Erlebtes und Erkanntes - Wilhelm Wundt - E-Book

Erlebtes und Erkanntes E-Book

Wilhelm Wundt

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Dies ist die Autobiographie des 1920 bei Leipzig verstorbenen Physiologen und Psychologen, der sich sehr stark dem Segment der experimentellen Psychologie widmete.

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Erlebtes und Erkanntes

Wilhelm Wundt

Inhalt:

Wilhelm Wundt – Biografie und Bibliografie

Erlebtes und Erkanntes

Vorwort.

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

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28.

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33.

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37.

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39.

40.

41.

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43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

Erlebtes und Erkanntes, Wilhelm Wundt

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849625283

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Wilhelm Wundt – Biografie und Bibliografie

Namhafter Philosoph, geb. 16. Aug. 1832 zu Neckarau in Baden, verstorben am 31. August 1920 in Großbothen bei Leipzig. Studierte seit 1851 in Heidelberg, Tübingen und Berlin Medizin, habilitierte sich 1857 als Privatdozent für Physiologie in Heidelberg, erhielt 1865 eine außerordentliche Professur daselbst, ging 1874 als ordentlicher Professor der Philosophie nach Zürich und folgte 1875 einem Ruf nach Leipzig, wo er ein Institut für experimentelle Psychologie gegründet hat und leitet, nach welchem Muster viele ähnliche Institute eingerichtet worden sind. Als Physiolog wesentlich von Problemen des animalen Lebens angezogen, gewann W. durch seine Arbeiten über die dem Wollen, Empfinden und Erkennen dienenden und dasselbe bedingenden Nerven, Muskeln und Sinne eine solide Grundlage für die Spekulation auf psychologischem und erkenntnistheoretischem Gebiet, auf der er mit anerkanntem Erfolg weitergebaut hat und baut. Er gehört, wie Joh. Müller und Helmholtz, zu denjenigen Physiologen, die auf dem Boden exakt naturwissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente dem philosophischen Postulat Kants nach Kritik unsrer Erkenntnismittel Genüge zu leisten streben. Als Philosoph hat er sich um die Einführung der induktiven Methode in bisher rein philosophische Wissenschaften (Logik, Ethik), insbes. aber um die Psychologie durch exakte Messungsversuche (z. B. der Zeit, deren ein Sinnenreiz bedarf, um zur Empfindung zu werden) verdient gemacht. Er vertritt in der Psychologie den Voluntarismus und betont besonders die Apperzeption; seine Metaphysik läuft auf Voluntarismus, wenn auch in andrer Weise als die Schopenhauersche, hinaus. In der Ethik lehrt er den Evolutionismus, wobei er einen Gesamtwillen anerkennt. Von seinen Schriften sind hervorzuheben: »Die Lehre von der Muskelbewegung« (Braunschw. 1858); »Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung« (Leipz. 1862); »Lehrbuch der Physiologie des Menschen« (Erlang. 1864. 4. Aufl. 1878); »Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele« (Leipz. 1863, 2 Bde.; 4. Aufl. in 1 Bd., Hamb. 1906; engl. von Creighton und Titchener, Lond. 1896); »Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren« (Erlang. 1871–76, 2 Tle.); »Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip« (das. 1866); »Handbuch der medizinischen Physik« (das. 1867); »Grundzüge der physiologischen Psychologie« (Leipz. 1874; 6. Aufl. 1908, 3 Bde.; Gesamtregister von Wirth, 1903); »Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart« (das. 1874); »Über den Einfluß der Philosophie auf die Erfahrungswissenschaften« (das. 1876); »Logik« (Stuttg. 1880 bis 1883, 2 Bde.; 3. Aufl. 1906–07); »Essays« (Leipz. 1885, 2. Aufl. 1906); »Ethik« (Stuttg. 1886; 3. Aufl. 1903, 2 Bde.); »System der Philosophie« (Leipz. 1889; 3. Aufl. 1907, 2 Bde.); »Grundriß der Psychologie« (das. 1896, 8. Aufl. 1907; engl. von Judd, 3. Aufl. 1907); »Völkerpsychologie«, Bd. 1: Die Sprache (1. u. 2. Teil, Leipz. 1900; 2. Aufl. 1904), Bd. 2: Mythus und Religion (1905–06, 2 Tle.); »Einleitung in die Philosophie« (das. 1901, 4. Aufl. 1906). Auch gab er von 1883–1902 »Philosophische Studien« (Leipz.) heraus, welche Arbeiten Wundts (z. B. »Über die Messung psychischer Vorgänge«, »Über die Definition der Psychologie«, »Über naiven und kritischen Realismus«) und seiner Schüler hauptsächlich zur experimentellen Psychologie und Erkenntnislehre enthalten. Seit 1905 gibt er »Psychologische Studien« heraus, in denen die experimentelle Psychologie in rein theoretischem Interesse gepflegt wird. Sein Bildnis s. Tafel »Deutsche Philosophen II«. Vgl. Vannérus, Vid studiet at Wundts psykologi (Stockh. 1896); König, Wilhelm W., seine Philosophie und Psychologie (Stuttg. 1900); Eisler, Wundts Philosophie und Psychologie in ihren Grundlehren (Leipz. 1902) und die Festschrift zum 70. Geburtstag Wundts (Bd. 19 u. 22 der »Philosophischen Studien«, das. 1902).

Erlebtes und Erkanntes

Vorwort.

Die folgenden Blätter sollen keine Lebensbeschreibung im gewohnten Sinne des Wortes sein. Ein Gelehrtenleben wie das des Verfassers bietet keinerlei Motive, die in ihm selbst gelegen besondere Anlässe zur Schilderung ihres Verlaufs bilden könnten. Die Motive, die es bieten möchte, um sie für die Nachkommen festzuhalten, sind teils äußere Ereignisse, die er miterlebt hat, teils die Ergebnisse der Arbeit, um die er sich bemüht hat. Ein solches Leben zu schildern erweckt aber nur insofern ein allgemeineres Interesse, als der Geist der Zeit irgendwie in dasselbe eingegriffen hat, und auf diese Eigenschaft kann der Verlauf meines Lebens wohl Anspruch machen, wenn ich aus demselben die Vorgänge, die ich erlebt habe, und die Ereignisse, in die es mir einzugreifen vergönnt war, in Betracht ziehe. Unter diesem Gesichtspunkte würde es aber ohne besonderen Wert sein, wenn ich im folgenden den so oft gemachten Versuch, Tag für Tag oder Jahr für Jahr zu schildern, wiederholt hätte. Vielmehr ordnen sich hier von selbst die Inhalte dieses Lebens in einzelne Folgen, die verschiedenen Lebensgebieten angehören. Mag es auch an einem inneren Zusammenhang, der solche Lebensausschnitte verbindet, nicht fehlen, so bieten diese doch keineswegs selbst eine äußerlich erkennbare Verbindung, sondern diese ergibt sich erst aus dem Totaleindruck des Ganzen für den Leser, der sich selbst dieses Ganze zusammenfügt. Es ist, wenn ich hier Ausdrücke gebrauchen darf, die ich in den folgenden Blättern des öfteren angewandt habe, eine Resultante oder eine Kollektiveinheit, die dem aufmerksamen Leser nicht entgehen wird, auf die ihn aber der Verfasser nicht erst hinzuweisen braucht, und die in dem »Erlebten und Erkannten« ihren Ausdruck finden soll. Das Erlebte ist das nächste, was ihm die Götter beschieden, das Erkannte das Bessere, was sie ihm vergönnt haben. Will der Leser beurteilen, was der Autor aus seinem Leben gemacht hat, so mag er als das Material, aus dem er seine Schlüsse zieht, das Verhältnis in Betracht ziehen, in welchem das Erkannte zu dem Erlebten steht. Er wird dann zugleich den richtigen Standpunkt finden, um auch die Irrtümer und Mängel zu verstehen, von denen dieses Leben nicht frei ist. Sollte er selbst das Motiv in den Vordergrund stellen, das für ihn sein Leben lang das wirksamste war, so ist es nicht zu jeder Zeit, aber doch auf den Höhepunkten dieses Lebens das politische, die Teilnahme an den Interessen von Staat und Gesellschaft gewesen, die den Schreiber dieser Zeilen gefesselt hat. Sie hat den Verfasser in das Leben geleitet, sie hat zu wiederholten Malen wirkungsvoll in dieses eingegriffen, und sie ist ihm wiederum nahegetreten, als sich dieses Leben dem Ende näherte.

Leipzig, im August 1920.

W. Wundt.

1.

Der bekannte Maler Wilhelm Tischbein berichtet in seiner Selbstbiographie, das früheste Ereignis, das sich seinem Gedächtnis unzerstörbar eingeprägt habe, sei ein Fall zur Erde gewesen, den er getan, als man ihm das aufrechte Stehen und Gehen lehren wollte. Man habe ihn an eine zufällig anwesende Ziege angelehnt, und in dem Augenblick, wo die Ziege davonlief, sei er zur Erde gefallen. Wer sich überhaupt auf früheste Lebensereignisse besinnen kann, wird wahrscheinlich auf eine ähnliche Begebenheit stoßen, die als ein isoliertes Ereignis in seinem Gedächtnis haften geblieben ist. Ein solches Ereignis pflegt dann aber zugleich mit allen den Nebenumständen, von denen es begleitet war, ähnlich der davonlaufenden Ziege bei Tischbein, mit merkwürdiger Deutlichkeit in der Erinnerung festzuhaften, und wenn man sich darauf besinnt, welche Merkmale es eigentlich sind, die einem solchen einzelnen Vorgang den Vorzug vor andern verleihen als das früheste Erlebnis angesehen zu werden, so sind es wohl solche begleitende Nebenumstände. In der Regel ist es irgendeine Situation, in der man sich vorfindet, und die sich keineswegs als eine völlig unbestimmte, sondern ausgestattet mit der Mannigfaltigkeit eines wirklichen Ereignisses erneuert. So bleibe denn auch ich, wenn ich über mein frühestes Erlebnis Rechenschaft geben soll, bei einer äußerst peinvollen Situation stehen. Ich finde mich eine Kellertreppe herabrollend und glaube noch heute die Stöße zu fühlen, die mein Kopf von den Stufen der Treppe empfängt, ich finde mich von dem Halbdunkel des Kellers umfangen und es mischt sich damit die Vorstellung, daß ich meinem in den Keller gegangenen Vater nachgelaufen bin.

Neben dem so markierten Ereignisse tauchen dann bei näherem Besinnen noch vereinzelte Erinnerungen in mir auf, die aber offenbar einem späteren Stadium angehören. Besonders sind es früheste Schulerlebnisse, und dabei ist es dann wieder das umgebende Medium, einzelne Mitschüler, eine Schulszene, die eine begünstigte Rolle spielen, und bei denen immer zugleich die Bedingung obwaltet, daß ich selbst an dieser Szene beteiligt bin. So schwebt mir aus der Fülle solcher Schulerlebnisse in der Zeit meines Besuchs der untersten Klasse der Volksschule vornehmlich eine Szene noch deutlich vor. Mein Vater wohnte als Schulinspektor einer Unterrichtsstunde bei, ohne sich übrigens selbst in den Unterricht einzumischen. Davon machte er nur in einem einzigen Fall eine Ausnahme. Ich war zerstreut und hatte, statt auf den Unterricht aufzupassen, meinen eigenen Gedanken nachgehangen, wie das bis in viel spätere Zeiten meine regelmäßige Eigenschaft gewesen ist. Da wurde ich durch eine Ohrfeige, die mir ungewohnterweise mein Vater applizierte, diesem Zustand der Zerstreutheit plötzlich entrissen. Noch sehe ich das strafende Gesicht des Vaters vor mir, der hier augenscheinlich aus der Rolle des aufmerksamen Zuhörers unwillkürlich in die des häuslichen Erziehers gefallen war. Wie in diesem Fall, so mag auch sonst ein Affekt des Schrecks, ein Schmerz das Festhaften in der Erinnerung begünstigen; doch hat dieses Unlustmotiv neben jener isolierenden Macht begleitender Vorstellungen nach den mir gewordenen Eindrücken im ganzen nur eine nebensächliche Bedeutung. So gilt denn, psychologisch betrachtet, für diese frühesten Lebenserinnerungen allem Anscheine nach schon die Regel, daß es überhaupt keinen isolierten Vorgang in unserem Bewußtsein gibt, sondern nur Verbindungen von Vorgängen, die einen Zusammenhang bilden und sich durch diesen wechselseitig in der Erinnerung befestigen. Es ist die Regel der Kontinuität des Bewußtseins, die sich so bereits für das erste Dämmern eines solchen bestätigt. Darum läßt sich nun aber auch nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, daß irgendeine Erinnerung, die man geneigt ist für die früheste zu halten, dies wirklich sei, sondern man wird immer nur sagen können, daß sie durch ihre Verbindung mit den begleitenden Vorstellungen die hierzu geeignete Beschaffenheit annimmt.

2.

Es gibt heute wenige mehr, die sich der Zeit erinnern, da das Land Baden schon einmal ein halbes Jahr lang eine selbständige Republik war. Aber noch beschränkter ist wohl die Zahl derer, die die vorangegangenen Jahrzehnte wenigstens teilweise mit deutlichem Bewußtsein erlebt haben. Ich gehöre zu diesen wenigen, und mir ist eine Szene in Erinnerung, die auf die politische Stimmung dieser Zeit ein merkwürdiges Licht wirft.

Meine Eltern wohnten damals in einem Städtchen oder vielmehr großen Dorf im mittleren Baden mit Namen Heidelsheim. Ich saß an dem Tage, an dem ich gerade mein erstes Jahr der Volksschule glücklich zurückgelegt hatte, etwa um die Zeit zwischen 1838 und 1840, auf der Treppe meines Vaterhauses, da bewegte sich über den vor mir liegenden Marktplatz ein bunter Zug von Menschen, deren Anführer einen riesigen Baum herbeischleppten, den sie inmitten des Platzes aufrichteten und von dem man mir sagte, er sei ein »Freiheitsbaum«. Konnte ich auch keinen deutlichen Begriff mit diesem Wort verbinden, so tagte mir doch allmählich von ungefähr seine Bedeutung, als sich bei Einbruch der Dunkelheit eine große Menge vor dem Hause des gegenüber wohnenden Bürgermeisters unter vielem Geschrei ansammelte und plötzlich ein helles Feuer von dem Gebäude aufflammte. Ich sehe dann noch vor mir die ernste Gestalt des Amtmanns aus der Nachbarschaft im Zimmer meiner Eltern auf und ab wandeln und hierauf eine Schwadron Dragoner über den Platz reiten, vor der sich die Menge nach allen Winden zerstreute.

Das war eine richtige Dorfrevolution, und in derselben Gegend, in der sich später hauptsächlich die badische Revolution des Sommers 1849 abspielte, ereignete sich dieses seltsame Vorspiel. Es handelte sich freilich bei ihm nicht um politische Fragen, sondern um Parteien ziemlich gleichgültiger Art, die sich um die Person des regierenden Dorfbürgermeisters gebildet hatten. Was diese Szene später mir besonders lebhaft wieder ins Gedächtnis zurückrief, war aber auch nicht ihr unbekannter Anlaß, sondern die Beziehung, in die sie von den Beteiligten zu den damaligen Zeitereignissen gebracht wurde. In Heidelsheim hatte sich nämlich die Bürgerschaft in zwei einander heftig befehdende Parteien geschieden, von denen sich die eine, die Anhänger des Bürgermeisters, als die Russen, die andere, seine Gegner, als die Polen bezeichnete, offenbar in Erinnerung an den mehrere Jahre vorausgegangenen polnischen Aufstand von 1830. Um diese lange Nachwirkung eines ziemlich abliegenden politischen Ereignisses zu begreifen, muß man der Teilnahme gedenken, die nach jener polnischen Revolution lange in den deutschen Gemütern nachzitterte. Um die Zeit, von der ich rede, hörte man noch immer in den Gassen deutscher Kleinstädte das berühmte Lied »Noch ist Polen nicht verloren«, und ich selbst erinnere mich, noch um das Jahr 1851 aus einem deutschen Kommersbuch das rührende Duett zwischen Kosziusko und Lagienka gesungen zu haben, in welchem diese berühmten Heerführer ihre Niederlage beklagen. Und noch einmal ist mir in viel späterer Zeit, als mitten in dem letzten Krieg Kongreßpolen durch die Mittelmächte zum selbständigen Staat erklärt wurde, jene Dorfszene meiner frühesten Jugend lebendig vor die Seele getreten. Die Zeiten waren freilich andere geworden, seit die Bürger eines kleinen Landstädtchens, die sich aus völlig interesseloser Begeisterung Polen genannt hatten, zur Strafe für ihren Putsch ins Gefängnis wanderten, und jetzt, wo das Deutsche Reich als einen der ersten Erfolge seiner Siege die Befreiung Polens von der russischen Herrschaft in Szene setzte. Immerhin ist ein charakteristischer Zug, der vielleicht diese weit entlegenen Ereignisse in meinem Gedächtnis verknüpft hat, beiden gemeinsam: das ist die Teilnahme, mit welcher der Deutsche unter Umständen die Interessen fremder Nationen zu den seinigen macht, während er vergißt, an die eigenen zu denken. Wie dem aber auch sei, das Band, das in meiner Erinnerung jene Dorfrevolution mit den späteren Ereignissen von 1848, 1849 und schließlich in ihren schattenhaften Nachwirkungen mit Vorgängen der letzten Jahre verknüpft hat, ist wiederum ein Beispiel jenes inneren Zusammenhangs, der in uns einander verwandte Erlebnisse durch weite Strecken und über völlig abweichende Inhalte miteinander verbindet. Mögen diese Verbindungen schließlich selbst in der Erinnerung zurücktreten, sie pflegen in den geistigen Interessen fortzuleben, die in unser späteres Schicksal bestimmend eingreifen.

Als ich daran ging, mir das Vergangene zu vergegenwärtigen, war es dieser Gesichtspunkt, der sich mir schon bei der Schilderung jener Dorfrevolution aufdrängte, von der ich sagen könnte, daß sie mein erstes politisches Erlebnis gewesen ist. Für denjenigen, der das Wagnis unternimmt, eine Selbstbiographie zu schreiben, liegt es natürlich am nächsten, die Ereignisse in der Reihenfolge zu schildern, in der er sie tatsächlich erlebt hat. Denkt man sich nun aber diese Methode auf die Geschichtsschreibung überhaupt übertragen, so würde daraus unverkennbar eine unleidliche Konfusion entstehen, die die Geschichte in eine Häufung zusammenhangloser Tatsachen verwandeln müßte. Was für das Leben eines Volkes gilt, das gilt jedoch bis zu einem gewissen Grade auch für das Leben des einzelnen. Jeder Mensch lebt eigentlich mehrere Leben nebeneinander, die zwar alle zusammenhängen, und von denen gleichwohl jedes einzelne seinen besonderen Verlauf nimmt. Dennoch kann im Gebiet des individuellen Lebens die Mannigfaltigkeit eines solchen Nebeneinander schließlich ebenso groß sein wie in dem des Zusammenlebens. Ja es kann vorkommen, daß gerade diejenige Seite, die man für eine allgemeingültige halten sollte, die politische, ganz zurücktritt, was um so auffallender ist, da die Beziehungen zu der uns umgebenden Gemeinschaft wiederum die einzigen allen Menschen gemeinsamen sind. Um so mehr glaube ich, daß sie, wo das nicht zutrifft, wo sie vielmehr, begünstigt durch das Eingreifen der Zeitereignisse in die Lebensschicksale, eine irgend erhebliche Rolle gespielt haben, von Rechts wegen allen andern vorangestellt werden sollten. Geht doch überall das Individuum aus der Gemeinschaft hervor. Die Anschauungen, die persönlichen Bestrebungen und Handlungen des einzelnen sind doch im letzten Grunde Erzeugnisse des gemeinschaftlichen Lebens, aus dem sich das persönliche Leben nach seinen besonderen Richtungen entwickelt.

War mein frühestes politisches Erlebnis die Dorfrevolution von Heidelsheim gewesen, so ist diese nun aber keineswegs die einzige Revolution geblieben, die ich in unmittelbarer Nähe erlebt und von der ich eine Reihe eindrucksvoller Bilder in der Erinnerung bewahrt habe. Noch sehe ich vor mir die Tafelrunde deutscher und österreichischer Politiker, die sich auf der Reise zum Frankfurter Vorparlament im Museumssaale zu Heidelberg zusammengefunden hatten, unter ihnen Anastasius Grün, den gefeierten Wiener Poeten, neben anderen führenden Geistern der Zeit, die ich hier von der Galerie des Festsaales aus mit staunender Bewunderung erblickte. Ebenso steht vor mir der mit rauschenden schwarzrot-goldenen Fahnen und Efeugewinden geschmückte Schloßhof und die Tribüne mit den Abgeordneten der Frankfurter Linken, unter denen Robert Blum mit seiner hinreißenden Beredsamkeit die aus der Stadt und der Umgebung herbeigeströmten Zuhörer zu Tränen bewegte. Neben solchen von der Begeisterung der Massen getragenen Szenen fehlen unter den Bildern meiner Erinnerung freilich auch andere nicht, in denen die großen Straßenkämpfe von Berlin und Wien in kleinerem Maßstabe sich widerspiegelten. Noch steht mir hier ein Zug von Odenwälder Bauern vor Augen, die mit ihren Sensen bewaffnet in die Stadt einzogen, um den Städtern den Überfluß ihres Besitzes abzunehmen, aber vor der mit Flinten bewaffneten Bürgerwehr die Flucht ergriffen – eine Szene, in der sich der bekannter gewordene Putsch wiederholte, den schon im März Hecker und Struve, vereint mit einer Schar französischer Freischärler unter Georg Herwegh, dem Verfasser der von mir und meinen Altersgenossen damals mit Begeisterung gelesenen »Gedichte eines Lebendigen« im badischen Oberland veranstaltet hatten.

Waren diese der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vorangegangenen Ereignisse rasch vergängliche Putsche gewesen, so hinterließ die der Auflösung des ersten deutschen Parlaments folgende badische Revolution vom Sommer 1849 einen ungleich tieferen Eindruck, obgleich ich auch hier beobachtet habe, daß Revolutionen verhältnismäßig wenig im Gedächtnis derer haften, die sie nicht miterlebten, namentlich dann nicht, wenn ihnen nicht dauernde politische Umwälzungen gefolgt sind. So habe ich mehrfach bemerkt, daß in Baden selbst bei Personen, die an den gegenwärtigen politischen Zeitläuften einen regen Anteil nehmen, nur noch eine sehr geringe Kenntnis der in mancher Beziehung vorbildlichen politischen Vergangenheit dieses Landes vorhanden ist. Wie hier die bis in die zwanziger Jahre zurückreichenden Verfassungskämpfe gänzlich aus dem Gedächtnis der lebenden Generation verschwunden sind, so ist sogar von der badischen Republik des Jahres 1849, so ähnlich die damals auf engerem Raum sich abspielenden Ereignisse in mancher Beziehung den heutigen Zuständen waren, bei den meisten meiner Landsleute doch nur eine dunkle Erinnerung zurückgeblieben. Das wird aber auch hier schwerlich von den wenigen gelten, die gleich mir selbst in dieser Republik gelebt haben. Noch sehe ich die glänzende Gestalt Mieroslawskis, des polnischen Generals, durch die Straßen reiten. Er war mit Legionären seiner Heimat herbeigekommen, um der Berufung der provisorischen Regierung zum Oberbefehlshaber der republikanischen Armee Folge zu leisten, die neben dem fast vollzähligen badischen Bundeskontingent aus einer nicht geringen Anzahl angeworbener Landeskinder und aus aller Herren Länder zugezogener Freischaren bestand. Den General begleitete in seltsamem Kontrast ein Jüngling mit blondem herabwallendem Haupthaar: es war der republikanische Kriegsminister Franz Sigel, der sich später, nachdem er, ähnlich den meisten anderen Funktionären der Republik, nach Amerika ausgewandert war, dort in dem Bürgerkrieg als tüchtiger Offizier ausgezeichnet hat. In Baden war er direkt vom Kadetten zum Kriegsminister befördert worden. Ähnlich hatte ein Kandidat der Kameralwissenschaft das Departement der Finanzen, ein Volksschullehrer Kultus und Unterricht übernommen, und ein Rechtsanwalt aus dem dem früheren Wohnort meiner Eltern benachbarten Bruchsal war zum leitenden Minister emporgestiegen.

Auch das tragische Ende dieser kurzen Republik habe ich, noch dazu fast in unmittelbarer Nähe miterlebt, als ich von der Höhe des Gaisbergs bei Hei delberg aus die Kanonen der Schlacht bei Waghäusel blitzen sah, in der die preußische Armee unter der Führung des damaligen Prinzen von Preußen, des späteren Kaiser Wilhelm, die republikanischen Truppen zu Paaren trieb. Der Eindruck ist mir unvergeßlich, den die am Abend dieses Tages in der Stadt veranstaltete Illumination hervorrief, die nach der Verkündung des republikanischen Bürgermeisters den Sieg des badischen Heeres feiern sollte, die aber in Wirklichkeit dazu bestimmt war, den in den Odenwald fliehenden Freischaren den Weg zu zeigen. Nach Amerika und der Schweiz, zu einem kleinen Teil nach Frankreich hatten auch die Führer der Revolution sich gerettet, soweit sie nicht gefangen oder als blutige Opfer des Rastatter Kriegsgerichts gefallen waren. Am Tag nach der Schlacht hielt ein preußisches Regiment seinen Einzug, mit dem sich nach dem ersten Schrecken, den es eingejagt, die weibliche und die jugendliche Bevölkerung der Stadt sehr bald befreundete. So habe ich selbst meinen ersten Musikunterricht bei einem biederen Pommerschen Grenadier genossen, der mir die Anfangsgründe der Klarinette beibrachte.

3.

Mehr als andere Menschen hat wohl derjenige, der sich anschickt, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben, den Eindruck, jeder Mensch führe nicht ein einziges Leben, sondern mehrere nebeneinander, die unter Umständen weit auseinander gehen. Inwieweit dies geschieht, das ist aber, wie ich bemerkt zu haben glaube, in hohem Grad von Zeitumständen abhängig. Im Jahre 1848 und wohl auch wieder bei Beginn des letzten Krieges politisierte bei uns jedermann; in der langen Friedenspause, die vorangegangen war, hatte sich eine große Zahl der Deutschen der Teilnahme an den politischen Angelegenheiten so sehr entfremdet, daß für sie diese Seiten des öffentlichen Lebens eigentlich nicht existierten. So erinnere ich mich, daß mir einmal ein in seiner Wissenschaft hoch angesehener und durch die Vielseitigkeit seiner Studien berühmter physiologischer Fachgenosse sagte, er habe seit vielen Jahren keine Zeitung mehr angesehen, weil man aus dieser Art der Literatur doch nichts lernen könne. Wer sich die Zusammensetzung der deutschen Parlamente von 1848 und von 1914 vergegenwärtigt, der kann darin wohl eine indirekte Bestätigung dieser individuellen Erfahrung erblicken. Das Parlament der Paulskirche ist ohne Zweifel übertrieben, aber für den allgemeinen Charakter dieser bedeutsamen Versammlung wohl zutreffend von manchen das Professorenparlament genannt worden; für den deutschen Reichstag von 1914 würde sicherlich niemand auf diesen Namen verfallen, eher würde man ihn vielleicht das Parlament der konfessionellen und sozialen Parteien, hinsichtlich der allgemeinen vaterländischen Angelegenheiten aber ein relativ unpolitisches Parlament nennen können. Wenn heute der Ruf nach einer staatsbürgerlichen Erziehung für die Zukunft in Deutschland allgemein geworden ist, so darf man darum hierin wohl ein Zeichen für die allmählich unter den Gebildeten ziemlich allgemein gewordene Überzeugung erblicken, daß wir in den letzten Krieg mit einer parlamentarischen Volksvertretung eingetreten sind, die nach einer andern Seite wie das Frankfurter Professorenparlament, aber an sich nicht minder eine ungünstige für die politische Lage gewesen ist. Für andere Länder gilt das wohl nicht in gleichem Maße, und besonders die französische Deputiertenkammer repräsentiert in dieser Beziehung einen unverkennbaren Kontrast gegenüber dem verflossenen deutschen Reichstag. Aber es ist, wie ich glaube, nicht bloß eine nationale Eigentümlichkeit, die neben dem überhandnehmenden Spezialistentum die deutsche Gelehrtenwelt und einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gebildeten überhaupt der Teilnahme an dem politischen Leben entfremdet hatte, sondern wie in anderen Dingen so hängt auch diese Schattenseite des deutschen Charakters mit einer Lichtseite zusammen. Sie besteht in jener anerkannten Vortrefflichkeit des deutschen Beamtenstandes, die ihren glänzendsten Ausdruck in der Stellung fand, die ihm Hegel in seiner Rechtsphilosophie als dem das gesamte öffentliche Leben führenden und organisierenden anweist. In anderen Ländern empfängt die Volksvertretung einen nicht geringen Teil der von ihr ausgehenden politischen Impulse durch ihr Verhältnis zu der Regierung und ihren Organen. In den deutschen Kleinstaaten der Vergangenheit bildeten die Beamten einen wesentlichen Teil der Landtagsdeputierten, unter denen z.B. in Baden früher die Verwaltungsbeamten neben einigen Gutsbesitzern die konservative, die richterlichen neben einigen Rechtsanwälten, Landwirten und Weinhändlern die liberale Partei konstituierten. Dabei muß ich übrigens bemerken, daß die meisten Weinhändler, zu denen ich später während einiger Jahre selber gehörte, nicht solche von Beruf waren, sondern daß dieser Name eine Kategorie bürgerlicher Berufe deckte, die nach dem alten badischen Wahlgesetz zur Wählbarkeit in den Landtag berechtigt waren. Für diesen Beruf genügte nämlich die Erwerbung eines Weinpatents, von dem aber niemand Gebrauch zu machen gezwungen war. Fast alle offiziellen Weinhändler der Ständekammer waren daher überhaupt keine Weinhändler.

Diese Verhältnisse des Verfassungslebens der deutschen Kleinstaaten sind mit unbedeutenden Abänderungen in älterer Zeit wohl überall die nämlichen gewesen, und, was für die allgemeinen Kulturzustände vielleicht das wichtigere ist, sie bereiteten sich bereits auf Schule und Universität vor. Auf den Universitäten herrschte als eine Tradition aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts das Verbindungswesen mit seiner Spaltung in Landsmannschaften oder Korps und Burschenschaften, von denen die Korps zu einem nicht geringen Teil das künftige Beamtentum, die Burschenschaften mit den in ihnen nachwirkenden Überlieferungen der Freiheitskriege das liberale Bürgertum repräsentierten, und es geschah nicht selten, daß die Zugehörigkeit zu einer dieser Klassen vom Vater auf den Sohn sich vererbte, was denn auch eine gewisse Erblichkeit der Berufe mit sich führte. Repräsentierte dabei das Korps die konservative, die Burschenschaft die fortschrittliche Richtung, so war es übrigens selbstverständlich, daß diese Unterschiede nicht sonderlich tief gingen und daß sie mit der allgemeinen Gleichgültigkeit der Gebildeten gegenüber dem politischen Leben ziemlich gleichen Schritt hielten. Immerhin herrschte in Baden als dem ältesten der deutschen konstitutionellen Staaten im ganzen eine etwas größere politische Regsamkeit als anderwärts, und sie belebte sich namentlich in den revolutionären Bewegungen der Jahre 1848 und 1849, die überhaupt einen Wendepunkt bezeichnen, mit dem die Herrschaft der Korps im akademischen Leben allmählich an die Burschenschaften überzugehen anfing. Charakteristisch für diesen Übergang war es, daß in Heidelberg einige Mitglieder des Korps der Schwaben im Jahre 1848 aus dieser Stammschule des badischen Beamtentums unter der Führung des späteren berühmten Klinikers Adolf Kußmaul austraten, um eine von da an einflußreiche und politisch zum erstenmal wieder rührige Burschenschaft zu gründen.

Anderwärts hat sich diese Zusammengehörigkeit von Korpsverband und politischer Laufbahn noch länger erhalten, und besonders in Preußen ist bis in die letzten Jahre die Tradition lebendig geblieben, für die staatsmännische Laufbahn sei die ehemalige Zugehörigkeit zu gewissen Korpsverbindungen ein notwendiges Erfordernis, weshalb denn auch von den deutschen Diplomaten an auswärtigen Höfen die Rede ging, viele von ihnen seien ebenso durch ihre hervorragenden Saloneigenschaften wie durch ihre politische Minderwertigkeit ausgezeichnet. Das Grenzland Baden machte hier immerhin eine gewisse Ausnahme. Es hatte in Männern wie Nebenius, dem Erfinder des Zollvereins, Idstein, Mathy, Bassermann, Welcker u.a. eine nicht geringe Zahl bedeutender Politiker hervorgebracht, und noch in anderen Beziehungen bewies die Bevölkerung des Landes eine politische Reise, die vielleicht anderwärts nicht zu finden ist. Dahin gehört noch aus den letzten Jahren ein durch das ganze Land sich erstreckendes Wahlkartell zwischen der konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Partei, das den während der vorangegangenen Zeit zur Vorherrschaft gelangten Ultramontanen ihre Majorität entzog. Man darf wohl kühnlich sagen, daß eine solche Handlung politischer Wahltaktik weder im deutschen Reichstag noch wahrscheinlich in irgendeinem der anderen deutschen Sonderparlamente möglich gewesen wäre.

4.

Wenn für die meisten Menschen die Regel gilt, daß ihr Leben mehrere unabhängig nebeneinander hergehende Lebensläufe umfaßt, so gibt es wohl kein Gebiet, für das diese Regel in ausgesprochenerem Maße zutrifft als für das gleichzeitig auf wissenschaftlicher Arbeit gegründete Berufsleben und das in Gemeinde-, Vereins- und politischen Interessen sich bewegende öffentliche Leben. Man ist geneigt, private, Berufs-und öffentliche Beschäftigungen im allgemeineren Sinne als solche nebeneinander bestehende Lebenskreise zu unterscheiden; aber ich möchte glauben, daß die Beziehungen zwischen ihnen doch im allgemeinen engere sind als die sonst zwischen individuellem Beruf und gemeinschaftlichem Interesse bestehenden. Das beweist schon der Umstand, daß es keinen Menschen gibt, der nicht mit seinen persönlichen Angelegenheiten zugleich inmitten gesellschaftlicher Beziehungen im allgemeineren Sinne steht, während es, wie schon oben bemerkt, zahlreiche Menschen gibt, die öffentliche Interessen, insonderheit politische, überhaupt nicht besitzen. Um so mehr können sie, wo solche vorhanden sind, unabhängig nebeneinander bestehen. Für dieses Nebeneinander bietet vielleicht das Land Baden unter den kleineren deutschen Staaten die zahlreichsten Beispiele, und die politische Vergangenheit des Landes dürfte an diesen gegenüber dem übrigen Deutschland zweifellos etwas regsameren politischen Interessen wesentlich beteiligt sein. Wer, wie es mir begegnet ist, von Kind auf eine Reihe von Umwälzungen mitgemacht hat, von der Dorfrevolution bis zur Gründung des neuen Deutschen Reichs und darüber hinaus, dem werden die Erinnerungen an diese Ereignisse nicht so leicht aus dem Gedächtnis verschwinden, und sie haben die natürliche Tendenz, sich zu verbinden. So würde jene Dorfrevolution schwerlich in meinem Gedächtnisse haften geblieben sein, wenn mich nicht die Revolutionen von 1848 und 1840 und schließlich mit ihnen die politischen Wandlungen der späteren Tage immer wieder daran erinnert hätten. Infolge dieser inneren Verwandtschaft der sonst noch so weit abliegenden Ereignisse ist es aber doch das politische Leben, das eine solche Kontinuität vor anderen zustande bringt, so daß dieses in der eigenen Erinnerung als eine Art Sonderleben sich ausscheidet. Darum würde meine politische Vergangenheit vielleicht mir selbst als eine Irregularität erscheinen, wenn ich mir nicht bewußt wäre, daß sie einen für sich bestehenden Zusammenhang bildet. Mag es daher manchem Leser dieser Lebenserinnerungen sonderbar vorkommen, daß ich mit Dingen beginne, die mit meinem sonstigen Leben scheinbar sehr wenig zu tun haben, und daß ich sie zunächst als einen für sich bestehenden Inhalt herausgreife, so wüßte ich mir doch nicht anders zu helfen, wenn ich nicht eine Seite dieser Erinnerungen verschweigen sollte, die mir lebendiger als vieles andere im Gedächtnis erhalten geblieben ist. War mir doch das Schicksal beschieden, daß mich das gewohnte Nebeneinander verschiedener Lebensinteressen für mehrere Jahre zu einem Berufswechsel führte, an dem, wie ich vermute, meine politischen Jugendeindrücke nicht unbeteiligt gewesen sind.

Es war keine sonderlich hervorragende Rolle, die mir in dem öffentlichen Leben meiner Heimat beschieden war. Aber es war eine Zeit, in der nach einem fast ein Jahrzehnt dauernden politischen Stillstand eine neue Bewegung sich der Geister bemächtigte. Diese Zeit begann für das Land Baden nach der Reaktion der fünfziger Jahre mit einer das ganze Land ergreifenden, durch ein von der damaligen Regierung mit der Kurie abgeschlossenes Konkordat hervorgerufenen liberalen Strömung, die für mich mit den ersten Jahren meines akademischen Dozententums zusammenfiel und an die mich in mancher Beziehung die heutigen Volkshochschulbestrebungen zurückerinnern. Ich war damals zum Vorsitzenden des Heidelberger Arbeiterbildungsvereins gewählt worden. Auch hatte ich mich außer zu Lehr- und allgemeinen Bildungsvorträgen in diesem Verein mit einer Anzahl gleichalteriger Kollegen zu Vorträgen vereinigt, die von uns vor der Bürgerschaft verschiedener Städte gehalten wurden mit der Bestimmung, den Ertrag für den Bau eines Arbeiterhauses zusammenzubringen. Unter meinen Kollegen waren es hauptsächlich Moritz Cantor, der Mathematiker, August Thorbecke und Wilhelm Wattenbach, die beiden Historiker, die sich an diesen Wintervorträgen beteiligten. Die planmäßigere Organisation der Wandervorträge in Deutschland gehört wohl erst einer etwas späteren Zeit an, aber ein bescheidener Vorläufer in dieser Richtung war immerhin unser Unternehmen. Ich erinnere mich namentlich zweier dieser Vorträge, von denen ich den einen in Pforzheim, den anderen in Baden-Baden gehalten habe. Sie sind mir im Gedächtnis geblieben, weil sie mich belehrten, daß bei solchen Vorträgen vor den gebildeten Kreisen kleinerer Städte die Interessen, die diese Kreise beschäftigen, nicht immer mit denjenigen zusammenfallen, die in der Wissenschaft die gerade vorherrschenden sind. In Pforzheim redete ich »Über die Erhaltung der Kraft«. Als ich in das Auditorium kam, war ich erstaunt, vor meinem Katheder eine Menge alter Leute, Männlein und Weiblein, versammelt zu sehen. Als ich dann nach dem Vortrag von einem mir bekannten Herrn angeredet wurde, der mir seine Zweifel darüber aussprach, ob die Sonne, wie nach meiner Behauptung Herr Robert Mayer meine, eine so große Quelle der Kraft sei, denn er selbst sitze sehr gern in der Sonne, habe aber von einer Zunahme seiner Kraft noch nicht viel gefühlt, da merkte ich, daß er erwartet hatte, Ratschläge zu hören, wie man es am besten anfange, jung zu bleiben, und daher, so gut es ging, das physikalische Thema in eine praktische Lebensregel umzudeuten versuchte.

In der Stadt Baden, die, nachdem die Badegesellschaft vorübergeflutet war, im Winter zum Anhören von Vorträgen über neueste Entdeckungen gerne bereit war, hielt ich einen Vortrag über die Darwinsche Theorie. Sie beschäftigte damals unter dem ersten Eindruck der Schriften Häckels sehr lebhaft die Gelehrtenwelt. Aber in die gebildete Gesellschaft Badens, die im Winter ein ziemlich stilles Dasein führte, war davon noch kaum etwas gedrungen. Als ich daher in dem Hörsaal, der mir zur Verfügung gestellt wurde, verschiedene Bilder von Embryonen, namentlich auch solcher früher Lebenszustände von Affen und Menschen auspackte, um sie als Demonstrationsobjekte an der Wand aufzuhängen, fuhr der mich begleitende Leiter der Badener Wintervergnügungen entsetzt zurück. Solche Bilder, meinte er, verbiete der Anstand, namentlich in der Anwesenheit von Damen. Dagegen half nichts, ich mußte meine Figuren wieder einpacken und mich damit begnügen, ihren Inhalt mündlich im Vortrag anzudeuten.

Aus dem Plan, den Ertrag dieser Vorträge zum Bau eines Arbeiterhauses zu verwenden, ist freilich nichts geworden, weil sich die Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins im Lauf der Jahre nach allen Winden zerstreuten und die später an die Stelle solcher Vereine getretenen Arbeitergenossenschaften neue Wege einschlugen, auf denen sie von ihren anfänglichen bürgerlichen Führern nichts mehr wissen wollten. Dieser Übergang von den Bildungs- zu den Arbeitervereinen vollzog sich mit dem Auftreten der großen Agitatoren Ferdinand Lassalle und Karl Marx. Er vollzog sich so schnell, daß die Arbeiterversammlungen dieser verschiedenen Richtungen gelegentlich noch nebeneinander tagten, um freilich bald in einen allmählich erbitterter werdenden Kampf zu geraten. Manche meiner Freunde haben den Anfang dieses Übergangs als einen Zustand des Friedens, nicht zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, wohl aber im Sinne der Ausgleichung der Klassengegensätze gepriesen. Als ein solcher konnte er um so mehr vom Standpunkt des späteren Gegensatzes aus erscheinen. Besonders als die Tagungen der Bildungsvereine unter Beteiligung Hunderter von Mitgliedern des Arbeiterstandes, von Akademikern und von weiteren Kreisen der gebildeten Klassen stattfanden, und vollends als solche Arbeiterversammlungen gelegentlich aus einer großen Zahl deutscher Städte besucht wurden, schien eine glänzende Zeit für den Zustand deutscher Bildung angebrochen zu sein. Dabei war es ein charakteristischer Zug dieser Vereinigung, daß anfänglich politische Gegensätze gar keine Rolle spielten. So entsinne ich mich einer Zusammenkunft von Vorständen über ganz Baden zerstreuter Arbeiterbildungsvereine, der aus einem Freiburger Landesgerichtsrat, einem Pforzheimer Gymnasialdirektor, einem späteren Mannheimer Sozialdemokraten und mir selber bestand, während ihr außerdem der auf der Durchreise befindliche Begründer der Frankfurter Zeitung angehörte. Eine ungleich größere Zahl von Mitgliedern aus Bürger- und Arbeiterkreisen vereinigte etwa um das Jahr 1863 eine große, hauptsächlich aus Württemberg und Baden gekommene Versammlung, deren Mitglieder teils dem Bürger- teils dem Arbeiterstand angehörten und auf der ich das einzige Mal in meinem Leben den damals als Professor der »induktiven Philosophie« in Zürich lebenden Albert Lange, den Verfasser der Geschichte des Materialismus, kennen gelernt habe. Es war vielleicht der einzige Fall, in welchem diese Bestrebungen meiner Jugend auf mein späteres wissenschaftliches Leben eingewirkt haben. Denn ich habe Grund, zu vermuten, daß meine mehrere Jahre später erfolgte Berufung nach Zürich nicht der dortigen Fakultät, sondern dem zuvor nach Marburg berufenen Albert Lange, der bei der Schweizer demokratischen Regierung ein großes Ansehen genoß, ihren Ursprung verdankt. Noch entstammt endlich dem Verkehr dieser Arbeiterbildungsvereine in einem besonders wichtigen Fall, der einen großen Teil dieser Vereine nach Leipzig rief, lange ehe ich selbst diese meine jetzige Wohnstätte gesehen hatte, ein Briefwechsel, der den Kontrast dieser Anfänge mit ihren späteren sozialen und politischen Abwandlungen in ein helles Licht setzt. Ich hatte die Vertretung einer Anzahl badischer Vereine bei einer Versammlung in Leipzig übernommen, war aber dann verhindert, die Reise zu unternehmen, und ich wandte mich darum an den Vorsitzenden des Leipziger Vereins, der damals als Drechslermeister hier lebte, August Bebel. Darauf nannte mir Bebel als einen geeigneten Vertreter den Professor Karl Biedermann, der den Auftrag gern übernehmen und sich dazu besonders eignen werde. Die Zeit dieses Friedens war freilich kurz. In dem Augenblick, wo Ferdinand Lassalles Agitationsreden begannen, führten die Bildungsvereine in den meisten Städten nur ein dürftiges Leben weiter oder die Arbeiter zogen es vor, sich selbständig zu machen. An die Stelle der Spaziergänge auf den Heidelberger Königsstuhl, den der Arbeiterbildungsverein in der Nacht des 1. Mai unternommen hatte, traten im Lauf der Zeit die großen Tagesumzüge am 1. Mai, zu denen sich bald die Proklamierung dieses Tages zum allgemeinen Arbeiterfeiertag gesellte.

Vom Vorsitzenden des Bildungsvereins zum Mitglied der Ständekammer war in jenen Tagen der beginnenden sechziger Jahre kein allzu großer Schritt. Es war eine Zeit, in der unter dem Einfluß des Streites um das badische Konkordat Volksversammlungen stattfanden. Aus Anlaß einer Rede, die ich bei einer solchen in Offenburg gehalten hatte, stellte mich eine Anzahl von Freunden und Bekannten als Kandidaten der zweiten badischen Kammer für die Stadt Heidelberg auf, während die bekannte Pfälzer Leichtherzigkeit es fertig brachte, daß ein bereits sicher zum Deputierten ausersehener Mitbürger unerwarteterweise nachträglich durchfiel. Ich brachte von nun an etwa 4 Jahre in Karlsruhe zu, wo ich großenteils im Kreise der allen möglichen Ständen vom Landmann bis zum Beamten und Advokaten angehörenden Landtagsabgeordneten verkehrte. Ein größerer Kreis, dem der Minister August Lamey und die beiden Führer der damals sogenannten Fortschrittspartei, Karl Eckhart und Friedrich Kiefer, angehörten, versammelte sich täglich mit etwa einem Dutzend weiterer Deputierter an der Mittagstafel des Darmstädter Hofs, während die Abende meist zu Kommissionssitzungen oder anderen Arbeiten bestimmt waren. Das badische Gesetzgebungswerk war in ein beschleunigtes Tempo geraten. Es war in jenen Jahren inspiriert von dem genialen Lamey, der soeben von der Stellung eines Freiburger Professors zum leitenden Staatsmann berufen war und ein gewaltiges Reformwerk während weniger Jahre bewältigte. Eine neue Verwaltungsorganisation, ein Polizeistrafgesetzbuch, ein Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Unterschied der Religion, ein Niederlassungsgesetz, später ein Gesetz über die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit, mit dessen Kommissionsbericht ich selber beauftragt war, wurden geschaffen. Die Beratung über dies letztere Gesetz bot ein Kuriosum, das vielleicht mit der wahrscheinlich in die Anfänge der badischen Verfassung zurückreichenden akademischen Sitte des zwischen allen Abgeordneten geltenden vertraulichen Du und Du zusammenhing. Es bestand darin, daß bei der Beratung dieses Gesetzes die sonst bestehenden Parteien völlig aufgehoben und durch neue ersetzt waren: die Kammermitglieder, die dereinst Korpsburschen gewesen waren, bildeten nämlich eine kleine, gegen das Gesetz stimmende Minorität, während alle anderen selbstverständlich ihm zustimmten. Schließlich entstand als das wichtigste ein Gesetz, das die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche regelte, und ein umfassendes Schulgesetz, das die Volksschulen auf einen neuen Boden stellte, indem es den ganzen Organismus derselben in den Kreisschulräten der Schule selbst entnahm und der geistlichen Schulaufsicht ein Ende machte. An den lang dauernden Kommissionsberatungen über dieses letztere hatte ich ebenfalls teilzunehmen. Dieses neue Schulgesetz hat es bewirkt, daß im Lauf der nächsten Jahre in einzelnen Städten die Volksschule von selbst zur Einheitsschule wurde, indem viele Eltern ihre Kinder wenigstens in den niederen Klassen in die Volksschule schickten, ein Brauch, der übrigens, wie mein eigenes Beispiel zeigt, für die Einwohner der ländlichen Bezirke lange schon vorher bestand. Aber hatte in früherer Zeit dies nur ausnahmsweise gegolten, so war es immerhin die städtische Schule, die dies jetzt zum erstenmal da und dort erlebte, und ich halte es nicht für unmöglich, daß sich diese Gewohnheit fortgesetzt und befestigt haben würde, wenn nicht in der Folgezeit die in diesen Gegenden in ihren Anfängen erst um 1870 sich regende und vollends erst 1875 endgültig konstituierte sozialdemokratische Partei diesen Frieden gestört und damit auch die Schule wieder in ihren früheren Zustand zurückgeworfen hätte. Welche Umstände in Süddeutschland gegenüber den Wandlungen jenseits der Mainlinie den Übergang der alten harmlosen Bildungsvereine in sozialdemokratische Arbeitervereine verzögert haben, steht dahin. Die im ganzen bessere Lage der Arbeiter sowie die in den unteren und mittleren Teilen Badens nicht seltene Erscheinung, daß der auf einem kleinen Acker sitzende Bauer zugleich in der benachbarten Fabrik oder Stadt als Industriearbeiter tätig ist, mag das meiste dazu beigetragen haben. Auch wird wohl die größere Blüte, die sie in Süddeutschland erlebt haben, immerhin die Bildungsvereine hier etwas längere Zeit in dem Stadium festgehalten haben, das die Vereine der nördlichen Länder schon längst überschritten hatten. Ebenso mag der demokratischere und darum zur Ignorierung der Klassenunterschiede geneigtere Charakter des Süddeutschen dabei eine gewisse Rolle spielen.

Mehr als ein ausgeprägtes Standesbewußtsein fehlte aber dem Süddeutschen von damals ein fest bestimmtes Nationalbewußtsein. Als Deutscher fühlte sich jeder, aber ob Preußen oder Österreich als die deutsche Vormacht anzusehen sei, darüber herrschte große Unsicherheit, und die Mehrzahl der Bevölkerung stand wohl auf österreichischer Seite. Auch gingen die Sympathien naher Freunde und Verwandter manchmal weit auseinander. In dieser zweifelhaften Lage hatte die Kammer der Landstände durch die Rückwirkung, die sie auf weitere Kreise übte, eine nicht geringe Bedeutung, und vom Tag von Königgrätz an standen die führenden Mitglieder der Landstände, in der ersten Kammer Bluntschli, in der zweiten Eckhart und Kiefer, entschieden auf preußischer Seite. Diese feste Haltung der Volksvertretung trug aber wesentlich dazu bei, der übrigen Bevölkerung die gleiche Haltung mitzuteilen, soweit nicht konfessionelle Gegensätze entgegenwirkten. Das war jedoch in den beginnenden sechziger Jahren verhältnismäßig wenig der Fall, da hier die liberale Gesetzgebung Lameys alle Kreise mitgerissen hatte. Charakteristisch dafür ist der gewaltige Wandel der Parteiverhältnisse, der sich in der badischen Kammer in den Jahren von 1860 bis 1870 und nach 1870 vollzog. In dem ersten dieser Jahrzehnte zählte die katholische Partei in der zweiten badischen Ständekammer zwei Mitglieder unter im ganzen 63. Der eine war ein Kaufmann, der andere ein Mitglied des obersten Gerichts. Beide repräsentierten charakteristisch verschiedene Typen der sogenannten ultramontanen Partei. Der Kaufmann verkündete seine Gesinnung in tunlichst schwarzer Färbung. Von dem Richter, der sehr lange Reden hielt, behauptete man, er rede gemäßigt bis zu dem Moment, wo die Kammerkollegen vor dem Strom seiner Rede in die Vorhalle geflüchtet waren. Diese Situation, die den Kampf gegen die Ultramontanen zu einer harmlosen Beschäftigung gemacht hatte, veränderte sich gewaltig nach dem Jahre 1870: jetzt hatte sich das Verhältnis derart gewandelt, daß die ultramontane Partei so lange die absolute Majorität hatte, bis das oben erwähnte Wahlkartell der Liberalen und Sozialdemokraten zustande gekommen war.

Anders standen die Dinge im Anfang des ereignisreichen Sommers 1866. Hier war die allgemeine Stimmung gegen Bismarck und außerhalb Preußens gegen Preußen gerichtet, die man als die Urheber der schleswig-holsteinischen Verwicklungen und der aus ihnen entsprungenen Kriegsgefahr ansah. Selbst die preußischen Städte mit einziger Ausnahme Breslaus und das preußische Abgeordnetenhaus erhoben laute Proteste gegen einen deutschen Bruderkrieg, und in den nichtpreußischen Staaten entstand eine lebhafte Bewegung für strenge Neutralität, falls der Krieg zwischen den beiden Großstaaten wirklich ausbrechen sollte. Vor allem im Monat Mai hatte sich diese antipreußische Bewegung auf das äußerste zugespitzt. Auch bestand in der süddeutschen Bevölkerung von Anfang an aus Anlaß der nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Großherzog und dem preußischen Königshaus ein Verdacht gegen Baden, nach welchem sich dieses in einer schwankenden Lage zwischen seiner Pflicht als Bundesstaat und seiner Hinneigung zu Preußen befinden sollte. Dieser Verdacht, der gelegentlich auch in der Presse seinen Ausdruck fand, war jedoch zweifellos unbegründet. Vielmehr ließ der Großherzog vollkommen frei seine Minister walten, und diese hatte er genau, wie sie der Konflikt der beiden Großstaaten vorgefunden, in ihren Stellungen belassen. Ihre Wahl aber war durch die inneren Verhältnisse des Landes bestimmt gewesen. In dieser Beziehung stand in Baden alles unter dem Einfluß der im Jahr 1860 vorangegangenen Volksbewegung, die durch das mit der Kurie geschlossene Konkordat veranlaßt worden war. Gegen dieses Konkordat waren aus dem ganzen Lande zahlreiche Petitionen eingegangen, die den Großherzog veranlaßten, den leitenden Minister Stengel zu entlassen und den der liberalen Partei angehörigen August Lamey zum Minister des Innern zu ernennen. In der gleichen Zeit konstituierte sich dann die liberale Partei der badischen Kammer nach dem Vorbild der führenden Mehrheitspartei des preußischen Abgeordnetenhauses als »badische Fortschrittspartei«. Hier kam nun die gegen den Krieg gerichtete Bewegung in einer vertraulichen Beratung zum Ausdruck, zu der das gesamte Ministerium in dieser Zeit eine Anzahl Abgeordneter, zu denen auch ich gehörte, einlud. Dabei bot das Ministerium selbst in seiner Zusammensetzung ein treues Bild der in dieser Zeit überall in Deutschland herrschenden Ratlosigkeit, aber auch im ganzen einer gegen Preußen gerichteten Stimmung. Das Wort führte der Minister des Auswärtigen Freiherr von Edelsheim. Seine Reden bildeten eine Fortsetzung der Polemik, die er seit vielen Tagen in der solcher Dinge sehr ungewohnten offiziellen Karlsruher Zeitung gegen Bismarck richtete. Diesem Baron von Edelsheim, einem Herrn von überwältigender Körpergröße, dem Bruder eines österreichischen Dragonergenerals, sprach die Überzeugung von dem Recht Österreichs und von der bevorstehenden Niederlage Preußens aus jedem seiner Worte. Um so stiller hielt sich Lamey, der Minister des Innern. Er spiegelte in seinem ganzen Wesen die Verwirrung dieser Stunden; und von ganzem Herzen, in seinem Tun und Wesen ein echter Süddeutscher, hatte er seine großdeutsche Gesinnung in den vorangegangenen Kammerverhandlungen nicht verleugnet. Eine besonders charakteristische Figur war sodann der Finanzminister Vogelsang, der in einem fort versicherte, er könne noch immer nicht glauben, daß es wirklich zum Kriege kommen werde, und der allerdings, als ein an eine lange Friedenszeit gewöhnter Bureaukrat ohne politische Neigungen, sich in seinen finanziellen Maßregeln allzu wenig um die bedrohliche Lage gekümmert hatte. Dazu kam als ein weiterer schlechthin bureaukratischer Bestandteil der Regierung der Justizminister Stabel, ein bedeutender Jurist, aber spezifisch badischer Politiker, der den sich vorbereitenden Weltereignissen fremd und ängstlich gegenüberstand. Das weitaus hervorragendste Mitglied dieses Ministeriums war endlich Karl Mathy als damaliger Handelsminister, der die Reden Edelsheims und die finanzpolitischen Entschuldigungen seines Kollegen Vogelsang nur durch wenige, meist ironische Bemerkungen unterbrach, im übrigen aber dem Redestrom des österreichisch gesinnten Außenministers freien Lauf ließ.

In den gleichen Tagen spielte sich in der ersten Kammer der Landstände zwischen den beiden ihr angehörigen Staatsmännern, Robert von Mohl, der seinen Posten als Bundestagsgesandter in Frankfurt verlassen hatte, um dieser politischen Aktion beizuwohnen, und Bluntschli, dem Abgesandten der Universität Heidelberg, eine inhaltreiche Debatte ab, in der beide ihre weit voneinander abweichenden Ansichten über die Zukunft aussprachen. Mohl blickte düster in diese. Ein langer, vielleicht jahrelanger Krieg werde die deutschen Staaten in zwei feindliche Lager zwingen, um als wahrscheinlich letzten Erfolg die bleibende Spaltung des deutschen Bundes in zwei feindliche Staatengruppen herbeizuführen. Aus völlig entgegengesetzter Tonart klang Bluntschlis Rede. Mit einer merkwürdigen Voraussicht der Wirklichkeit prophezeite er, dieser Krieg werde der kürzeste sein, den die Welt seit langem gesehen, denn Bismarck sei ebenso den österreichischen Staatsmännern wie die preußische Armee in ihrer musterhaften Disziplin dem buntscheckigen österreichischen Heer überlegen.

Wenige Tage später, am 20. Mai, trat endlich in Frankfurt a. M. ein deutscher Abgeordnetentag zusammen, um eine laute Kundgebung des gesamten deutschen Volkes gegen den bevorstehenden Krieg zu veranstalten. Im großen Saal des Frankfurter Saalbaues fand sich eine Versammlung von Mitgliedern der Abgeordnetenkammern zusammen, wie sie Deutschland seit den Tagen der Paulskirche nicht wieder gesehen hatte. Die Süddeutschen waren vollzählig, die Mitteldeutschen sehr zahlreich vertreten, und aus Preußen und Norddeutschland waren mehrere Abgeordnete erschienen. Diese Kundgebung gegen den Krieg konnte daher als die eindrucksvollste gelten, die überhaupt stattfand, um so mehr als die Resolution, nach der der drohende Krieg als ein nur »dynastischen Zwecken dienender Kabinettskrieg« verurteilt wurde, noch die mildeste Fassung war, die schließlich Annahme fand, nachdem eine schärfere, die den Eintritt in den Krieg für Österreich und gegen Preußen als eine patriotische Pflicht verlangte, abgelehnt worden. Verstärkt wurde der Eindruck durch den Verlauf der Versammlung. Er ist unter allen parlamentarischen Versammlungen ein so tumultuarischer gewesen, wie ich ihn sonst niemals gesehen habe, und wie er zu jener Zeit überhaupt deutschen Gewohnheiten fremd war. Als nach erregter Debatte zwischen den Vertretern der beiden Anträge der bayrische Abgeordnete Völk den Majoritätsantrag begründete, erklangen plötzlich von der Galerie aus mehrere Kanonenschläge. Alles erhob sich, Völk trat vom Podium zurück. Im Parterre erhob sich Bluntschli mit dem Ausruf: »Fort nach Heidelberg zur Fortsetzung der Debatte!« Da sprang Schultze-Delitzsch auf das Podium und rief mit Stentorstimme in den Saal hinaus: »Hierbleiben, niemand rühre sich von der Stelle!« Das Wort wirkte momentan. Die Debatte wurde wirklich zu Ende geführt und die vom Ausschuß vorgeschlagene Resolution mit großer Majorität angenommen. Die Kanonenschläge stellten sich als harmlose Pedarten heraus, die außer dem beabsichtigten Schrecken kein Unglück herbeiführten. Aber unmittelbar nach der Versammlung wurde von den Demokraten der Galerie, denen sich eine große zusammengelaufene Menge anschloß, eine Volksversammlung abgehalten, die eine den Minoritätsantrag noch übertrumpfende Resolution annahm. Sie erklärte die preußische Politik für eine verbrecherische, der gegenüber Neutralität Feigheit oder Verrat sei!

Mit dieser dreifachen Demonstration hatte die antipreußische Bewegung in Deutschland ihren Kulminationspunkt erreicht. Dennoch, als wenig über einen Monat später die Schlacht von Königgrätz die Niederlage der österreichischen Armee besiegelt und jene Voraussage Bluntschlis in der Sitzung der ersten badischen Kammer glänzend bestätigt hatte, da trat nicht minder eine beinahe ganz Deutschland ergreifende Umwälzung der Volksstimmung ein, wie sie in so kurzer Zeit wohl niemals gewaltiger erfolgt ist. Nun war plötzlich Preußen der Hort der Zukunft, Bismarck, der vorher bestgehaßte deutsche Staatsmann, der Wiederhersteller des alten deutschen Reichs in neuer, verheißungsvoller Form geworden! Und jetzt vollzog sich allerdings diese Wendung verhältnismäßig am schnellsten in Baden. Das badische Bundeskontigent war getreu seiner Bundespflicht unter dem Kommando des Markgrafen Wilhelm, des Bruders des Großherzogs, gegen Preußen ins Feld gezogen. Immerhin hatte schon der Anfang des Feldzugs, wie es schien, eine retardierende Wirkung auf die kriegerischen Bewegungen dieser Armeeabteilung ausgeübt. Wenigstens die süddeutsche Presse war geneigt, als ein Telegramm des Prinzen mit den lakonischen Worten »Staubwolken, daher Rückzug« einlief, diesen Armeebericht auf ein Scheinmanöver zu deuten, das darauf berechnet sei, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Dieser Verdacht war vielleicht unbegründet. Jedenfalls trat die öffentliche Wendung der Dinge auch in Baden erst nach dem Friedensschluß ein. Das Ministerium, das uns Abgeordnete durch den Mund des Herrn von Edelsheim über die Zukunft des Landes belehrt hatte, löste sich auf. Zum leitenden Minister wurde Mathy, der während des Krieges entlassen worden war, zum Minister des Auswärtigen von Freydorf ernannt, die von da an der Regierung ihren in erster Linie den Anschluß an den norddeutschen Bund erstrebenden Charakter gaben und zu diesem Behufe, wo immer es möglich war, die Einführung übereinstimmender Einrichtungen, vor allem in der Wehrverfassung, erstrebten.

Die Lage des badischen Landes in der dem Jahre 1866 folgenden Zeit war keine beneidenswerte. Napoleon III. verfolgte den Plan, aus den süddeutschen Staaten unter dem Vorsitz Bayerns eine Art Pufferstaat herzustellen, der eine bis zu einem gewissen Grad neutrale Zone zwischen Preußen und seinen Affiliierten und Frankreich bilden sollte. Bayern war nicht abgeneigt, diese Stellung zu übernehmen, wie dies noch ein Jahr später, im Oktober 1867, eine von dem bayrischen Minister Hohenlohe, dem späteren Reichskanzler, in der bayrischen Kammer gehaltene Rede deutlich erkennen ließ. Die badische zweite Kammer reagierte auf diese Rede sofort mit einer Interpellation, in der sie dieses Programm weit von sich wies, und durch die sie eine natürlich in gleichem Sinne lautende Äußerung des Ministers von Freydorf provozierte. Da ich selbst diese Interpellation einbrachte, so weiß ich, daß sie, wie die meisten Interpellationen ähnlicher Art, mit dem Ministerium verabredet war, um jenem Projekt ein für allemal ein Ende zu machen. Übrigens ließ der norddeutsche Bund, soviel ich mich erinnere, die offizielle Bitte Badens um Aufnahme unbeantwortet. Auch als später Mathy noch einmal persönlich sich an Bismarck mit der gleichen Bitte wandte, antwortete dieser bedauernd, aber ablehnend.

Es war eine trübe Zeit, die nun folgte, und in der das Land Baden jahrelang die Rolle eines verstoßenen Kindes spielte, anscheinend ein selbständiger Staat und doch in allem dem Vorbild des norddeutschen Bundes folgend, jeden Augenblick bereit, diesem Bund beizutreten und doch immer wieder ablehnend beschieden. Nirgends ist wohl die Unhaltbarkeit dieser deutschen Zustände bis zum Ausbruch des Krieges von 1870 so fühlbar gewesen wie in Baden, und am drückendsten machte sich dieser Zustand in der Ständekammer geltend, die mehr und mehr die eigene Tätigkeit, soweit sie sich auf die allgemeineren deutschen Verhältnisse bezog, als eine überflüssige empfand. Mir persönlich wurde diese Lage schließlich unerträglich, und im Jahre 1868 legte ich mein Mandat nieder, um wieder ganz zu meinem akademischen Beruf zurückzukehren. Eines der letzten Ereignisse, die ich in Karlsruhe erlebte, war die Trauerfeier für Karl Mathy. Er hatte trotz einer heftigen Erkältung keine der täglichen Kammersitzungen versäumt, da erlag er am 3. Februar 1868 in wenigen Tagen einer Lungenentzündung. Der Zug, der seinem Sarg durch die Straßen Karlsruhes folgte, war eines der größten Leichenbegängnisse, die ich je gesehen habe. An der Spitze ging der Großherzog Friedrich, ihm folgten die Minister, die Landstände beider Kammern, die höheren Offiziere und Beamten der Stadt und zuletzt eine große Zahl von Karlsruher Bürgern und auswärtigen Verehrern und Freunden. Das Gefühl war in allen lebendig, daß in Mathy ein Mann geschieden sei, in welchem die politische Zukunft des Deutschen Reichs einen ihrer Besten verloren habe. Sein Gedächtnis ist uns in zwei Dokumenten aufbewahrt, die der Freundschaft ihren Ursprung verdanken, welche er, als er während mehrerer Jahre die Direktion der Leipziger Allgemeinen Kreditanstalt führte, mit Gustav Freytag geschlossen hatte. Das eine dieser Dokumente ist die im letzten Band der »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« enthaltene, von Mathy selbst verfaßte Schilderung seines Lebens als Volksschullehrer, das er, vor der trüben Reaktionszeit der dreißiger Jahre fliehend, in einem Dorf des Kantons Solothurn zubrachte. Das zweite Dokument ist die lesenswerte Biographie, die Freytag dem Andenken Mathys gewidmet hat.

5.

Von der Totenfeier Karl Mathys, die ich in gewissem Sinn als den Abschluß meines politischen Lebens betrachten darf, kehre ich zu meinen Anfängen zurück. Wenn es etwas gab, was mich innerhalb meiner politischen Laufbahn an diese Anfänge manchmal erinnerte, so waren es die Beratungen über das badische Schulgesetz, an denen es mir vergönnt war, teilzunehmen. Nicht als ob ich bei diesen Beratungen meinen eigenen pädagogischen Erfahrungen etwas hätte entnehmen können. Denn mir war das Schicksal beschieden, abgesehen von jenen beiden frühesten Jahren der Volksschule, die wohl mancherlei Erinnerungen, aber kaum irgend erhebliche Erziehungsresultate in der Seele des Kindes zurückließen, meine Jugend im Elternhause ohne Geschwister und ohne Mitschüler zu verleben. Von meinen drei älteren Geschwistern waren zwei vor meiner Erinnerung gestorben, und der einzige überlebende Bruder hatte, acht Jahre älter als ich, das Elternhaus in meiner frühesten Jugend verlassen, um bei einer Schwester meiner Mutter in Heidelberg untergebracht zu werden, wo er von der untersten Klasse an das Gymnasium besuchte und zusammen mit deren beiden Kindern, einem Sohn und einer Tochter, erzogen wurde. Ich selbst blieb dagegen im Elternhause, um vom zweiten Schuljahr an von einem neuen Vikar unterrichtet zu werden, der sein Zimmer mit mir teilte. Dieser noch ziemlich jugendliche Hilfsgeistliche meines Vaters mit Namen Friedrich Müller war nun mein eigentlicher Erzieher. Mich verband mit ihm eine Liebe, wie sie selten zwischen einem Lehrer und seinem Zögling vorkommt. Er stand mir näher als Vater und Mutter, und als er nach mehreren Jahren auf eine eigene in der Nähe liegende Pfarre in dem Orte Münzesheim berufen war, wurde ich von so unnennbarem Heimweh ergriffen, daß meine Eltern auf seine Bitte sich entschlossen, das Jahr, das ich noch dem Gymnasium ferngehalten werden sollte, mich zu ihm übersiedeln zu lassen. So verlebte ich denn schon die Jahre in Heidelsheim fast ohne Gefährten. Denn der allerdings beinahe tägliche Gefährte, den ich vor meinem Elternhaus anzutreffen pflegte, war ein Blödsinniger, etwas älter als ich, kaum der Sprache mächtig, aber unendlich gutmütig und sichtlich ebenso mir wie ich ihm zugetan. Außerdem verkehrte ich mit einigen Erwachsenen, die ich in ihren Wohnungen häufig besuchte. Da waren zunächst zwei ältere Frauen, die Töchter eines vormaligen Geistlichen des Ortes, mit ihrem etwas jüngeren Bruder, der den ihn nur wenig beschäftigenden Beruf der Buchbinderei betrieb. Er hinkte und war eine höchst originelle, in seiner Weise geistreiche Persönlichkeit. Er steckte voll abenteuerlicher Geschichten, die er dem Knaben erzählte und die er alle selbst erlebt haben wollte. Daneben war er jederzeit zu Scherzen, Verkleidungen und Komödienspielen bereit, so daß der Verkehr mit ihm um so mehr eine Quelle unaufhörlicher Unterhaltung war, als ich seine Geschichten doch immer halb und halb glaubte und er überdies in seinen bald erheiternden, bald staunenerregenden Bemühungen auch von den beiden Schwestern in etwas gemäßigterer Weise unterstützt wurde. Waren nach dem Hause dieses trefflichen Geschwistertrisoliums, das dem unseren gerade gegenüber lag, fast täglich einmal meine Schritte gerichtet, trotz der Gefahren, die mir auf dem Wege dahin über den Marktplatz von den verfolgenden Dorfgänsen drohten, so gab es noch einige andere Freundschaften, die ich zuweilen pflegte. Da war es besonders eine Judenfamilie, die nicht nur mit mir, sondern auch mit meiner Mutter einigen Verkehr hatte. Die Großmutter dieser Familie handelte mit allerlei Waren und verfehlte nicht, um die jüdische Osterzeit einige Osterbrote als Geschenk zu überbringen; der Vater wanderte Tag für Tag als Hausierer in der Umgegend herum. Für mich aber war es ein besonderes Fest, wenn ich ihn gelegentlich einmal in die Synagoge begleiten durfte oder wenn ich von ihm zu dem Laubhüttenfest in seine Wohnung geladen wurde. Noch stehe ich unter dem erhebenden Eindruck, den es auf mich machte, wenn der Mann, den ich sonst nur gebückt unter seinem über die Schulter gehängten Sack durch die Straßen gehen sah, aufrecht und feierlich, von schmückendem Laub umgeben, die Festgebete rezitierte.

Gegenüber solchem regelmäßigeren Verkehr bildete die Teilnahme an dem Spiel, namentlich dem Ballspiel, einer größeren Zahl zufällig auf dem Marktplatz zusammengelaufener Straßenjungen eine seltene Ausnahme, die mir übrigens auch wenig Freude bereitete, da ich meine Mitspieler mir an körperlicher Gewandtheit beträchtlich überlegen fühlte. Nur ein einziges alljährlich am Ostertag unter der Teilnahme der gesamten Dorfjugend stattfindendes Fest blieb auch mir nicht erspart: das war das Wettspiel der Ostereier am Ostermontag nach der Kirche. Vor dem Gottesdienst waren den Kindern die Ostereier, meist unter Blumen und Büschen versteckt, beschert worden; dann fand sich mit auserlesenen Eiern bewaffnet die Jugend in einem dichten Haufen auf dem Marktplatze ein, wo das Eierpicken begann. Der Junge, dessen Eispitze die des anderen zertrümmerte, erhielt dieses als Gewinn. Es pflegte aber unter den Wettenden niemals an solchen zu fehlen, die künstliche Eier hergestellt hatten, welche ihres Eiinhalts entleert und mit Pech gefüllt waren. Zwar entging dieses Verbrechen, wenn es entdeckt wurde, nicht einer tüchtigen Prügelstrafe. Aber es wurde doch oft genug nicht entdeckt, und namentlich der Pastorensohn ging in der Regel betrübt, weil eines beträchtlichen Teils seiner Eier auf diesem Wege beraubt, wieder nach Hause.

Meine früheste Erziehung lag hauptsächlich in den Händen meiner Mutter, die mich mit unendlicher Güte behandelte, es aber dabei doch auch nötigenfalls an einer empfindlichen körperlichen Strafe nicht fehlen ließ, wogegen ich mich von seiten meines Vaters, abgesehen von der früher erzählten Schulstrafe, im Hause selbst an nicht seltene Liebkosungen erinnere, bei denen er sich manchmal der seltsamsten Kosenamen bediente. In der Familie waren meine Eltern wegen ihrer Neigung, Geselligkeit zu pflegen, berühmt, während sie doch beide wegen ihrer sonst sehr entgegengesetzten Eigenschaften, die Mutter wegen ihrer strengen Sparsamkeit, der Vater wegen seines Mangels an dieser bekannt waren. Von mir wurde infolgedessen schon in meiner frühen Jugend behauptet, die Neigung zur Geselligkeit sei auf mich von beiden Eltern, der Mangel an Wirtschaftlichkeit aber bloß vom Vater übergegangen.

Übrigens ist mir die Eigenart meines Vaters aus vielen einzelnen Zügen in lebhafter Erinnerung. Er war jederzeit zu Scherzen und zum Erzählen heiterer Anekdoten aufgelegt. Freigebig aber war er im Übermaß. Noch bestand zu jener Zeit die Einrichtung, daß das Gehalt des Geistlichen zu einem großen Teil in den Naturalien bezahlt wurde, die von dem Ertrag der verpachteten Pfarräcker entfielen. Keiner der Bäuerlein, die einen Teil dieses Ertrags zu liefern hatten, tat aber eine Fehlbitte, wenn er wegen der schlechten Zeiten um Erlaß seiner Jahresschuld bat, bis endlich wegen der bedenklichen Folgen dieser Freigebigkeit die Verwandten es durchsetzten, daß meine Mutter die Verwaltung übernahm.

Zuweilen wurde ich mitgenommen, wenn meine Eltern in der benachbarten Stadt ihre Einkäufe machten. Bei solchen Geschäften bestand nun die allgemeine Sitte, daß der Käufer an dem Preis etwas herunter handelte, und meine Mutter machte von dieser Sitte ziemlich reichlichen Gebrauch. Dabei geschah es denn, daß sich mein Vater in diesem Streit auf die Seite des Kaufmanns stellte, so daß dieser, der ein ehrlicher Mann war, gelegentlich wieder umgekehrt die Partei der Mutter nahm und ihm entgegnete: »Es geht schon an, Herr Pfarrer, daß ich den Preis etwas herabsetze!«

Dagegen reichte beider Teilnahme an meinem Unterricht nur in meine früheste Lebenszeit zurück, wo mein Vater zuweilen des Abends mir etwas Geographie beibrachte und meine Mutter mich mit französischen Wörtern oder Sätzen bekannt machte. Es mag sein, daß in beiden Fällen der eigene Jugendunterricht der Eltern nachwirkte. Mein Großvater väterlicherseits, den ich nicht mehr gekannt habe, war Pfarrer in dem Ort Wieblingen und daneben Professor der Landeskunde und Volkswirtschaft an der Universität Heidelberg gewesen; meine Mutter war in der späteren bayrischen Pfalz geboren und war dort unter der Leitung einer französischen Erzieherin des Französischen so mächtig geworden, daß sie, obgleich sie es später nicht mehr übte, doch noch als 40jährige Frau mit einem gelegentlich das Dorf passierenden französischen Hausierer sich zu meinem Erstaunen trefflich zu unterhalten wußte.