Prozessbasierte Psychotherapie - Michael Svitak - E-Book

Prozessbasierte Psychotherapie E-Book

Michael Svitak

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Beschreibung

Psychische Störungen weisen häufig eine Komplexität und Dynamik auf, die in diagnoseorientierten Behandlungsansätzen vernachlässigt werden. Hier kommt der in diesem Buch vorgestellte prozessbasierte Ansatz ins Spiel. Er geht davon aus, dass psychische Störungen aus einem individuellen Wechselspiel von Kernprozessen auf kognitiver, emotionaler, behavioraler, physiologischer und sozialer Ebene entstehen und aufrechterhalten werden. Eine solche Betrachtung auf Prozessebene ermöglicht ein tieferes Verständnis für die Individualität, Komplexität und Dynamik seelischer Erkrankungen und bietet Ansatzpunkte für die Therapie. Der erste Teil des Bandes gibt eine fundierte und praxisnahe Einführung in die theoretischen Grundlagen des prozessbasierten Ansatzes. Die Autoren erläutern, wie Wechselwirkungen von individuellen und transdiagnostisch wirksamen Prozessen ein stabiles Netzwerk bilden, welches bei den Betroffenen psychisches Leid verursacht, und zeigen auf, wie solche Zustände überwunden werden können. Im zweiten Teil wird dargestellt, wie sich der prozessbasierte Ansatz in der Praxis umsetzen lässt. Dabei wird u.a. auf die Diagnostik relevanter Prozesse, die Erstellung eines individuellen, prozessbasierten Netzwerkmodells sowie die Auswahl geeigneter evidenzbasierter Interventionen eingegangen. Fallbeispiele veranschaulichen das therapeutische Vorgehen. Der Band liefert wertvolle Anregungen für psychotherapeutische Fachpersonen, die die Therapie mit ihren Klientinnen und Klienten individueller und effektiver gestalten wollen. Die im Buch enthaltenen Arbeitsmaterialien können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.

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Michael Svitak

Stefan G. Hofmann

Prozessbasierte Psychotherapie

Individuelle Störungsdynamiken verstehen und verändern

Dr. Michael Svitak, geb. 1969. Studium der Psychologie in Regensburg und Reading (U.K.). 1998 Promotion. Seit 2004 Leitender Psychologe des Zentrums für Verhaltenstherapeutische Medizin (ZVM) der Schön Klinik Bad Staffelstein; Supervisor und Ausbilder für kognitive Verhaltenstherapie.

Prof. Dr. Stefan G. Hofmann, geb. 1964. Studium der Psychologie in Marburg. 1993 Promotion. Seit 1999 Professor für Psychologie am Department of Psychological and Brain Sciences der Boston University. 2003 Tenure an der Boston University. Seit 2021 Alexander von Humboldt-Professor, LOEWE-Spitzen-Professor und Leiter des Arbeitsbereichs Translationale Klinische Psychologie an der Philipps-Universität Marburg. Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte: Mechanismen der Behandlungsänderung und Emotionsregulation; kulturelle Ausdrucksformen von Psychopathologie.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Umschlagabbildung: © shutterstock.com / optimarc

Satz: Sina-Franziska Mollenhauer, Franziska Stolz, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG

Format: EPUB

1. Auflage 2022

© 2022 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3071-3; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3071-4)

ISBN 978-3-8017-3071-0

https://doi.org/10.1026/03071-000

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|5|Vorwort

Als junger Mann machte ich (M. S.) einen Segelkurs bei einem etwa 80-jährigen Segellehrer. Er wies mich behutsam auf Dinge hin, mit denen ich Wetterveränderungen verstehen und vorhersagen kann. „Wenn die Wellen kürzer werden und die Blätter am westlichen Ufer hellgrün flackern, dann wird sich der Sturm in Kürze aufbauen“, erklärte er mir. Er konnte an kleinsten Veränderungen des Lichts, der Wasserfarbe, an der Form der Wellen und an der Geschwindigkeit, mit der sich Änderungen einstellten, zuverlässig vorhersagen, wann ein stabil aussehender Zustand „kippt“. So dirigierte er mich – der diese Zusammenhänge nicht sehen konnte – immer sicher und trocken ans Ziel. Er hatte ein tiefes Verständnis für einen prozessbasierten Ansatz.

Wenn ich mit Patienten1 arbeite, denke ich oft an diesen klugen Mann und wünsche mir, meine Patienten genauso vorausschauend durch ihre seelischen Unwetter zu lenken. Er verließ sich nicht auf die Wetterdiagnose des amtlichen Wetterberichts. Er erklärte mir, dass lokale Wechselwirkungen, wie Windschatten durch umliegende Bergerhöhungen, eigene Gesetzmäßigkeiten erzeugen. „Schon 500 Meter weiter können die Einflussfaktoren andere sein. Ich muss wissen, welche Kräfte unmittelbar auf uns und unseren Kurs einwirken“, erklärte er. Das Gleiche gilt für die Psychotherapie.

Auf ähnliche Weise versucht der in diesem Buch vorgestellte prozessbasierte Ansatz (vgl. Hayes & Hofmann, 2018a, 2018b, 2020) das komplexe Zusammenwirken von gedanklichen, emotionalen, behavioralen, physiologischen und sozialen Prozessen für eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation zu erfassen. Dazu braucht es eine auf diese Kernprozesse gerichtete Perspektive, die erklärt, wie ein pathologischer Zustand sich entwickelt und welche transformatorischen Prozesse notwendig sind, um einen gesunden Zustand zu erhalten. Der prozessbasierte Ansatz verbindet dafür das transdiagnostische Prozesswissen der klinischen Prozess- und Grundlagenforschung und die auf Kernprozesse fokussierenden Dritte-Welle-Verfahren zu einer schulenübergreifenden Perspektive (Stangier, 2019).

|6|Das vorliegende Buch übersetzt die theoretischen und wissenschaftlichen Konzepte dieser Ansätze in ein vereinfachtes, anwendungsorientiertes Format für die psychotherapeutische Praxis. Irgendwann werden wir vielleicht in der Lage sein, mithilfe von prozessbasierten Algorithmen die Störungsmodelle unserer Patienten zu berechnen, so wie Meteorologen, denen datengenerierte Modelle für die Wetterprognose zur Verfügung stehen. Bis dahin müssen wir uns ähnlich meinem Segellehrer auf unser menschliches Sensorium verlassen, um aus kleinen Veränderungen Muster relevanter Prozessabläufe herauszulesen.

Wir möchten mit diesem Buch psychotherapeutisch arbeitende Psychologinnen, Psychologen, Ärztinnen und Ärzte darin unterstützen, psychische Störungen als komplexes System vernetzter Prozesse wahrzunehmen, den Blick für deren Wechselwirkungen zu schärfen sowie relevante Prozessmuster zu erkennen, zu deuten und zu beeinflussen.

Bad Staffelstein und Boston, Frühjahr 2022

Michael Svitak

Stefan G. Hofmann

1

Wir benutzen in diesem Buch abwechselnd die männliche oder die weibliche Form, um Personen zu bezeichnen, wobei jeweils immer alle Geschlechter mitgemeint sind.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Einführung

Teil I: Theoretische Grundlagen

2 Grenzen der diagnoseorientierten Psychotherapie

2.1 Unzureichende Konzeptualisierung psychischer Störungen

2.2 Komplexität und Dynamik psychischer Störungen

2.3 Somatisches Krankheitsmodell

2.4 Anwendung linearer Denkweisen auf komplexe Systeme

2.5 Heterogenität von Diagnosen

2.6 Nomothetische versus ideographische Erklärungsmodelle

3 Theoretische Grundlagen der prozessbasierten Therapie

3.1 Prozessebene: Raum zwischen Narrativ und Diagnose

3.2 Prozesse: Ursprung der Verhaltenstherapie

3.3 Allostase-Modell

3.4 Psychopathologie: Komplexe dynamische Netzwerke

3.4.1 Zeitdimension: Variabilität über einen Zeitraum macht Prozesse sichtbar

3.4.2 Stabile Netzwerke: Homogene und stark vernetzte Elemente

3.4.3 Entwicklung von psychischen Störungen aus Netzwerkperspektive

3.4.4 Störungsübergreifende Netzwerkstrukturen

3.5 Psychotherapie: Netzwerkveränderungen auf Prozessebene

3.6 Von krank zu gesund: Netzwerkzustände überwinden

3.7 Psychopathologie begünstigende Störungen auf Prozessebene (Prozessstörungen)

3.7.1 Unproduktive Prozessschleifen

3.7.2 Fehlen von balancierenden Feedbackschleifen

3.7.3 Maladaptive inhibitorische Kontrollprozesse

3.7.4 Engstellen und Tipping Points

3.7.5 Kerndimensionen mit starkem Einfluss auf das Gesamtsystem

3.7.6 Blockade positiver emotionaler Systemelemente

3.7.7 Störung der emotionalen Verarbeitung und Auswirkungen auf Lernprozesse

3.8 Beispiele für prozessbasierte Störungsmodelle

3.8.1 Komorbidität von Depression und Angst

3.8.2 Komplizierte Trauer

4 Prozessbasierte Modelle psychischer Störungen

4.1 Diathese-Stress-Modell

4.2 Prozessbasiertes Diathese-Modell

4.3 Prozessbasiertes komplexes Netzwerkmodell

5 Kernprozesse von Psychopathologie

5.1 Anforderungen an den Organismus

5.2 Vulnerabilitätsmechanismen

5.2.1 Neurophysiologische Ebene

5.2.2 Emotionale Ebene

5.2.3 Behaviorale Ebene

5.2.4 Kognitive Ebene

5.2.5 Ebene des Selbst

5.2.6 Bindungs- und Beziehungsebene

5.2.7 Spezifische Konstrukte

5.3 Reaktionsmechanismen

5.3.1 Behaviorale Kernprozesse

5.3.2 Kognitive Kernprozesse

5.3.3 Emotionale Kernprozesse

5.3.4 Motivationale Kernprozesse

5.3.5 Soziale Prozesse und Interaktionsprozesse

6 Psychotherapie aus prozessbasierter Sicht

6.1 Kernprozesse von Psychotherapie

6.2 Prozessbasierte therapeutische Haltung

6.2.1 Komplexität mit allen Kanälen erfassen

6.2.2 Kollaborativer Empirismus

6.2.3 Informed Consent

6.2.4 Die Therapeutin als Mensch

6.2.5 Umgang mit Fehlern und Verunsicherungen

6.2.6 Flexibilität und Treue im Hinblick auf das gemeinsame Behandlungsrational

6.3 Bewertung der Adaptivität anhand von Evolutionsprinzipien

6.3.1 Variabilität

6.3.2 Selektion

6.3.3 Retention

6.3.4 Kontext

6.3.5 Physiologische und soziale/kulturelle Analyse-Ebene

6.3.6 Anwendung der Evolutionsprinzipien im psychotherapeutischen Kontext

Teil II: Praktische Anwendung

7 Phasen der prozessbasierten Psychotherapie im Überblick

8 Phase 1: Multidimensionale Diagnostik relevanter Prozesse

8.1 Spontan berichtete Symptomatik: Prozesse erkennen

8.2 Präzisierende Exploration von Bedingungsfaktoren auf Prozessebene

8.2.1 Externale Anforderungen explorieren

8.2.2 Internale Anforderungen an den Anpassungsapparat verstehen

8.2.3 Vulnerabilitätsmechanismen identifizieren

8.2.4 Problematische Reaktionsmechanismen identifizieren

8.2.5 Auswirkungen und Konsequenzen verstehen

8.3 Prozessorientierte Situationsanalysen

8.3.1 Geeignete Anforderungssituationen auswählen

8.3.2 Konkrete prozessbasierte Situationsanalysen erarbeiten

8.4 Längsschnittliche Analyse des Krankheitsverlaufs (Life Chart)

8.5 Behandlungsanamnese

8.6 Fremdanamnese

8.7 Kontextanalyse: Protektive Faktoren und Risikofaktoren

8.8 Prozessorientierter psychopathologischer Befund

8.9 Spezielle Prozessdiagnostik (1): Standardisierte diagnostische Verfahren

8.9.1 Etablierte Testverfahren

8.9.2 Fragebögen für spezielle prozessorientierte Konstrukte

8.9.3 Neuropsychologische Testverfahren und Biofeedback-Methoden

8.10 Spezielle Prozessdiagnostik (2): Selbstbeobachtung und Visualisierung relevanter Prozessdimensionen

8.10.1 Erfassung emotionaler Prozesse

8.10.2 Erfassung kognitiver Prozesse

8.10.3 Erfassung behavioraler Prozesse

8.10.4 Erfassung somatischer Prozesse

9 Phase 2: Prozessbasiertes Diathese-Modell erstellen

10 Phase 3: Individuelles prozessbasiertes komplexes Netzwerkmodell entwickeln

10.1 Praktisches Vorgehen beim Erstellen eines komplexen Netzwerkmodells

10.2 Beurteilung der Adaptivität des Netzwerkmusters anhand des erweiterten evolutionären Metamodells

10.3 Praxisbeispiel

11 Phase 4: Therapieziele definieren und Veränderungsbereitschaft erfassen

11.1 Globale Therapieziele definieren

11.2 Veränderungsziele auf Prozessebene definieren

11.3 Veränderungsbereitschaft erfassen

11.3.1 Aktuelle Position im Motivationskreislauf bestimmen

11.3.2 Kosten-Nutzen-Analyse durchführen

11.3.3 Art und Dauer der Veränderungsmotivation bestimmen

11.3.4 Prognoseeinschätzung als limitierender Faktor der Veränderungsmotivation

12 Phase 5: Interventionen auswählen und umsetzen

12.1 Auswahl von Interventionen

12.1.1 Wirkfaktoren definieren

12.1.2 Interventionen zur Veränderung der Kernprozesse auswählen

12.1.3 Abfolge der Interventionen

12.1.4 Störungsnetzwerk schwächen oder Bewältigungsnetzwerk stärken?

12.2 Umsetzung von Interventionen

13 Phase 6: Monitoring und Re-Evaluation

13.1 Negativ vs. positiv ausgerichtete Monitore

13.2 Limitation und Abbruchkriterien

13.3 Kriterien für die Beendigung der Therapie

14 Ausblick

Literatur

Anhang

Arbeitsmaterial 1: Leitfaden für die prozessfokussierte Anamnese

Arbeitsmaterial 2: Hypothesenblatt zu relevanten Kernprozessen

Arbeitsmaterial 3: Checkliste: Vulnerabilitätsmechanismen

Arbeitsmaterial 4: Checkliste: Problematische Reaktionsmechanismen

Arbeitsmaterial 5: Prozessbasierte Situationsanalyse: Hilfsfragen

Arbeitsmaterial 6: Life Chart: Krankheitsentwicklung über die Lebensspanne

Arbeitsmaterial 7: Fragen an Angehörige zur Krankheitsentwicklung

Arbeitsmaterial 8: Prozessorientierter psychopathologischer Befund

Arbeitsmaterial 9: Emotionsmonitor über drei Stunden (5-Minuten-Abstände)

Arbeitsmaterial 10: Emotionsmonitor über den Tagesverlauf

Arbeitsmaterial 11: Emotionsmonitor für eine Woche (Emotionsprotokoll)

Arbeitsmaterial 12: 7-Tage-Monitor

Arbeitsmaterial 13: Prozessbasiertes Diathese-Modell

Arbeitsmaterial 14: Beurteilung der Adaptivität

Arbeitsmaterial 15: Veränderungsmotivation

Arbeitsmaterial 16: Kosten-Nutzen-Analyse für die Behandlung

Arbeitsmaterial 17: Evidenzbasierte Wirkfaktoren in der Psychotherapie

Arbeitsmaterial 18: Psychotherapeutische Standardverfahren für gezielte Interventionen

Hinweise zu den Online-Materialien

|13|1 Einführung

Wenn man addieren kann, ist es möglich, viele Anforderungen im Alltag zu meistern. Werden die Anforderungen komplexer, dann ist es ein tolles Gefühl, wenn man multiplizieren und dividieren lernt. Plötzlich erscheinen einem vormals komplizierte Aufgaben leicht. Das Unverständliche bekommt eine Logik, die einem hilft, auch bei komplexeren Aufgabenstellungen den Überblick zu behalten und Lösungen zu finden.

So gesehen sind wir Psychotherapeuten sehr gut im Addieren geworden, aber wir stoßen bei den Problemkonstellationen unserer Patienten damit an unsere Grenzen; vor allem, wenn psychische Störungen nicht nur einmalig auftreten, sondern wiederkehren oder sich in Kombination mit anderen Störungen manifestieren. Die Remissionsrate bei „Intention-to-treat“2-Stichproben liegt meist bei unter 50 % (Cuijpers, van Straten, Bohlmeijer, Hollon & Andersson, 2010; Spijker, van Straten, Bockting, Meeuwissen & van Balkom, 2013). Wir könnten das unseren Patientinnen anlasten; aber vielleicht liegt es auch an unseren Modellen psychischer Störungen. Möglicherweise bilden sie die Komplexität und Dynamik psychischer Probleme nicht ausreichend ab oder wir schauen daran vorbei. Vielleicht geht es uns wie dem Mann in dem Witz, der seinen Schlüssel in der Schillerstraße sucht, statt in der Goethestraße, wo er ihn verloren hat, weil es in der Schillerstraße heller ist. Wo finden wir die Komplexität und Dynamik psychischer Störungen, wenn sie in den aktuellen kausalen Störungsmodellen nicht zu finden sind?

Von der Symptomebene zur Prozessebene

Normalerweise arbeiten kognitive, emotionale, behaviorale, motivationale und interaktionelle Prozesse gut aufeinander abgestimmt, um fortlaufende Anforderungen an die eigene Person zu bewältigen. Im gesunden Zustand bekommt man von diesen Hintergrundprozessen des psychischen Anpassungsapparates genauso |14|wenig mit wie von der Arbeit des Betriebssystems unseres PCs. Erst wenn bei dieser Regulation etwas schiefläuft und Prozesse ins Leere laufen, zu viel Information generieren, gegeneinander arbeiten oder Verarbeitungsschleifen bilden, nehmen wir das als „seelisches Rauschen“ oder Störung wahr. Das psychische System „spielt verrückt“ oder „geht in die Knie“. Wenn man Patienten fragt, wie viel Prozent ihrer seelischen Energie gerade für den Versuch, ihre Probleme zu lösen, absorbiert werden, antworten viele: „Über 90 %. Und es fühlt sich an, als würde es ständig mehr werden.“

Psychische Störungen sind aus prozessbasierter Sicht das Ergebnis von solchen multimodal vernetzten Prozessstörungen, die sich in einem als belastend erlebten Systemzustand stabilisieren (Hayes, Yasinski, Barnes & Bockting, 2015). Das heißt, Dynamik und Komplexität sind eine Ebene „unter“ den Symptomen, auf Prozessebene bzw. im „Betriebssystem“, zu finden – dort, wo Prozesse miteinander interagieren, um multidimensionale Anforderungen zu bewältigen. Auf der sichtbaren Ebene – der Symptomebene – sehen wir lediglich die Auswirkungen dieser Prozesse. Etwas auf dieser Ebene ändern zu wollen ist, als würde man am Bildschirm des PCs etwas wegradieren wollen.

Prozessbasierte Herangehensweisen (Hayes & Hofmann, 2018a, b, 2020; Hayes & Andrews, 2020; McNally, 2016; Borsboom, Cramer, Schmittmann, Epskamp & Waldorp, 2011; Robinaugh, Millner & McNally, 2016; Hayes et al., 2015) haben das Potenzial, unser Verständnis für die Komplexität und Dynamik psychischer Störungen um neue, vielversprechende Dimensionen zu erweitern. Sie betrachten Psychopathologie als dynamische Netzwerke, bei denen interagierende Prozesse für die Aufrechterhaltung pathologischer Systemzustände verantwortlich sind (Hofmann, Curtiss & McNally, 2016).

Im ersten Teil des Buches stellen wir zunächst die wichtigsten theoretischen Grundlagen des prozessbasierten Ansatzes vor und erläutern, was eine prozessbasierte Sichtweise für unsere Vorstellung von psychischen Störungen und deren Therapie bedeutet. Im zweiten Teil des Buches beschreiben wir die praktische Anwendung – Schritt für Schritt entlang der Phasen einer Therapie. Vielleicht wird es Ihnen wie uns gehen. Nach der Beschäftigung mit dieser Herangehensweise begannen wir, psychische Störungen stärker durch eine Prozessbrille zu betrachten. Das half dabei, am Inhalt des Störungsgeschehens „vorbeizuschauen“ und die relevanten zugrunde liegenden Prozessmuster zu erkennen. Dies hat unser Verständnis für psychische Störungen erweitert und Veränderungsmöglichkeiten aufgezeigt, die durch eine diagnoseorientierte Perspektive verborgen geblieben wären.

2

Intention-to-treat bedeutet, dass die Daten aller Patienten, die man vorher beabsichtigte (intention) zu behandeln (to treat), nachher auch ausgewertet werden. Damit stellt man sicher, dass auch die Daten von Patienten, die von einer Behandlung nicht profitieren und abbrechen, mit ausgewertet werden.

|15|Teil I: Theoretische Grundlagen

|17|2 Grenzen der diagnoseorientierten Psychotherapie

2.1 Unzureichende Konzeptualisierung psychischer Störungen

Wozu sich mit psychischen Prozessen beschäftigen? Reicht es nicht, die Diagnose zu kennen und die richtige evidenzbasierte Therapie auszuwählen? In der somatischen Medizin klappt das doch auch. Das stimmt. Mit der Etablierung der Psychotherapie im Gesundheitswesen wurden zunehmend Paradigmen der somatischen Medizin auf die Entstehung von psychischen Problemen übertragen. Nach dem Krankheitskonzept der somatischen Medizin sollte es möglich sein, „Krankheiten“ anhand von Symptomen zu identifizieren, die sich im Hinblick auf Ätiologie, Verlauf und Ansprechbarkeit auf Behandlungen unterscheiden. Dieses Modell verspricht eine deutliche Vereinfachung der Therapie und ermöglicht es, dass Therapeutinnen auch ohne individuelles Prozessverständnis eine wirksame Behandlung anbieten können. Ähnlich dem Vorgehen in der somatischen Medizin wird aus der Diagnose eine vorgeschriebene Behandlung abgeleitet. Diese ist für alle Patienten nahezu standardisiert. Ziel dieser Herangehensweise ist es, dass Behandlungen störungsspezifisch, manualisiert, evidenzbasiert und leitliniengerecht angeboten werden können. Die damit verbundene Hoffnung bestand darin, dass man für jede abgrenzbare psychische Krankheit nach einem vorgeschriebenen Maßnahmenkatalog behandelt und so die Behandlung vereinfacht und verbessert (Hofmann et al., 2016). Als Ergebnis dieser Entwicklung weist das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen (derzeitige Fassung: DSM-5; American Psychiatric Association, 2013) inzwischen etwa 350 Erkrankungen auf, für die über 270 Behandlungsmanuale existieren, deren Wirksamkeit durch Outcome-Studien mehr oder weniger gut belegt ist (Hofmann & Hayes, 2018). In vielen Studien ließen sich so die Wirksamkeit und Überlegenheit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ansätze gegenüber anderen Verfahren belegen (Heidenreich & Michalak, 2013).

Im Lehrbuch oder in den Leitlinien klingt Psychotherapie dadurch einfach. Eine Depression lässt sich durch das Abfragen von neun Symptomen mithilfe einer Checkliste feststellen. Wenn mindestens fünf der neun Symptome berichtet wer|18|den, kann der Patient die Diagnose erhalten. Aber bildet das die psychotherapeutische Realität ab? Sind psychische Störungen so leicht zu kategorisieren? Ist es wirklich sinnvoll, eine willkürliche Kombination von fünf der neun möglichen Symptome als Depression zu definieren? Warum sind Psychotherapien nicht wirksamer, wenn die behandelnden Psychotherapeutinnen nur zum richtigen Manual greifen müssen? Die psychotherapeutische Realität ist tatsächlich komplexer, dynamischer, individueller, als es die Klassifikationssysteme DSM und ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation WHO) und die aus ihnen abgeleiteten Leitlinien suggerieren (Deacon, 2013; Nelson, McGorry, Wichers, Wigman & Hartmann, 2017; McNally, 2016; Hofmann et al., 2016; Hayes, Hofmann & Ciarrochi, 2020). Diese Komplexität und Dynamik zu vernachlässigen führt auf einer praktischen Ebene zu einer Limitierung der Behandlungsergebnisse, was Psychotherapeutinnen und Patienten gleichermaßen verunsichert. Zudem behindert das Ausblenden von Komplexität und Dynamik auf einer theoretischen Ebene die Weiterentwicklung von Psychotherapie, weil die bestehenden Modellvorstellungen die Lebensrealität nicht abbilden (Hofmann & Hayes, 2018; McHugh, Murray & Barlow, 2009).

Für die praktisch tätige Therapeutin stellt sich zudem die Frage, inwiefern es nützlich ist, die über 270 Behandlungsmanuale für die über 350 DSM-5-Kategorien zu kennen, wenn im Einzelfall unklar ist, welche komorbide Störung in welcher Reihenfolge mit welchen Therapiebausteinen behandelt werden soll. Gerade im ambulanten Setting kann die Flut von störungsspezifischen Ansätzen Therapeutinnen überfordern und zur unsystematischen Anwendung von unterschiedlichen Therapiebausteinen führen (Harvey, Watkins, Mansell & Shafran, 2009). Oder es wird nach einer „One-size-fits-all“-Methode gearbeitet, bei der eine Behandlungsmethode auf alle Patienten angewendet wird. Anstatt das für eine spezifische Störung konzipierte evidenzbasierte Verfahren anzuwenden, wird eine bevorzugte Methode eingesetzt (Harvey et al., 2009). Das spiegelt sich in Aussagen wie „Ich arbeite nach der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), damit komme ich gut zurecht“ oder „Ich arbeite eklektisch, basierend auf meiner persönlichen Meinung“ wider.

Die Limitationen der aktuellen heterogenen und sich überlappenden Diagnosegruppen, die aus der Bewertung subjektiver Patientenangaben abgeleitet wurden, hat auch das in den USA ansässige National Institute for Mental Health (NIMH) erkannt. Es hat vor über zehn Jahren ein umfassendes, multidisziplinäres Projekt initiiert, um auf messbaren biologischen und behavioralen Prozessdimensionen basierende Diagnosegruppen zu identifizieren. Dieses als Research-Domain-Criteria(RDoC)-Initiative bekannte Projekt möchte psychische Störungen durch Methoden der klinischen Neurowissenschaften diagnostizieren statt durch subjektive Symptombeschreibungen. Dazu sollen z. B. elektrophysiologische und bildgebende Verfahren, die neurologische Strukturen oder Funktionen abbilden, Gen|19|analysen und standardisierte Tests zur Untersuchung von Lernprozessen unter Laborbedingungen zum Einsatz kommen. Als Ergebnis sollen psychische Störungen auf biologische und behaviorale Kerndimensionen zurückgeführt werden (Insel et al., 2010). Der dimensionale Charakter würde das Problem der „Cut-off-Grenzen“ lösen und die fließenden Übergänge zwischen psychisch gesund und krank besser abbilden. Die Hoffnung besteht darin, dass sich auf dieser biologischen Ebene der Analyse valide strukturelle oder funktionelle Krankheitsentitäten finden lassen, die die aktuellen Kategorien ablösen können. Obwohl das Projekt noch keine direkten Konsequenzen für die Änderungen der bestehenden DSM-Kategorien hat, zeigt es, dass ein Paradigmenwechsel erfolgen sollte und zukünftige Modelle psychischer Störungen dimensional auf einer Prozessebene und nicht kategorial auf einer Symptomebene konzeptualisiert werden müssen (Hofmann & Hayes, 2018), damit eine Weiterentwicklung der Konzepte von psychischen Störungen und deren Behandlungen nicht behindert wird (Hayes, Hofmann & Ciarrochi, 2020).

2.2 Komplexität und Dynamik psychischer Störungen

In der praktischen Arbeit im Kontext einer psychosomatischen Klinik sind Monostörungen, wie im Lehrbuch dargestellt, nicht nur die Ausnahme, sondern quasi nicht existent. Die Ergebnisse des National Comorbidity Survey (Kessler et al., 1994), bei dem über 65 000 Personen untersucht wurden, zeigten, dass knapp 80 % der Diagnosen bereits komorbide Störungen waren, bei schweren psychischen Erkrankungen lagen in 89 % der Fälle drei und mehr weitere Störungen vor. Die Komplexität und Kombinationsmöglichkeiten von Symptomen bei zwei bis drei Störungen sind so groß, sodass die vermeintliche Vereinfachung durch ein diagnoseorientiertes Vorgehen verloren geht. Die derzeit dominierenden störungsspezifischen Ansätze sind daher nur für wenige Ausnahmefälle geeignet.

Die Ergebnisse der Komorbiditätsstudien sprechen zudem für die geringe diskriminative Validität der Diagnosekategorien (Brown & Barlow, 1992) und dafür, dass einzelne Störungskomponenten auf einer transdiagnostischen Ebene miteinander interagieren (Harvey et al., 2009). Was wir phänotypisch auf Symptom- oder Diagnoseebene sehen, hat keine eindeutige Entsprechung auf Prozessebene. Einerseits können gleiche Prozesse für die Entstehung und Aufrechterhaltung von unterschiedlichen psychischen Störungen verantwortlich sein (Harvey et al., 2009; Fisher, Medaglia & Jeronimus, 2018): Ein Grübelprozess kann eine Depression, eine Generalisierte Angststörung oder eine somatoforme Störung aufrechterhalten. Andererseits können sehr viele unterschiedliche Prozesse in die gleiche Diagnosekategorie münden (Harvey et al., 2009): Der Kernprozess hinter einer Depression kann ein negatives Selbstschema sein, es können aber auch Schwierigkeiten, |20|negative Affekte zu regulieren, Verhaltensdefizite oder Beziehungsschwierigkeiten sein. Die Kombinationsmöglichkeiten von multidimensionalen, transdiagnostischen Prozessen sind enorm. Diese Variationsmöglichkeit erklärt zum einen die große Interindividualität psychischer Störungen und zum anderen die große Variation seelischer Beschwerden über die Lebensspanne (Harvey et al., 2009). Die Annahme, dass gemeinsame Kernprozesse für die Entstehung und Aufrechterhaltung verschiedener Störungen verantwortlich sind, erklärt, warum erfasste komorbide psychische Störungen sich in Therapiestudien bessern, auch wenn sie nicht spezifisch behandelt werden (Brown & Barlow, 1992; Borkovec, Abel & Newman, 1995; vgl. auch Harvey et al., 2009).

Diese Befunde zeigen, dass „isolierte Krankheiten“, wie sie im DSM oder in der ICD klassifiziert werden, nur sehr selten vorkommen und der Blick daher auf transdiagnostische Kernprozesse von Psychopathologie und Psychotherapie gerichtet werden sollte (Hofmann & Hayes, 2018; Hayes et al., 2020).

2.3 Somatisches Krankheitsmodell

Die Übertragung des diagnoseorientierten Ansatzes der somatischen Medizin auf psychische Erkrankungen macht nur dann Sinn, wenn die einzelnen Symptome – unabhängig voneinander – von einer dahinter liegenden Krankheitsentität erzeugt werden (vgl. Abb. 1, links). Beispielsweise erzeugt ein Lungentumor die Symptome Husten, Brustschmerzen und Atembeschwerden. Verschwindet die Krankheit, verschwinden die Symptome, die von der Krankheit verursacht wurden. Dieses Modell, welches von existierenden Krankheitsentitäten ausgeht, wurde auf psychische Erkrankungen übertragen, obwohl die einzelnen Symptome in der Regel nicht voneinander unabhängig sind („Axiom der lokalen Unabhängigkeit“) und die Symptome auch fortbestehen können, wenn die Krankheit verschwindet (Hofmann et al., 2016).

Der rechte Teil von Abbildung 1 bildet dagegen ein Krankheitsmodell ab, das von einem Netzwerkverständnis ausgeht: Hier interagieren die einzelnen Symptome von Störungen hochgradig miteinander und tragen zu überlappenden Diagnosekategorien bei. Die psychische Störung ist das Geflecht von interagierenden Symptomen und Prozessen (z. B. Grübelprozess, Vermeidungsverhalten, Gefühlszustände). Die Symptome und die Wechselwirkungen zwischen ihnen sind bereits die zu behandelnde Pathologie und deuten nicht auf eine dahinterliegende Krankheit hin, wie dies im „Latent-disease“-Modell der somatischen Medizin (linker Teil von Abb. 1) angenommen wird (Hofmann et al., 2016). Nach dem Netzwerkmodell lassen sich psychische Störungen als dynamisches Netzwerk oder komplexes System betrachten. Die Elemente dieses psychopathologischen Systems sind interagierende Prozesse auf kognitiver, emotionaler, somatischer und Verhaltensebene. |21|Durch diese multidimensionalen Wechselwirkungen ist das psychopathologische System, ähnlich wie andere komplexe Systeme (z. B. das Wetter), nicht mit linearen oder kausalen Modellen beschreibbar. Es ist dynamisch, nonlinear und erfordert dadurch eine andere Betrachtungs- und Herangehensweise.

Abbildung 1: Somatisches Krankheitsmodell (links) vs. komplexes Netzwerkverständnis (rechts). Die untereinanderstehenden Symbole in der Mitte repräsentieren verschiedene Symptome.

2.4 Anwendung linearer Denkweisen auf komplexe Systeme

Im Alltag reicht meist eine relativ lineare und kausale Art zu denken aus. Der Kaffee ist alle, daher muss ich Kaffee einkaufen. Habe ich Hunger, esse ich etwas. Habe ich ein psychisches Problem, denke ich folgerichtig über Lösungen nach. Und da beginnt es, komplex zu werden. Das Nachdenken kann zur Lösung beitragen. Die Gedanken können sich aber auch verästeln und das Problem verstärken oder sogar neue Probleme erzeugen. Das Nachdenken kann hilflos machen, und die Hilflosigkeit kann eine Kette weiterer Gefühle, wie Minderwertigkeit und Schuldgefühle, auslösen. Als Ergebnis meines Nachdenkens können sich Verhaltensweisen oder Beziehungen ändern. Die Psyche besteht aus zahlreichen Untersystemen, die hochgradig miteinander vernetzt sind. Solche komplexen Systeme sind mit linearen Ursache-Wirkung-Vorstellungen nicht abbildbar. Sie verhalten sich dynamisch und nonlinear.

Um komplexe Systeme wie psychische Störungen zu verstehen, benötigt man eine systemische Perspektive (Meadows, 2008; McKey, 2019). Ein System lässt sich |22|vereinfacht mithilfe von drei Komponenten beschreiben: Es besteht aus (1) Elementen (was man sieht), (2) Verbindungen oder Beziehungen zwischen diesen Elementen und (3) einer Funktion oder einem Zweck des Systems. Letzteres ist an den Auswirkungen erkennbar (vgl. Abb. 2).

Abbildung 2: Psychopathologie aus systemischer Sicht

Das System „Fußballspiel“ besitzt die Elemente Spieler, Ball, Tor und Feld. Die Beziehungen sind die Spielzüge und Regeln. Der Zweck oder die Funktion ist es, den Ball in das gegnerische Tor zu schießen und gleichzeitig zu verhindern, dass der Ball ins eigene Tor gelangt. Was ist das Wichtigste, um das System zu verstehen? Tauscht man die Elemente (Spieler) aus, ist es trotzdem ein Fußballspiel. Ändert man jedoch die Beziehungsmuster, indem sich beispielsweise gegnerische Spieler den Ball zuspielen sollen, ändert sich das System. Noch stärker werden die Auswirkungen auf das System, wenn man die Funktion oder den Zweck ändert. Ist der Zweck, den Ball nicht zu berühren (Vermeidung), fällt das System „Fußballspiel“ in sich zusammen. An diesem Beispiel lässt sich gut veranschaulichen, welche Auswirkungen ein auf Vermeidung ausgerichtetes System hat: Ein derartiges „Fußballspiel“ würde schnell unerträglich für Spielende und Zuschauende werden.

Dieses Bild lässt sich auf die diagnoseorientierte Betrachtung von psychischen Störungen, bei der auf die sichtbaren Symptome (Elemente) fokussiert wird, übertragen: Wir glauben, die Elemente (sichtbare Symptome) sind das Entscheidende, dabei sind die Interaktionen zwischen den Elementen (Prozesse) und die Funktion|23|(Zweck) das Wesentliche, um das komplexe System einer psychischen Störung zu verstehen. Wollen wir durch Therapie das „psychische Spiel“ ändern, müssen wir folglich die Spielprozesse und den Spielzweck beeinflussen – nicht die Elemente.

Das ist insofern wichtig, da in der Regel die Elemente des Systems sichtbar, die Prozesse aber nur anhand der Auswirkungen und durch Erkennung von Mustern erfahrbar sind (McKey, 2019). Erst wenn jemand immer wieder und in verschiedenen sozialen Situationen negativ über sich denkt, kann das ein Hinweis auf ein relevantes Prozessmuster sein.

2.5 Heterogenität von Diagnosen

Als Kliniker hat man sich daran gewöhnt, dass die Diagnose wenig über die Störungsrealität aussagt. Bei zwei verschiedenen Menschen mit der Diagnose einer Major Depression kann sich das Krankheitsbild völlig unterschiedlich zeigen: Der eine kann völlig handlungsunfähig und suizidal sein und muss daher in der geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden, der andere kann bei relativ unauffälligem äußerlichem Erscheinen nach der Arbeit eine psychotherapeutische Praxis aufsuchen. Auf Symptomebene sind unzählige Kombinationen möglich, sodass zwei Menschen mit einer Major Depression nach DSM-5 möglicherweise nur ein Symptom von neun möglichen teilen. Fried und Nesse (2015) konnten zeigen, dass, wenn man alle Untersymptome der Depression einbezieht, 16 400 unterschiedliche Symptomprofile möglich sind. Es gibt 280 Depressionsfragebögen mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Symptomen. Die sieben häufigsten Verfahren nutzen 52 Symptome, während das DSM-5-System nur neun Symptome verwendet (Fried, 2015; Dalgleish, Black, Johnston & Bevan, 2020). Selbst wenn die Diagnose gleichbleibt, zeigt sich eine hohe phänotypische Plastizität zwischen den Diagnosekategorien über die Lebensspanne.

Überspitzt formuliert, ist die Diagnose einer psychischen Störung in etwa so informativ wie das Foto eines Fußballspiels (vgl. Abb. 3). Man sieht auf dieser Ebene der Betrachtung, was gespielt wird, aber nicht, wie gespielt wird. Die Dynamik und Vielschichtigkeit des (Spiel-)Prozesses werden nicht erfasst. Zudem wird die zeitliche Dimension durch diese „Momentaufnahme“ nicht erfasst. Betrachtet man den Verlauf der Erkrankung über die Zeit hinweg, nimmt man wahr, wie sich einzelne Aspekte der Störung gegenseitig beeinflussen. So kann Rückzugsverhalten zu mehr Grübeln führen und dies wiederum den Rückzug verstärken. Nicht die einzelnen Symptome sind das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie sich gegenseitig verstärken und dem Betroffenen das Gefühl geben, hilflos zu sein. Durch die Betrachtung von Veränderungen über die Zeit hinweg kann man auf Wirkzusammenhänge schließen und Hypothesen über im Hintergrund wirksame Prozesse bilden (Gloster & Karekla, 2020).

|24|Bei einem Fußballspiel würde so man erkennen, welche Spielzüge zum Erfolg führen und welche Spielzüge den Erfolg gefährden. Auf dieser Basis lassen sich Überlegungen anstellen, wie eine Verbesserung erzielt werden kann: Welche Spielprozesse müssten sich ändern, damit sich die Spielweise ändert? Was sollte die Mannschaft trainieren? Ein solches Vorgehen ist durch die statische Information einer Momentaufnahme und die reine Betrachtung der Elemente nicht möglich. Man muss die Variationen der Spielprozesse über die Zeit beobachten können. Erst durch diese Prozessinformation wird man in die Lage versetzt, die Dynamik und Funktionsweise des Spiels zu verstehen. Auf Psychopathologie übertragen bedeutet dies, dass eine Liste von Symptomen nicht ausreicht, um die Störungsdynamik zu verstehen. Erst wenn ich verstehe, wie kognitive, emotionale und Verhaltensprozesse sich gegenseitig zu einem depressiven Netzwerk aufschaukeln, kann ich die aufrechterhaltenden Bedingungen des depressiven Netzwerkes verstehen und individuell adressieren.

Abbildung 3: Die Diagnose einer psychischen Störung lässt sich mit einer Momentaufnahme eines Fußballspiels vergleichen. Sie erlaubt keine Aussage darüber, welche Prozesse spielbestimmend sind. Die Dynamik, die Funktion des komplexen Systems sowie die darin ablaufenden Prozesse bleiben verborgen. (© iStock.com by Getty Images/simonkr)

|25|2.6 Nomothetische versus ideographische Erklärungsmodelle

Patienten fühlen sich oftmals von vereinfachenden diagnostischen Kategorien unzureichend verstanden. Manchmal wird das als Tauziehen erlebt, bei dem die Therapeutin den Fokus auf störungsspezifische Bedingungsfaktoren legt, während für den Patienten ein individueller Bedingungsfaktor eine weitaus größere Rolle spielt. Obwohl ein diagnoseorientiertes und manualisiertes Vorgehen Behandlungsstandards gesetzt und die grundlegende Modellvorstellung von einzelnen psychischen Störungen erleichtert hat (Clark, Fairburn & Jones, 1997), hat die Betonung der Diagnose den Blick für störungsrelevante individuelle Prozesse sowie für situative und kontextuelle Faktoren verstellt (Hofmann & Hayes, 2018; Hayes et al., 2020).

Das Problem ergibt sich u. a. daraus, dass die klinische Forschung ihr Wissen überwiegend aus der Untersuchung von Gruppen und dem Vergleich von Menschen mit und ohne Diagnose gewinnt. Es wird untersucht, worin sich Variablen auf Gruppenebene unterscheiden, und nicht, wie sie sich auf individueller Ebene verhalten. Findet man heraus, dass depressive Menschen im Vergleich zu nicht depressiven Menschen ein geringeres Aktivitätsniveau haben, liegt der Schluss nahe, dass depressive Menschen aktiviert werden sollten. Im Mittel stimmt diese Aussage für die Gesamtgruppe, aber sie ist nicht auf eine spezifische Person in einer spezifischen Situation übertragbar (Hofmann et al., 2016). Was für die Gruppe zutrifft, trifft noch lange nicht für jedes einzelne Gruppenmitglied zu. Oft weichen einzelne Gruppenmitglieder stark vom Gruppendurchschnitt ab. Die Durchschnittsschuhgröße ist relativ uninteressant, wenn man Schuhe kaufen möchte: Man kauft keine Größe, die einer statistisch ermittelten Durchschnittsperson passen würde, sondern Schuhe, die einem selbst passen.

Im Gegensatz zu nomothetischen Modellen, die nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten suchen, versuchen ideographische Modelle das Individuelle und Besondere im Einzelfall zu erklären. Den Unterschied zwischen ideographischer Prozessforschung und nomothetischen Untersuchungen illustriert Steven Hayes in seinen Vorträgen an einem einfachen Beispiel. Wenn man die Schreibmaschinenkompetenz auf Gruppenebene untersucht, werden Menschen, die sehr schnell tippen können, geübt sein und daher auch weniger Fehler machen. Auf individueller Ebene untersucht, führt eine höhere Tippgeschwindigkeit dagegen zu mehr Fehlern. Beide Untersuchungsmethoden untersuchen den Zusammenhang zwischen Tippgeschwindigkeit und Fehlerhäufigkeit. Das Ergebnis der zwei Untersuchungsmethoden ist jedoch gegenläufig. Es wäre daher falsch, die Ergebnisse der Gruppenuntersuchung auf die individuelle Ebene zu übertragen und Anfängern in einem Schreibmaschinenkurs zu empfehlen: „Die Forschung hat ergeben, dass Menschen, die schnell tippen, weniger Fehler machen. Tippen Sie daher so schnell |26|wie möglich“. Genau diesen Fehler machen wir jedoch, wenn wir die Ergebnisse aus der nomothetischen Forschung auf Individuen übertragen (Hofmann, Curtiss & Hayes, 2020).

Für eine auf Kernprozessen basierende Psychotherapie wird ideographisches Prozesswissen benötigt. In der ideographischen Prozessforschung betrachtet man, wie sich Variablen bei einer einzelnen Person verändern und wie diese Variablen mit anderen Variablen über die Zeit hinweg auf Individuumsebene interagieren. Diese individualisierte Vorstellung erklärt auch, wie gleiche Prozesse in unterschiedliche Störungskategorien münden können (Fisher et al., 2018). In einem Fall können sorgenvolle Gedankenschleifen zur Entwicklung einer Generalisierten Angststörung führen. In einem anderen Fall kann dieser entgleiste kognitive Prozess in Kombination mit einem geringen Selbstwert eine Depression begünstigen. In einem dritten Fall kann er gemeinsam mit einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit für körperliche Symptome eine somatoforme Störung bedingen. Ein übertriebener Ruminationsprozess kann aber auch ohne große Folgen bleiben. Eine Patientin, die sich ständig Sorgen machte, berichtete, dass dies ihre Art sei, anderen Menschen nahe zu sein. Sich Sorgen zu machen bedeute, dass es ihr gut gehe und sie sich mit anderen Menschen verbunden fühle. Sie belaste das Sich-Sorgen-Machen nicht. Bei ihr hatte der Sorgenprozess sogar positive Auswirkungen, da sie dadurch Kontakte über ihr Fürsorgemotiv aufrechterhielt.

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass das diagnoseorientierte Vorgehen vor allem Faktoren berücksichtigt, die überindividuell sind oder allgemeine Auswirkungen darstellen. Der prozessbasierte Ansatz interessiert sich dagegen für ideographische Prozesse, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung von seelischem Leid bei einer bestimmten Person, in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit verantwortlich sind (Hofmann & Hayes, 2018).

|27|3 Theoretische Grundlagen der prozessbasierten Therapie

In diesem Kapitel werden die wichtigsten theoretischen und empirischen Grundlagen zusammengefasst, die zur Entwicklung des prozessbasierten Ansatzes in der Tradition der kognitiven Verhaltenstherapie geführt haben. Sie erweitern die bewährten kognitiv-behavioralen Konzepte um die Erkenntnisse der komplexen Netzwerktheorie und die empirischen Befunde zu transdiagnostischen Vulnerabilitäts- und Reaktionsprozessen, welche zur Entwicklung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen beitragen. Dabei stellt der prozessbasierte Ansatz keine neue Therapieschule dar, sondern nimmt eine andere Betrachtungsebene ein. Anstatt psychische Störungen auf einer diagnostischen oder symptomatischen Ebene zu betrachten, werden die Prozesse analysiert, die zur Entwicklung dieser Phänomene beigetragen haben. Auf dieser Ebene kann man erkennen, wie individuelle, dynamische Prozesse sich gegenseitig beeinflussen und dadurch eine Störungsdynamik entfalten. Damit stehen Prozess- und Netzwerkeigenschaften im Fokus, die darüber entscheiden, ob die Wechselwirkungen ein stabiles funktionales System oder ein pathologisches Netzwerk bilden.