutreffend, spiegelt aber das mit diesem Phänomen verbundene Unbehagen wider.

Praktika stellen ein mögliches Vehikel dar, um junge Leute ins Prekariat zu lenken. Einige Regierungen haben sogar Praktikumspläne als eine ›aktive‹ Arbeitsmarktpolitik in Gang gesetzt, um die Arbeitslosigkeit zu verschleiern. In Wirklichkeit sind Versuche zur Förderung von Praktikumsplätzen jedoch kaum mehr als kostspielige, ineffiziente Subventionspläne. Sie verursachen hohe Verwaltungskosten und nutzen Menschen dazu aus, etwas von wenig bleibendem Wert zu tun – weder für die Organisationen noch für die Praktikant_innen selbst. Nichtsdestoweniger herrscht viel Gerede darüber, die Leute an ein geordnetes Leben und an Weiterbildungen im Beruf zu gewöhnen. Wir werden uns später mit dieser Frage befassen.

Zusammengefasst besteht eine Möglichkeit zur Betrachtung des Prekariats darin, zu verstehen, wie Menschen dazu gebracht werden, unsichere Formen der Arbeit zu verrichten, die ihnen wahrscheinlich nicht beim Aufbau der gewünschten Identität oder Karriere helfen werden.

Prekarisierung

Ein weiterer Weg, das Prekariat zu betrachten, ist die Art und Weise, wie Menschen ›prekarisiert‹ werden. Dieses unschöne Wort ist mit ›proletarisiert‹ vergleichbar und beschreibt die Ursachen, die im 19. Jahrhundert zur Proletarisierung der Arbeiter_innen führten. Prekarisiert zu sein bedeutet, Gegenstand des Drucks und der Erfahrungen zu sein, die zu einer prekären Existenz führen, in der Gegenwart zu leben, ohne eine feste Identität oder einen Sinn für die Entwicklung zu haben, die durch Arbeit und den Lebensstil erreicht werden können.

In diesem Sinne driftet ein Teil der Angestellten ins Prekariat. Der Fall der berühmten ›japanischen Büroangestellten‹ ist beispielhaft. Diese Arbeiter_innen des 20. Jahrhunderts, die eine lebenslange Anstellung in einem bestimmten Unternehmen hatten, entwickelten sich durch ein höchst paternalistisches Modell des Arbeitens, das bis Anfang der 1980er Jahre Bestand hatte. In Japan (und anderen Ländern) kann sich der goldene Käfig leicht in einen bleiernen verwandeln: eine enorme Beschäftigungssicherheit führt dazu, dass die Außenwelt zu einem Angstgebiet wird. Eben dies geschah in Japan und anderen ostasiatischen Ländern, die ein ähnliches Modell übernommen hatten. Aus dem Unternehmen oder der Organisation auszuscheiden wurde zu einem sichtbaren Zeichen des Versagens, zu einem Prestigeverlust. Unter diesen Bedingungen bereitet das Verfolgen persönlicher Entwicklung leicht den Weg für eine kleinliche Politik der Unterwürfigkeit gegenüber denjenigen, die in der internen Hierarchie und bei opportunistischen Machenschaften höher stehen.

Dies wurde in Japan auf die Spitze getrieben. Unternehmen wurden zu einer fiktiven Familie, wodurch die Angestelltenbeziehung zu einem ›Verwandtschaftsvertrag‹ wurde, bei dem der Chef die Angestellten ›adoptierte‹ und als Gegenleistung eine beinahe geschenkte Unterwürfigkeitsbeziehung erwartete, kindlichen Gehorsam und Jahrzehnte intensivster Arbeit. Das Ergebnis war eine Kultur der Überstunden und der äußersten Aufopferung, karoshi – Tod durch Überstunden (Mouer und Kawanishi, 2005). Doch seit Anfang der 1980er Jahre ist der Anteil der japanischen Arbeitskräfte unter den Angestellten dramatisch zurückgegangen. Wer trotzdem daran festhält, steht unter Druck, und viele werden durch jüngere Arbeiter_innen oder durch Frauen ersetzt, die keine vergleichbaren Beschäftigungssicherheiten haben. Das Prekariat verdrängt die ›Büroangestellten‹, deren Leid sich durch einen erschreckenden Anstieg von Selbstmorden und sozialen Erkrankungen offenbart.

Die Verwandlung der japanischen Büroangestellten mag ein Extremfall sein, doch lässt sich daran erkennen, wie Menschen, die psychisch in Langzeitbeschäftigungen gefangen sind, die Kontrolle verlieren und immer weiter in Richtung einer prekären Abhängigkeit treiben. Wenn die ›Eltern‹ unzufrieden oder nicht fähig oder gewillt sind, ihre fiktive Elternrolle fortzusetzen, gerät man ins Prekariat, ohne die Fähigkeit zur Selbstständigkeit und ohne Entwicklungsmöglichkeiten. Langzeitarbeit kann zum Verlust von Qualifikationen führen. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Standing, 2009), war dies einer der negativsten Aspekte des ›Zeitalters der Lohnarbeit‹.

Auch wenn man sich in Acht nehmen muss, die Definition nicht zu überspannen, besteht ein weiteres Merkmal der Prekarisierung in dem, was wir fiktive berufliche Mobilität nennen könnten, die durch das postmoderne Phänomen der ›beschönigenden Berufsbezeichnung‹ verdeutlicht wird und vom Economist elegant parodiert wurde (2010a). Wer sich in einer statischen Beschäftigung ohne Aufstiegsmöglichkeiten befindet, bekommt einen wohlklingenden Titel, um die prekäre Tendenz zu verschleiern. So werden sie ›Vorgesetzte‹, ›Führungskräfte‹ oder ›leitende Angestellte‹, ohne dass sie eine Armee unter sich hätten, die sie führen, oder eine Gruppe, die sie leiten. Die US-Berufsbehörde, die sich bezeichnenderweise den aufgeblasenen Titel ›Internationale Vereinigung der Verwaltungsexperten‹ gibt (früher bescheidener ›Vereinigung der Sekretäre‹), berichtet, dass sich in ihrem Netzwerk 500 verschiedene Berufsbezeichnungen befanden, darunter ›Empfangs-Koordinator‹, ›elektronischer Dokumentexperte‹, ›Mediendistributionsdirektor‹ (Papierjunge/-mädchen), ›Recyclingdirektor‹ (Abfallentleerer) oder ›Sanitärberater‹ (Toilettenreiniger). Die Vereinigten Staaten haben kein Monopol auf den Einfallsreichtum bei der Namensgebung; es geschieht überall. In Frankreich erhalten Reinigungsfrauen inzwischen zunehmend den prestigeträchtigeren Titel techniciennes de surface (›Oberflächentechnikerinnen‹).

Die Zeitung The Economist führte die Ausweitung neuer Berufsbezeichnungen auf die Rezession nach 2008 zurück, wozu sie auch die Einführung neuer schicker Titel bei Lohnerhöhungen zählte, und ebenso die zunehmende interne Komplexität multinationaler Konzerne. Doch dies ist nicht nur ein moderner Ausbruch von Überspitzungen. Es symbolisiert die Ausweitung des Prekariats, bei der fiktive Symbole der beruflichen Mobilität und persönlichen Entwicklung die Sterilität der Arbeit verschleiern müssen. Stumpfsinnige Beschäftigungsstrukturen werden durch aufgeblasene Bezeichnungen verborgen. The Economist stellte es schön dar: