Probleme der Völkerpsychologie - Wilhelm Wundt - E-Book

Probleme der Völkerpsychologie E-Book

Wilhelm Wundt

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Beschreibung

Dieses Werk stammt aus dem Jahre 1921 und gehört zu Wundts wichtigsten Schriften. Inhalt: Vorwort zur ersten Auflage. Vorwort zur zweiten Auflage. I. Ziele und Wege der Völkerpsychologie. l. Die Aufgabe der Völkerpsychologie. 2. Das Programm einer historischen Prinzipienwissenschaft. 3. Die Hauptgebiete der Völkerpsychologie. 4. Völkerpsychologische Streitfragen. II. Zum Ursprung der Sprache. Schallnachahmungen und Lautmetaphern. III. Der Einzelne und die Volksgemeinschaft. 1. Der lndividualismus in Sage und Geschichte. 2. Der Ursprung der Völkerpsychologie. 3. Kritik der Einwürfe gegen die Völkerpsychologie. 4. Der Individualismus in der neueren Sprachwissenschaft. 5. Naturhistorische Analogien zur Sprachgeschichte. 6. Die Nachahmungstheorie. IV. Pragmatische und genetische Religionspsychologie. l. Die pragmatische Philosophie. 2. Die pragmatische Religionsphilosophie. 3. Die Rezeption des Pragmatismus durch die deutsche Theologie. 4. Die genetische Religionspsychologie. V. Völkerpsychologie und Entwicklungspsychologie. 1. DieVölkerpsychologie: Wort und Begriff. 2. Der Entwicklungsgedanke und die Entwicklungspsychologie. 3. Die psychologische Analyse. 4. Der Begriff des Gesetzes in der Psychologie. 5. Genetische und kausale Interpretation. 6. Das Assimilationsproblem und der Fluß des psychischen Geschehens. 7. Systematische und genetische Betrachtung geistiger Vorgänge und Entwicklungen. 8. Die Völkerpsychologie als Teil einer allgemeinen Entwicklungspsychologie. VI. Die Zeichnungen des Kindes und die zeichnende Kunst der Naturvölker.

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Probleme der Völkerpsychologie

Wilhelm Wundt

Inhalt:

Wilhelm Wundt – Biografie und Bibliografie

Probleme der Völkerpsychologie

Vorwort zur ersten Auflage.

Vorwort zur zweiten Auflage.

I. Ziele und Wege der Völkerpsychologie.

l. Die Aufgabe der Völkerpsychologie.

2. Das Programm einer historischen Prinzipienwissenschaft.

3. Die Hauptgebiete der Völkerpsychologie.

4. Völkerpsychologische Streitfragen.

II. Zum Ursprung der Sprache.

Schallnachahmungen und Lautmetaphern.

III. Der Einzelne und die Volksgemeinschaft.

1. Der lndividualismus in Sage und Geschichte.

2. Der Ursprung der Völkerpsychologie.

3. Kritik der Einwürfe gegen die Völkerpsychologie.

4. Der Individualismus in der neueren Sprachwissenschaft.

5. Naturhistorische Analogien zur Sprachgeschichte.

6. Die Nachahmungstheorie.

IV. Pragmatische und genetische Religionspsychologie.

l. Die pragmatische Philosophie.

2. Die pragmatische Religionsphilosophie.

3. Die Rezeption des Pragmatismus durch die deutsche Theologie.

4. Die genetische Religionspsychologie.

V. Völkerpsychologie und Entwicklungspsychologie.

1. DieVölkerpsychologie: Wort und Begriff.

2. Der Entwicklungsgedanke und die Entwicklungspsychologie.

3. Die psychologische Analyse.

4. Der Begriff des Gesetzes in der Psychologie.

5. Genetische und kausale Interpretation.

6. Das Assimilationsproblem und der Fluß des psychischen Geschehens.

7. Systematische und genetische Betrachtung geistiger Vorgänge und Entwicklungen.

8. Die Völkerpsychologie als Teil einer allgemeinen Entwicklungspsychologie.

VI. Die Zeichnungen des Kindes und die zeichnende Kunst der Naturvölker.

Probleme der Völkerpsychologie, Wilhelm Wundt

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849625306

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Wilhelm Wundt – Biografie und Bibliografie

Namhafter Philosoph, geb. 16. Aug. 1832 zu Neckarau in Baden, verstorben am 31. August 1920 in Großbothen bei Leipzig. Studierte seit 1851 in Heidelberg, Tübingen und Berlin Medizin, habilitierte sich 1857 als Privatdozent für Physiologie in Heidelberg, erhielt 1865 eine außerordentliche Professur daselbst, ging 1874 als ordentlicher Professor der Philosophie nach Zürich und folgte 1875 einem Ruf nach Leipzig, wo er ein Institut für experimentelle Psychologie gegründet hat und leitet, nach welchem Muster viele ähnliche Institute eingerichtet worden sind. Als Physiolog wesentlich von Problemen des animalen Lebens angezogen, gewann W. durch seine Arbeiten über die dem Wollen, Empfinden und Erkennen dienenden und dasselbe bedingenden Nerven, Muskeln und Sinne eine solide Grundlage für die Spekulation auf psychologischem und erkenntnistheoretischem Gebiet, auf der er mit anerkanntem Erfolg weitergebaut hat und baut. Er gehört, wie Joh. Müller und Helmholtz, zu denjenigen Physiologen, die auf dem Boden exakt naturwissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente dem philosophischen Postulat Kants nach Kritik unsrer Erkenntnismittel Genüge zu leisten streben. Als Philosoph hat er sich um die Einführung der induktiven Methode in bisher rein philosophische Wissenschaften (Logik, Ethik), insbes. aber um die Psychologie durch exakte Messungsversuche (z. B. der Zeit, deren ein Sinnenreiz bedarf, um zur Empfindung zu werden) verdient gemacht. Er vertritt in der Psychologie den Voluntarismus und betont besonders die Apperzeption; seine Metaphysik läuft auf Voluntarismus, wenn auch in andrer Weise als die Schopenhauersche, hinaus. In der Ethik lehrt er den Evolutionismus, wobei er einen Gesamtwillen anerkennt. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: »Die Lehre von der Muskelbewegung« (Braunschw. 1858); »Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung« (Leipz. 1862); »Lehrbuch der Physiologie des Menschen« (Erlang. 1864. 4. Aufl. 1878); »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele« (Leipz. 1863, 2 Bde.; 4. Aufl. in 1 Bd., Hamb. 1906; engl. von Creighton und Titchener, Lond. 1896); »Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren« (Erlang. 1871–76, 2 Tle.); »Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip« (das. 1866); »Handbuch der medizinischen Physik« (das. 1867); »Grundzüge der physiologischen Psychologie« (Leipz. 1874; 6. Aufl. 1908, 3 Bde.; Gesamtregister von Wirth, 1903); »Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart« (das. 1874); »Über den Einfluß der Philosophie auf die Erfahrungswissenschaften« (das. 1876); »Logik« (Stuttg. 1880 bis 1883, 2 Bde.; 3. Aufl. 1906–07); »Essays« (Leipz. 1885, 2. Aufl. 1906); »Ethik« (Stuttg. 1886; 3. Aufl. 1903, 2 Bde.); »System der Philosophie« (Leipz. 1889; 3. Aufl. 1907, 2 Bde.); »Grundriß der Psychologie« (das. 1896, 8. Aufl. 1907; engl. von Judd, 3. Aufl. 1907); »Völkerpsychologie«, Bd. 1: Die Sprache (1. u. 2. Teil, Leipz. 1900; 2. Aufl. 1904), Bd. 2: Mythus und Religion (1905–06, 2 Tle.); »Einleitung in die Philosophie« (das. 1901, 4. Aufl. 1906). Auch gab er von 1883–1902 »Philosophische Studien« (Leipz.) heraus, welche Arbeiten Wundts (z. B. »Über die Messung psychischer Vorgänge«, »Über die Definition der Psychologie«, »Über naiven und kritischen Realismus«) und seiner Schüler hauptsächlich zur experimentellen Psychologie und Erkenntnislehre enthalten. Seit 1905 gibt er »Psychologische Studien« heraus, in denen die experimentelle Psychologie in rein theoretischem Interesse gepflegt wird. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen II«. Vgl. Vannérus, Vid studiet at Wundts psykologi (Stockh. 1896); König, Wilhelm W., seine Philosophie und Psychologie (Stuttg. 1900); Eisler, Wundts Philosophie und Psychologie in ihren Grundlehren (Leipz. 1902) und die Festschrift zum 70. Geburtstag Wundts (Bd. 19 u. 22 der »Philosophischen Studien«, das. 1902).

Probleme der Völkerpsychologie

Vorwort zur ersten Auflage.

    Der erste der vier Aufsätze, die diese Sammlung vereinigt, enthält in wenig veränderter Form ein im Jahre 1886 verfaßtes Programm, das über die Aufgaben einer nach dem hier entworfenen Plane auszuarbeitenden Völkerpsychologie Rechenschaft zu geben suchte. Er ist im vierten Bande der von mir herausgegebenen "Philosophischen Studien" abgedruckt und erscheint hier ergänzt durch einige Zusätze und durch einen auf die folgenden Beiträge überleitenden Schlußabschnitt. Der zweite und dritte Aufsatz sind erweiterte Umarbeitungen kritischer Entgegnungen, von denen die eine in der Beilage der Münchener Allgemeinen Zeitung vom Jahre 1907 Nr. 40, die andere vor kurzem in den "Indogermanischen Forschungen" Bd. 28 veröffentlicht wurde. Beide Arbeiten suchen die in jenen Entgegnungen berührten Fragen, darunter besonders den in der dritten erörterten Streit individualistischer und kollektivistischer Gesellschaftstheorien unter allgemeinere psychologische Gesichtspunkte zu bringen. Den vierten Aufsatz darf ich vielleicht eine Schutzschrift zugunsten der deutschen Psychologie gegenüber dem in theologischen Kreisen gegenwärtig vielgepriesenen amerikanisch - englischen Pragmatismus nennen. Die vier Abhandlungen zusammen möchten die allgemeine Stellung der Völkerpsychologie zu den historischen Geisteswissenschaften an einigen Problemen der Sprachwissenschaft und der Religionsphilosophie, die zugleich Hauptprobleme der Völkerpsychologie sind, beleuchten.

Leipzig, l. Februar 1911.

W. Wundt.

Vorwort zur zweiten Auflage.

    Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen zur Völkerpsychologie war seit einer Reihe von Jahren vergriffen. Mein Vater hatte bereits eine zweite Auflage vorbereitet und bestimmt, daß sie um die zwei Aufsätze V und VI vermehrt werden sollte. Von diesen Aufsätzen erschien der erste, "Völkerpsychologie und Entwicklungspsychologie" im zehnten Bande der von meinem Vater herausgegebenen Psychologischen Studien, der zweite, "Die Zeichnungen des Kindes und die zeichnende Kunst der Naturvölker" in der Johannes Volkelt zum siebzigsten Geburtstag dargebrachten Festschrift.

Jena, im März 1921.

.

I. Ziele und Wege der Völkerpsychologie.

l. Die Aufgabe der Völkerpsychologie.

    Daß neue Wissensgebiete oder, da es solche im strengsten Sinn des Wortes wohl nicht gibt, neue Formen wissenschaftlicher Betrachtung eine Zeitlang um ihre Existenz kämpfen müssen, ist nicht nur begreiflich, sondern vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad nützlich. Empfängt doch die neu aufstrebende Disziplin auf diese Weise den wirksamsten Antrieb, durch tatsächliche Errungenschaften sich ihre Stellung zu sichern und durch die Auseinandersetzung mit Nachbargebieten ihre wirklichen Aufgaben klarer zu erfassen, indem die etwa zu weit gehenden Ansprüche ermäßigt und die berechtigten schärfer begrenzt werden.

    So haben wir im Laufe des 19. Jahrhunderts die vergleichende Anatomie von der Zoologie, die Sprachwissenschaft von der Philologie, die Anthropologie von den anatomisch - physiologischen Wissenschaften und von der Ethnologie sich ablösen sehen. Noch haben selbst diese jetzt anerkannten Gebiete nicht überall feste Gestalt gewonnen. In der Darstellung sieht man die vergleichende Anatomie zumeist immer noch die Wege des zoologischen Systems gehen. Die Sprachforscher sind, so unzweifelhaft das Objekt ihrer Untersuchungen zu sein scheint, doch über dessen Stellung zu anderen Gegenständen geschichtlicher Forschung keineswegs allgemein einig. Die Anthropologie vollends hat erst seit kurzer Zeit die Naturgeschichte und die von ihr untrennbare Urgeschichte des Menschen als ihr spezifisches Arbeitsfeld in Anspruch genommen. Immerhin erfreuen sich alle diese Gebiete heute schon eines verhältnismäßig gesicherten Besitzstandes. Mögen die Ansichten über ihre Bedeutung und Aufgabe schwanken, – über ihre Existenzberechtigung und relative Selbständigkeit herrscht kaum mehr ein Zweifel.

    Ganz anders ist das bei derjenigen Wissenschaft, deren Namen man heute oft genug nennen hört, ohne daß sich immer ein klarer Begriff mit ihm verbände, bei der Völkerpsychologie. Seit geraumer Zeit sind die Gegenstände, die man unter ihr zu begreifen pflegt, die Kulturzustände, Sprachen, Sitten, religiösen Vorstellungen der Völker, nicht bloß Aufgaben besonderer Wissenszweige, wie der Kultur- und Sittengeschichte, der Sprachwissenschaft und Religionsphilosophie, sondern man hat auch längst das Bedürfnis empfunden, diese Gegenstände in ihrer allgemeinen Beziehung zu der Natur des Menschen zu untersuchen, und sie haben daher zumeist einen Bestandteil anthropologischer Betrachtungen gebildet. So hat besonders Prichard in seinem jetzt veralteten, aber für die Anthropologie epochemachenden Werke  den seelischen Merkmalen der Rassen und Völker die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Da jedoch die Anthropologie diese Merkmale nur mit Rücksicht auf ihre genealogische und ethnologische Bedeutung untersucht, so bleibt dabei ein Gesichtspunkt unbeachtet, unter dem alle jene geistigen Erscheinungen, die an das Zusammenleben der Menschen gebunden sind, betrachtet werden können, der psychologische. Wie es nun die Aufgabe der Psychologie ist, den Tatbestand des individuellen Bewußtseins zu beschreiben und in bezug auf seine Elemente und Entwicklungsstufen in einen erklärenden Zusammenhang zu bringen, so muß unverkennbar auch die analoge genetische und kausale Untersuchung jener Tatsachen, die zu ihrer Entwicklung die geistigen Wechselbeziehungen der menschlichen Gesellschaft voraussetzen, als ein Objekt psychologischer Forschung angesehen werden.

    In diesem Sinne haben in der Tat Lazarus und Steinthal die Völkerpsychologie der individuellen Psychologie gegenübergestellt. Sie sollte eine Ergänzung und notwendige Fortführung der letzteren sein und so mit ihr zusammen erst die gesamte Aufgabe der psychologischen Forschung erschöpfen. Da nun aber alle die Einzelgebiete, mit deren Problemen sich hierbei die Völkerpsychologie noch einmal beschäftigt, die Sprachwissenschaft, die Mythologie, die Kulturgeschichte in ihren verschiedenen Verzweigungen, selber bereits bemüht sind, die psychologischen Entwicklungsbedingungen der geistigen Tatsachen zu ermitteln, so wird dadurch die Stellung der Völkerpsychologie zu diesen Einzelgebieten eine einigermaßen fragwürdige, und es regt sich das Bedenken, ob nicht für die Arbeit, die sie sich vorsetzt, überall schon anderweitig gesorgt sei. Betrachten wir, um dieses Bedenken zu prüfen, zunächst das Programm etwas näher, das Lazarus und Steinthal ihrer, der Sammlung völkerpsychologischer Arbeiten bestimmten "Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft" vorausgeschickt haben .

    Dies Programm ist in der Tat so umfassend wie möglich. Nicht nur Sprache, Mythus, Religion und Sitte, sondern auch Kunst und Wissenschaft, die Entwicklung der Kultur im allgemeinen und in ihren einzelnen Verzweigungen, ja selbst das geschichtliche Werden und Vergehen der einzelnen Völker, sowie die Geschichte der ganzen Menschheit sollen Objekte dieser Zukunftswissenschaft sein. Das Ganze ihrer Untersuchungen soll aber in zwei Teile zerfallen: in einen abstrakten, der die allgemeinen Bedingungen und Gesetze des Volksgeistes ohne Rücksicht auf die einzelnen Völker und ihre Geschichte zu erörtern habe, und in einen konkreten, der die einzelnen, wirklich existierenden Volksgeister und ihre besonderen Entwicklungsformen charakterisieren soll. Das Ganze der Völkerpsychologie wird so wieder in eine "völkergeschichtliche Psychologie" und eine "psychologische Ethnologie" geschieden.

    Lazarus und Steinthal haben die naheliegenden Einwände, die sich gegen dieses Programm erheben lassen, keineswegs übersehen. Zunächst weisen sie die Behauptung zurück, daß alle jene Probleme, die sich die Völkerpsychologie stelle, in der Geschichte und ihren einzelnen Zweigen bereits ihre Erledigung fänden. Der Gegenstand zwar sei der Völkerpsychologie mit diesen Gebieten gemeinsam, nicht aber die Art der Betrachtung. Die Geschichte der Menschheit sei "Darstellung der gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes"; sie verzichte auf die Darlegung der in dem geschichtlichen Werden waltenden Gesetze. Wie die beschreibende Naturgeschichte der Ergänzung bedürfe durch die erklärende Naturlehre, Physik, Chemie und Physiologie, so bedürfe daher die Geschichte als eine Art Naturgeschichte des Geistes der Ergänzung durch eine Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit, und dies eben sei die Völkerpsychologie. Insoweit die Historiker, insbesondere Kulturhistoriker, Philologen, Sprachforscher, ein psychologisches Verständnis der von ihnen untersuchten Tatsachen zu gewinnen suchen, liefern sie schätzbare Vorarbeiten; aber es bleibe immer noch die Aufgabe, aus den so gewonnenen Tatsachen allgemeine Gesetze zu finden, und hierzu sei erst die Völkerpsychologie berufen.

    Diese Ausführungen, welche die Berechtigung und Selbständigkeit der Völkerpsychologie dartun sollen, sind gewiß geeignet, ihrerseits die schwersten Bedenken zu erwecken. Ich bezweifle, daß die Vertreter der Geschichte und der verschiedenen anderen Geisteswissenschaften mit der hier ihnen zugedachten Rolle zufrieden sein werden. Im Grunde ist all ihr Tun doch nur dazu bestimmt, einer künftigen Völkerpsychologie Handlangerdienste zu leisten. In der Tat entspricht die Arbeitsteilung, die vorgeschlagen wird, um der Völkerpsychologie ihr Gebiet zu sichern, nicht den wirklichen Verhältnissen. Wohl ist alle Geschichte, wenn man will, "Darstellung der gewordenen Wirklichkeit im Reiche des Geistes". Aber nimmermehr kann eine solche Darstellung auf die Kausalerklärung des Geschehens Verzicht leisten. Neben der umfassenden Berücksichtigung der äußeren Naturbedingungen befleißigt sich daher jede historische Disziplin der psychologischen Interpretation. Ob es freilich jemals gelingen wird, "Gesetze des geschichtlichen Geschehens" von ähnlichem Charakter wie die Naturgesetze zu finden, mag füglich bezweifelt werden. Wenn dies aber möglich sein sollte, so würde sich ganz gewiß der Historiker nicht das Recht nehmen lassen, sie aus der umfassenden Kenntnis der Tatsachen selbst abzuleiten. Der Vergleich mit der Naturgeschichte ist schon deshalb hinfällig, weil die Gegenüberstellung einer bloß beschreibenden und einer erklärenden Bearbeitung des nämlichen Tatbestandes heute wohl von keinem Naturforscher mehr als richtig zugestanden wird. Zoologie, Botanik, Mineralogie wollen nicht minder wie Physik, Chemie und Physiologie die Objekte ihrer Untersuchung erklären und so viel als möglich in ihren kausalen Beziehungen begreifen. Der Unterschied liegt vielmehr darin, daß jene es mit der Erkenntnis der einzelnen Naturobjekte in ihrem wechselseitigen Zusammenhang, diese mit der Erkenntnis der allgemeinen Naturvorgänge zu tun haben. Einigermaßen ließe sich daher mit diesen abstrakteren Disziplinen die allgemeine Sprachwissenschaft, die vergleichende Mythologie oder die Universalgeschichte in Parallele bringen, mit jenen konkreteren die systematische Untersuchung der Einzelsprachen, der einzelnen Mythologien und die Geschichte der Einzelvölker. Doch drängt sich auch hier die Bemerkung auf, daß Gebiete von so verschiedener Natur ihre besonderen Existenzbedingungen besitzen, die eigentlich jede Vergleichung unzutreffend machen.

    Dies verrät sich im vorliegenden Fall besonders in dem viel innigeren Zusammenhang der allgemeinen mit den speziellen Disziplinen der Geisteswissenschaften. Die einzelnen Sprachentwicklungen, Mythologien und Völkergeschichten bilden so unveräußerliche Bestandteile der allgemeinen Sprachwissenschaft, Mythologie und Geschichte, daß beide einander, insbesondere aber die allgemeinen die konkreten Disziplinen voraussetzen. Man kann ein tüchtiger Physiker oder Physiologe sein, ohne in Mineralogie und Zoologie besonders eindringende Kenntnisse zu besitzen, wohl aber fordert hier das konkrete Gebiet die Kenntnis des allgemeinen. Man kann dagegen kein allgemeiner Sprachforscher und Universalhistoriker sein ohne eine gründliche Kenntnis der einzelnen Sprachen und der einzelnen Teile der Geschichte, – ja, hier ist weit eher das Gegenteil des vorigen Falles möglich: die Forschung im einzelnen kann bis zu einem gewissen Grade der Hilfe der allgemeinen Grundlagen entbehren. In der Entwicklung des geistigen Lebens bildet eben das Einzelne in viel unmittelbarerer Weise einen Bestandteil des Ganzen als in der Natur. Zerfällt diese in eine Menge von Objekten, die als solche neben den allgemeinen Gesetzen ihrer Entstehung und Veränderung Gegenstände selbständiger Betrachtung sein müssen, so trennt sich die geistige Entwicklung in jedem ihrer Hauptgebiete immer nur in eine große Zahl von Einzelentwicklungen, die integrierende Bestandteile des Ganzen bilden. Darum bleiben der Stoff und die Art der Betrachtung die nämlichen in den Einzelgebieten wie in den allgemeinen Wissenschaften, die sich auf ihnen aufbauen. Der schon in der Naturwissenschaft unzutreffende Gegensatz einer bloß beschreibenden und einer erklärenden Untersuchung der Erscheinungen wird somit hier ganz und gar hinfällig. Wo es sich nur um Unterschiede des Umfangs, nicht des Inhalts der untersuchten Objekte handelt, da kann auch von Verschiedenheiten der wesentlichen Methode oder der allgemeinen Aufgabe nicht mehr die Rede sein. Diese letztere besteht überall nicht bloß in der Schilderung der Tatsachen, sondern zugleich in der Nachweisung ihres Zusammenhanges und, so weit dies nur immer möglich ist, in ihrer psychologischen Interpretation. Wo also hier die Völkerpsychologie mit ihrer Arbeit eintreten möchte: sie findet aller Orten schon die Einzelforschung am Werk, diese Arbeit selber zu leisten.

    Immerhin könnte man denken, daß in einer Beziehung noch eine Lücke bleibe, die der Ausfüllung durch eine besonders geartete Forschung bedürfe. Jede einzelne der historischen Wissenschaften verfolgt den Prozeß des geschichtlichen Werdens nur in einer einzelnen Richtung des geistigen Lebens. So sind Sprache, Mythus, Kunst, Wissenschaft, Staatenbildungen und äußere Schicksale der Völker gesonderte Objekte verschiedener Geschichtswissenschaften. Sollte es nun nicht notwendig sein, alle diese einzelnen Strahlen des geistigen Lebens gleichsam in einem einzigen Brennpunkte zu sammeln, die Resultate aller jener Entwicklungen noch einmal zum Gegenstand einer sie vereinigenden und vergleichenden geschichtlichen Betrachtung zu machen? In der Tat ist das eine Aufgabe, die man auch bisher nicht ganz übersehen hat. Teils hat die allgemeine Geschichte selbst das Bedürfnis empfunden, die verschiedenen Momente der Kultur und Sitte in ihre Schilderung aufzunehmen. Besonders aber ist eine derartig zusammenfassende Betrachtung stets als die wahre Aufgabe einer Philosophie der Geschichte angesehen worden. Auch Lazarus und Steinthal verkennen die nahe Beziehung, in der das Programm ihrer Völkerpsychologie zu den Aufgaben einer Geschichtsphilosophie steht, keineswegs; aber sie sind der Meinung, man habe hierbei immer nur eine übersichtliche und räsonierende Darstellung des geistigen Inhalts, eine Art Quintessenz der Geschichte zu geben versucht und nie sein Augenmerk auf die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung gerichtet . Ich weiß nicht, ob der Vorwurf in dieser Allgemeinheit berechtigt ist. Sowohl Herder wie Hegel, an die wir doch zunächst denken werden, wenn von Philosophie der Geschichte die Rede ist, haben sich bemüht, bestimmte Gesetze der Entwicklung in dem allgemeinen Verlauf der Geschichte nachzuweisen. Wenn sie nach unserer heutigen Meinung zu einem befriedigenden Ergebnisse nicht gelangt sind, so lag dies nicht daran, daß sie keinen Versuch der Verallgemeinerung von Gesetzen gemacht haben, sondern an der Unvollkommenheit oder Zweckwidrigkeit der Hilfsmittel und Methoden, deren sie sich bedienten, also an Bedingungen, die im Grunde jedes Unternehmen auf einem so schwierigen Gebiete zu einem mehr oder weniger transitorischen machen. Wenn jene Geschichtsphilosophen aber insbesondere nicht bestrebt waren, rein psychologische Gesetze der historischen Entwicklung aufzustellen, so waren sie dabei vielleicht nicht im Unrecht, da die psychischen Kräfte immerhin nur eines der Elemente abgeben, die für den Kausalzusammenhang der Geschichte in Betracht kommen. Denn hier spielen namentlich auch die schon von Herder so sehr hervorgehobenen und von Hegel über Gebühr mißachteten Naturbedingungen sowie die mannigfachen äußeren Einflüsse, welche die Kultur mit sich führt, eine wichtige Rolle.

2. Das Programm einer historischen Prinzipienwissenschaft.

    Sollen wir nun angesichts solcher Bedenken der Völkerpsychologie überhaupt ihre Berechtigung absprechen? Gehören, wie es nach diesen Erörterungen scheinen könnte, ihre Probleme durchgehends in andere Wissensgebiete, so daß eine selbständige Aufgabe für sie nicht mehr übrig bleibt? In der Tat ist diese Folgerung gezogen worden. Insbesondere hat derselben Hermann Paul in seinem verdienstvollen Buche "Prinzipien der Sprachgeschichte" Ausdruck gegeben. Die Gesichtspunkte, von denen aus er zu dieser Ansicht gelangt, sind aber zum Teil andere als die oben geltend gemachten.

    Paul geht in seinen Erörterungen von einer Zweiteilung aller Wissenschaften in Gesetzeswissenschaften und in Geschichtswissenschaften aus . Die ersteren zerfallen in Naturlehre und Psychologie, die letzteren in die historischen Naturwissenschaften und die historischen Kulturwissenschaften. Den Gesetzeswissenschaften sei der Begriff der Entwicklung völlig fremd, ja mit ihrem Begriffe unvereinbar; in den Geschichtswissenschaften sei im Gegenteil der Begriff der Entwicklung der alles beherrschende. Dieser Gegensatz beider Gebiete fordere nun aber seine Ausgleichung in einer zwischen ihnen stehenden Wissenschaft, der Geschichtsphilosophie oder Prinzipienwissenschaft. Was Lazarus und Steinthal als Aufgabe der Völkerpsychologie hinstellen, das ist daher nach Paul eben die Aufgabe der Prinzipienwissenschaft, die sich nach ihm in ebenso viele Zweige trennt, als es einigermaßen voneinander gesonderte Gebiete historischer Entwicklung gibt. Das Bestreben aller dieser Prinzipienwissenschaften müsse dahin gerichtet sein nachzuweisen, wie unter der Voraussetzung konstanter Kräfte und Verhältnisse dennoch eine Entwicklung möglich sei. Weil es nur individuelle Seelen gibt, so kann es nach Paul auch nur eine individuelle Psychologie geben. In der an die Verbindung der Individuen gebundenen Kulturentwicklung können keine Kräfte frei werden, die nicht in der einzelnen Seele schon vorhanden sind, und es können daher auch in dieser Entwicklung keine Gesetze zur Geltung kommen, die nicht in der einzelnen Seele schon wirksam sind.

    Die Möglichkeit dieses letzten auf die Nichtexistenz einer mythologischen Volksseele gegründeten Einwandes ist nun freilich auch schon von Lazarus und Steinthal nicht übersehen worden. Eine "Psyche des Volkes" im eigentlichen Sinne des Wortes, meinen sie, sei undenkbar. Aber auch für die individuelle Psychologie – so wird dieser selbsterhobene Einwand sofort widerlegt – sei "die Erkenntnis der Seele, d. h. der Substanz und Qualität derselben, keineswegs das Ziel oder auch nur das Wesentliche ihrer Aufgabe". Diese bestehe vielmehr in der "Darstellung des psychischen Prozesses und Progresses, also in der Entdeckung der Gesetze, nach denen jede innere Tätigkeit des Menschen vor sich geht, und in der Auffindung der Ursachen und Bedingungen jedes Fortschrittes und jeder Erhebung in dieser Tätigkeit". Die Psychologie selbst wird daher von den Verfassern auch als "Geisteslehre" bezeichnet, während die "Seelenlehre" vielmehr ein Teil der Metaphysik oder Naturphilosophie sei, sofern man unter "Seele" das Wesen oder die Substanz der Seele an sich, unter "Geist" die Tätigkeit der Seele und deren Gesetze verstehe. In diesem Sinne könne zwar nicht von einer Volksseele, wohl aber von einem Volksgeiste ganz ebenso wie vom individuellen Geiste geredet werden, und es stelle sich hiermit die Völkerpsychologie der Individualpsychologie vollkommen gleichberechtigt zur Seite .

    Selten ist wohl von einem Anhänger des substantiellen Seelenbegriffs dessen völlige Unbrauchbarkeit für die psychologische Erklärung unzweideutiger zugestanden worden, als es in diesen Worten der beiden Herbartianer geschieht. Bezeichnenderweise wird die Frage nach der Seelensubstanz aus der Psychologie in die Naturphilosophie verwiesen, die ja in Wahrheit die eigentliche Quelle dieses Begriffes ist, die ihn aber doch sicherlich nicht aus eigenem Bedürfnis gebildet hat, sondern nur weil sie meinte, damit der Psychologie einen Dienst zu leisten. Wird diese Hilfe, wie es hier geschieht, zurückgewiesen, so ist nicht abzusehen, welche Bedeutung jener Begriff überhaupt besitzen soll . Immerhin sieht man, wie gewaltig hier noch der Einfluß metaphysischer Standpunkte bleibt. Lazarus und Steinthal haben tatsächlich die Herbartsche Grundvoraussetzung verlassen, und nur dadurch ist es ihnen möglich geworden zur Idee einer Völkerpsychologie zu kommen. Hermann Paul kehrt zur korrekten Auffassung Herbarts zurück, und da es für diesen nur eine Individualpsychologie geben kann, so spricht er folgerichtig der Völkerpsychologie ihr Recht auf Existenz ab. Aber Lazarus und Steinthal behalten merkwürdigerweise, obgleich sie den Standpunkt Herbarts im Prinzip verlassen, doch dessen einzelne Voraussetzungen bei: sie reden zwar von Entwicklungsprozessen auch in der individuellen Seele, gleichwohl legen sie allen ihren Erklärungen die Herbartsche Idee eines Vorstellungsmechanismus zugrunde, der eigentlich alle Entwicklung ausschließt. Wenn die sämtlichen psychischen Prozesse von den niedersten bis zu den höchsten und der einförmigen Wiederholung der nämlichen Vorstellungsmechanik beruhen, so müssen die Bedingungen jeder Entwicklung konsequenterweise in äußere zufällige Wechselwirkungen mit der Naturumgebung verlegt werden. So hat denn auch Herbart ganz im Geiste seiner Grundvoraussetzung angenommen, der Unterschied zwischen Mensch und Tier beruhe schließlich nur auf den Unterschieden der körperlichen Organisation und auf den Rückwirkungen, die diese auf die Seele ausübe. Nirgends kommt deutlicher als in diesen Folgerungen der unbewußte Materialismus, der jener ganzen Seelenmetaphysik zugrunde liegt, zum Vorschein. Auch in diesem Punkte bleibt nun Paul der Herbartschen Lehre treu. Die Psychologie ist ihm "Gesetzeswissenschaft", und als solcher ist Entwicklung ein ihr fremder Begriff. Die abstrakten Gesetze, die sie findet, gehen aller geistigen Entwicklung voran: diese ist überall erst ein Produkt der Ku1tur, d. h. der Wechselwirkungen jener Gesetze mit äußeren materiellen Bedingungen und Einflüssen. Mit den Produkten dieser Wechselwirkungen hat es aber die geschichtliche Betrachtung zu tun.

    Dennoch wird auch Paul kaum dem Zugeständnis, das Lazarus und Steinthal bereits der psychologischen Untersuchung gemacht haben, entgehen können, daß jene Gesetze, in deren Feststellung ihre Aufgabe als Gesetzeswissenschaft bestehen soll, nicht irgendeinem von außen herbeigeholten Seelenbegriff, sondern der inneren Erfahrung selber entnommen werden müssen. Dann wird aber, wie dies jene Forscher bereits eingeräumt, zum eigentlichen Objekt der Psychologie lediglich der Tatbestand des psychischen Geschehens. Die Seele im Sinne der psychologischen Untersuchung ist kein außerhalb dieses Tatbestandes gelegenes Wesen mehr, sondern sie ist dieser Tatbestand selber; mit anderen Worten: jene Unterscheidung zwischen Seele und Geist, die ohnehin schon die erstere aus der Psychologie in die Metaphysik oder gar in die Naturphilosophie verwiesen hatte, wird für die Psychologie völlig gegenstandslos. Nennt sie das Objekt ihrer Untersuchung, dem alten Sprachgebrauch folgend, Seele, so ist diese Seele eben nichts anderes als die Gesamtheit aller inneren Erlebnisse. Nun gibt es unzweifelhaft unter diesen Erlebnissen solche, die stets einer großen Zahl von Individuen gemeinsam sind, ja für viele psychische Erzeugnisse, wie die Sprache, die mythischen Vorstellungen, ist diese Gemeinschaft geradezu eine Lebensbedingung ihrer Existenz. Es bleibt daher nicht abzusehen, warum wir nicht vom Standpunkte des oben bezeichneten aktuellen Seelenbegriffs aus diese gemeinsamen Vorstellungsbildungen, Gefühle und Strebungen mit demselben Rechte als Inhalt einer Volksseele ansehen, wie wir unsere eigenen Vorstellungen und Gemütserregungen als den Inhalt unserer individuellen Seele betrachten, oder warum wir etwa jener Volksseele weniger Realität als unserer eigenen Seele beilegen sollen.

    Nun wird man freilich entgegnen, die Volksseele bestehe doch immer nur aus den einzelnen Seelen, die an ihr teilnehmen; sie sei nichts außerhalb der letzteren, und alles, was sie erzeuge, führe darum mit Notwendigkeit auf die Eigenschaften und Kräfte der individuellen Seele zurück. Aber wenn auch selbstverständlich zuzugeben ist, daß die Vorbedingungen zu allem, was eine Gesamtheit hervorbringt, schon. in den Mitgliedern derselben gelegen sein müssen, so ist damit doch keineswegs gesagt, daß diese Erzeugnisse auch aus jenen Vorbedingungen vollständig erklärbar sind. Vielmehr ist zu erwarten, daß die Koexistenz einer Vielheit gleichartiger Individuen und die Wechselwirkung, die sie mit sich führt, als eine neu hinzutretende Bedingung auch neue Erscheinungen mit eigentümlichen Gesetzen hervorbringen wird. Diese Gesetze werden zwar niemals mit den Gesetzen des individuellen Bewußtseins in Widerstreit treten können, aber sie werden darum doch in den letzteren ebensowenig schon enthalten sein, wie etwa die Gesetze des Stoffwechsels der Organismen in den allgemeinen Affinitätsgesetzen der Körper enthalten sind. Auf psychologischem Gebiete kommt hier sogar noch das besondere Moment hinzu, daß für alle unsere Beobachtung die Realität der Volksseele eine ebenso ursprüngliche ist, wie die Realität der Einzelseelen, und daß daher der Einzelne nicht nur an den Wirkungen des Ganzen teilnimmt, sondern fast in noch höherem Maße von der Entwicklung des Ganzen, dem er angehört, abhängt. So fallen beispielsweise die logischen Verbindungen der Vorstellungen schon in das Gebiet individual - psychologischer Untersuchung. Aber es ist einleuchtend, diese Verbindungen sind von der Existenz der Sprache und der in ihr geschehenden Gedankenbildung so gewaltig beeinflußt, daß es vergeblich sein würde, von den Wirkungen solcher Einflüsse bei der Untersuchung des individuellen Bewußtseins zu abstrahieren. Darum bleibt, sofern man sich nur auf den Standpunkt der Tatsachen stellt und von allen für die Untersuchung doch völlig unnützen metaphysischen Hypothesen absieht, der Völkerpsychologie vollständig ihr Recht gewahrt. Im allgemeinen werden die in ihr zu behandelnden Probleme zwar die Individualpsychologie voraussetzen, dagegen wird sie in gar mancher Beziehung ihrerseits wieder, insbesondere bei den komplexen geistigen Vorgängen, auf die Erklärung der individuellen Bewußtseinserscheinungen einen Einfluß gewinnen müssen.

    Doch es ist nicht bloß jenes metaphysische Vorurteil, welches der Anerkennung der neuen psychologischen Disziplin im Wege zu stehen scheint, sondern noch zwei andere mehr tatsächliche Gründe werden von Paul in ähnlichem Sinne geltend gemacht. Erstens ist alle Wechselwirkung der Individuen und darum alle Kultur von physischen Einflüssen mitbedingt; deshalb können die kulturgeschichtlichen Gebiete nicht gleichzeitig Objekte einer rein psychologischen, d. h. nur den seelischen Vorgängen zugewandten Betrachtung sein. Zweitens ist alle Kulturgeschichte Entwicklung, die Psychologie aber ist Gesetzeswissenschaft, sie hat nur die auf allen Entwicklungsstufen gleichförmig wirksamen geistigen Gesetze festzustellen, nicht die Entwicklung selbst zu verfolgen oder gar abzuleiten.

    Gleichwohl kann ich auch diesen beiden Einwänden keine Berechtigung zugestehen, und zwar deshalb, weil der Begriff von Psychologie, der ihnen zugrunde liegt, wie ich meine, ein irriger ist. Zunächst soll diese Psychologie die Gesetze des geistigen Lebens, wie sie an sich selbst sind, also unabhängig von allen physischen Einflüssen feststellen. Aber wo gibt es denn ein geistiges Geschehen, das von solchen Einflüssen unabhängig, oder das ohne alle Rücksicht auf diese in seinem kausalen Zusammenhang zu begreifen wäre? Von den einfachen Sinnesempfindungen und Sinneswahrnehmungen an bis zu den verwickeltsten Denkprozessen ist unser seelisches Leben an jene Beziehungen zur physischen Organisation gebunden, die wir, solange wir uns auf dem Boden empirisch-psychologischer Betrachtung bewegen, doch wahrlich in nicht anderem Sinne als physische Einwirkungen auffassen müssen, wie wir etwa die Kulturentwicklung in ihren verschiedenen Verzweigungen auf Wechselbeziehungen des geistigen Lebens mit äußeren Naturbedingungen zurückzuführen suchen. Eine Seelenmechanik, welche die Vorstellungen als imaginäre Wesen behandelt, die ihren von physischen Einflüssen völlig unberührten Gesetzen der Bewegung und Hemmung unterworfen sind, ist eine völlig transzendente Wissenschaft, die mit der wirklichen Psychologie, d. h. mit derjenigen, die den Tatbestand des psychischen Geschehens in seinen Bedingungen und Wechselbeziehungen zu begreifen strebt, nichts als den Namen gemein hat.

    Nur aus der nämlichen Vorstellung einer imaginären Seelenmechanik heraus, die sich zur wirklichen Psychologie ebenso verhält wie das metaphysische Luftschloß einer Welt an sich zur wirklichen Naturlehre, begreift sich auch der zweite Einwand: die Psychologie sei "Gesetzeswissenschaft", und darum sei ihr der Begriff der Entwicklung fremd, ja er stehe mit ihr im Widerspruch. Es mag sein, daß er mit dem Seelenbegriff, der dieser psychologischen Anschauung als Folie dient, im Widerspruch steht. Aber steht er auch im Widerspruch mit dem wirklichen Seelenleben, wie es uns in seiner durch psychologische Hypothesen unverfälschten Gestalt in den Tatsachen des individuellen Bewußtseins entgegentritt? Ist hier nicht wiederum alles Entwicklung, von der Bildung der einfachsten Sinneswahrnehmungen an bis zu der Entstehung der verwickeltsten Gefühls- und Gedankenprozesse? Hat auch die Psychologie, soweit sie es vermag, diese Erscheinungen auf Gesetze zurückzuführen, so darf sie doch nimmermehr solche Gesetze von den Tatsachen der geistigen Entwicklung selber loslösen. Einer Psychologie, die dies zustande brächte, wäre schließlich ihr eigentlicher Gegenstand abhanden gekommen. Wir dürfen nie vergessen, daß die "Gesetze", die wir für ein Gebiet von Tatsachen aufstellen, nur so lange eine Berechtigung besitzen, als sie diese Tatsachen wirklich in einen erklärenden Zusammenhang bringen. Gesetze, die dies nicht leisten, sind nicht mehr Förderungsmittel, sondern Hemmnisse der Erkenntnis. Welche der Tatsachen des individuellen wie des allgemeinen geistigen Lebens wäre aber bedeutsamer als eben die der Entwicklung?

    Auch hier hat, wie ich glaube, die sachgemäße Auffassung der Verhältnisse, wie so oft, unter der Anwendung unzutreffender Analogien notgelitten. Indem man die Mechanik und abstrakte Physik als die Urbilder betrachtet, denen jede erklärende Wissenschaft nacheifern müsse, läßt man die Verschiedenheit der Bedingungen, unter denen die Gebiete stehen, außer Acht. Wenn die Psychologie in methodischer Beziehung überhaupt mit irgendeiner Naturwissenschaft verglichen werden kann, so kommt ihr sicherlich die Physiologie, und zwar, insofern wir von menschlicher Psychologie reden, die Physiologie des Menschen, viel näher als jene aus der Untersuchung der allgemeinsten und völlig unveränderlichen Eigenschaften der Körperwelt hervorgegangenen Gebiete. Kein Physiologe wird aber zugeben, daß die Frage der Entwicklung des Lebens und seiner Funktionen nicht vor das Forum der Physiologie gehöre, und daß nicht schließlich nach "Gesetzen" gesucht werden müsse, die über diese Entwicklung Rechenschaft geben. Ich meine, was für die Physiologie unbestreitbar ist, das trifft für die Psychologie in noch höherem Maße zu. Bei den physiologischen Vorgängen läßt sich immerhin in manchen Fällen, wo es sich nur um das Verständnis eines gegebenen Mechanismus oder Chemismus innerhalb des lebenden Körpers handelt, von der genetischen Frage abstrahieren. Auf psychologischem Gebiete ist geradezu alles in den Fluß jenes nie rastenden geistigen Werdens gestellt, das im Gebiete des geschichtlichen Werdens in anderen Formen sich äußern mag, aber in seinen Grundbedingungen schließlich doch übereinstimmt, weil alle geschichtliche Entwicklung in den Grundtatsachen geistiger Entwicklung, die im individuellen Leben hervortreten, ihre Quelle hat. Wenn es hier jemals gelingen soll, die Tatsachen unter Gesetze zu bringen, so werden diese daher nie als zureichende gelten können, wenn sie nicht zu einem großen Teile selbst den Charakter von Entwicklungsgesetzen besitzen.

    Die Psychologie verhält sich hier nicht anders als jede andere Geisteswissenschaft. Auch die Sprachwissenschaft verzichtet ja, obgleich ihr Objekt fortwährend dem Fluß geschichtlicher Entwicklung unterworfen ist, keineswegs auf die Formulierung empirischer Gesetze. Ob solche Verallgemeinerungen ein engeres oder weiteres Umfangsgebiet besitzen, ist schließlich ein für das Wesen der Sache gleichgültiger Umstand. Die empirischen Gesetze, welche die Sprachwissenschaft findet, sind aber in letzter Instanz samt und sonders Entwicklungsgesetze. Die Gesetze des Lautwandels z. B. stellen fest, wie sich der Lautbestand einer Sprache oder Sprachengruppe im Laufe der Zeit verändert hat. Die Gesetze der Formbildung bestimmen, wie die sprachlichen Formen geworden sind und wie sie sich umgewandelt haben. Wenn die Psychologie gewisse Regelmäßigkeiten des inneren Geschehens als "Gesetze" bezeichnet, die dieses Moment des Werdens nicht unmittelbar erkennen lassen, so bilden diese in Wahrheit nur eine scheinbare Ausnahme. Sie verhalten sich ebenso wie jene grammatischen Gesetze, bei denen man von dem Werden der sprachlichen Laute und Formen abstrahiert, um den Organismus einer gegebenen Sprache in einem bestimmten, als ruhend gedachten Zustande darzustellen, oder wie jene Gesetze der Physiologie, denen man lediglich die im entwickelten menschlichen Organismus vorkommenden Verhältnisse zugrunde legt. So sind gewisse Assoziations- und Apperzeptionsgesetze für eine bestimmte Bewußtseinsstufe von relativ allgemeingültiger Art. Aber jene Stufe selbst steht inmitten einer langen Entwicklungsreihe, und ein psychologisches Verhältnis der für sie geltenden Gesetze wird stets die Erkenntnis der niederen Formen des Geschehens voraussetzen, aus denen sie sich entwickelt haben.