Provinz der Moderne - Jan Eike Dunkhase - E-Book

Provinz der Moderne E-Book

Jan Eike Dunkhase

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Beschreibung

Marbach – schwäbischer Zauberberg, mythenumwobene Schillerhöhe: die erste Geschichte des Deutschen Literaturarchivs Spannend und anschaulich erzählt Jan Eike Dunkhase die Geschichte des Deutschen Literaturarchivs und der Deutschen Schillergesellschaft: die erste Biographie einer einzigartigen Institution, die in der schwäbischen Provinz durch die Höhen und Tiefen der neueren deutschen Literatur- und Geistesgeschichte führt. Marbach am Neckar: Eine kleine Stadt im deutschen Südwesten steht für das literarische Gedächtnis einer ganzen Sprachkultur. Durch das Deutsche Literaturarchiv ist der Geburtsort Friedrich Schillers zu einem Begriff mit geradezu magischem Klang geworden. Von den Anfängen des Dichterkults im frühen 19. Jahrhundert und der Gründung des Schwäbischen Schillervereins und des Schillermuseums im Königreich Württemberg bis zum Aufbau des Deutschen Literaturarchivs in der frühen Bundesrepublik führt der Weg, den diese Geschichte nachzeichnet. Aus bislang unerschlossenen Quellen entsteht das Sittengemälde eines Bildungsmilieus, das in der schwäbischen Provinz ein Heim für die literarische Moderne geschaffen hat.

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Seitenzahl: 623

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Jan Eike Dunkhase

Provinzder Moderne

Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von Chris Korner/Deutsches Literaturarchiv Marbach

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96446-2

E-Book: ISBN 978-3-608-12032-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Schillers Schwaben

Dichter der Deutschen

Riese von Marbach

Diltheys Erbe

Magische Vergegenwärtigung

»Archive für Litteratur!«

Geld und Geist

Die erste Gründung

Arbeit am Pantheon

Vereint zum Museum

»Nur Poesie für Poesie«

1905 

Im Dichterwald

Museum in dürftiger Zeit

American Friends

Eine Rede im Reichstag

Nachlasser zu Lebzeiten

Die Stunde des Pan

Dichter und Führer

Dichterkult und Kulturpolitik

Im neuen Reich

»Halb so schlimm«?

Harte Fügung

Briefe über den Humanismus

Schauendes Gemüt

Monuments Man

Morgenlandfahrer

Schillergroschen und Turmhähne

Weimar des Westens

Cottas Archiv

Der neue Mann

Versuche über Schiller

Die zweite Gründung

Menschheitsdämmerung

Remigranten

Im Zeichen des Expressionismus

Sammlung der Zerstreuten

High Society

Sein und Raum

Dichter, Denker, Denkerin

Brutalismus und Heiterkeit

Anhang

Anmerkungen

Dank

Abkürzungen und Siglen

Abbildungen

Personenregister

Tafelteil

Prolog

Das Jahr 2009 war kein gutes Jahr für die Literatur in Frankfurt am Main. Im Februar hatte der Suhrkamp Verlag seinen Beschluss bekanntgegeben, nach Berlin umzuziehen. Frankfurt, das neben einem großen Flughafen und vielen großen Banken auch die größte Buchmesse der Welt und das Geburtshaus des größten Dichters deutscher Sprache beherbergt, stand vor dem Verlust eines seiner beiden wichtigsten Verlagshäuser. In Frankfurt hatte Peter Suhrkamp(1) 1950 seinen neuen eigenen Verlag gegründet, nach einer schwierigen Vorgeschichte mit dem S. Fischer Verlag, der seit 1948 hier residierte; in Frankfurt hatte Siegfried Unseld(1) den Suhrkamp Verlag zur ersten Adresse im intellektuellen Leben der Bundesrepublik gemacht. Durch den Wegfall dieser Adresse drohte der Stadt ein schwerer kultureller Verlust. Kaum begann man, sich mit ihm abzufinden, folgte im Oktober der nächste Schlag aus dem Hause Suhrkamp: Nach dem Verlag sollte nun auch noch dessen Archiv Frankfurt verlassen – eine »herbe Enttäuschung« für die Stadt, so sah es nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung.[1] Enttäuscht war vor allem die Goethe-Universität, die sich mit der Unterstützung von Stadt und Land und eines Kreises solventer Mäzene um den Zuschlag für den Archivbestand bemühte hatte, zu dem außer dem Archiv des Suhrkamp Verlags auch die Archive des 1963 übernommenen Insel Verlags sowie des Jüdischen Verlags und des Deutschen Klassiker Verlags gehörten, nicht zuletzt die Nachlässe der Verleger Suhrkamp(2) und Unseld(2).

Für den Verlag zog die Entscheidung vom Oktober 2009 eine noch größere räumliche Trennung von seinem Archiv nach sich, als sie dessen Verbleib in Frankfurt am Main mit sich gebracht hätte. Denn statt die begehrten Papiermassen nach Berlin mitzunehmen, hatte Ulla Unseld-Berkéwicz(1) beschlossen, sie nach Marbach am Neckar zu verkaufen, die schwäbische Kleinstadt, in der 250 Jahre zuvor Friedrich Schiller(1) geboren worden war. Die Entscheidung der Verlegerin war weniger literarisch motiviert als vielmehr einer Mischung aus institutionellen und finanziellen Gründen geschuldet. Schiller trug allerdings insofern zu Suhrkamps restlosem Abschied von Goethes(1) Heimatstadt bei, als die vom Verlag bevorzugte Institution ihre Existenz der Dynamik seines Nachlebens verdankt. »Deutsches Literaturarchiv Marbach« lautet ihr Name.

Unter dieser Bezeichnung werden seit 2005 die im Lauf eines Jahrhunderts auf der Marbacher Schillerhöhe entstandenen Einrichtungen »Schiller-Nationalmuseum« (1903), »Deutsches Literaturarchiv« (1955) und »Literaturmuseum der Moderne« (2006) zusammengefasst. Träger des institutionellen Ensembles ist die Deutsche Schillergesellschaft e. V., die 1895 als »Schwäbischer Schillerverein« gegründet wurde.

Diesem Verein oder vielmehr seinem energischen Geschäftsführer war es 2009 gelungen, das nötige Geld aufzutreiben, um sich gegen eine große Stiftungsuniversität öffentlichen Rechts durchzusetzen. Vor allem aber war es in jahrzehntelanger Arbeit gelungen, in Marbach eine Institution zu schaffen, die selbst im enttäuschten Frankfurt der Archivschätze von Suhrkamp(3) für würdig empfunden wurde. »Dass Marbach als zentraler Ort deutscher literarischer Gedächtnispflege den Archiven, deren Umfang in Regalmetern gut einen Kilometer betragen soll, ein ideales neues Zuhause bieten kann, steht außer Frage«, konzedierte die Frankfurter Allgemeine; dass man die Marbacher Lösung bei Betrachtung der Archivbestände als »Angelegenheit überregionalen Interesses« »vernünftigerweise gar nicht ablehnen« könne, die Frankfurter Rundschau.[2] Der Suhrkamp Verlag und das Deutsche Literaturarchiv wollten mit der Entscheidung die »Sonderstellung« bestätigt sehen, »die Marbach aufgrund seiner einzigartigen Verbindung eines forschungsstarken Archivs mit zwei Literaturmuseen« einnehme; der Erwerb der Verlagsarchive unterstreiche und befestige den »nationalen und internationalen Rang Marbachs als bedeutendste Sammlung der deutschsprachigen Literatur und Philosophie des 20. Jahrhunderts«.[3]

»Marbach«, d.h. das Deutsche Literaturarchiv, erfuhr durch die Erwerbung einen materiellen Zuwachs um ein Viertel seines bisherigen Bestandes. Vier große Lastwagen mit Anhängern füllten die Frankfurter Verlagsarchive, die noch im Dezember 2009 auf der Schillerhöhe eintrafen, um dort unter dem Namen »Siegfried Unseld Archiv« den Weg in rund 10 000 Archivkästen zu finden. Die Bedeutung der riesigen Sammlung literarischer, geisteswissenschaftlicher und politischer Quellen für die Literatur- und Ideengeschichte lässt sich mit Zahlen nicht erfassen; der großen Namen sind zu viele, als dass sich in wenigen Zeilen eine Auswahl treffen ließe.[4]

»Nie standen die Sterne höher und heller über unserem Haus«,[5] erscholl es aus der Einrichtung, die ein Suhrkamp-Autor Jahre früher als »unterirdischen Himmel« beschrieben hatte.[6] Die Stimme, die die Sterne herbeirief, war die von Ulrich Raulff(1), dem damaligen Direktor des Deutschen Literaturarchivs und Geschäftsführer der Deutschen Schillergesellschaft. Raulff hatte sich über vielfach laut gewordene Bedenken hinweggesetzt und den riskanten, da finanziell vorerst nicht gedeckten Coup gewagt, unterstützt von dem Stuttgarter Verleger Wulf D. von Lucius(1), der bei den Verhandlungen als Moderator fungierte, und dem Unternehmer und Mäzen Berthold Leibinger(1), der in heiklen Momenten zum »Dranbleiben« riet. Die Übernahme des Suhrkamp-Archivs war ein Husarenstück. Nie zuvor hatte Marbach auf einen Schlag so massiv und aktiv in den deutschen Literaturbetrieb eingegriffen.

Mit Ulrich Raulff(2) war im Jahr 2004 erstmals ein Mann mit der Leitung auf der Schillerhöhe betraut worden, der nicht der schwäbischen Bildungskultur entstammte, mit der das Marbacher Literaturarchiv historisch verwachsen ist, ein an französischer Theorie geschulter Intellektueller, der sich den geheiligten Traditionen und eingespielten Strukturen mit dem Blick von außen näherte. Er war Leitender Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, als ihm das Wahlgremium der Schillergesellschaft den Direktorenposten antrug. Man erwartete sich von ihm eine neue Ausstrahlung und eine weitere internationale Öffnung. Der Einzug der Frankfurter Verlagsarchive stand für das eine wie für das andere. Suhrkamp(4) prägte das geistige Leben der Bundesrepublik spätestens seit den siebziger Jahren wie kaum ein zweiter Verlag, und dies nicht zuletzt durch seine Übersetzungen von fremdsprachigen Autoren, die nun allesamt mit Briefen und Manuskripten im Deutschen Literaturarchiv vertreten waren. Das Siegfried-Unseld-Archiv war eine Forschungsressource sondergleichen und der ideale Bestand, um in Marbach die Globalisierung zu proben.

***

Wollte man die Geschichte des Deutschen Literaturarchivs und der Deutschen Schillergesellschaft sphärologisch[7] betrachten, wäre der Globus für die 2018 beendete Amtszeit von Ulrich Raulff(3) wohl das richtige Modell. Von jener neueren, global orientierten Ekstase kann im vorliegenden Buch nicht die Rede sein. Hier wird die viel ältere Geschichte einer Innenraumschöpfung erzählt, die Bildung einer Mikrosphäre, einer Blase, wenn man so will.

Diese Geschichte handelt von der Herausbildung eines »Archivkörpers«, in dem sich, wie in jedem Archiv, materielle Überlieferung und historische Einbildungskraft kreuzen,[8] in dem zugleich aber eine besondere Ökonomie waltet, insofern das überlieferte Material literarisch ist. Die Dynamik folgt hier dem Prinzip der Sammlung, nicht dem der Registratur, und die Sammlung dem Namen, nicht der Sache. Weit mehr als im klassischen Behördenarchiv spielt der menschliche Faktor im Literaturarchiv die maßgebliche Rolle. Von den Menschen geht diese Geschichte daher auch aus, mehr als vom Material, um das es ihnen ging.

Die Geschichte spielt in der schwäbischen Provinz. Dort nimmt sie teil an den Höhenflügen und den Abstürzen der modernen deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Ihren Elementen nach reicht sie in das 19. Jahrhundert, ihren Ursprüngen nach sogar noch weiter zurück. Sie endet an dem Punkt, an dem der Marbacher Archivkörper, ein Organismus von Menschen und Papieren, erwachsen geworden ist, an dem er für sich steht. Diese institutionelle Reife war um das Jahr 1973 erreicht, als das Deutsche Literaturarchiv aus dem Schiller-Nationalmuseum auszog und ein eigenes Haus erhielt. An diesem Punkt waren die Jahre des Aufbaus beendet. Was danach kam, war Ausbau, Konsolidierung, schließlich Wandel zu neuen Formen. Doch das ist bereits eine andere Geschichte, die die Schwelle zur Gegenwart berührt. Die Geschichte der Schillerhöhe, die wir erzählen wollen, ist, wie die eines anderen Zauberbergs, »sehr lange her, sie ist sozusagen ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen«.[9]

Schillers(2) Schwaben

Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient. Frühe verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt auszutauschen, die ich nur eben durch die Fernröhre kannte. Ein seltsamer Mißverstand der Natur hat mich in meinem Geburtsort zum Dichter verurteilt.«[1] – Mannheim, im November 1784: Zwei Jahre nach seiner endgültigen Flucht aus Stuttgart hatte Friedrich Schiller(3) noch immer keinen festen Boden unter den Füßen. Die Aussicht auf eine dauernde Anstellung als Theaterdichter in der kurpfälzischen Residenzstadt war dahin. Obwohl er seit dem Sensationserfolg seines ersten Dramas Die Räuber am Mannheimer Nationaltheater im Januar 1782 bereits zwei weitere Stücke vorgelegt hatte, rang er noch immer um seine Existenz. Nun sollte die Gründung einer Zeitschrift Abhilfe schaffen. Es war die Rheinische Thalia, die er mit seinem intimen Selbstbekenntnis ankündigte.

Erstmals distanzierte Schiller sich hier in gedruckter Form von seinem früheren Erzieher und Dienstherrn, Herzog Karl Eugen(1) von Württemberg. Zugleich nahm er das Land seiner Herkunft in den Blick. Denn mit dem »Geburtsort« meinte er nicht das Städtchen Marbach, wo die wenig verständige Natur ihn am 10. November 1759 zur Welt kommen ließ, bevor sie den Knaben drei Jahre später ohne größere Gedächtnisspuren erst nach Lorch, dann nach Ludwigsburg und Stuttgart weitertrieb.[2] Er meinte jenes gesamte »Vaterland« um den mittleren Neckar, für das sich im Sprachgebrauch seiner Bewohner die gegenüber dem territorialherrschaftlichen »Württemberg« volkstümlichere Bezeichnung »Schwaben« gehalten hatte.[3]

Dass ihm »Stuttgardt und alle schwäbischen Scenen unerträglich und ekelhaft« geworden seien, beteuerte Schiller(4) bereits im Mai 1782 nach seiner zweiten heimlichen Reise nach Mannheim dem dortigen Theaterdirektor Dalberg(1). Wenngleich er aus Angst vor dem Herzog(2) den Eindruck einer »völligen Entschwäbung« vermieden wissen wollte, hatte der aufstrebende Bühnenautor und Dichter doch eben diese im Sinn. Dabei assoziierte er Schwaben nicht allein mit dem Regiment Karl Eugens(3). Er verband es zugleich mit einer ästhetischen Mangelsituation, wenn er(5) erklärte: »In diesem Norden des Geschmaks werd ich ewig niemals gedeyhen.«[4]

Das Urteil des 22-Jährigen(6) war in seiner Härte der Not des Augenblicks geschuldet. Doch entsprach es einem im damaligen Württemberg weit verbreiteten Gefühl kultureller Unterlegenheit gegenüber anderen deutschen Ländern. Dem Eindruck, dass »wir armen Schwaben […] unter einem so sehr böotischen Himmel wohnen, daß die herrliche Pflanze des Genies nicht gedeihen kann«, wollte etwa Gottfried Friedrich Stäudlin(1) mit seinem im selben Jahr 1782 erschienenen Schwäbischen Musenalmanach entgegenwirken.[5] Auch am Hof wurde das Problem als solches empfunden. Nicht zuletzt als Antwort darauf ist die Hohe Karlsschule zu verstehen, die der seit 1744 herrschende Karl Eugen(4) 1770 als »Militärische Pflanzschule« ins Leben rief. Mit ihr schuf sich der katholische Barockdespot eine im Vergleich zur protestantisch-theologisch geprägten Landesuniversität Tübingen moderne Ausbildungsstätte für Offiziere, Verwaltungsbeamte, Ärzte und Juristen, die zugleich die Entwicklung der Gelehrsamkeit und der Künste förderte.[6] Von dem Aufklärungsimpuls im religiösen Württemberg mag auch Schiller(7) profitiert haben. Er musste ihn allerdings mit einer durch Drill, Drangsalierung und Überwachung geraubten Jugend bezahlen. 1790, vier Jahre vor ihrer Schließung, widmete ein Lehrer der Karlsschule dem Herzog(5) das akribische Verzeichnis Das gelehrte Wirtemberg, eine quasi-staatliche »Leistungsschau des Bildungsfortschritts« im Land,[7] in der auch der inzwischen berühmteste Absolvent der Anstalt mit einem kurzen Eintrag vertreten war.[8]

Dem seinerzeit in Jena ansässigen Schiller(8) stellte sich Württemberg nach einem Jahrzehnt im »Ausland« in etwas milderem Licht dar. Als er dem Herzogtum im September 1793 seinen einzigen und letzten, immerhin ganze neun Monate dauernden Besuch abstattete, war der Anlass allerdings rein familiär – der 70. Geburtstag seines Vaters(1). Seinem Freund Christian Gottfried Körner(1) schrieb er im Vorfeld: »Meine schwäbische Reise kann und darf ich nicht aufschieben, denn die ganze Hoffnung meines Vaters beruht darauf, und ich bin ihm diese Liebe schuldig.« Zwei Wochen später ließ er, noch immer in Jena, aber doch verlauten: »Die Liebe zum Vaterland ist sehr lebhaft in mir, und der Schwabe, den ich ganz abgelegt zu haben glaubte, regt sich mächtig. Ich bin aber auch eilf Jahre davon getrennt gewesen, und Thüringen ist das Land nicht, worin man Schwaben vergessen kann.«[9]

Erfreulich an dem Aufenthalt war für ihn neben der Geburt seines ersten Sohnes Karl(1) vor allem das »Wiedersehen der Meinigen und so vieler Jugendfreunde, die, wenn auch sonst nichts anders, die lebhafte Erinnerung an die Vergangenheit einem theuer macht«.[10] Sein Eindruck von der geistigen Situation des Landes blieb trotz erhöhtem Weinkonsum nüchtern: »Von meinen alten Bekannten sehe ich viele, aber nur die wenigsten interessiren mich. Es ist hier in Schwaben nicht soviel Stoff und Gehalt als Du Dir einbildest, und diesen wenigen fehlt es gar zu sehr an der Form«, berichtete er Körner(2).[11] Zu den wenigen interessanten Jugendfreunden zählte der Bildhauer Johann Heinrich Dannecker(1). Bei einem Besuch in dessen Stuttgarter Atelier im Frühjahr 1794 schuf Dannecker auf Schillers(9) Wunsch hin eine antikisierende Gewandbüste. Auf dieses erste plastische Schillerporträt geht die nach Schillers Tod entstandene Kolossalbüste zurück, die dazu beitrug, Schillers Bild »ins übernatürlich Große zu stilisieren« wie sonst nur Goethes(2)Epilog zu Schillers Glocke.[12]

Aber noch lebte Schiller(10) – und noch hatte er Goethe(3) nicht als Freund gewonnen. Das »glückliche Ereignis« ihres ersten ausgiebigen Gesprächs am 20. Juli 1794 in Jena hatte zwar nichts mit Schillers(11) Schwabenreise zu tun; dass sich daran noch unzählige andere anschlossen, aber doch ein wenig. Denn Schillers bald darauf unter reger Beteiligung Goethes begonnenes Zeitschriftenprojekt Die Horen ging ursprünglich auf eine Zusammenkunft mit dem jungen Verleger Johann Friedrich Cotta(1) im Mai des Jahres auf dem Kahlenstein bei Stuttgart zurück.[13] Es war die Geburtsstunde der Cotta-Kultur, die erst Tübingen, dann Stuttgart zu einem Zentrum des deutschen Buchhandels machte. Die literaturpolitische Dreiecksbeziehung zwischen den beiden Dichtern und dem aufstrebenden Verleger kam vollends in Gang, als Goethe selbst im Sommer 1797 auf seinem Weg von Frankfurt in die Schweiz mit Empfehlungen Schillers durch Württemberg reiste und Cotta in Tübingen aufsuchte, um weitere Publikationspläne unter Dach und Fach zu bringen. Zuvor hatte er bei seinem Aufenthalt in Stuttgart auch Dannecker(2) kennengelernt und in dessen Atelier die Schiller-Büste bewundert. Angeblich eröffnete er dem Künstler am Ende, bei ihm Tage verbracht zu haben, wie er sie »in Rom lebte«.[14] Goethes(4) Freund(12) im fernen Jena zeigte sich erfreut, »daß Sie sich auf meinem vaterländischen Boden gefallen«.[15]

Auch dies konnte aus Schiller(13) jedoch keinen Verfechter Schwabens, geschweige denn Württembergs mehr machen. Dem reichsstädtischen Bürgerstolz, von dem Goethes(5) bleibende Verbundenheit mit Frankfurt getragen war,[16] hatte er nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen. Die Tatsache, dass Schiller zeitlebens die schwäbische Mundart beibehielt, ändert daran ebenso wenig wie die Versicherung, »daß er die Klischees, die von den Schwaben im Umlauf sind, Fleiß, Erwerbstrieb, Häuslichkeit, Eigenbrötelei, Grundsatztreue, Freiheitsliebe etc., allesamt bestätigen« könne, und »jedes dieser Klischees gleichsam von innen her aufgebrochen und mit Leben erfüllt« habe.[17] Überdies sorgte sein grundsätzlich »kombattantes Verhältnis zur Natur«[18] dafür, dass die zu seiner Zeit noch unverstellten landschaftlichen Reize Neckarschwabens ihm nicht als tröstendes Gegengewicht zum schulischen Leidensweg erscheinen konnten und auch später nicht zu Buche schlugen.[19] Er überließ es anderen, die Heimat zu besingen. Dem Neckar hat nicht Schiller(14) weltliterarische Weihen verliehen, sondern Hölderlin(1).

Auch die erste Begegnung mit Friedrich Hölderlin(2) verdankte Schiller(15) seiner Schwabenreise von 1793/94 – wobei das halbstündige Gespräch in Ludwigsburg für ihn selbst weit weniger historisch war als für den elf Jahre jüngeren, im unweit Marbachs gelegenen Lauffen am Neckar geborenen Dichter. Hölderlin liebte Schiller seit seiner Schulzeit. Er gehörte zur ersten Generation Heranwachsender, die sich von Gedichten wie Resignation, An die Freude oder Die Götter Griechenlandes berührt fühlten. Später, während seines Studienaufenthaltes in Jena (1794/95), besuchte er Schiller fast jeden Tag. Der bezeichnete ihn zu jener Zeit als seinen »liebsten Schwaben« und profitierte bei der Ausarbeitung seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen von den gemeinsamen Gesprächen, ohne seine innere Distanz gegenüber dem empfindsamen Landsmann wirklich ablegen zu können; am Ende ließ er dessen Briefe unbeantwortet. Schillers(16) Reserviertheit wird meist darauf zurückgeführt, dass Hölderlin ihn zu sehr an seine jugendlichen Freiheitsideale und sein lyrisches Frühwerk gemahnte, eine Phase, die er nach dem Abgleiten der Französischen Revolution in den Terror und dem Beginn seiner Freundschaft mit Goethe(6) hinter sich wissen wollte. Vielleicht spürte er in dem jüngeren Nacheiferer(3) auch den dichterisch Überlegenen.[20]

Hölderlin(4) steht am Anfang einer philosophischen Wirkungsspur des frühen Schiller(17), die sich über die ganze Welt erstreckt. Ihr Ursprung lag wiederum im Herzogtum Württemberg des ausgehenden 18. Jahrhunderts, genauer: im Tübingen der Jahre 1788 bis 1793. In diesem Jahrfünft, als in Frankreich die alte Welt aus den Fugen geriet und eine neue Zeit anbrach, studierte Hölderlin(5) dort gemeinsam mit dem Stuttgarter Georg Wilhelm Friedrich Hegel(1) als Stipendiat des Tübinger Stifts; 1790 stieß noch sein Nürtinger Lateinschulkamerad Friedrich Schelling(1) hinzu. Dieser einzigartigen Konstellation entsprang wenige Jahre später das moderne Erkenntnisprinzip der Dialektik.[21] Wenngleich sie vor allem mit Hegel verbunden wird, gründete die dialektische Denkbewegung auf einer wesentlich von Hölderlin(6) erdachten, dann auch von Schelling fortentwickelten »Vereinigungsphilosophie«. Sie suchte das durch die neuzeitliche Freisetzung des Subjekts verschärfte Vermittlungsproblem zwischen Selbstheit und Hingabe dadurch zu lösen, dass sie die Liebe zu einem »Metaprinzip der Vereinigung von Gegensätzen im Menschen« erklärte, zu einer »Kraft, die nicht in einem Zustand, sondern nur in Bewegung durch Gegensätze zu denken ist«, zu einem »Prinzip von Geschichte«.[22]

Bei diesem folgenreichen Unterfangen stellte Schiller(18) Hölderlins(7) unmittelbarste Quelle dar. Neben den frühen Gedichten und dem Dramenwerk bis zum Don Karlos (1787) inspirierten ihn vor allem die Philosophischen Briefe mit der in ihnen enthaltenen Theosophie des Julius (1786). Schiller verkörperte ein »Freiheitsgefühl, welches allumfassend sein will und daher eine prinzipielle Entgegensetzung von Vernunft und Sinnlichkeit als schmerzliche Einschränkung der eigenen Tragweite empfinden muß«. Dem von ihm befeuerten »Vereinigungsdrang« gesellte sich im Tübinger Stift noch eine pietistisch eingefärbte Endzeitstimmung bei. Sie trieb die Verzeitlichung einer »pantheistischen Gefühlsprägung« voran, die sich bei Schiller selbst nie voll zu entfalten vermochte.[23] Wie stark der Dichter auch bei Hegel(2) fortwirkte, zeigt sich unter anderem daran, dass dessen 1807 erschienene Phänomenologie des Geistes mit einem – rätselhaft verballhornten − Verspaar aus Schillers(19) Gedicht Die Freundschaft schließt: »aus dem Kelche dieses Geisterreiches / schäumt ihm seine Unendlichkeit«.[24]

War es ein genuin »schwäbischer Geist«, aus dessen Kelch die ideelle Verbindung zwischen Schiller, Hölderlin(8), Schelling(2) und Hegel(3) schäumte? Der einschlägigste Versuch, einen solchen zu konstruieren, stammt von Heinz Otto Burger(1). In seinem 1933 unter dem Titel Schwabentum in der Geistesgeschichte veröffentlichten, nach dem Krieg mehrmals wieder aufgelegten Werk, identifizierte der Germanist das Streben nach Ganzheit und Vereinigung der Gegensätze als kennzeichnend für den »Geistestypus«, in dem die »weltanschauliche Einheit der schwäbischen Stammesliteratur« von den mittelalterlichen Mönchen am Bodensee bis hin zu Hegel begründet liege.[25] Charakteristisch für die Schwaben sei die Bevorzugung des versöhnlichen »Sowohl-als-Auch« gegenüber dem antagonistischen »Entweder-Oder«, wie sie aus einer spezifisch süddeutschen, »›katholischen‹ Geisteshaltung« innerhalb des Protestantismus herrühre.[26] Burger fand damit auch nach 1945 viele geneigte Leser, darunter Hermann Hesse(1) und Theodor Heuss(1).[27] Der Reiz seiner Darstellung lag nicht zum wenigsten darin, dass Schwaben hier in letzter Konsequenz als das »apolitische Eiland der Idylle erschien«, als die »leibhaftige prästabilierte Harmonie«.[28]

Dabei zeigen schon die Denk- und Lebenswege der großen württembergischen Dichter und Denker um 1800, dass es dies gerade nicht war: Der aus der herzoglichen Armee desertierte Schiller(20) verarbeitete Vorgänge am Stuttgarter Hof in seinem bürgerlichen Trauerspiel Luise Millerin (später: Kabale und Liebe), in dem die gesellschaftlichen Folgen absolutistischer Willkürherrschaft den Hintergrund der Handlung bilden. Wenige Jahre darauf ließ er seinen schillernden Helden Marquis Posa von dessen Monarchen in einer klassischen Wendung »Gedankenfreiheit« fordern. Und den Aufstand der niederländischen Provinzen gegen die spanische Krone im 16. Jahrhundert, jenes »schöne Denkmal bürgerlicher Stärke«, stellte Schiller(21) in seinem historiographischen Erstling als Zeichen dafür dar, »daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hülfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Plane an der menschlichen Freiheit zu Schanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm seines Despoten beugen, heldenmütige Beharrung seine schrecklichen Hülfsquellen endlich erschöpfen kann«.[29] Was die drei großen Tübinger Stiftler anbelangt, wird durch die späteren Karrieren Hegels(4) und Schellings(3) im preußischen und bayerischen Staatsdienst leicht verdeckt, dass die beiden Philosophen während ihres Studiums, befeuert durch die frankophonen Kommilitonen aus der linksrheinischen württembergischen Grafschaft Mömpelgard (Montbéliard), Hölderlins(9) Begeisterung für die Französische Revolution teilten.[30]

Mit der Eigenart der württembergischen Religionsgeschichte hat Burger(2) dennoch auf ein wichtiges Moment in der Entstehungsgeschichte des Deutschen Idealismus hingewiesen, das auch Schillers(22) Prägung durch seine schwäbische Herkunft betrifft. Für mehrere Jahrhunderte formte der landeskirchliche Bildungsweg über eine der berühmten Klosterschulen in Maulbronn, Denkendorf, Blaubeuren oder Bebenhausen ins Evangelische Stift in Tübingen den Denkstil der geistigen Elite Württembergs, indem er eine Tradition umfassender Text- und Sprachgelehrsamkeit[31] mit einer »Tradition des verschwiegenen Entsetzens«[32] auf Seiten der Zöglinge verband. Diesen Bildungsweg beschritt Schiller zwar nicht. Aber auch die jugendlichen Anfänge seines Denkens waren eng mit der spezifischen Form protestantischer Frömmigkeit verbunden, die sich seit dem 17. Jahrhundert verbreitet hatte und ihren Teil dazu beitrug, dass sich die Kultur im Land zwar auf literarischem und wissenschaftlichem Gebiet, kaum aber auf dem der bildenden und darstellenden Künste zu entfalten vermochte: dem württembergischen Pietismus.[33] Dessen auf Innerlichkeit und religiöse Erbauung im kleinen Kreise konzentrierte Tradition bekam der Knabe bereits im Elternhaus von seiner Mutter vermittelt, dann auch von seinem ersten Lateinlehrer, dem Lorcher Pfarrer Philipp Ulrich Moser(1). Angeblich strebte der heranwachsende Schiller(23) selbst zeitweise ein geistliches Amt an und übte sich vor der Familie in Predigten.

Nicht nur in seiner antiklerikalen Tendenz berührte sich der Pietismus mit aufklärerischem Gedankengut. So hat Benno von Wiese(1) herausgearbeitet, dass sich schwäbischer Pietismus und schwäbische Aufklärung in ihrer Orientierung auf eine Endzeit trafen, »für die die eigene Zeit als große Wende stellvertretend steht«, und in »dieser merkwürdigen Gleichartigkeit der Struktur von Eschatologie und aufgeklärtem, epochalem Denken« eine »wesentliche Voraussetzung für den Ansatz Schillers(24)« identifiziert: »Die vielfältigen Wandlungen, die Schiller in seinem Denken vollzogen hat, bewirkten in keinem Falle eine radikale Abkehr von den Fragen, die er aus dem Lande seiner Herkunft in sich aufgenommen hatte. Nicht nur sein Zusammenhang mit dem Barock, seine religiöse und metaphysische Orientierung vor allem in seiner ersten Epoche, lassen sich aus dem abgeschlossenen, bibelfrommen Württemberg des 18. Jahrhunderts, dem Lande Bengels und Oetingers, herleiten; auch die Überführung der theologischen Strukturen in ein säkulares Geschichtsdenken hat in Württemberg ihren Ursprung.«[34]

So gesehen, könnte die fortschrittsfrohe Geschichtsphilosophie, wie Schiller sie am deutlichsten in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom Mai 1789 vertrat,[35] noch als schwäbisches Vermächtnis betrachtet werden.[36] Als es bei seinen jüngeren Zeitgenossen in Tübingen und anderswo zu wirken begann, hatte der mit historischen Vorlesungen betraute außerordentliche Professor für Philosophie sich jedoch bereits von jeglichem Idealismus und Enthusiasmus im Hinblick auf die von ihm erlebte Geschichte entfernt.[37] Die Hinrichtung des abgesetzten französischen Königs Ludwig XVI.(1) im Januar 1793 trieb ihm den bis heute mit seinem Namen verbundenen Geschichtsoptimismus vollends aus. Die zu jener Zeit entstandenen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen lassen sich so auch als »unblutiger Gegenentwurf zu der zunehmend blutig verlaufenden Revolution in Frankreich« lesen.[38]

Mit seiner Absage an die Geschichtsphilosophie legte der reife Schiller einen Realismus an den Tag, der schon in der Begegnung des Karlsschülers und Militärarztes mit physiologischer Medizin und empirischer Psychologie angelegt war. Dieser Realismus bestimmte auch Schillers(25) diesseitsorientierte, auf die Rehabilitation der Sinnlichkeit und die Anerkennung des Todes abzielende Ästhetik − und lässt den vermeintlichen Idealisten damit als Protagonisten einer »anthropologischen Wende« im deutschen Denken um 1800 hervortreten.[39] Im Hinblick auf Schillers Werk kann dabei kaum von der einen Wende gesprochen werden; vielmehr liefen idealistische und realistisch-anthropologische Denkströme lange nebeneinander her. Nur ein Jahr bevor er in Jena seine aufklärerische Vorstellung von einer Vernunft in der Geschichte verkündete, bedauerte er in dem Gedicht Die Götter Griechenlandes Christentum und Aufklärung gleichermaßen, den monotheistischen Jenseitsglauben des einen ebenso wie das mechanistisch-naturwissenschaftliche Weltbild der anderen. In seiner Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande erklärte er: »Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen; ihm gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall.«[40] Ideengeschichtlich lässt sich bei Schiller(26) also spätestens ab 1793 das diagnostizieren, wovon er in seinem Brief vom Mai 1782 an Dalberg(2) geschrieben hatte: eine »völlige Entschwäbung«.

Dichter der Deutschen

»Denn er war unser!« Goethes(7) Ausruf aus seinem Epilog zu Schillers(27) Glocke kann als Leitmotiv des Gedächtniskults betrachtet werden, der bald nach Schillers Tod am 9. Mai 1805 um sich griff. Goethes Epilog wurde im August 1805 nach einer szenischen Aufführung von Schillers populärstem Gedicht in Lauchstädt von einer Weimarer Hofschauspielerin rezitiert. Auf das Weimarer Theater und die höhere Gesellschaft der Stadt war der hier – innerhalb von zehn Stanzen dreimal – formulierte Besitzanspruch auch bezogen. Goethes Appell am Schluss des Epilogs richtete sich allerdings über Schillers letzten Wohnsitz hinaus: »Doch jetzt empfindet sein verklärtes Wesen / Nur einen Wunsch, wenn es herniederschaut. / Oh! Möge doch den heil’gen, letzten Willen / Das Vaterland vernehmen und erfüllen.«[41]

Was war Schillers(28) letzter Wille? Und welches Vaterland war zu dessen Erfüllung aufgerufen? Das wusste Goethe(8) selbst nicht. Wie schon in der zweiten Fassung des Epilogs von 1810 fehlen diese Verse dann auch in der dritten Fassung von 1815; von »Vaterland« war hier, nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und nun auch der napoleonischen Herrschaft, keine Rede mehr. Schillers Vermächtnis harrte stattdessen einer universalen Aufnahme: »Wir haben alle segenreich erfahren, / Die Welt verdank’ ihm, was er sie gelehrt; / Schon längst verbreitet sich’s in ganze Scharen, / Das Eigenste, was ihm allein gehört. / Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend, / Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend.« Der Apotheose am Ende war noch der Aufruf vorangestellt: »So feiert ihn! Denn was dem Mann das Leben / Nur halb erteilt, soll ganz die Nachwelt geben.«[42]

Die Nachwelt ließ sich nicht lange bitten. Was für ein immenses Ausmaß Schillers(29) Popularität vor allem als Bühnenautor schon zu Lebzeiten erreicht hatte, zeigt sein Berlin-Besuch im Mai 1804, ein gesellschaftliches Ereignis in der preußischen Metropole.[43] Sein früher und umso erschütternderer Tod brachte ihn »mit einem Schlage den Herzen der Deutschen näher als irgend einen andern Dichter jener oder früherer Zeit«.[44] Goethes(9)Epilog trug zu Schillers Monumentalisierung bei, indem er erstmals jenen »Typus des leidenden und siegreich kämpfenden Idealisten« präsentierte, »der sich über die Widrigkeiten von Zeit und Umwelt, vor allem über die physischen Gefährdungen der eigenen Existenz erhebt«.[45]

Über Jahrzehnte bestimmte dieser Typus das Bild des Dichters(30). Dabei war die Schiller-Rezeption durch die pragmatische »Applikation« von Literatur gekennzeichnet, das Verfahren, einzelne Textpassagen aus ihrem Zusammenhang herauszulösen und in außerliterarischen Bereichen zu verwenden.[46] Schiller hatte eine Sprache gefunden, die einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich war, mit eingängigen Versen und Sinnsprüchen, »geflügelten Worten«, die sich für Deklamationen in vertrauter Runde ebenso eigneten wie für Reden, publizistische Beiträge und andere Anlässe.[47] Christian Grawe(1) hat die »Ausbeutung seines Werks zur Aufwertung nahezu jeder Weltanschauung und menschlichen Tätigkeit« als »den extremsten Fall von posthumer Dichterverehrung im ohnehin zur Künstlerhuldigung neigenden 19. Jahrhundert« bezeichnet.[48]

In Zeiten schleichender Entchristlichung füllte der Schiller-Kult ein religiöses Vakuum, vor allem unter freigeistigen Protestanten, die der theistischen Wiederverengung der Kirchenpolitik seit den 1830er Jahren nicht folgen wollten.[49] Er gehörte zum Kernbestand jener von Geniegedanken, Weimarer Klassik und Neuhumanismus genährten deutschen Bildungsreligion, die Thomas Nipperdey(1) als ein »eigentümliches Phänomen« zwischen »Aufklärung und Liberalismus, Pietismus und Erweckung« angesiedelt hat.[50] Lange Zeit erfreute sich der ethisch wie ästhetisch an Kant(1) geschulte Schiller größerer Beliebtheit als der Spinozist Goethe(10) mit seiner pantheistischen Religiosität. Auch schien Schiller(31) mehr zu den prüden bürgerlichen Moralvorstellungen zu passen, die sich in Abgrenzung von aristokratischer Freizügigkeit durchsetzten. Das keusch-züchtige Frauenbild, wie es sein Spätwerk durchzieht und heutige Leser befremdet, behagte dem Publikum des 19. Jahrhunderts, das an Goethes laxer Sinnlichkeit Anstoß nahm.[51]

Gleichzeitig arbeitete die Schiller-Verehrung der kulturellen Nationsbildung der Deutschen zu, mit der sich bis zum Reichsgründungsjahrzehnt das Ziel politischer Freiheit und bürgerlicher Emanzipation verband.[52] Auch in dieser Hinsicht konnte Goethe(11) als Mann des Ancien Régime und Bewunderer Napoleons nicht mit Schiller mithalten. Die »Vorstellung einer geordneten Freiheit, einer in gemeinsamer Arbeit und Anstrengung geeinten Bürgergesellschaft«, wie sie in Schillers(32)Lied von der Glocke (1799) mit der »Absage an französische Zustände, an Gewalt und weibliche Grenzüberschreitung« einhergeht,[53] entsprach dem Wertehorizont vieler Deutscher in der Frühphase ihrer nationalen Selbstfindung. Dabei war Schiller selbst alles andere als deutschnational bewegt und erwies sich auch darin als Weltbürger, dass er seine klassischen Dramen zur Befreiung von Fremdherrschaft, Die Jungfrau von Orleans und Wilhelm Tell, dem historischen Mythenschatz Frankreichs bzw. der Schweiz entlieh.[54]

Zu dem 1802 entstandenen und erst ein Jahrhundert später veröffentlichten Gedichtentwurf Schillers(33), »dem der späte Herausgeber ungezwungen den Titel ›Deutsche Größe‹ geben konnte«, hat Friedrich Meinecke(1) wohl schon das Wesentliche gesagt: »Wie mancher wird meinen, daß auch Schiller, wenn er die Jahre nach 1806 erlebt hätte, ein Redner an die deutsche Nation geworden wäre, und er wird sich auf Schillers Persönlichkeit, auf den Geist seines letzten Dramas, schließlich auch auf das, was durch seine Zeilen über ›Deutsche Größe‹ hindurch klingt, berufen. […] Aber nur eine triviale Auffassung wird behaupten, daß er gar nicht anders gekonnt und daß er Goethes(12) Quietismus beschämt haben würde. Denn es gab ja eben nicht nur einen Weg, der aus der universalen Welt des 18. Jahrhunderts in die nationale und nationalpolitische Welt des 19. Jahrhunderts hinüberführte, und die großen Persönlichkeiten dieser Zeit waren auch zu eigentümlich und zu selbständig, um nur auf einen Weg sich weisen zu lassen.«[55]

Schillers(34) postume Doppelkarriere als »Dichter der deutschen Nation« und »Dichter der Freiheit« begann bereits in den Befreiungskriegen gegen Napoleon(1). In den darauffolgenden 150 Jahren durchlief sie zahlreiche Metamorphosen und Deutungskämpfe. Am Ende lebte die Erinnerungsfigur des »Nationaldichters« gerade davon, dass sie »die in dieser Nation vorhandenen Brüche und Spaltungen abbildete und kulturell integrierte«.[56] Einen letzten Höhepunkt stellte das Schillerjahr 1955 dar, als Johannes R. Becher(1) in seiner Weimarer Gedenkrede die »nationale Sendung« des Dichters in der DDR proklamierte. Goethes(13) persönlicher Nachruf erwies sich auch in seiner Vergangenheitsform als wahr. Das Motto der politischen Vereinnahmung durch den Ost-Berliner Kulturminister war bezeichnenderweise im Präsens formuliert: »Denn er ist unser.«[57]

Den Schwaben war ihr Besitzanspruch an den Dichter, der ihrem Land so früh den Rücken gekehrt hatte, nicht weiter erklärungsbedürftig. In den 150 Jahren, die zwischen Goethe(14) und Becher(2) lagen, wurde Württemberg zu einem Zentrum der deutschen Schillerverehrung. Allgemeine Entwicklungen trafen hier auf regionale Eigenheiten, wobei zunehmend Schillers(35) Geburtsort Marbach in den Mittelpunkt des Geschehens rückte.

Riese von Marbach

Das Herzogtum Württemberg war im Jahr nach Schillers(36) Tod zum Königreich aufgestiegen. Ein von 1806 bis 1816 als König Friedrich I.(1) regierender Neffe des Herzogs Karl Eugen(6) konnte das Territorium durch sein Bündnis mit Napoleon(2) verdoppeln. Nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 hatte er bereits geistliche Besitztümer und Reichsstädte wie Esslingen, Heilbronn, Hall und Rottweil seiner Herrschaft einverleibt; Säkularisation und Mediatisierung nannte man das. Mit dem Fürstentum Hohenlohe und vor allem dem oberschwäbischen Vorderösterreich gesellte sich zu den protestantischen Altwürttembergern nun auch zwangsweise eine größere Zahl von katholischen und eine kleinere von jüdischen Neuwürttembergern hinzu. Doch auch die Untertanen im Kernland mussten sich auf neue Verhältnisse einstellen. Denn der König setzte alles daran, sein Reich zentralistisch zu konstitutionalisieren und dafür nicht nur die Privilegien des neuwürttembergischen Adels, sondern auch die der altwürttembergischen Ehrbarkeit abzuschaffen. Der Verfassungskonflikt beschäftigte noch seinen Sohn, der ihm als Wilhelm I.(1) auf den Thron folgte und 1819 eine Verfassung erließ, die der Opposition in der Stuttgarter Ständeversammlung entgegenkam. Als deren wortgewaltiger Sprecher beschwor der Jurist und Dichter Ludwig Uhland(1) in seinen Vaterländischen Gedichten (1817) das »alte, gute Recht«.[58]

Die Zeiten, in denen unbotmäßige Dichter einfach weggesperrt werden konnten wie einst Christian Friedrich Daniel Schubart(1) von Herzog Karl Eugen(7), waren vorbei. Außerdem musste dem neuen Königreich daran gelegen sein, die Untertanen mit ihren unterschiedlichen Traditionen auf ein kollektives Selbstverständnis einzuschwören, wenn schon nicht ein württembergisches, dann doch zumindest ein schwäbisches. Und den Dichtern des Landes kam dabei eine wichtige Rolle zu, zumal nicht alle so dezidiert oppositionell eingestellt waren wie Uhland(2). Sein Freund Justinus Kerner(1) beispielsweise prägte 1818 in einem Gedicht über den ersten württembergischen Herzog Eberhard im Bart(1) (Der reichste Fürst) sogar das Bild einer landestypischen Treue der Untertanen zu ihrem Herrscher.[59]

Mit Kerner(2) und Uhland(3) begann ein »schwäbisches Jahrhundert der Literatur«.[60] Sie standen im Mittelpunkt eines Freundeskreises, der sich zwischen 1805 und 1808 unter literarisch tätigen Tübinger Studenten gebildet hatte. Dazu gehörte neben inzwischen vergessenen Namen auch der als Autor der Sagen des klassischen Altertums unvergessene Schriftsteller, Pfarrer und Lehrer Gustav Schwab(1), dessen Stuttgarter Haus im Vormärz als das »literarische Hauptquartier« Süddeutschlands galt.[61] Das zeitgenössische Rubrum »Schwäbische Schule« wurde der Gruppe ursprünglich von außen angeheftet und hat ihren Mitgliedern überregional wenig Ehre eingebracht – nicht nur Heinrich Heines(1) spöttischer Polemik wegen.[62] Indem man den Radius des Kreises auf die nächste Generation württembergischer Dichter wie Wilhelm Hauff(1), Eduard Mörike(1), Wilhelm Waiblinger(1) und Hermann Kurz(1) ausdehnte, entstand die »Schwäbische Romantik«.[63] Dass sie sich zum guten Teil literaturhistorischer Konstruktionsarbeit verdankt, kann an dieser Stelle auf sich beruhen.[64] Denn so wenig die schwäbischen Romantiker literarisch und politisch über einen Kamm zu scheren sind, wussten sie sich doch, ganz im Gegensatz zu den nichtschwäbischen Romantikern, einig in der Hochachtung vor Schiller; einer von ihnen, Justinus Kerner(3), hatte ihn sogar noch persönlich erlebt.[65] Ähnlich wie einst Hölderlin(10), den sie in Tübingen als lebendes Gespenst kennenlernten, fühlten sie sich durch die gemeinsame Herkunft besonders mit dem berühmtesten Dichter aus Schwaben verbunden. Sie begründeten eine von freundschaftlichen, teils auch familiären Verbindungen getragene Traditionskette, die die Entwicklung eines spezifisch württembergischen Schillerkults langfristig beförderte.

Den ersten entscheidenden Schritt tat in diesem Fall jedoch kein Dichter aus Tübingen, Stuttgart oder Ludwigsburg, sondern ein Handwerker aus Marbach.[66] Ein zugezogener Gürtler namens Carl Gottlob Franke(1) appellierte 1812 an das Oberamt, Schillers(37) Geburtshaus ausfindig zu machen, was nach einer Befragung fünfzehn älterer Bürger auch gelang. Die Kunde verbreitete sich über die damals gut 2000 Einwohner zählende Landstadt hinaus, bald stellten sich erste Reisende ein, Pilger geradezu, die sich auf der Suche nach Reliquien an der Substanz des bescheidenen Hauses schadlos hielten.[67]

Gustav Schwab(2), einer der frühen Besucher, verarbeitete seine Eindrücke 1815 in dem Gedicht Der Riese von Marbach: »Denn ob des Schlosses Felsengrund / Versunken ist in Schweigen, / Wird man doch drauf zu dieser Stund / Euch noch ein Hüttlein zeigen / Und keine sechzig Jahr’ es sind / Daß drin geboren ward ein Kind, / Dem Wundergaben eigen.« Als Schwab das Gedicht gut zwei Jahrzehnte später in seinem literarischen Reiseführer Wanderungen durch Schwaben (1837) wiederabdruckte, wies er darauf hin, dass Schiller in Marbach »sein eignes Denkmal« erhalten werde und dafür »ein hübscher Platz, die ›Schillershöhe‹, geschmackvoll angelegt und bepflanzt« worden sei.[68]

In der Zwischenzeit war ein Denkmalstreit zwischen Marbach und Stuttgart entbrannt, in dem die kleinstädtischen Honoratioren gegenüber den Schiller-Freunden in der württembergischen Kapitale das Nachsehen hatten. Dort wurde 1824 der Stuttgarter Liederkranz gegründet, ein wesentlich von dem liberalen Oppositionspolitiker Albert Schott(1) initiierter Gesangsverein. Zu seinen satzungsgemäßen Zielen gehörte ein jährliches Schiller-Fest, dessen Erlös einem Denkmal für den Dichter in Marbach zugutekommen sollte. Aus dem Liederkranz ging zwei Jahre später der Verein für das Denkmal Schillers(38) hervor, der dieses nun allerdings für Stuttgart vorsah. Sein von 17 Bürgern der Stadt, darunter Schwab, unterzeichneter Spendenaufruf richtete sich bei allem Lokalstolz, »daß Stuttgart, der Ort der Bildung des Unsterblichen, des Württembergers, als der geeignetste Platz für ein solches Denkmal erscheint«, ausdrücklich an das gesamte »gebildete Deutschland«. Politisch war er unbestimmt gehalten, die Anwesenheit des Königs(2) bei einer Benefiz-Aufführung des Wilhelm Tell am Hoftheater wurde positiv hervorgehoben: »der erhabene Monarch, dessen Volksstamme der hehre Genius entsproß, beehrte sie mit Seiner Gegenwart«.[69]

Mit der hier beschworenen Eintracht zwischen König(3) und Bürgertum machte sich ein konservativer Grundzug des württembergischen Schillerkults bemerkbar, der in späterer Zeit noch deutlicher zutage trat. Dennoch zeugt das Denkmal, das Anfang 1830 bei dem dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen(1) in Auftrag gegeben wurde, ebenso wie die Wahl seines Ortes von einem neuen bürgerlichen Bewusstsein. Der international bekannte Künstler schuf nämlich eine Standfigur, wie sie zu jener Zeit noch weitgehend der Darstellung von (adeligen) Herrschern und Feldherren vorbehalten war;[70] und aufgestellt wurde sie am Ende auf dem Alten Schlossplatz, »mitten in der Stadt, am Übergang von deren bürgerlichem Kern zu dem um 1800 entstandenen höfischen Bereich«, nur einige Meter von der Stiftskirche entfernt. Kritik wurde dann auch vor allem von kirchlicher Seite laut, während sich der König(4) sogar an der Finanzierung beteiligte.[71]

Als das Denkmal am 8. Mai 1839 (der 9. Mai fiel auf den Himmelfahrtstag) unter Glockengeläut enthüllt wurde, beschwichtigte Gustav Schwab(3) in der Festrede, es handle sich um »keinen Götzendienst, wenn wir der Liebe und Beehrung der Nationen die Statue dieses Mannes als ein Wallfahrtsbild hinstellen«; nichts stimme »mehr zur Andacht, zur Anbetung des lebendigen Gottes, als die Erscheinung und Verkörperung des Genius auf Erden«.[72] Die Frage von Schillers(39) Christentum stand freilich nicht im Vordergrund des Stuttgarter Denkmalrummels vom Mai 1839, der ohnehin »dem Gefeierten nicht mehr galt als den Feiernden«, wie Norbert Oellers(1) es formuliert hat: »Das Volk beglückwünschte sich dazu, daß es seinem Liebling Genüge tat, daß es seine Verdienste zu würdigen verstand.«[73] Tatsächlich schrieb ein Teilnehmer in seinem Bericht: »In diesem trunkenen Aufschwung eines gesitteten Volkes feiert die Menschheit sich selbst; sie gibt Zeugnis von dem Fortschritt des Jahrhunderts, sie zeigt es, daß Religion, Kunst und Wissenschaft nicht vergebens an ihr gearbeitet, daß edle Geister nicht umsonst in diesem Dienste sich verzehrt und die Blüte höchsten Strebens, das Leben selbst an das Bild des Lebens gewandt habe. […] Sehet diesen gemütsinnigen und doch in der strengen Arbeit der Gedanken so tüchtigen wirttembergischen Volksstamm, wie er hier in einem seiner edelsten Söhne eben denjenigen ehrt, welcher es verstand, jene beiden Eigenschaften in harmonischer Mischung zusammengewogen zur Einheit einer erhabenen gedanken- und seelenvollen Poesie zu vereinigen und das kräftige Stammbewußtsein zugleich zum Nationalgefühl, ja zum großartigsten Weltbürgertum zu erweitern!«[74]

Schätzungsweise 30 000 Menschen nahmen an der Enthüllungsfeier in Stuttgart teil, fast so viele, wie die Stadt damals Einwohner zählte. Die württembergische Veranstaltung war einerseits Vorbild für spätere Schillerfeste innerhalb und außerhalb Deutschlands, unterschied sich andererseits aber durch ihren politisch moderaten Charakter von den vormärzlichen Feiern der Schillervereine in Breslau und Leipzig, die dezidiert für die bürgerlich-liberale Bewegung eintraten.[75]

Als am 10. November 1859 in fast allen größeren deutschen Städten Feiern zum 100. Geburtstag des Dichter stattfanden, mit bis zu 50 000 Teilnehmern allein in Berlin »wahrscheinlich das größte Massenfest des 19. Jahrhunderts in Deutschland«,[76] und sich die bürgerlichen Schichten zehn Jahre nach der gescheiterten Revolution noch einmal ihres Wunsches nach nationaler Einheit wie ihrer selbst versicherten, trieb es in Stuttgart weniger Menschen auf die Straße als bei der Denkmalsenthüllung, wenngleich es, im Gegensatz zu anderen Städten, keine obrigkeitlichen Repressalien zu befürchten gab und König Wilhelm I.(5) abermals den Feierlichkeiten beiwohnte. Die Festorganisation war noch avancierter, aus einer Veranstaltung wurden gleich mehrere,[77] doch der Enthusiasmus von 1839 wollte sich nicht mehr einstellen. »Schiller dient eigentlich bloß als Aushängeschild«, notierte sich die 16-jährige Hildegard von Varnbüler(1), »und deshalb ist es eigentlich eine recht schöne Feier«.[78]

In Marbach wurde am darauffolgenden Tag Schillers(40) Geburtshaus als Gedenkstätte eingeweiht. Es war, nach dem in Weimar (1847) und dem in Leipzig-Gohlis (1848), das dritte Schillerhaus in Deutschland.[79] Der Dichter und Lehrer Johann Georg Fischer(1), der bereits in Stuttgart die zentrale Festrede gehalten hatte, bewies in der Kleinstadt am Neckar Sinn für historische Größe: »Dieses Haus ist durch den, den es geboren, ein Gegenstand der Weltgeschichte geworden, ein Nationaldenkmal, so unvergeßlich und ruhmvoll als die Wiege der Zierden Athens und Roms.«[80] Das Haus, bald ein kleines Literaturmuseum avant la lettre,[81] war erst zwei Jahre zuvor von dem 1835 gegründeten Marbacher Schillerverein erworben und in altdeutschem Stil umgebaut worden, Butzenscheiben inklusive.

Ursprünglich hatte man sich auch hier zwecks Errichtung eines Denkmals zusammengefunden, doch dann kam das Stuttgarter dazwischen und die schon von Gustav Schwab(4) gewürdigte »Schillershöhe« blieb vorerst unbemannt. Mit Hermann Kurz(2) besuchte 1843 ein weiterer schwäbischer Schriftsteller das Gelände und adelte die Geburtshaus- und Denkmalspläne mit dem Wort vom »deutschen Stratford«.[82]

Von Kind auf mit dem lokalen Schillerkult(41) verbunden war die in Marbach geborene Schriftstellerin Ottilie Wildermuth(1); ihr Vater, der Oberamtsrichter Gottlob Rooschüz(1), gehörte zu den Gründern des Marbacher Schillervereins, musste dann jedoch »infolge höherer Weisung« gleich wieder seinen Austritt erklären.[83] Aus Sorge darum, ihre Heimatstadt werde beim anstehenden Zentenarium erneut ins Hintertreffen geraten, veröffentlichte sie 1857 einen Artikel in der Neuen Preußischen Zeitung (»Kreuzzeitung«), in dem sie neben dem Geburtshaus auch auf die »Stätte für das zukünftige Denkmal« zu sprechen kam, welches trotz der »Liebe und Begeisterung« der Marbacher »ein Traum geblieben« sei. Ihre Ortsbeschreibung mag in Anbetracht der späteren Entwicklungen auf dem Gelände von Interesse sein: »Um bei der Wahrheit zu bleiben, muß ich zwar gestehen, daß der Platz den prosaischen Namen Schelmengrüble trug und in alten Zeiten ein Versteck für räuberisches Gesindel gewesen sein soll. Er war kahles, steiniges Haideland, auf dem nur magere Bäume gediehen und nichts blühte als rothe Blutnelken, die wir als Kinder dort gesammelt haben. Aber ein romantisches Plätzchen war es doch, gesucht von allen sinnigen Gemüthern, − und auf der alten Steinbank, die einst auf dem schönsten Punkte der Anhöhe ein Naturverehrer errichtete, hat schon manch liebendes Paar in die sinkende Sonne geschaut, lange eh’ das Schelmengrüble zur Schillershöhe geworden ist.«[84]

Die Schillershöhe war von der Schillerhöhe nur einen Buchstaben weit entfernt. Bis Ottilie Wildermuth(2) dort ihr ersehntes Denkmal betrachten konnte, dauerte es allerdings noch fast 20 Jahre, während deren in deutschen Städten Schillerdenkmäler wie Pilze aus dem Boden schossen. Wilhelm Busch(1) regte das zu den spöttischen Versen an, »daß jeder, der zum Beispiel fremd, / Soeben erst vom Bahnhof kömmt, / In der ihm unbekannten Stadt / Gleich den bekannten Schiller(42) hat«.[85]

In Marbach waren mehrere Spendenkampagnen notwendig. Erst die Hilfe von Kaiser Wilhelm I.(1), der auf einen Appell hin 32 Zentner Geschützbronze von im deutsch-französischen Krieg erbeuteten französischen Kanonen stiftete, ermöglichte die Anfertigung des von Ernst Rau(1) entworfenen Standbildes. Am 9. Mai 1876 wurde es enthüllt. Abermals hielt der inzwischen in zweiter Ehe mit einer Marbacher Wirtstochter verheiratete Johann Georg Fischer(2) die Festrede, flankiert von über 600 Sängern aus 31 Württemberger Gesangsvereinen. Wie bei dem Monument in der Landeshauptstadt (und den meisten anderen) stand für die Gestaltung der Gesichtspartie auch hier Danneckers(3) Kolossalbüste Modell. Anders als die eher melancholisch als zupackend wirkende Erscheinung mit grüblerisch gebeugtem Haupt, die Bertel Thorvaldsen(2) 1839 den Stuttgartern zum Missfallen mancher Kritiker beschert hatte, entsprach der aufrecht stehende und forsch nach vorn blickende Jüngling, aus dem Stoff der deutsch-französischen Feindschaft gegossen, ganz dem Geschmack der Zeitgenossen.

Mit dem Denkmal als neben dem Geburtshaus(43) zweitem Anlaufziel der lokalen Memorialkultur schien der Weg Marbachs zur »Schillerstadt«[86] geebnet; 1879 kam noch der Eisenbahnanschluss dazu. Dass die damit eröffneten Entwicklungschancen über jedes vorhersehbare Maß hinaus ergriffen wurden, verdankte die Gemeinde vor allem anderen dem Enthusiasmus des Mannes, den sie im Februar 1883 zum Stadtschultheißen(1) auf Lebenszeit wählte.

Traugott Haffner(2) (1853−1903), Sohn einer Marbacher Handwerkerfamilie, zählte zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal dreißig Jahre.[87] Anders als seine beiden Brüder war er nicht dem von wirtschaftlicher Not genährten Auswanderungsstrom gefolgt, der zwischen dem Wiener Kongress und der Reichsgründung fast eine halbe Million Württemberger, gerade auch aus dem Neckarkreis, in die Vereinigten Staaten führte.[88] Nach dem Besuch der Lateinschule hatte Haffner eine Ausbildung zum Gerichtsnotar abgelegt und dann sechs Jahre die Stelle des Polizeikommissars in Ludwigsburg bekleidet. Zur Übernahme des bürgermeisterlichen Amts in seiner Heimatstadt entschloss sich der beliebte Tatmensch aus ideellen Beweggründen. Einem bekannten Schillerforscher seiner Zeit, den er um die Jahrhundertwende im Rahmen eines intensiven Briefwechsels mit lokalhistorischen Recherchen zu den Vorfahren des Dichters(44) unterstützte, schrieb er einmal: »[Ich] wurde 1883 von meiner Vaterstadt Marbach zum Stadtvorstand gewählt, welche Wahl ich namentlich mit Rücksicht auf die Pflege des Schillerkultus annahm. Ich war vom Tage der Übernahme meines Amtes an […] Vorstand des hiesigen Schillervereins und fand allerdings im Amt und in diesem Vereine meine volle Befriedigung.«[89]

Tatsächlich warf sich Haffner(3) mit Verve in die »Pflege des Schillerkultus«, den er als Teil einer umfassenderen Infrastrukturpolitik verstand. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, dem als Förderer und Festredner verdienten Johann Georg Fischer(3) die Ehrenbürgerwürde zu verleihen; eine weitere darin, einen Touristenführer für die »Geburtsstadt Friedrich Schiller(45)s« zu initiieren und in einer Auflage von 1000 Exemplaren unter die Leute zu bringen: »Marbach am Neckar – welcher gebildete Deutsche kennt nicht, wenigstens dem Namen nach, das freundliche Städtchen in Schwaben als den Geburtsort Friedrich Schillers?«, setzte das Vorwort an. »Tausende von andächtigen Pilgern aus nah und fern sind schon dorthin gewallfahrtet, um daselbst als an einer heiligen Stätte der deutschen Muse zu opfern, und noch bringt jedes Jahr neue Scharen von Verehrern des großen Dichters.«[90]

Diese und andere Aktivitäten erläuterte Haffner(4) 1895 in einem Bericht zum 60-jährigen Bestehen des Marbacher Schiller-Vereins, der mit der Enthüllung des Denkmals seine »sich selbst gestellte Aufgabe vollständig erfüllt« habe und sich daher eigentlich auch hätte auflösen können. Stattdessen sei er von einem »gegenüber Schillerverehrern« reinen Empfänger »nun auch zum gebenden Theil« geworden. Der Stadtschultheiß nannte die »bessere Instandhaltung und Pflege der Schillerhöhe, insbesondere in Berücksichtigung des Fremdenbesuchs«, die »pünktliche und gute Unterhaltung des Geburtshauses des Dichters und Ermöglichung jederzeitigen Besuches desselben«, die »Sorge für Erleichterung und Hebung des Fremdenverkehrs, für Erleichterung der Erwerbung von Andenken an Stadt und Schillerhaus durch Fremde u.s.w.«, die »engere Verbindung mit der Schiller’schen Familie, Ehrungen, Teilnahme von fremden Festen und fremden Schiller-Ehrungen, Ausstellungen«, »periodische eigene Feste des Vereins«, die »Anlegung und Erweiterung einer Schillerbibliothek, einer Autographen-, Reliquien-, Bilder- etc. Sammlung im Geburtshaus des Dichters« und schließlich eine »rege Thätigkeit«, um »Marbachs Schillerstätten und Schillerschätze(46) in weiten Kreisen bekannt zu machen und letztere in den Dienst der Wissenschaft zu stellen«.[91]

All dies war mehr als reine Liebhaberei. Haffner(5) sah das Gedeihen des lokalen Schillerkults mit dem des ihm anvertrauten Städtchens untrennbar verbunden. Dies betraf etwa die Eisenbahn. Auch an »den bezüglichen Agitationen, insbesondere wegen Verbesserung der Zugsverbindungen, hatte der Schillerverein sein gutes Theil«, bemerkte Haffner. »Der Fremdenbesuch steigerte sich auch seit den Bahnverbindungen erheblich, Marbach ist (1893/94) unter den 373 württembergischen Bahnstationen bezüglich der Bedeutung des Personenverkehrs die 67ste mit jährlich 119 696 angekommenen und abgegangenen Reisenden. Die Reisenden kommen aus allen Weltgegenden.«[92]

Als Marbach 1865, knapp zwanzig Jahre vor Haffners(6) Amtsantritt, mit Winnenden um den früheren Bahnanschluss wetteiferte, hatte die nahe gelegene Stadt der Regierung noch versichert: »Was den Grund anbetrifft, den Marbach von der Wiegestätte Schillers(47) herleitet, so glauben wir uns nicht zu irren, wenn wir von dem Besuch der Heilanstalt Winnental einen weitaus größeren Zufluß von Eisenbahnreisenden erwarten, als von dem Schillerkultus, der ohnehin wohl mit dem Aussterben der gegenwärtigen Generation sein Ende finden wird.«[93] Winnenden erhielt seinen Zugang zur Schiene drei Jahre früher als Marbach. Doch die missgünstige Prophezeiung erwies sich als irrig. Der Kult um Schiller verlief auf einer exzentrischen Bahn, mit der »Rapidität der Begeisterung«.[94]

So kam der Weltbürger auf das Land.

Diltheys(1) Erbe

V om Marbacher Schillerkult führt kein direkter Weg zu einem Literaturarchiv. Der Genius Loci war eine notwendige Bedingung für den Institutionenaufbau in der württembergischen Kleinstadt. Doch die Idee des Literaturarchivs speiste sich aus anderen Quellen. Mit Schwaben oder Schiller(48) haben sie nicht viel zu tun.

Das Archiv als Institution, als Ort zur Aufbewahrung unikaler Dokumente, war bis ins 19. Jahrhundert auf das Gedächtnis der Verwaltung beschränkt.[1] Es blieb seinem etymologischen Ursprung im griechischen archéion verbunden. Das bedeutet so viel wie »Behörde« oder »Amt«. Schon immer unterhielten weltliche und geistliche Machthaber in Europa Archive, um Rechtstitel und Geschäftsvorgänge zu dokumentieren und so Herrschafts- und Besitzansprüche zu legitimieren. Mit dem modernen Staat entstand das Staatsarchiv, der Archetyp des modernen Archivwesens. Im Bürokratisierungsprozess der Neuzeit wuchsen den Archiven die Akten aus Behörden organisch zu. Die Bindung an das Registraturgut galt so auch lange als das klassische Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Archiv und anderen Dokumentationsstätten wie der Bibliothek und dem Museum mit ihrem viel freieren Kriterien der Auswahl folgenden Sammlungsgut.[2]

Auch in der Archivgeschichte stellt die Französische Revolution den großen Wendepunkt dar. Vielerorts wurde der Delegitimierung der Monarchie durch die Zerstörung überlieferter Verwaltungsakten Ausdruck verliehen. Bereits 1793/94 rief die Nationalversammlung ein zentralisiertes »Nationalarchiv« ins Leben. Die Schaffung eines neuen administrativen Gedächtnisses unterstrich den Anspruch auf Dauerhaftigkeit. Dass das französische Archivgesetz von 1794 zum »Grundgesetz des modernen Archivwesens«[3] wurde, ist vor allem auf zwei folgenreiche Neuerungen zurückzuführen. Die eine betraf die Zielgruppe der Archive, ihre potentiellen Benutzer, die andere die Kriterien des Archivguts. Fortan sollten nicht nur Staatsdiener und andere Privilegierte, sondern grundsätzlich alle Bürger der Republik Zugang zu den verwahrten Dokumenten haben. Was diese anging, war nun nicht mehr allein ihr juristischer Gehalt maßgeblich, sondern ebenso ihr historischer und ästhetischer Wert. Andernfalls hätten all die Urkunden aus der Zeit des Ancien Régime nach dem Erlöschen ihrer Rechtsgültigkeit getrost vernichtet werden können. Vor diesem Akt schreckten die Revolutionsverwalter zurück, nachdem der erste Umsturzrausch verklungen war und eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatte.

Lässt sich insofern von einer »Geburt des Geschichtsbewusstseins aus dem Geist der Zerstörung« sprechen? Ohne Zweifel trifft der hier erkennbare »Zusammenhang von Zerstörung und Bewahrung« den »Kern des Historismus, der ein neues Interesse an der Vergangenheit um ihrer selbst willen legitimierte«.[4] Andererseits war ein protohistoristischer Quellenenthusiasmus bereits vor der Revolution anzutreffen. So schwärmte 1784 etwa Johann Octavian Salver(1), fürstbischöflicher Archivar in Würzburg, es seien die Archive, »welche dem verwesenden Zahn des Altertums die kostbaren Schätze des Vaterlandes, die Denkmäler alter Geschichten und Urkunden entziehen« und »so unsere glorwürdigste [sic] Vorfahren uns unsterblich in unserem Gedächtnis erhalten«.[5]

Mit Napoleon(3) griffen die französischen Entwicklungen auf das Archivwesen im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation über. Die politische Flurbereinigung ließ eine große Zahl kleinerer Adels- und Kirchenarchive verwaisen. Eine grundlegende Neustrukturierung war geboten. Anders als in Frankreich vollzogen sich die archivischen Zentralisierungsmaßnahmen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ausschließlich auf föderaler Ebene. Das kennzeichnete die deutsche Situation. Am staatlichen Charakter der Archive änderte dies jedoch nichts – im Gegenteil.

»Die großen modernen Staatsarchive sammelten in sich beinahe alle archivalischen Schätze; langsam bewältigten sie die durch einander geschobenen Massen; langsamer noch öffneten sie sich der Wissenschaft. Als aber das geschah, als in diese peinlich gehüteten Gemächer voll von Papier und Geheimnissen, Staats- und Familiengeheimnissen, Luft und Sonne hineinkamen: da begann der Tag unserer modernen Geschichtswissenschaft.« Der Autor dieser Sätze, Wilhelm Dilthey(2), betont nun zugleich: »Von dieser Geschichte der Staatsarchive haben wir Literaturhistoriker überall zu lernen. Was hier erreicht wurde, ist unser Ideal.«[6] Der Vortrag, in dem Dilthey die Staatsarchive als Ideal für Literaturhistoriker anpreist, gilt als das »Begründungsdokument« der Institution Literaturarchiv.[7]

Wir schreiben das Jahr 1889. Ein Jahrhundert ist seit der Revolution vergangen. Wie kommt es, dass der große Gelehrte Literaturgeschichte und Staatsarchiv, allgemeiner noch: Literatur und Archiv in einem Atemzug nennt, ja sogar aufeinander bezieht? Bei aller Originalität, die Dilthey(3) zugestanden werden muss, sind seine Gedanken doch nicht aus heiterem Himmel gefallen. Sie sind das ausgereifte Ergebnis einer Denkbewegung, die sich über mehrere Jahrzehnte angebahnt und sogar schon erste institutionelle Folgen nach sich gezogen hat. Von der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung ist diese Denkbewegung als »Nachlassbewusstsein« identifiziert worden.[8]

Magische Vergegenwärtigung

Was ist das − ein Nachlass? Grundsätzlich lässt sich jede »Ansammlung von Dingen, die ein Mensch nach seinem Tod zurücklässt«, so bezeichnen.[9] Eine engere Definition bestimmt den Nachlass als die »Summe aller Werke, Arbeitspapiere, Korrespondenzen, (Lebens-)Dokumente und Sammlungen, die sich bei einem Bestandsbildner nach dessen Tod zusammengefunden haben (echter Nachlass), oder auch später hinzugefügt worden sind (angereicherter Nachlass)«.[10] Hiermit ist zwar die Kernmaterie des literarischen Nachlasses, das Papier, angedeutet, nicht aber das, was bis in die Gegenwart sein auratisches Zentrum gebildet hat: die Handschrift (Manuskript), auch »Autograph« genannt.[11] Der Nachlass fand seine erste Bestimmung als Hort von Autographen. Mit der Durchsetzung des Buchdrucks erfuhr das Manuskript einen Bedeutungswandel, der keineswegs mit Bedeutungsschwund zu verwechseln ist. Vielmehr bildete sich im Nebeneinander von gedrucktem Buch und literarischer Handschrift überhaupt erst die moderne Autorschaft heraus.[12] So wurden Autographen schon seit der Renaissance, lange bevor der Nachlass im 19. Jahrhundert seinen großen Auftritt in der europäischen Kulturgeschichte hatte, ein immer begehrteres Sammelobjekt.[13]

Der Reiz des Autographs erschließt sich auch dem, der statt dem Sammeleifer lieber der Jagdlust frönt. »Ist das Autograph doch«, so ein großer deutscher Autographenhändler des 20. Jahrhunderts, »die einzige Reliquie von unbestrittener Echtheit, in der sich Geist und Wesen eines Dahingeschiedenen über Jahrhunderte hinweg offenbaren!«[14] In dieser idealistischen Bestimmung sind die drei wichtigsten Gründe für das Autographensammeln vereint: die Ehrfurcht vor dem Urheber der Handschrift (Reliquie), das Interesse an ihrem Inhalt (Geist) und die Annahme, aus ihr Rückschlüsse auf den Charakter des Autors ziehen zu können (Wesen). Ihre Gewichtung war über die Jahrhunderte starken Schwankungen ausgesetzt. Die Aura des auktorialen Originals stand am Anfang der Sammelpraxis und trat auch nie ganz hinter den philologischen Quellenwert des Autographs zurück. Der rückte im wissenschaftlichen 19. Jahrhundert immer mehr in den Vordergrund. Die Lehre von der Handschrift als Ausdruck des Charakters (Graphologie) hat nach ihrer Vermählung mit weltanschaulicher Verstiegenheit im frühen 20. Jahrhundert – man denke an Ludwig Klages(1)[15] – ihre große Zeit hinter sich. Dabei gab die unter dem Eindruck von Johann Caspar Lavaters(1)Physiognomischen Fragmenten (1775−1778) entstandene protographologische Denkbewegung der Goethezeit dem Autographensammeln »als einer allgemeinen Liebhaberei« überhaupt erst den entscheidenden Anstoß.[16]

Für Goethe(15) stand der Zusammenhang zwischen Handschrift und Charakter noch außer Frage. Die Handschriftensammlung, die er seit 1805 anzulegen begann, erst für seinen Sohn August(1), dann für sich selbst, war allerdings nicht zum Zweck von Charakterstudien bestimmt. Goethe wollte »die Geister der Entfernten und Abgeschiedenen gern auf jede Weise hervorrufen und um mich versammeln«, schrieb er 1811 dem Kunstsammler Sulpiz Boisserée(1). Ein halbes Jahr später begründete er seinen Sammelimpuls gegenüber Friedrich Heinrich Jacobi(1) damit, dass die »sinnliche Anschauung« ihm »durchaus unentbehrlich« sei und »vorzügliche Menschen« ihm »durch ihre Handschrift auf eine magische Weise vergegenwärtigt« würden. Den Wert von Autographen wisse derjenige »vorzüglich zu schätzen«, »dessen Denkart im Alter eine historische Wendung« nehme.[17] Die historische Wendung des alten Goethe äußerte sich nicht nur in der Hinwendung zu anderer Leute Handschriften, die im Todesjahr Schillers(49) einsetzte. Sie zeigte sich ebenso in einer verstärkten Aufmerksamkeit für die eigenen Papiere, dem Bewusstsein für seinen Nachlass.

»Sammeln und Ordnen des Gesammelten«, betont Ernst Robert Curtius(1), »war ein Grundzug von Goethes(16) Wesen.«[18] In seinen Weimarer Staatsämtern blieb ihm lange Zeit auch gar nichts anderes übrig, als sich mit dem Geschäft der Aktenführung anzufreunden. Der Dichter und Naturforscher nahm sich an dem Geheimen Rat ein Beispiel und kümmerte sich mit Bedacht um die Überlieferung seiner persönlichen Dokumente (was die Vernichtung einer größeren Zahl von Briefen nicht ausschloss). Goethe schätzte den Wert seiner Manuskripte hoch ein. Das klassische Gegenbeispiel dieser archivarischen Einstellung ist Schiller(50), der die handschriftlichen Vorarbeiten seiner Texte nach der Drucklegung für wertlos erachtete und daher fast nur Manuskripte unfertiger Werke hinterließ. Schillers krisengeschüttelte Existenz erschwerte eine elaborierte Ordnung und Aufbewahrung seiner Papiere, wie sie bei Goethe zu beobachten ist.[19] Wie bei vielen Vergleichen zwischen den beiden Weimarer Klassikern ist allerdings auch hier nicht das schlichte Faktum von Schillers frühem Tod zu unterschätzen. Schiller(51) erreichte gar nicht das Alter, in dem Menschen üblicherweise beginnen, sich selbst historisch zu werden.

Goethe(17) hatte ausreichend Zeit und Muße dazu. Ein Jahrzehnt vor seinem Tod begann er, unterstützt von einem eigens angeheuerten Bibliothekar, mit der systematischen Arbeit an dem, was er ein »Archiv des Dichters und Schriftstellers« nannte. Sein Ziel war »eine reinliche ordnungsgemäße Zusammenstellung aller Papiere, besonders solcher, die sich auf mein schriftstellerisches Leben beziehen, wobei nichts vernachlässigt noch unwürdig geachtet werden sollte«. 1823 war der Zustand erreicht, »daß nicht allein Gedrucktes und Ungedrucktes, Gesammeltes und Zerstreutes vollkommen geordnet beisammen steht, sondern auch die Tagebücher, eingegangene und abgesendete Briefe in einem Archiv beschlossen sind, worüber nicht weniger ein Verzeichniß nach allgemeinen und besonderen Rubriken, Buchstaben und Nummern aller Art gefertigt, vor mir liegt, so daß mir sowohl jede vorzunehmende Arbeit höchst erleichtert, als auch den Freunden, die sich meines Nachlasses annehmen möchten, zum besten in die Hände gearbeitet ist.«[20]

Neben einer beamtenhaften Befriedigung bringt dieser Satz die beiden Beweggründe zum Ausdruck, die hinter dem privaten Archivunternehmen Goethes(18) standen: die »vorzunehmende Arbeit« einer Werkausgabe letzter Hand, die Autor und Archivar in Personalunion noch selbst auf den Weg bringen wollten, und − als Freundschaftsdienst an die Nachwelt − die Zusammenstellung seines Nachlasses. Goethe hat mit seinem Archiv auf das »veloziferische Zeitalter« reagiert – und einen paradigmatischen Akzent jener Kultur des Bewahrens gesetzt, mit der man seit dem 19. Jahrhundert die Zumutungen der Moderne zu kompensieren versuchte.[21]

Goethes(19) Arbeit am eigenen Nachlass hatte ganz praktische Folgen. Allerdings verging einige Zeit, bis sie sich institutionell niederschlugen. Seine Werkausgabe letzter Hand konnte er zu einem guten Teil noch selbst in die Hand nehmen. Unterstützt durch den Altphilologen Karl Wilhelm Göttling(1), vor allem aber seine treuen Mitarbeiter Johann Peter Eckermann(1) und Friedrich Wilhelm Riemer(1), brachte er zu Lebzeiten 40 der insgesamt 60 Bände heraus, die bis 1842 erschienen. Eine Bemerkung aus dem Subskriptionsprospekt zu dieser Ausgabe aus dem Jahr 1827 zeigt, dass Goethe sich selbst inzwischen nicht nur historisch, sondern auch philologisch geworden war: »Die deutsche Cultur steht bereits auf einem sehr hohen Punkte, wo man fast mehr als auf den Genuß eines Werkes, auf die Art, wie es entstanden, begierig scheint und daher die eigentlichen Anlässe, woraus sich jenes entwickelt, zu erfahren wünscht;« so sei denn auch »vorzüglich darauf gesehen worden, des Verfassers Naturell, Bildung, Fortschreiten und vielfaches Versuchen nach allen Seiten hin klar vor’s Auge zu bringen«.[22]

Nach Goethes(20) Tod oblag die Fortsetzung der Nachlasspolitik seinen drei Enkeln, die er als Erben eingesetzt hatte. Da sie 1832 noch minderjährig waren, betreute sein Freund Staatskanzler Friedrich von Müller(1)