PROFILE - Die Prognose - Christy Seifert - E-Book

PROFILE - Die Prognose E-Book

Christy Seifert

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Beschreibung

Ein packendes Jugendbuchdebüt über ein hochaktuelles Thema Nach einem Amoklauf an der Quiet High soll das Programm PROFILE voraussagen, welche Schüler ein Sicherheitsrisiko darstellen. Als die Ergebnisse veröffentlicht werden sollen, kommt jedoch erst recht Unruhe auf … »Ich hebe den Kopf so weit ich kann, bis mein Hals ganz gestreckt ist. Meine Hände sind auf dem Rücken gefesselt. "Warum tust du das?", frage ich. Er schweigt einen Moment, während er meinen Kopf loslässt, doch sobald ich mich mühsam aufsetze und mich hektisch im Raum umblicke, schlägt er meinen Kopf wieder zurück auf den Boden und bohrt mir sein Knie ins Gesicht. "Wir hätten wissen müssen, dass das passieren würde", sagt er. "Es wurde vorhergesagt. Von PROFILE"«

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Christy Seifert

PROFILE, Prognose

Roman

Aus dem Amerikanischen von Maria Poets

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungPrologTeil 1 Getrennt1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelTeil 2 Zusammen8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelTeil 3 Einer von ihnen15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. KapitelDanksagungen

Für meine Mama

Prolog

Der Teppich mit dem Rosenmuster erinnert mich an das Gästezimmer im Haus meiner Großmutter. Als Kind hüpfte ich immer von Blüte zu Blüte. Wenn ich auf dem weißen Zwischenraum oder einem Blatt landete, musste ich wieder von vorn anfangen. Alles im Gästezimmer meiner Großmutter – ich nannte es immer mein Zimmer – war in demselben leicht violetten Farbton gehalten wie die Rosen auf dem Teppich. Selbst die kleine Kugel am Ende der Schnur, mit der ich das Licht ein- und ausschaltete, passte farblich zu den Blumen.

Ich kann mich nicht erinnern, ob die Farben in diesem Raum zueinanderpassen, aber ich kann auch nicht viel erkennen. Eine Seite meines Gesichts schlägt auf dem Teppich auf, und ich spüre eine Hand, die grob gegen die andere drückt. »Was hast du mit mir vor?«, frage ich, aber ich bezweifle, dass er mich versteht, weil meine Wangen eingezogen sind wie bei einem Kind, das einen Fisch nachmacht.

»Klappe halten«, sagt er, aber er sagt es freundlich, als würden wir nur herumalbern.

»Bitte«, sage ich, und der Druck auf meinen Kopf lässt nach.

Ich hebe den Kopf, so weit ich kann, bis mein Hals ganz gestreckt ist. Meine Hände sind auf dem Rücken gefesselt.

»Warum tust du das?«, frage ich.

Er schweigt einen Moment, während er meinen Kopf loslässt, doch sobald ich mich mühsam aufsetze und mich hektisch im Raum umblicke, schlägt er meinen Kopf wieder zurück auf den Boden und bohrt mir sein Knie ins Gesicht.

»Wir hätten wissen müssen, dass das passieren würde«, sagt er. »Es wurde vorhergesagt.«

Teil 1 Getrennt

1. Kapitel

Achtung: Auf dem Schulgelände hat es eine Schießerei gegeben. Das Gebäude ist momentan vollständig abgeriegelt. Neuigkeiten werden hier bekanntgegeben.

(Website der Quiet High)

»Ach herrje«, sagt Mrs McClain. Ihre mit Altersflecken übersäte Hand schwebt wenig hilfreich über dem Feuerlöscher.

»Widerlich«, sagt ein Mädchen, das allen Ernstes Lexus heißt, als ich fertig bin. Angeekelt schüttelt sie ihre Mähne aus weichen Haaren.

»Kann jemand dem Mädchen bitte etwas Wasser bringen?«, ruft Mrs McClain und wird endlich aktiv.

»Mir fehlt nichts«, sage ich. »Es ist nur meine erste Woche an der Schule.« Ausdruckslose Blicke um mich herum. Was sie nicht wissen, ist, dass mir das jedes Mal in der ersten Woche an einer neuen Schule passiert, obwohl dies hier seit dem Kindergarten meine neunte neue Schule ist. Es ist nicht immer genau das, aber irgendetwas ist immer. Am ersten Tag in der zweiten Klasse kotzte ich in Mrs Horvaths Tasche. Am dritten Tag der vierten nieste ich so heftig, dass eine Ader in meiner Nase aufplatzte und ein Kind, dessen Namen ich längst vergessen habe, über und über mit Blut besudelt wurde. In der siebten Klasse lehnte ich mich gegen den Feueralarm und löste die Sprinkleranlage aus. In der Zehnten? Da erwischte ich mit dem Auto ein Stück vereiste Fahrbahn und fuhr dem Co-Direktor über den linken großen Zeh (und verlor meinen vorläufigen Führerschein). Dieses Mal war es ein Erstickungsanfall.

Ich hatte einfach dagesessen, mein Kaugummi gekaut und versucht, irgendwie die komaauslösende Erklärung zu überstehen, wie man chemische Reaktionsgleichungen ausgleicht, als ich spürte, wie mir der fruchtige Klumpen in die Kehle rutschte. Plötzlich bekam ich absolut keine Luft mehr. Nach einem kurzen Moment der Panik stand ich auf und taumelte umher, unsicher, was ich tun sollte. Meine Füße verfingen sich im Riemen meiner Tasche, und ich schwankte wie ein Zombie von einer Seite zur anderen. Schließlich sprang der Junge vor mir auf und kam auf mich zu. Ein, zwei, drei, dann vier schmerzhafte Heimlich-Manöver später – unter den wachsamen Blicken von zweiundzwanzig Augenpaaren, darunter dem aus Mrs McClains wässrigen Augen – spuckte ich den Kaugummi aus und sog eine Riesenportion Luft ein.

Kurz darauf reiherte ich meinem Retter auf die Schuhe.

Hallo, Quiet High, da bin ich!

»Holt ihr etwas Wasser«, schreit Mrs McClain erneut. Mein Retter taucht vor mir auf. »Du kommst wieder in Ordnung«, sagt er beruhigend. Ich nicke. »Ich bin übrigens Jesse.« Er streckt die Hand aus, als würden wir auf einer Cocktailparty plaudern und auf Zahnstocher gespießte Hackfleischbällchen futtern, anstatt dazustehen mit einer Pfütze Kotze zwischen uns. »Nett, dich kennenzulernen«, sagt er ohne eine Spur von Sarkasmus.

»Äh, danke«, sage ich zu dem Typ, diesem merkwürdigen Außenseiter unter all den Cowboys und Sportskanonen, die die Quiet High bevölkern. Was soll ich sonst sagen? Tut mir leid, dass ich meinen Mageninhalt auf deine Skechers ausgeleert habe? Ich rechne damit, dass er sich von dem bissigen Ton meiner Stimme beleidigt fühlt – oder zu angeekelt, um sich mir zu nähern –, doch er schenkt mir ein halbes Lächeln und beugt sich vor, um meine Tasche wieder gerade hinzustellen, weil der Inhalt oben herausquillt.

Ich beuge mich gleichzeitig mit ihm herunter. So aus der Nähe stelle ich fest, dass seine strahlenden Augen hinter der modischen Brille mit Kunststoffgestell braun sind und sich die Wimpern leicht nach oben biegen. Um den Hals trägt er einen schmalen, locker gebundenen Schlips.

Schließlich reicht Mrs McClain selbst mir einen Becher lauwarmen Wassers. »Es wird schon wieder, Schätzchen«, gurrt sie. Mit ihrer warmen, knochigen Hand tätschelt sie mir behutsam den Rücken und bläst mir dabei ihren Kaffeeatem ins Gesicht. Als sie auf den Boden schaut, verzieht sich ihr faltiges Gesicht. Ihre Stimme verändert sich. »Du musst das hier auf der Stelle saubermachen. Gesundheitsschutz«, fügt sie scharf hinzu. Ihre knochige Hand fühlt sich jetzt wie eine kalte Klaue an, die sich langsam über mein Schulterblatt schiebt.

»Oh«, sage ich. »Wo sind die …« Ich verstumme, als mir klarwird, dass ich keine Ahnung habe, womit man Kotze wegmacht. Wie wäre es mit einem Chemikalienschutzanzug?

»Dort drüben.« Sie deutet auf eine Abstellkammer in der Ecke des Raumes. »Wischlappen, Eimer, Papiertücher, Desinfektionsmittel, Gummihandschuhe, Sand – alles, was du brauchst.« Sand? Wofür brauche ich Sand? Was genau erwartet sie jetzt von mir?

Widerstrebend gehe ich zu der Kammer, während um mich herum die Unterhaltungen wieder aufgenommen werden. Schmalschlips folgt mir zum Schrank. Ich verscheuche ihn mit einer Handbewegung, teils ein »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast« und teils ein »Bitte sprich nie wieder mit mir, denn das alles ist mir total peinlich.« Ich betrete die feuchtkalte Dunkelheit, schließe die Tür hinter mir, bis der Riegel mit einem befriedigenden Klicken einrastet, und hole tief Luft. Unter der Tür fällt gerade genügend Licht aus dem Klassenraum hindurch, damit ich mich mühelos zurechtfinde. Ein vom Boden bis zur Decke reichendes Regal an der Rückwand ist mit Schulbüchern und allem möglichen Zeug vollgestopft: Messbechern, Reagenzgläsern, Reinigungsmitteln und einer seltsamen Sammlung von Figuren, die sich bei genauerem Hinsehen als Star-Wars-Charaktere entpuppen. Links entdecke ich ein kleines Waschbecken. Ich beuge mich darüber und schlürfe das kalte Wasser wie ein Hund, der kurz vor dem Verdursten ist. Ich spüle mir ein paarmal den Mund aus, ehe ich mir das Gesicht wasche und in den winzigen Spiegel blinzele. Es ist zu dunkel, um zu erkennen, ob ich genauso scheußlich aussehe, wie ich mich fühle. Ich überlege, ob ich das Licht einschalten soll, entscheide mich aber dagegen. Die Dunkelheit hat etwas Tröstliches.

Das gedämpfte Murmeln aus dem Klassenraum dringt kaum durch die schwere Holztür. So fern von Mrs McClains einlullender, kratziger Stimme fühle ich mich fast entspannt. Eigentlich ist es ganz nett hier, so ähnlich stelle ich mir eine Totenkammer vor, nur dass es hier wärmer und nicht so unheimlich ist. Ich gehe zu einem Rot-Kreuz-Eimer in der Ecke und drehe ihn um, um es mir darauf bequem zu machen. Wieso sollte ich mich abhetzen, um Kotze aufzuwischen? Wenn ich lange genug warte, verschwindet sie vielleicht einfach so. Oder vielleicht verschwinde ich. Ich stütze meine Füße gegen einen Bücherstapel und lehne mich an das Regal. Ich drifte in einen angenehmen Zustand irgendwo zwischen Wachen und Schlafen, ein Mittelding, das keinen guten Ruf hat.

Etwas später – ob Sekunden oder Minuten, weiß ich nicht – höre ich die Schreie, das plötzliche Füßescharren und Tischerücken und einen Chor gequälter Rufe. »Hilfe!«, brüllt jemand über den Krach hinweg.

Und dann, so schnell, wie es begonnen hat, wird es wieder still, und ich frage mich, ob ich mir das alles nur eingebildet habe. Meine Lähmung lässt rasch nach, und ich stürze zur Tür, wobei ich in meiner Hast den Eimer umstoße. Ich stolpere über den Griff und kann mich gerade noch fangen, ehe ich kopfüber zu Boden gehe. Meine Hand liegt schon auf dem Türknauf, als ich es höre: Mrs McClains Stimme ist klar, ruhig und seltsam gleichgültig, als würde sie von ihren Hühneraugen reden.

»Er hat eine Waffe«, sagt sie. »Niemand rührt sich von der Stelle.«

2. Kapitel

Die Zukunft eines Menschen sehen zu können. Danach haben wir von jeher gestrebt. Wir wollten wissen, wodurch ein gutes Kind gut und ein schlechtes schlecht wird. Kann man uns das zum Vorwurf machen? Also verbrachten wir Jahre damit, zu erforschen, was die Menschen antreibt. Und was geschah? Wir fanden eine erstaunliche, wunderbar einfache Antwort: Das Gehirn ist auch nicht viel komplizierter als eine Kristallkugel. Wenn man hineinschaut, sieht man alles, was man wissen will.

(Dr. Mark Miller, Forschungsleiter bei Utopia Laboratories)

Ein durchdringender Schrei schrillt durch den Klassenraum. Er scheint beinahe zu fliegen, unter der Spalte der Tür zur Abstellkammer hindurchzuschlittern und auf mir zu landen. Ich zucke am ganzen Körper zusammen, als er mich trifft. Eine Kakophonie von Beobachtungen setzt draußen ein:

»Er läuft auf diesen Raum zu! Ich kann ihn im Flur sehen!« Jemand ist also mutig genug, um aus der Tür zu spähen.

»Verbarrikadiert die Türen!«

»Die Tische sind am Boden festgeschraubt!«

»Die Tür lässt sich nicht abschließen!«

»Er wird uns sehen! Geht nicht hinaus!«

»Ruhe! Niemand redet!«

Schreie verwandeln sich in Wisperlaute, Schluchzen in Hickser und rotziges Schniefen.

»Er ist fast hier.« Seltsamerweise wird diese letzte Bemerkung von einem unheimlichen Kichern unterstrichen.

Ich höre schnelle, stakkatohafte Knallgeräusche. Es könnten genauso gut ein paar Knaller vom Vierten Juli sein, konkurrierende Snare-Drums oder die Fehlzündung eines Vergasers. Aber es ist eine Waffe. Lange Pausen zwischen den Schüssen lassen mich am ganzen Körper zittern – fortlaufendes Knallen dagegen wirkt fast beruhigend. Er ist immer noch weit weg. Er ist nicht hier. Noch nicht.

Ich bin wie erstarrt, meine Hand klebt immer noch am Türknauf. Plötzlich wird mir bewusst, dass es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gekracht hat – seit mindestens ein paar Minuten.

»Er ist verschwunden! Ich kann ihn nicht sehen!« Die Stimme klingt kräftig, aber zögerlich. Sie gehört demjenigen, der Ausschau hält, dem Jungen, der Manns genug ist, um zu versuchen, die ganze Klasse zu beschützen. Ich weiß, wer es ist: Sam Cameron, der blonde Riese, der mir vor dem Erstickungsanfall gegenübergesessen hat – der Mann im Haus.

Vorsichtig öffne ich die Tür, meine Hand ist ruhig und fest. Langsam, ganz langsam ziehe ich die Tür ein paar Zentimeter auf, doch etwas blockiert meinen Blick. Ein kräftiger Rücken füllt die Türöffnung aus. Auf jeder Seite des Türrahmens sind Hände. Ich könnte nicht hinaus, selbst wenn ich wollte. Es ist ein Wachposten – ein schmalbeschlipster Wachposten. »Bleib, wo du bist«, sagt Jesse zu mir.

Und dann scheint alles auf einmal zu passieren. Die Schüsse, das zersplitternde Fensterglas, die lauter werdenden Stimmen, das gestöhnte »O Gott«, das über den ganzen Lärm hinweg zu hören ist. Jemand schreit: »Er kommt durch das Fenster!«

Warum hält ihn denn niemand auf, denke ich. Wo sind die Cops? Schmeißt ihn aus dem Fenster! Boxt ihm ins Gesicht. Tut irgendetwas!

»Lass mich raus«, befehle ich Jesse. Es ist irrational. Warum sollte ich jetzt rauswollen?

Er kommt. »Ich will etwas sehen«, wimmere ich. Meine Angst wächst, weil ich nicht sehen kann, was alle sehen können. Wäre es nicht besser, wenn ich die Augen des Amokläufers sehen könnte, den Lauf der Waffe, die Angst in den Augen des Mädchens, das so laut schreit, dass ich meine eigenen Gedanken nicht mehr höre?

»Bleib!«, blafft Jesse mich an. »Bitte«, fügt er sanfter, fürsorglicher hinzu.

Das ist es, dieses Bitte. Es ist der letzte Nagel zu dem, was mir wie mein Sarg vorkommt. Ich will raus! Hier drinnen gibt es nicht genügend Luft. Panik steigt in mir auf, und ich spüre, wie sie durch meine Nase zischt. Ich will nur etwas Luft, etwas Licht, etwas Platz. »Lass mich raus!« Ich weine und drücke kräftig gegen seinen Rücken, bis mir die Handgelenke weh tun. Aber nichts geschieht. Er rührt sich keinen Millimeter. Ich stoße kräftiger, und er dreht sich unvermittelt um. Ich falle nach vorne, fange mich wieder und mache zwei Schritte zurück. Dann ist er mit mir in der Abstellkammer. Die Tür ist geschlossen, er lehnt mit dem Rücken dagegen. Er packt meine Schultern. »Pst«, flüstert er. »Er wird uns hören. Er ist jetzt im Zimmer. Ich kann ihn da draußen hören. Er hat mich nicht gesehen. Ich bin sicher, dass er mich nicht gesehen hat.«

Unerklärlicherweise kann ich wieder klar denken, mein Herzschlag beruhigt sich, meine Hände hören auf zu zittern. Ich kann atmen. Er ist hier drin. Es ist so gut wie vorbei. Irgendwie fühlt sich das besser an. Ich atme durch die Nase. Ein und aus. Ein und aus. »Gut«, sagt Jesse. Er lässt seine Hände sinken und ergreift meine Finger.

»Was ist da draußen los?«, frage ich. Jesse wendet sich zur Tür und presst sein Ohr dagegen. Peinlicherweise hält er immer noch meinen rechten kleinen Finger fest. »Er redet.« Jesse lauscht. Ich mache leise einen Schritt nach vorn und presse mein Ohr neben seines.

Die Stimme des Amokläufers ist tief und rau. Seine Kehle ist wund, denke ich. »Ich hasse Volldeppen«, sagt er gerade. »Ich hasse all diese Trottel, die Spastis, die Leute, die mir alles versauen. Ich bin zu gut dafür. Zu gut für diese Scheißwelt. Kapiert? Niemand wird mich jemals verstehen. Ich bin ganz allein.« Er ist verrückt. »Tod dem Sozialismus!«, ruft er triumphierend. »Tod den Politikern und dem Establishment und den sogenannten Machthabern!«

»Hey, Alter.« Eine Stimme in der Ecke versucht, ihn zu beruhigen. Wieder ist es Sam.

»Schnauze!«, brüllt der Amokläufer. »Keiner von euch soll das hier vergessen! Seht mich an! Alle! Ich will, dass ihr euch daran erinnert, wie es ist, mich anzusehen – zu sehen, wie ich schieße. Ihr träumt nicht, absolut nicht, also passt gut auf!«

Ehe ich reagieren kann, gibt Jesse mir einen kräftigen Schubs. Er hält mir mit festem Griff den Mund zu, so dass ich keinen Ton von mir geben kann. Beinahe elegant schiebt er mich zum Waschbecken an der Seite und drückt kräftig auf meine Schultern.

»Wer ist da?«, brüllt der heisere Amokläufer aus dem Klassenraum. »Wer ist da?« Er kommt auf uns zu, näher an der Abstellkammer. »Haben wir irgendwelche Freiwilligen da drin? Freiwillige, die wissen wollen, wie es ist, durch meine Hand zu sterben?«

Jesse öffnet den Schrank unter dem Waschbecken. »Rein da«, zischt er. Als ich zögere, versetzt er mir einen kräftigen Stoß.

»Ich kann nicht«, sage ich und starre den winzigen Schrank in der Dunkelheit an. »Da passe ich nie rein.« Er legt mir die Hände auf den Kopf und zwingt mich, mit dem Kopf voran in den winzigen Raum zu kriechen. Ich verliere einen Schuh. Als er die Schranktür schließt, verfehlt er nur knapp meinen Zeh. Ein heftiger Schmerz schießt mir in den Rücken, meine Beine, meine Arme. Ich wusste gar nicht, dass sich mein Körper so zusammenfalten lässt. Mein Nacken tut weh. Meine Wange wird gegen meine verschwitzten Fußknöchel gepresst.

Ein Klopfen an der Tür zur Abstellkammer. »Komm raus«, ruft der Amokläufer in einem leiernden Singsang. »Komm raus und erleb das Größte, das du je erleben wirst!«

Vor dem Schrank rennt Jesse hektisch und verzweifelt hin und her. Ich höre, wie Bücher zu Boden fallen, die Star-Wars-Figuren zerbrechen unter seinen Schuhen, das Metallregal kratzt über den Betonfußboden. Er blockiert die Tür, denke ich hoffnungsvoll.

Jemand rüttelt am Türknauf. »Verdammter Mistkerl«, sagt der Amokläufer. »Sie ist blockiert.«

Jesse wuselt immer noch herum. Ich höre ihn leise murmeln, während weitere Gegenstände vom Regal fallen. Ich will aus diesem furchtbaren Schrank heraus, in dem Wasser aus dem Abfluss auf meinen Kopf tropft und mir der Geruch von verrosteten Leitungen in die Nase steigt, doch ich kann mich nicht bewegen. »Wenn du es so willst«, schreit der Amokläufer, »dann spielen wir eben. Sehr schlau übrigens. Aber nicht so schlau wie ich. Bei weitem nicht.«

Draußen heulen Sirenen auf. Wie lange sind sie schon da? Wie lange dauert das hier schon? Sekunden? Stunden? Tage? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

»Komm da raus«, brüllt der Amokläufer wutentbrannt, »oder ich fange hier draußen an zu schießen! Du hast die Wahl: du oder die anderen. Fühlst du dich heute wie ein Held?«

»Geh nicht«, sage ich, aber ich bekomme nicht genug Luft in meine Lungen, um mich über die Sirenen und den Krach in der Abstellkammer hinweg verständlich zu machen. Jesse zieht an irgendetwas. Ich kann hören, wie er knurrt: »Und ich zähle bis drei. Uno, dos …«

Rumms! Das Geräusch hallt wider. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmt mich in diesem Schrank, obwohl ich nicht weiß, was geschehen ist. Trotzdem bin ich ganz ruhig.

Doch dann geht die Waffe los, so laut, dass mir das Trommelfell wehtut. »Hilfe«, versuche ich zu sagen, aber wer ist noch da, um mich zu hören?

3. Kapitel

Gemobbt? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Er wurde nicht gemobbt. Er hat gemobbt.

Er war ein seltsamer Typ, manchmal richtig unheimlich. Er mochte Waffen. War ganz besessen vom Tod. Er hasste die meisten Leute, weil er sie alle für Trottel hielt.

In gewisser Weise konnte ich nachvollziehen, wo das bei ihm herrührte.

Wir haben zusammen im Pizza Himmel gearbeitet. Er war ziemlich cool. Ich glaube, er hat sich ziemliche Sorgen gemacht, weil er bei den Frauen ständig Pech hatte. Darüber hat er oft geredet.

Ich kannte ihn nicht einmal. War er neu hier?

Ich habe gehört, er hatte eine Todesliste.

Seine Eltern sind für diese Katastrophe verantwortlich. Sie sollten jetzt im Gefängnis sitzen.

(Interviews mit Schülern und Lehrern der Quiet High)

»Bist du sicher?«

»Natürlich«, sage ich verärgert. »Ich bin absolut so weit, wieder in die Schule zu gehen, Mutter.« Ich betone das letzte Wort, weil ich weiß, dass es sie nervt. Vor langer Zeit schon hat sie darauf bestanden, dass ich sie mit ihrem Vornamen anreden soll. »Das ist viel erwachsener«, hatte sie mir erklärt. Damals war ich fünf.

Jetzt wirft Melissa mir nur einen mitfühlenden Blick zu, einen von denen, die sie sich für die Momente aufspart, wenn sie vor Mitleid fast zerfließt, wie damals, als ich mir den Zeh gebrochen hatte oder als ich beim Wissenschaftswettbewerb nur Dritte wurde. Es bedeutet immer, dass sie noch aufgewühlter ist als ich.

Seit jenem Tag ist eine Woche vergangen, und ich habe es satt, zu Hause rumzusitzen. Die Quiet High war sieben lange Tage geschlossen gewesen, während Mitarbeiter und freiwillige Helfer die kaputten Möbel und Fenster repariert, die Flure und Klassenräume saubergemacht und die Einschusslöcher verputzt hatten. »Eine dicke Schicht Farbe, und es ist wie neu«, hatte der Vorsitzende der Schulverwaltung in einem Fernsehinterview behauptet.

»Ich weiß nicht«, sagt Melissa skeptisch. »Du hast ein schreckliches Trauma erlitten.«

Trauma. Wenn ich das Wort noch einmal höre, dann schreie ich. Melissa hört sich an wie die Frau mit den fransigen Locken, die zwei Mal hier war, um mich zu nötigen, über das zu reden, was geschehen ist. »Du erlebst einen Flashback, stimmt’s?«, fragte sie, als ich an ihren wirren, wie Flügel abstehenden Haaren vorbeistarrte und versuchte, ihre schrille Stimme auszublenden. Ich fühle so ziemlich gar nichts, und ich will nicht darüber reden. Doch seit Jesse mich an jenem Morgen aus der Schule geführt hatte, weil meine Beine so taub waren, dass ich kaum laufen konnte, rechnet Melissa mit meinem Zusammenbruch. Jesse musste mich festhalten, und ich lehnte mich gegen seine Brust, spürte sein Herz kräftig und sicher schlagen.

Jesse war der Held des Tages. Nachdem der Amokläufer das Schloss mit Leichtigkeit aufgebrochen und die Tür zur Abstellkammer zerschmettert hatte, hatte Jesse ihm mit einem metallenen Regalbrett, das er vorher aus der Wand gerissen hatte, eins übergebraten. Der Amokläufer brach benommen zusammen, die Waffe auf den Boden gerichtet. So stellte ich es mir zumindest vor. Den Rest hörte ich von Melissa, die tagelang andächtig jede Nachrichtensendung verfolgte. Sie haben die ganze Sache nachgestellt, mit diesen niedlichen, animierten Diagrammen, in denen eine Figur steifbeinig durch den Gang schleicht, wo vereinzelte Xe den Rest von uns Schülern darstellen sollten. Ich habe nicht viel davon gesehen, aber Melissa hat mir erklärt, wie es abgelaufen ist. Am Ende stand Jesse über dem Amokläufer, als der seine Waffe anhob. Sein Arm zitterte heftig. Jesse wich zum Schrank unter dem Waschbecken zurück. Er stand vor mir. In dem Moment zog der Amokläufer den Abzug.

Aber er hat nicht Jesse erschossen. Der Amokläufer hat sich selbst getötet. Nach all dem, nach seiner ganzen Protzerei und der Zerstörung und der Angst hat er lediglich sich selbst umgebracht. Ich war stinksauer, als ich es herausfand. Irgendwie war das nicht richtig. Jetzt werde ich ihn niemals fragen können Warum?.

In den ersten paar Tagen kampierten die regionalen und landesweiten Medien vor unserem Haus, aber ich bin nie rausgegangen. Sie haben nur ein Bild von mir, das aufgenommen wurde, direkt, nachdem Jesse mich aus dem engen Schrank gezogen hatte. Auf dem Foto hält er mich in einem Arm, das Metallbrett in dem anderen. So war ich auf der Titelseite der Quiet Daily News zu sehen, mit rotem, verschwitztem Gesicht, verwirrt und erschöpft aussehend, als sei ich gerade einen Marathon gelaufen, ohne es zu merken.

»Gibt’s was Neues in den Nachrichten?«, frage ich Melissa, während ich widerstrebend einen Löffel lauwarmen Haferbrei in den Mund schaufle. Ich wische mir die Lippen ab und stampfe mit dem rechten Fuß auf, der neuerdings dazu neigt, aus heiterem Himmel taub zu werden. Melissa sagt, das wird bald wieder verschwinden.

»Sie haben wieder drei Leute aus dem Krankenhaus entlassen. Es ist wirklich unglaublich.« Melissa bezieht sich auf die Zahl der Toten: insgesamt einer. Und das ist der Amokläufer selbst. Glück für uns, dass er entweder ein miserabler Schütze war oder lieber auf Gegenstände als auf Leute zielte. Die Gewehrkugeln haben Vitrinen mit Trophäen zerschmettert, Schließfächer zertrümmert, Spruchbänder zerrissen und den Kopf des ausgestopften Gürteltiers zerfetzt, das als Maskottchen über dem Schulbüro hing. Von den fünfundzwanzig verletzten Personen waren alle indirekt getroffen worden, entweder von herumfliegenden Trümmern oder Querschlägern. Inzwischen liegen nur noch zwei Personen im Krankenhaus: Ein Zehntklässler hat sich das Bein gebrochen, als er auf einer Wasserlache unter einem tropfenden Wasserbrunnen ausgerutscht ist, und eine Sekretärin hat während der Schießerei einen leichten Herzinfarkt erlitten. Sie war an dem Tag allerdings mit einer Erkältung zu Hause geblieben und hatte die Berichterstattung im Fernsehen verfolgt.

In den Medien nennt man das Ganze ein Wunder, als sei es ein besonderer Glücksfall, wenn ein Psycho mit der Auge-Hand-Koordination eines Street Monkeys eine Kanone mit in die Schule bringt und alle terrorisiert. »Stell dir nur einmal vor, welchen Schaden er hätte anrichten können.« Dieser ständige Refrain verwirrt mich. Warum sollte ich mir das vorstellen?

Das gelbe Wandtelefon klingelt, und Melissa schnappt sich den Hörer mit der freien Hand – in der anderen hält sie einen hölzernen Kochlöffel und versucht, den angepappten Haferbrei aus dem Topf zu kratzen.

»Ja«, sagt sie geduldig ins Telefon. Der Haferbrei schmeckt wie Kleister. Ich weiß es zu schätzen, dass Melissa versucht, etwas mütterlicher zu sein, aber ihre Kochkünste kann man echt vergessen. Sie sieht vom Telefon zu mir herüber und lächelt. Sie deutet auf meinen Löffel. Lecker, was?, sagt ihr Blick. Sie ist so stolz auf sich, dass ich einen großen Löffel voll schlucke, um ihr einen Extrakick zu verschaffen. Wahrscheinlich hat sie es nötig. Diese Woche war auch für sie hart.

Normalerweise vergräbt Melissa sich ganz in ihre Forschungsarbeit, anstatt mir klebrigen Haferbrei zu kochen und sich um mich zu sorgen. Sie lässt den Kochlöffel klappernd ins Spülbecken fallen und versucht, eine ausgeblichene Cordjacke anzuziehen, während sie das Telefon mit Kopf und Schulter festhält. Dabei sticht sie sich fast die unechte Mohnblüte aus dem Knopfloch ins Auge. Sie gehört zu den wenigen Menschen, denen der Hippie-Chic steht. Bei ihr sieht ein Vintage-T-Shirt zu ihrem hässlichen Rock mit Blumenmuster nach Secondhand und stilvoll zugleich aus. Ich habe eindeutig ihr Stilempfinden geerbt, aber ich sehe niemals auch nur halb so gut aus wie sie. Außerdem sieht sie ein kleines bisschen aus wie Julia Roberts, außer, dass Melissa niemals Make-up trägt und dass sie klein ist – viel kleiner als ich. Trotzdem, sie hat genau dasselbe kastanienbraune Haar wie Julia Roberts und genau so ein meilenbreites Lächeln. Und sie ist der klügste Mensch, den ich kenne. Mit sechzehn war sie mit der Highschool fertig, hatte zwei Studienabschlüsse, noch ehe sie einundzwanzig war, und sie ist die jüngste Person, die jemals am MIT promoviert hat. Ich habe schon oft gedacht, dass ich mit einer anderen Mutter – zum Beispiel einer ebenfalls brillanten Wissenschaftlerin, die außerdem noch krankhaft fettleibig ist oder von einem unseligen Hautausschlag geplagt wird – eventuell viel angepasster wäre.

Sie murmelt immer noch »Hmm, mmh, mmmh« in einem eintönigen Singsang ins Telefon, doch jetzt geht sie mit der langen Schnur bis ins Wohnzimmer, und ihre Stimme wird leiser. Ich kann sie überhaupt nicht mehr verstehen, was mich natürlich neugierig macht. Melissa tut normalerweise nicht so geheimnisvoll – im Gegenteil, sie ist eher ein Mensch, der mit nichts hinterm Berg hält. Allein der Gedanke, wie sie dem Kassierer im Supermarkt erzählt hat, ich hätte angefangen »zu menstruieren«, während sie mit der Packung Binden vor seiner Nase herumfuchtelte, lässt mich immer noch erschaudern.

»Rufen Sie mich in einer Minute zurück«, höre ich sie in normaler Lautstärke sagen. Sie hängt den klobigen Hörer – ein Überbleibsel der früheren Besitzer – wieder an den Wandapparat. »Bist du sicher, dass ich nicht mitgehen soll?«, fragt sie.

»Ich bin ziemlich sicher, dass ich es allein zur Schule schaffe.«

»Nun …«, sagt sie skeptisch, aber ich merke, dass sie mit ihren Gedanken bereits woanders ist. Sie schnappt sich eine braunfleckige Birne von der Arbeitsplatte. »Ich bin in meinem Büro, ein paar Anrufe erledigen, okay?« Ich weiß, dass sie den Raum in der umgebauten Garage meint, nicht ihr Büro am Quiet State College. Sie macht sich selten die Mühe, dorthin zu gehen – sie hat nicht einmal das Namenschild ihres Vorgängers an der Tür entfernt. Für alle, die daran vorbeikommen, ist Melissa Dr. R.K. Phillips Rathbine. (R.K. lebt jetzt in einem Pflegeheim und hat nicht die geringste Ahnung, wer er ist. Melissa hat ihn mitten im Semester ersetzt.) »Du weißt, wo du mich findest«, sagt sie und geht zur Seitentür.

Als wir in dieses Haus zogen, richtete Melissa sich als Erstes ihr Büro ein. Das tut sie jedes Mal, wenn wir umziehen, aber dieses Mal hatte sie die Superidee, dass die Garage ein guter Platz sei, um sich auszubreiten und ihre Ruhe zu haben, als hätte ich jemals das geringste Interesse an ihren langweiligen wissenschaftlichen Studien gezeigt.

»Wer war das am Telefon?«, frage ich und schiele zu den Cornflakes hinüber. Sobald sie weg ist, kann ich den durchgeweichten Klumpen Haferbrei in den Müll kippen.

»Niemand«, sagt sie. Dann fügt sie hinzu: »Nur die Schule.«

»Was wollten die?«

»Sie haben ein paar Fragen.«

»An mich? Ich habe denen doch schon alles erzählt, was ich weiß.« Ich seufze laut. Ich bin die Geschichte schon millionenfach durchgegangen. Mindestens.

»An mich«, sagt Melissa. »Sie haben ein paar Fragen an mich.«

»Wieso an dich? Was haben sie dich gefragt?« Melissa ist keine Trauerbegleiterin, wie dieses Wesen mit den fransigen Locken. Sie ist Neurowissenschaftlerin mit den Spezialgebieten Computerwissenschaft und Genetik – Themen, die null Geschick im Umgang mit Menschen erfordern. Bevor wir nach Quiet gezogen sind, hat sie bei den Utopia Laboratories in Saint Paul, Minnesota, gearbeitet und irgendein ödes Computerprogramm entwickelt, das Modelle von Gehirnen erstellt. »Warum sollte die Schule mit dir reden wollen?«

»Nur so«, sagt sie, und ich werfe ihr einen argwöhnischen Blick zu. Melissa kann nicht lügen, und wenn ihr Leben davon abhinge.

»Was geht hier vor?«, frage ich sie.

Sie zupft an der unechten Mohnblüte herum. »Nichts. Ich kümmere mich schon darum.« Dann stürmt sie förmlich zur Tür hinaus.

Kümmern? Um was will sie sich kümmern?

Das Telefon klingelt erneut, und ich lasse es drei Mal läuten. Melissa wird an ihrem Apparat in der Garage rangehen. Nach dem dritten Klingeln werde ich sauer. Warum können wir keine Handys benutzen wie normale Menschen? Melissa scheint zu glauben, altmodisch sei gleichbedeutend mit moralisch überlegen. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und schnappe mir den blöden Hörer. Ehe ich hallo sagen kann, merke ich, dass Melissa bereits rangegangen ist. Doch statt wieder aufzulegen, höre ich zu, vor allem, weil ich meinen Namen höre. »Daphne weiß überhaupt nichts«, sagt Melissa gerade.

Die Person am anderen Ende spricht leise, jedes Wort wirkt vor lauter Trägheit schwerfällig. Ich erkenne die Stimme sofort: Mrs Temple, die Direktorin der Quiet High. Ich habe sie kennengelernt, als Melissa mich an der Schule angemeldet hat, nur eine Woche vor dem Amoklauf. Mrs Temple wollte mich sofort in die Abschlussklasse stecken, weil ich meinen Klassenkameraden so weit voraus sei, doch Melissa bestand darauf, dass ich für meine soziale Entwicklung in meiner Jahrgangsstufe blieb – und das von jemandem, die völlig Fremden vorschlug, dass sie vielleicht die Anschaffung eines Laufbandes in Erwägung ziehen sollten, um ihr Übergewicht zu bekämpfen.

»Wir werden die Ergebnisse bekanntgeben müssen. Öffentlich. Wir haben keine andere Wahl«, sagt Temple gerade. »Ich fand, das sollten Sie wissen.«

»Warten Sie damit noch eine Weile«, sagt Melissa, und ihre Stimme hat einen leicht bittenden Unterton.

»Ich möchte darauf hinweisen, dass ich Sie nicht um Ihre Zustimmung bitte. Ich weiß, dass es nicht länger Ihr Projekt ist; Ihre Firma hat das eindeutig klargestellt. Ich will nur höflich sein, indem ich Ihnen erzähle, was passieren wird. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich werde ein paar Veränderungen an der Quiet High vornehmen. Ich muss es einfach tun, um die Sicherheit der Menschen hier zu gewährleisten, einschließlich Ihrer eigenen Tochter.«

Ich lege auf, bevor Melissa es tut.

Ich habe ein mulmiges Gefühl – ein Gefühl, das ich zuletzt hatte, als ich an jenem Tag die ersten Schüsse hörte. Was geht hier vor?

4. Kapitel

PROFILE ist der Name eines Computerprogramms, das so revolutionär ist, dass Sie es nicht glauben werden, bis Sie es sehen. Es wird unsere Art zu denken verändern, unsere Art zu leben. Und das ist ein Versprechen, das wir halten können.

(Werbetext der Utopia Laboratories)

 

Eines Tages werden Wissenschaftler in der Lage sein, alles über jedes Individuum vorherzusagen. Wir werden wissen, was eine Person tun wird, ehe sie selbst auch nur daran denkt! Es wird eine neue Welt sein, in der alles vorausberechnet ist, bevor es je passiert.

(Dr. Melissa Wright, zitiert im Minneapolis St Paul Magazine)

»Hi«, sagt die mit den Locken und streckt die Hand aus. »Desdemona, aber jeder nennt mich Dizzy, weil ich so schwindelerregend bin. Eigentlich sollte es Desi sein, du weißt schon – die Abkürzung für Desdemona. Aber Dizzy passt ganz gut. Findest du nicht?« Sie lächelt und schwankt vor und zurück, als sei sie kurz davor, umzufallen. Ihr lockiges Haar hat sie mit einem dicken, schwarzen Haarband aus Leder ordentlich zurückgebunden, wie bei einem Mädchen, dessen Mutter ihm das Haar für den Schulfotografen zurechtgemacht hat. Nur, dass es ziemlich sexy aussieht. Die anderen Mädchen folgen ihrem Beispiel und strecken mir die Hände entgegen.

Wir haben wieder Chemie, obwohl Mrs McClain auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben ist, weil sie mit den Nerven am Ende ist. Außerdem haben wir ein neues Klassenzimmer, ein Konferenzzimmer in der Bücherei, in dem früher einmal die Treffen des Schulvorstands stattgefunden hatten. Ich quetsche mich mit den anderen um einen winzigen, rechteckigen Metalltisch und komme mir vor wie eine Sardine. Dass Dizzy und ihre Gefolgschaft sich im Pulk um mich scharen und versuchen, sich mir vorzustellen, macht die Sache auch nicht gerade besser. Sieht so aus, als hätte ich es als das Mädchen aus dem Schrank zu einer gewissen Berühmtheit gebracht.

»Komm, ich stelle dich vor«, sagt Dizzy und klatscht mit der Hand auf den Tisch. Die Vertretungslehrerin wandert auf der Suche nach einem Whiteboard-Stift durch den Raum. Niemand achtet auf ihre Aufforderung, ihr zu helfen. »Das ist Brooklyn Bass.« Ich sehe die zierliche Person namens Brooklyn an. Sie ist eines dieser Mädchen mit verkniffenem Gesicht, das vermutlich seine Socken bügelt und seine Unterhosen nach Farben sortiert. »Brooklyn«, erklärt Dizzy mir, »ist die Star-Pitcherin im Softballteam der Mädchen. Und«, fügt sie stolz hinzu, »sie ist eine Schönheitskönigin.«

»Oh«, sage ich zu Brooklyn.

»Ich bin Miss Kalbsball«, verkündet Brooklyn.

Ich muss ein ziemlich verständnisloses Gesicht machen.

»Kalbsball ist eine Delikatesse aus Oklahoma: Frittierter Bullenhoden«, erklärt Dizzy.

»Oh, sehr schön«, sage ich und verziehe das Gesicht.

Ich versuche, nicht auf Brooklyns funkelndes Diadem zu starren, aber das gelingt mir offensichtlich nicht, denn sie greift danach und sagt: »Das ist nur Show«, für den Fall, dass ich glaubte, sie sei die regierende Königin der Bücherei.

»Pst«, sagt die Vertretungslehrerin in dem Versuch, uns zur Ruhe zu bringen. Dizzy redet nur um so lauter. »Und das ist Lexus Flores.« Lexus winkt und rutscht mit ihrem mageren Hintern auf das winzige Stückchen freie Sitzfläche auf meinen Stuhl. »Hey, Schätzchen«, sagt sie.

»Wir kennen uns«, sage ich und denke an meinen ersten Tag an der Schule.

»Lexus hat einen Golden Retriever, liebt die Farbe Lila und hat gerade ein brandneues Auto zum Geburtstag bekommen – einen Lexus natürlich.«

»Wie schön für dich«, sage ich, ohne es zu meinen. Offensichtlich will Dizzy mit diesem Partygeschwätz fortfahren, bis sie jedes Mädchen am Tisch ordentlich vorgestellt hat. Neben Brooklyn und Lexus zähle ich noch fünf weitere, plus das Mädchen, das sie gerade vorstellt, ein albernes, kicherndes Ding namens Cuteny.

»Ähm, ich habe echt einiges zu erledigen«, sage ich plötzlich und unterbreche Cutenys Vorstellung. »Es ist nett, euch alle kennenzulernen«, lüge ich. Ich schiebe meinen Stuhl zurück, schnappe mir meinen Mantel und den Rucksack – wir haben noch keine Schließfächer, solange die neue Farbe noch nicht trocken ist – und gehe in Richtung Tür. Die Lehrerin merkt es nicht einmal. Die Mädchen sehen mir nach, wie ich verschwinde.

Wie können diese Mädchen so tun, als sei das, was geschehen ist, kein Problem? Klar, jeder redet darüber, aber so, als sei es irgendwelchen anderen Leuten passiert, nicht uns. Niemand sagt seinen Namen. Er ist nur der Amokläufer oder dieser Psycho oder manchmal auch nur er. Damit habe ich kein Problem, weil ich finde, dass er keinen Namen verdient hat. Aber ich kann einfach nicht vergessen, was passiert ist. Wie schaffen die das?

In sicherer Entfernung vom Klassenzimmer lasse ich mich in einen Sessel zwischen zwei Regalen mit Taschenbüchern fallen. Überraschenderweise dauert es nicht lange, bis ich merke, wie ich eindöse. Der Schlaf kommt schneller als seit Tagen, was mir überaus willkommen ist. Zusammengerollt, mit meinem roten Regenmantel als Decke und dem Rucksack als Kissen, lasse ich meine karierten Rocket-Dog-Schuhe auf den Boden fallen und benutze den kleinen Tisch vor mir als Fußhocker. Der Sessel ist alt und durchgesessen, Hunderte von faulen Schülern vor mir haben ihm arg zugesetzt – ein Sessel wie geschaffen für ein Nickerchen. Die Bücherei selbst macht dagegen den Eindruck, als ob, wer immer sie gestaltet hat, verhindern wollte, dass man hier irgendeinen erholsamen Gedanken oder Glücksgefühle bekommt. Alles ist grau – selbst das Gesicht der Bibliothekarin. Die hohen Regale sind oben und unten überfüllt, während die mittleren Bretter fast leer sind, als wollte jemand die Schüler zwingen, sich entweder lang zu machen oder am Boden zu kriechen, um ein Buch zu bekommen.

Als ich spüre, wie sich der Rucksack unter meinem Kopf bewegt, schrecke ich hoch. Mein Mantel rutscht mir auf die Füße. »Hey!«, rufe ich laut, richte mich auf und stelle meine nackten Füße auf den Boden. »Was ist los?« Die Bibliothekarin zischt mir ein warnendes Pst zu.

»Alles in Ordnung«, sagt eine sanfte Stimme hinter mir. Ich wirbele herum. Dort steht ein Mädchen mit blonden, matten Haaren, die sie in kleine Zöpfe geflochten und auf gut Glück mit winzigen, quietschrosa Schmetterlings-Clips hochgesteckt hat. Das Gesicht ist blass, und die Augen wirken eingesunken, so wie bei Leuten, die so mager sind, dass ihr Körper langsam zusammenschrumpelt. Die Nase scheint das Einzige an ihr zu sein, das aus ihrer Gestalt herausragt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen so traurig aussehenden Menschen getroffen zu haben.

»Tut mir leid«, sagt sie. »Ich wollte dich nicht aufwecken. Ich wollte dir nur das unter den Kopf legen.« Sie hält ein zusammengelegtes Sweatshirt hoch.

»Warum?«, frage ich.

»Ich hänge gerne hier rum.«

Was? Sollte das eine Antwort auf meine Frage sein? Wer ist dieses Mädchen? Patrouilliert sie durch die Bibliothek auf der Suche nach Leuten, die ein Kissen brauchen? Sie lächelt mir matt zu, während sie mir das Sweatshirt auf die Schulter wirft und meinen Rucksack auf den Boden schmeißt, dann ihre eigene Tasche obendrauf. Sie geht um meinen Sessel herum, schiebt meine Füße mit ihren aus dem Weg und lässt sich in den Sessel neben mich fallen. Ich nehme das Sweatshirt von meiner Schulter und gebe es ihr zurück. »Danke«, sage ich, »aber ich wollte gerade gehen.«

»Was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?«

Ich habe etwas dagegen, aber ich weiß nicht, wie ich ihr das sagen soll, ohne total grob zu werden, also gebe ich einfach gar keine Antwort. Ich unterdrücke ein Gähnen und schmecke diesen ekligen Geschmack, den man nur hat, wenn man ein Nickerchen gehalten hat. Ich mache den Mund zu und wünschte, ich hätte ein Tic Tac. Ich sammle meinen Mantel und den Rucksack auf und sehe mich nach einem anderen leeren Sessel um, aber das Mädchen beugt sich über mich und zieht ein dickes Buch aus dem Regal neben mir. Ich zögere und strenge mich an, den Titel zu lesen. Ich kann einfach nicht anders. Wenn ich jemand anders ein Buch lesen sehe, muss ich wissen, was es ist. Feuer und Stein, steht auf dem Cover.

Das Mädchen merkt, dass ich in seine Richtung schaue, und lässt das Buch sinken. »Ein Liebesroman über Zeitreisen«, sagt sie. »Es ist ziemlich vorhersehbar, und die Sexszenen sind langweilig, aber mir gefällt die Vorstellung, einfach zu verschwinden und irgendwo in einer anderen Zeit zu landen, weit weg von hier. Wusstest du, dass man in der Welt der Zeitreisen niemals das verhindern kann, was geschehen wird? Das Universum ist ein grausamer Herrscher.« Sie sagt es vollkommen ernst. »Für den Fall, dass du dich wunderst«, fügt sie in einem Tonfall hinzu, als würde ich mich tatsächlich schon ewig fragen, »ich stelle das Buch immer hier ins Regal und lese jeden Tag darin. Wusstest du, dass das seit über einem Jahr noch niemand überprüft hat?« Sie wendet sich wieder dem Buch zu, ehe ich etwas erwidern kann, also nehme ich an, sie ist fertig mit Reden. Kämpferisch trommelt sie mit den Fingern auf die hölzerne Armlehne ihres Sessels.

»Na dann, viel Spaß mit dem Buch«, sage ich, steige über ihre Füße, die in merkwürdigen blau-gelben gepunkteten Schuhen mit hohen Absätzen stecken.

»Tut mir leid«, sagt sie und packt meinen Arm. »Bleib. Ich wollte dich nicht stören.« Sie sieht so bemitleidenswert aus, dass ich zögere. Sie sieht ihre Chance. »Komm schon. Was hast du denn sonst vor? Ich weiß, dass du den Unterricht schwänzt.« Wir blicken beide zum Klassenraum. Ich lasse mich wieder in den Sessel sinken. »Ich sage kein Wort«, verspricht sie. »Du kannst wieder schlafen.«

Überzeugt, dass ich nie wieder werde schlafen können, obwohl meine Lider schwer sind, drifte ich schließlich in einen halbschlafähnlichen Zustand, in dem die Vorstellung, aufzustehen, mir wie eine niemals zu bewältigende Aufgabe vorkommt. Schließlich öffnen sich meine Lider zitternd, und ich stelle fest, dass die kleine, runde Nase des Mädchens vielleicht zehn Zentimeter von meinem Gesicht entfernt ist. Ich fahre hoch. »Was machst du da?«, rufe ich und weiche vor ihr zurück, tief in den Sessel.

»Posttraumatische Belastungsstörung«, sagt sie bestimmt. »Das hast du.«

»Was redest du da?«, sage ich laut. Die graue Bibliothekarin schaut von ihrem Schreibtisch auf und ruft – wesentlich lauter als ich – »Zweite Warnung, Fräulein. Sei leise.«

»Wovon redest du da?«, flüstere ich.

»Posttraumatische Belastungsstörung«, flüstert sie zurück und beugt sich noch weiter vor, um mir in die Augen zu sehen. Ich schubse sie weg, wobei ich mit der Hand einen ihrer Schmetterlings-Clips erwische. »Du bist schreckhaft«, sagt sie, »wegen des Amoklaufs.«

»Vielleicht«, sage ich sarkastisch, »bin ich auch nur schreckhaft, weil du mir fast ins Gesicht kriechst.«

Sie nickt, als wollte sie sagen Da ist was dran. »Hast du ihn gekannt?«, fragt sie nach einer Sekunde.

Das Merkwürdige ist, dass ich nicht zu fragen brauche. Ich weiß sofort, dass sie den Amokläufer meint. »Nein«, sage ich und stelle fest, dass ich eine Sekunde lang nicht an ihn gedacht hatte. »Ich habe ihn nicht einmal gesehen«, füge ich hinzu. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er überhaupt ausgesehen hatte. Ich habe kein Bild von ihm gesehen. Und das werde ich auch nie. Ich will es nicht wissen. Ihm ein Gesicht zu geben wäre eine Großzügigkeit, zu der ich mich nicht imstande fühle. Ich ziehe es vor, mir ihn als verschwommenes Wesen ohne Identität vorzustellen.

Sie nickt. »Glück gehabt.«

»Was ist mit dir?«

»Ich war draußen. Bin kurz vor die Tür, um eine zu rauchen. Ich habe die ganze Geschichte verpasst.«

»Muss an deinem Karma liegen«, sage ich.

»Ja«, erwidert sie bitter und zerrt an einer fransigen Haarsträhne, während sie die glänzenden, rosigen Lippen schürzt. »Du bist Daphne Wright, oder?«

»Woher weißt du das?«

»Ich kann hellsehen«, sagt sie und wirft das Buch auf den Tisch vor uns. Ein kleines, orangefarbenes Lesezeichen aus Bastelpapier fällt heraus.

Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich von ihr fasziniert. »Echt? Und was denke ich gerade?« Ich lächele probeweise, halb freundlich, halb spöttisch.

»O Mann, doch nicht dieses Hellsehen.«

»Ich wusste nicht, dass es verschiedene Arten von Hellseherei gibt.«

Das Mädchen verdreht die Augen. »Ich kann dir alles über dich erzählen.«

»Ich weiß schon alles über mich.«

Wir stecken in einer Sackgasse. Mag ich sie, oder wünsche ich, sie würde plötzlich an einer heftigen Kehlkopfentzündung erkranken? Ich konnte mich nie entscheiden. Melissa sagt, ich sei eine Misanthropin in Ausbildung. Der Blick des Mädchens wandert zu den offenen Doppeltüren des Sitzungszimmers, aus dem ich gerade geflüchtet bin. Es ist noch lauter geworden, und die Vertretungslehrerin sieht noch gestresster aus. Sie wird diesen Tag niemals überstehen.

»Woher kennst du meinen Namen?«, wiederhole ich.

Sie deutet auf den frisch ausgedruckten Stundenplan, den ich an mein Schulheft getackert habe, das jetzt aus meinem Rucksack hervorschaut. Ich habe ihn seit dem ersten Tag mit mir herumgetragen. Daphne Wright, steht da. »Oh«, sage ich.

Das Mädchen lässt sich so tief in ihren Sessel rutschen, dass sie aussieht wie eine Pfütze aus geschmolzenem Glibber. Ihre Ohrringe – scheußliche Hängeteile, die aussehen wie blaue Pfauenfedern – schwingen heftig mit, als sie ihren Kopf hin- und herwirft und erst in die eine, dann in die andere Richtung schaut.

»Was ist?«, frage ich und werde nervös. Ist er zurückgekommen? Wie kann das sein?

Sie starrt zu Dizzy und ihren Freundinnen hinüber. Sie sind aus dem Klassenraum gekommen und stehen ein paar Schritte von den Taschenbüchern entfernt, gerade eben außer Hörweite.

»Die?«, frage ich. »Ich hatte gerade das Vergnügen, sie kennenzulernen. Echte Zicken, was?« Ich habe sie bereits abgeschrieben. Ich war auf genügend Schulen gewesen, um diese Sorte Mädchen aus einer Meile Entfernung zu erkennen. Am besten, man bleibt höflich, aber distanziert. Bloß nie zu nahe kommen, oder sie finden heraus, wie sie dich quälen können.

Dizzy sieht mich in dem Sessel und winkt. Sie gibt den anderen irgendein kurzes Handzeichen, dann kommen alle zusammen auf uns zu. Na klasse, denke ich.

»Scheiße«, sagt das Schmetterlings-Mädchen und setzt sich hastig auf. »Ich muss hier raus.« Sie schnappt sich ihre Tasche und rennt davon, ein spindeldürrer Blitz, der auf die Schließfächer vor der Bibliothek zurast.

»War nett, dich kennengelernt zu haben«, rufe ich trotz folgender Tatsachen: (1) Die Bibliothekarin ist geradezu rasend vor Wut über den Lärm, den wir veranstalten; (2) wir haben uns strenggenommen gar nicht kennengelernt; und (3) ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich nett war, sie getroffen zu haben. Sie ist eindeutig schräg drauf, wie jemand, der auf Teufel komm raus versucht, schräg drauf zu sein.

Dizzy führt ihren Trupp zu mir herüber. »Hi«, sagt sie freundlich. »Du bist neu hier, also erwarten wir nicht, dass du es weißt, aber du solltest besser nicht mit Leuten wie ihr reden.« Sie deutet in die Richtung, in die das Schmetterlings-Mädchen verschwunden ist.

»Zumindest nicht in der Öffentlichkeit«, ergänzt Brooklyn.

Dizzy pufft Brooklyn mit dem Ellenbogen in die Schulter. »Halt den Mund, Brook. Sonst hält sie uns noch für schreckliche Ziegen. Was sie damit sagen will«, fährt Dizzy lächelnd fort, »ist, dass man gewissen Leuten an der Quiet High lieber aus dem Weg geht. Du weißt schon, sie sind es nicht wert, dass man sich ihretwegen den Ruf ruiniert.«

Ich erwidere ihr Lächeln nicht. »Danke für die Information in Bezug auf meinen Ruf«, sage ich kalt, »aber das Risiko werde ich wohl eingehen.« Ich stehe überhaupt nicht darauf, gesagt zu bekommen, was ich tun soll.

Lexus schnippt sich ihr glänzendes Haar aus dem Gesicht. Dieses Schnippen ist ganz offensichtlich ihr Markenzeichen. »January ist hier eine totale Nullität. Sie ist eine persona au gratin.«

»Ich glaube, du meinst persona non grata«, verbessere ich sie.

»Wie auch immer. Die Sache ist, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass du nicht mit jemandem wie ihr in Verbindung gebracht werden willst. Nicht, nach dem, was passiert ist.«

Ich sage nichts, weil ich weiß, dass sie will, dass ich frage.

»Der Amokläufer«, sagt Brooklyn, »weißt du nicht, wer das war?«

»Willst du wissen, mit wem du gerade geredet hast?«, fragt Dizzy freundlich. »January. January Morrison. Kommt dir der Name bekannt vor?«

»Der das gemacht hat, war ihr Bruder«, ergänzt Lexus. »Die Gene«, sagt sie kopfschüttelnd, als hätte sie viel Zeit damit verbracht, sich in das Thema einzuarbeiten. »Man weiß nie, was diese Leute anstellen werden.«

»Und wenn er so ein Psycho war, wird January es auch sein. So was liegt in der Familie, weißt du«, schließt Brooklyn mit einem kurzen Schönheitsköniginnenlächeln, als hätte sie mir gerade mitgeteilt, sie würde für den Weltfrieden beten.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Komm schon, Brook«, sagt Dizzy schnell. »Sie ist neu hier. Gib ihr die Chance, sich einzugewöhnen.« Sie lässt sich neben mich plumpsen, als ich gerade aufstehe. »Also«, sagt sie, »die einzige Frage ist jetzt, wer du sein wirst. Eine von uns? Oder eine von denen? Wir müssen deine PROFILE-Auswertung sehen«, lacht sie.

»Meine was?«

»PROFILE«, sagt sie. »Du weißt schon … PROFILE.«

»Nicht sehr hilfreich«, stelle ich fest.

»Wo kommst du denn her? Von einem anderen Planeten? Du weißt nicht, was PROFILE ist? Glaubt ihr das?«, fragt sie die anderen. Sie schütteln ernst den Kopf.

»Offensichtlich weiß ich nicht, was es ist«, sage ich verärgert. »Vielleicht kannst du es mir sagen.«

»Du meinst es ernst«, sagt Dizzy und reißt die Augen auf.

»Ja, natürlich meine ich es ernst. Warum auch nicht? Wovon redet ihr da?«

»Was meinst du denn, wovon ich rede?«

»Ach, vergiss es«, sage ich und will zurück in den Klassenraum. Vielleicht hat die Vertretungslehrerin mittlerweile herausgefunden, was sie tun soll.

»Warte«, zischt Dizzy. »Ich erkläre es dir.« Ich drehe mich um, und sie sieht sich verschwörerisch um, als würde sie eine streng geheime Information ausplaudern. »Schwörst du bei Gott, dass du wirklich nicht weißt, was PROFILE ist?«

»Entweder du sagst es mir oder nicht, aber hör auf, mich das zu fragen«, sage ich.

Sie atmet heftig durch die Nase ein. »Also«, sagt sie zu Lexus und Brooklyn, »ich schätze, diese Tests sind tatsächlich so geheim, wie sie behaupten.« Sie wendet sich wieder an mich. Es ist nicht zu übersehen, dass sie ganz scharf darauf ist, mir das Geheimnis anzuvertrauen. »PROFILE erzählt dir alles über jeden, was du wissen musst. PROFILE wird uns alle retten und uns davor bewahren, jemals wieder das durchzumachen, was letzte Woche passiert ist. Wir sind alle getestet worden – wir sind eine Testschule«, sagt sie voller Stolz. »PROFILE«, fährt sie fort, und ihre Stimme wird lauter und kräftiger, wie bei einem Fernsehpriester, der sich allmählich zum Höhepunkt seiner Moralpredigt schraubt, »kann uns verraten, wer wir sein werden.« Sie sieht mich triumphierend an, als erwarte sie, dass ich mit offenem Mund dastehe, dass mir schwindelig wird und meine Beine nachgeben. Nichts davon geschieht, weil ich auf dem Absatz kehrtmache und hinausgehe, auf demselben Weg wie kurz zuvor January.

Ich muss mit Melissa reden.

5. Kapitel

Utopia Laboratories’ Bestreben ist es, Euer Leben besser zu machen, eine Zukunft nach der anderen.

(Cover einer Broschüre, in der Utopias Mission erklärt wird und die jedem Schüler der Quiet High geschickt wurde)

»Wow«, sagt er, »warum so eilig?«

Seit dem Amoklauf habe ich nicht mehr mit Jesse gesprochen. Ihn ausgerechnet hier, ausgerechnet jetzt zu treffen ist komisch und verwirrend – als würde man einen Lehrer außerhalb der Schule treffen, der unwiderlegbare Beweis, dass sie auch außerhalb des Schulgeländes existieren.

Oder vielleicht ist es so, als sähe ich in Quiet ein Reh auf dem Parkplatz vom Walmart grasen – was mich absolut umgehauen hat, als ich es das erste Mal gesehen habe. Rehe und Supermärkte scheinen auf zwei verschiedenen Ebenen der Realität zu existieren. Jesse existiert in dieser engen Abstellkammer, nicht hier draußen auf dem Flur, nicht direkt neben dem riesigen Kreuz, das die Mitglieder des Clubs »Krieger des Herrn« aufgestellt hatten, um »an unsere Menschlichkeit« zu erinnern.

»Hey«, sage ich lebhaft, aber nicht besonders freundlich. In seiner Gegenwart fühle ich mich unbehaglich, als hätte ich ihm an jenem Tag zu viel von mir selbst gezeigt. »Mir geht’s gut«, sage ich und kapiere zu spät, dass er mich das gar nicht gefragt hat. Ich zupfe an einer Haarsträhne, starre ausdruckslos über seine Schulter und tue so, als hätte ich das nicht gerade gesagt.

Er lächelt. »Das ist gut.«

Ich schenke ihm ein halbes Lächeln, ein Trick, der mir leichtfällt und den ich oft anwende: Ich verziehe die eine Seite meines Munds zu einem auffallenden Grinsen, während ich die andere absolut reglos lasse. Melissa sagt immer, ich sähe damit aus wie ein wild gewordener Clown. Es ist meine Art, Leute abzuweisen, ohne es ihnen sagen zu müssen. »Na dann, bis später«, sage ich und gehe weiter auf die doppelflügelige Eingangstür zu.

»Wo willst du hin? Hast du jetzt nicht Geometrie?«

»Verfolgst du mich? Verfolgung ist nämlich überhaupt nicht witzig.« Diesen Spruch habe ich mal von Melissa gehört. Wenn mir die Worte fehlen, zitiere ich den sonderbarsten, sozial unfähigsten Menschen, den ich kenne. Na super.

Der widerliche, blökende Summton signalisiert das Ende der Unterrichtsstunde. Wir ignorieren ihn.

»Wieso?«, sagt er. »Wir sind doch in demselben Kurs.«

»Oh«, sage ich, eine Spur verlegen. Ich schüttele den Kopf und stülpe meine pinkfarbene Baskenmütze, ein Überbleibsel von Saint Paul, über mein widerspenstiges Haar. Wir stehen da und starren uns an, obwohl sich die anderen Schüler an uns vorbeischieben, wie Leute, die sich in einem engen Gang gegen den Strom bewegen. Unser Schweigen gibt mir Zeit, ihn genau anzusehen, ihn zum ersten Mal wirklich anzuschauen. Ich bin überrascht, als mein Gehirn ihn als eine Kreuzung zwischen Angel aus Buffy – Im Bann der Dämonen und einem griechischen Gott einsortiert: dunkelhaarig, dichte Wimpern und eine ständig gerunzelte Stirn. Wahrscheinlich total eingenommen von sich, denke ich. Einer von diesen Kerlen, die sich nicht die Mühe machen müssen, sich eine anständige Persönlichkeit zuzulegen. Wahrscheinlich.

Doch in seinem Blick liegt Weichheit, und die Art, wie er sich auf die Unterlippe beißt, wenn er nachdenkt, gibt mir das Gefühl, er sei ein netter Mensch. Von Grund auf nett. Das Bild seines Gesichts, schemenhaft und in der Abstellkammer nur vage zu erkennen, blitzt vor mir auf. Ich denke daran, wie er mich zu dem kleinen Schrank führte, wie er darauf bestand, dass ich darin bleibe, während er sich dem Amokläufer in den Weg stellte. »Na ja«, sage ich unvermittelt, »ich lasse die Schule heute ausfallen. Ich gehe nach Hause.«

»Bist du krank?«, fragt er mit einem Anflug von Besorgnis.

»Ich will nur …« Eine unüberlegte Sekunde lang ziehe ich in Erwägung, ihm die Wahrheit zu erzählen. Weißt du, da waren diese Zicken in der Bücherei, und sie haben über dieses Ding namens PROFILE geredet, was mich auf einen Gedanken gebracht hat. Melissa – meine Mom – hat dieses Computerprogramm entwickelt. Sie hat das Programm für PROFILE geschrieben. Aber als ich sie danach fragte, an dem Tag, als wir Saint Paul verließen, hat sie es abgestritten. Also, was hat es damit auf sich? Stattdessen wähle ich den einfacheren Weg: »Ich gehe einfach nur nach Hause.«

»Du bist heute Morgen zu Fuß gekommen.«