Psycho-Queen - Myriam von M - E-Book

Psycho-Queen E-Book

Myriam von M.

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Beschreibung

Ein Tabu-Thema endlich auf den Tisch gebracht – in den autobiografischen Episoden von Bestsellerautorin und Medienpersönlichkeit Myriam von M geht es um ihren Kampf mit psychischen Erkrankungen wie Borderline, Depression, Angststörungen und Zwänge Myriam von M steigt dafür in die Untiefen ihrer Psyche hinab und öffnet längst verschlossene Schubladen ihrer berührenden Vergangenheit. Sie greift Episoden ihres Lebens auf und schildert mit entwaffnender Offenheit ihren Umgang mit schwerwiegenden psychischen Erkrankungen. Ihre Geschichte räumt mit Vorurteilen auf und bietet nicht nur eine wertvolle Stütze für Betroffene. »Psycho-Queen« eröffnet deren Angehörigen eine faszinierende Perspektive, die nachhaltig für Verständnis wirbt und einfühlsam sensibilisiert. »Trotz meiner zahlreichen Störungen habe ich Dinge erreicht, von denen ich kaum zu träumen wagte - das kannst DU auch!«, gibt sich Myriam von M gewohnt kämpferisch. Als Betroffene mit fundiertem Fachwissen versucht sie ihr eigenes Verhalten auch psychologisch zu erklären und begibt sich auf eine schonungslos ehrliche Reise zu sich selbst.

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© Piper Verlag GmbH, München 2021Redaktion: Corlingua, Elisa KieselmannCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Steffen DäuberKonvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Vorwort

Kapitel 1 – Suizidale Tendenzen

1.1 Die Gegenwart

1.2 Die Vergangenheit

1.3 Was bleibt

Kapitel 2 – Panik

2.1 Die Gegenwart

2.2 Die Vergangenheit

2.3 Was bleibt

Kapitel 3 – Depression

3.1 Die Gegenwart

3.2 Die Vergangenheit

3.3 Was bleibt

Kapitel 4 – Zwänge

4.1 Die Gegenwart

4.2 Die Vergangenheit

4.3 Was bleibt

Kapitel 5 – Verlustängste

5.1 Die Gegenwart

5.2 Die Vergangenheit

5.3 Was bleibt

Kapitel 6 – Selbstverletzendes Verhalten

6.1 Die Gegenwart

6.2 Die Vergangenheit

6.3 Was bleibt

Kapitel 7 – Borderline

7.1 Die Gegenwart

7.2 Das Fundament meiner Störungen

7.3 Was am Ende bleibt

In Gedenken an Michael Konowalski – Du vergisst nie den Menschen, der dir zum ersten Mal gezeigt hat, was Liebe ist

Vorwort

Hey there!

Ich bin Myriam, und Du hältst mein zweites Buch in Deinen Händen. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich Menschen für einen interessieren, und ich empfinde ehrliche Dankbarkeit und Demut dafür! Bevor ich Dich in meine Welt mitnehme, möchte ich Dir ein paar Informationen mitgeben, die Du benötigst, um Dich in ihr zurechtzufinden. Mein erstes Buch musst Du dafür nicht zwingend gelesen haben.

Geboren wurde ich 1977 in Deutschland, aufgewachsen bin ich aber in den USA und habe daher häufig Heimweh nach Amerika. Ich bin verheiratet und habe zwei wundervolle Kinder, die allerdings bei ihren Vätern leben. 2002 bin ich das erste Mal an Krebs erkrankt und habe zahlreiche Operationen, Therapien und Rückfälle hinter mir. Aktuell bin ich krebsfrei, aber mein Körper ist nach diesem jahrelangen Kampf ziemlich kaputt. Falls Du schon von mir gehört hast, dann wohl am ehesten im Zusammenhang mit meiner Kampagnenarbeit für die FUCKCANCER gGmbH. In deren Rahmen betreue ich krebskranke Menschen psychoonkologisch und erfülle ihnen beispielsweise letzte Wünsche. Ich habe eine eigene Fernsehserie und war in meiner Funktion als Advokatin für Krebsvorsorge bereits in diversen Talkshows zu Gast. Ebenso leidenschaftlich und laut bin ich außerdem als strikte Gegnerin der Tabuisierung von schwierigen Themen, insbesondere was psychische Erkrankungen und den Umgang mit diesen angeht, was gleichzeitig den Hauptgrund für das Schreiben dieses Buchs darstellt. Ich bin studierte Heilpraktikerin für Psychotherapie und leide selbst an der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sich in Suizidalität, selbstverletzendem Verhalten, Verlustängsten, Angststörungen beziehungsweise Panikattacken, Zwängen und Depressionen äußert. Es hat mich viel Kraft gekostet, dieses Buch zu schreiben. Häufig war ich retraumatisiert, und es flossen viele Tränen. Gleichzeitig warte und hoffe ich darauf, dass sich für mich ein autotherapeutischer Effekt einstellt, sobald sich das Aufgewühlte wieder gesetzt hat. Ja, es ist kein einfaches Buch, aber ich hoffe, dass Du daraus trotzdem Kraft für Dich ziehen kannst. Es gibt nämlich keinen Grund, sich zu verstecken, auch wenn man mental und körperlich mitgenommen ist, und das möchte ich hier aufzeigen. Bist Du selbst krank, egal, in welcher Hinsicht, musst Du mich nicht zum Vorbild nehmen, dafür habe ich selbst zu viele Fehler in meinem Leben gemacht. Aber vielleicht kann ich Dich inspirieren, niemals aufzugeben, und vor dem Hintergrund meiner akademischen Expertise ist vielleicht sogar der ein oder andere konkrete Rat im Umgang mit bestimmten Situationen oder Verhaltensmustern dabei. Du wirst auch Stellen finden, die mit einem Augenzwinkern geschrieben sind und Dich punktuell hoffentlich zum Schmunzeln bringen. Geht es Dir gut, und Du bist »gesund« oder Du betrachtest Dich selbst als »normal«? Dann hoffe ich sehr, dass das lange so bleibt! Im besten Falle hast Du nach dem Lesen dieses Buchs ein wenig Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt eines körperlich und seelisch kranken Menschen erhalten und kannst für Menschen wie mich ein gesteigertes Verständnis aufbringen. Davor hätte ich großen Respekt, denn das hier ist kein Schrei nach Aufmerksamkeit, auch wenn es mit Sicherheit Menschen geben wird, die das so interpretieren und darstellen. Es kostet mich viel Überwindung, mich quasi nackt auszuziehen, und gerade vor dem Hintergrund meiner seelischen Störung habe ich ehrlich empfundene Angst vor dem negativen Feedback. Aber wenn es genug Menschen gibt, die von meiner Geschichte und meinen Schlussfolgerungen bewegt werden, war es das am Ende hoffentlich wert.

Dieses Buch ist während der Coronakrise 2020 entstanden, und nicht zuletzt deswegen habe ich eine sehr eigene Struktur gewählt. Jedes der folgenden Kapitel ist auf eine meiner psychischen Störungen zentriert und in jeweils drei Abschnitte unterteilt. Im ersten dieser Abschnitte befinde ich mich in der Gegenwart. Während ich von meinen persönlichen, aktuellen Geschehnissen in dieser besonderen Zeit berichte, kommen viele Gedanken aus der Vergangenheit wieder hoch, und so erzähle ich in dieser Stimmung im zweiten Abschnitt Episoden aus meinem Leben. Schließlich betrachte ich das Erlebte im dritten Abschnitt und versuche eine Art Fazit für mich zu ziehen. Alles, was Du liest, entspricht der Wahrheit, oder zumindest MEINER Wahrheit und meinen Erinnerungen. Vereinzelt habe ich einige Geschehnisse, die vielleicht über mehrere Tage verteilt waren, aus dramaturgischen und erzählerischen Gründen zeitlich gestrafft und in einem Moment eingefangen. Inhaltlich sollte das aber nichts verfälscht haben.

Zu guter Letzt möchte ich hiermit noch explizit eine TRIGGERWARNUNG aussprechen. In diesem Buch sind Schilderungen enthalten, die bei psychischen Erkrankungen Reaktionen auslösen könnten.

Kisses, and stay strong!

Myriam, Januar 2021

 

 

1.1 Die Gegenwart

Januar 2020 … Ich befinde mich in den USA, da ich über Weihnachten Freunde und Familie besucht habe. Von den üblichen Streitigkeiten abgesehen, die Familienfeiern wohl unweigerlich mit sich bringen, verliefen die Feiertage durchaus beschaulich, und ich bin mit meinem Mann Benny gut in das neue Jahr gestartet. In den Nachrichten verfolge ich allerdings zunehmend Berichte über ein unbekanntes Virus, das zu der Zeit in China grassiert. Ich bezeichne mich selbst gerne und treffend als germaphobe, zu Deutsch also jemanden, der eine Phobie vor Bakterien und Viren entwickelt hat, was zumeist mit ausgeprägten Hygienezwängen einhergeht. Schon aus diesem Grund habe ich ein ungutes Gefühl dabei, zumal noch nicht viele Details über das Virus bekannt sind. China ist zwar einerseits beruhigend weit weg, andererseits reicht es schließlich aus, wenn eine infizierte Person ein Flugzeug besteigt. Für den Moment fühle ich mich aber relativ sicher, und mein Rückflug nach Deutschland liegt noch ein paar Wochen in der Zukunft. Ich liebe es, für längere Zeit in meiner Heimat zu sein. Schwierig wird es nur, wenn währenddessen in Deutschland Dinge passieren, die eigentlich meine Anwesenheit erfordern.

 

Ich werde wach und schaue auf mein Handy. Es ist 11 Uhr morgens in Seattle an der amerikanischen Pazifikküste. Neben der Uhrzeit gibt mein Handy auch eine Nachricht preis, die dort aufgrund der Zeitverschiebung bereits seit Stunden ungeduldig auf mich wartet. Ihr Inhalt weckt eine dunkle Vorahnung: »Myriam! Du hast es bestimmt schon gehört. Ansonsten ruf mich dringend an!«, lautet der Appell meiner alten Jugendfreundin Annabelle. Eigentlich nehme ich mir besonders im Urlaub viel Zeit, bevor ich das Bett verlasse, und kuschle mich lieber noch mal an meinen Mann, bevor ich schließlich aufstehe und etwas tapsig und verschlafen in den Tag starte. Heute bin ich sofort hellwach. »Hey Annabelle! Nein, ich weiß gar nichts. Was ist denn passiert? Ist etwas mit Michael?«, schreibe ich zurück und merke, wie ein bedrückendes Gefühl meine Brust einschnürt. Die meisten Menschen kennen dieses Gefühl, tun sich in der Beschreibung aber schwer. In Anlehnung an die Terminologie der Alien-Filme nennen mein Mann und ich dieses Gefühl scherzhaft Chestburster. Häufig kann ich die Herkunft dieser Kreatur, die cineastisch aus meinem Brustkorb herauszubrechen droht, nicht zuordnen. Heute allerdings liegt die Ursache buchstäblich schwarz auf weiß vor mir auf dem Display meines Smartphones. Meine Nachricht bleibt von Annabelle ungelesen, also versuche ich sie anzurufen – vergeblich. »Verdammte Zeitverschiebung!«, rufe ich laut und wecke damit meinen Mann, der mich verdutzt anguckt. Ich behalte den Chatverlauf mit Annabelle im Auge, doch egal, wie angestrengt ich auf die beiden grauen Häkchen unter meiner Nachricht starre, sie wollen nicht blau werden. Wie ein Damoklesschwert schwebt meine dunkle Vorahnung viele Stunden über mir, während sich der Tag träge dahinzieht. Normalerweise genieße ich es, mit meinem Mann in einem Diner zu frühstücken und anschließend etwas zu unternehmen. Doch heute steht mir nicht der Sinn danach. Immer wieder gehe ich mögliche Szenarien mit Benny durch, bis Annabelle sich endlich meldet und meine schlimmste Befürchtung bestätigt: Michael ist tot.

 

Annabelle, übrigens eine gemeinsame Freundin von damals, berichtet mir, dass Michaels Ex-Freundin und Mutter der gemeinsamen Tochter, die Polizei gerufen hatte, nachdem sie ihn nicht erreichen konnte. An Weihnachten fand die Polizei Michael daraufhin tot in seiner Wohnung auf. An der geplanten Beisetzung kann ich nun nicht teilnehmen, dabei hätte ich so sehr eine Art von Abschluss gebraucht. Über die Jahre hinweg hatten wir nach unserer Trennung vor über 20 Jahren mal mehr und mal weniger Kontakt. Zuletzt war der Kontakt wieder etwas dünner, und ich habe das Gefühl, als Freundin versagt zu haben. Michael litt seit einigen Jahren unter Depressionen und konnte sein Glück in der Liebe auch nach mir nicht wirklich finden. Seine Tochter, die seit der Trennung bei ihrer Mutter lebt, war sein ganzer Stolz. Mehrfach schon hatte er in der Vergangenheit davon gesprochen, sich umzubringen. Zuletzt sagte er mir vor etwa 3 Monaten, dass seine Therapie vorbei sei und er es nicht mehr packe, weiterzuleben. Hätte ich etwas tun können? Hätte ich gar etwas tun müssen? Irgendwann hat man jeden aufmunternden, durchaus ehrlich gemeinten Satz mehrfach gesagt, und die Sätze verkommen insbesondere aufseiten des Betroffenen zu leeren Phrasen. Er beteuerte immer wieder, dass ihm der Austausch mit mir viel Kraft gebe und er stolz auf mich sei. Hatte ich ihn trotzdem im Stich gelassen? Die größte Angst suizidgefährdeter Menschen ist es, nicht gehört zu werden. Ich muss es wissen. Ich selbst gehöre schließlich auch dazu.

1.2 Die Vergangenheit

Ich war zwar mit einigen Männern in meinem Leben zusammen, aber nur wenigen habe ich gesagt – und es auch so gemeint –, dass ich sie liebe. Michael war der erste. Ein Paar wurden wir 1993, beide waren wir zu diesem Zeitpunkt 17, er nur ein halbes Jahr älter als ich. »Missy« nannte er mich immer. Gebürtig stammte er aus Polen und erinnerte mich damals optisch an den jungen Keanu Reeves aus den »Bill & Ted«-Filmen. Auf den ersten Blick war er ein eher ruhiger Typ, taute in einer ihm bekannten Umgebung aber schnell auf und gab dann gerne den Spaßvogel. Er spielte Gitarre in einer Ramones-Coverband und verehrte außerdem die Doors und Nirvana. Michael war ein unheimlich talentierter Zeichner und sollte später auch Grafikdesign studieren und insbesondere ein Meister im Umgang mit Photoshop werden. Ich erinnere mich gut daran, wie er sich einmal aus einer Laune heraus einen Kugelschreiber zur Hand nahm und begann, mein Bein zu bemalen, bis es komplett von den schönsten Mustern und Formen bedeckt war. Leider ließ er sich zu häufig von seinen Freunden ausnutzen. Er war der Erste – und lange Zeit auch der Einzige in unserem Umfeld –, der einen Führerschein und ein Auto besaß. Mit seinem VW Derby fuhr er regelmäßig Freunde und Bekannte von A nach B, meistens, um irgendwo von irgendwem Marihuana zu besorgen. Natürlich profitierte ich ebenso davon, denn auch zusammen genossen wir unser Dasein als junges Kiffer-Pärchen. Insgesamt kann ich rückblickend guten Gewissens sagen, dass er eine sehr positive Wirkung auf viele Frauen hatte. Trotz meiner Borderline-Persönlichkeitsstörung und der damit in jüngeren Jahren verbundenen Promiskuität war ich Michael in unserer Zeit stets treu. Er allerdings nahm es leider nicht immer so genau damit. Einen seiner Ausrutscher quittierte ich damals mit einem beherzten »Sabrina-Ficker«, das ich mithilfe eines Schlüssels tief in den Lack seines grünen, bei der Polizei gut bekannten VW Derbys kratzte. Ihn umgab immer eine gewisse Aura aus Leichtigkeit. Diese hatte neben seiner Unzuverlässigkeit und Untreue noch eine tiefere Schattenseite. Michael neigte dazu, alles Böse von sich wegzuschieben und zu ignorieren. Beispielsweise hatte er den Tod seines Vaters, der an Lungenkrebs starb, nie richtig verarbeitet und wollte auch nie darüber sprechen. So hielt er es mit allen Problemen, also auch mit solchen, die mich oder unsere Beziehung betrafen.

 

Als ich 1996 ungeplant schwanger wurde, nahm Michael das zwar hin, mit sonderlich viel Anteilnahme konnte ich aber nicht rechnen. Als ich einen Schwangerschaftstest aus der Apotheke machte, besuchten wir gerade seine Familie in Polen. Während des Mittagessens kam das Thema unweigerlich zwischen uns zur Sprache. Ich traute mich nicht, das Ergebnis anzusehen, und trug den Test seitdem mit mir herum. Also nahm er den Test an sich und verabschiedete sich kurz auf die Toilette. Kurze Zeit später kam er wieder, setzte sich neben mich und murmelte knapp »Jupp, ist positiv«, während er ruhig weiteraß. Insgeheim war er sicher dagegen, dass ich das Kind bekomme, hatte er doch gerade erst Abitur gemacht. Aus heutiger Sicht kann ich ihm diese Haltung nicht verdenken. Es war auch nicht so, dass ich darauf versessen war, ein Kind auszutragen, aber es war nun einmal passiert, und dieser Verantwortung wollte ich mich auch stellen. Erwartungsgemäß versuchte Michael meine anderen Umstände so gut es eben ging zu ignorieren, und seine Taktik sollte zunächst aufgehen. Tatsächlich war meine Schwangerschaft nämlich nach elf Wochen wieder beendet und resultierte in einer Fehlgeburt, die mich insbesondere körperlich in keinem guten Zustand zurückließ.

 

Zwei Tage später war ich mit Michael zu Gast bei meiner Mutter und meinem Stiefvater. Die beiden waren ein ungleiches Paar: Meine Mutter der etwas kräftige, kleine Rotschopf mit Sommersprossen und mein Stiefvater, der schlaksige Typ mit dunklen Haaren. Michael und ich saßen gerade im Esszimmer, das den Mittelteil eines langen Schlauchs, bestehend aus Küche, Esszimmer und Wohnzimmer darstellte. Mein kleiner Bruder Andy befand sich in seinem Zimmer und spielte, während sich meine Mutter und mein Stiefvater im Wohnzimmer mal wieder zankten. Diesmal ging es um die Fernbedienung des Fernsehers, da sie sich nicht auf einen Kanal einigen konnten. Ich ging dazwischen, entriss ihnen die Fernbedienung und schrie meinen Stiefvater auf Englisch an: »Stop it! This is bullshit!« Michael verfolgte die Situation aufmerksam und angespannt, gleich einem Sprinter, der sich auf den Startschuss des anstehenden Finallaufs vorbereitet. »Stupid bitch, baby killer!«, hörte ich meinen Stiefvater verächtlich sagen, und er versetzte mir einen kräftigen Stoß, der mich rückwärts durch den Glaseinsatz einer typisch deutschen Zimmertür mit Holzrahmen beförderte. Klirrend ging das Glas zu Bruch, und ich fand mich auf dem Boden inmitten von Glasscherben wieder. Während ich aufstand und mich schüttelnd von den gröbsten Scherben und Splittern befreite, spürte ich eine infernalische Wut in mir aufsteigen.

Mein Stiefvater verstand sich schon immer darauf, mich zu triggern. Seine Anspielung, dass ich mein Baby verantwortungslos getötet hätte, indem ich mich womöglich nicht schwangerschaftskonform verhalten hatte, machte mich in diesem Moment noch wütender als die Tatsache, dass er mich gerade durch eine Tür geschubst hatte.

Er hatte meine Mutter und mich lange genug misshandelt. Diese Mixtur aus jahrelanger Peinigung und dem absoluten Hormontief nach dem Ende meiner Schwangerschaft schalteten in mir einen Tunnelblick frei, der meinen Stiefvater fixierte. In einer einzigen flüssigen Bewegung, die für mich wie in Zeitlupe ablief, machte ich einen großen Satz in Richtung meines Stiefvaters, nahm nur aus dem Augenwinkel den Messerblock auf der Küchentheke wahr, schnappte mir ein beliebiges Messer und versuchte, auf ihn einzustechen – vergeblich! Michael war über den Esstisch auf uns zugesprungen und konnte meinen Arm so ablenken, dass ich den Hals meines Stiefvaters nur leicht kratzte. Mit aller Kraft hielt Michael mich daraufhin mit beiden Armen umschlungen fest, während ich versuchte mich freizukämpfen, um zu vollenden, was ich begonnen hatte. Mein Stiefvater war kreidebleich, und Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Meine Mutter hörte nicht auf zu schreien, und mein kleiner Bruder, der inzwischen Teil der Szenerie war, weinte völlig verängstigt. Michael beförderte mich mit festem Griff nach draußen ins Auto, und wir fuhren davon. Ich hatte sehr viel Glück an diesem Tag und bin froh, dass die Sache so glimpflich ablief.

 

Später an diesem Tag saßen Michael und ich zu zweit auf der Couch in der Wohnung seiner Eltern, die sich gerade im Urlaub befanden. Wie so häufig wurde Michael telefonisch von seinen Freunden bedrängt, mit ihnen Marihuana zu besorgen. »Hey Michael, ich weiß, wo ich noch’n bisschen Zacken herkriegen kann … für günstig!«, klang es verlockend aus dem Hörer. Ich merkte ihm an, dass er eigentlich keine Lust dazu hatte, sich aber wie üblich doch überreden ließ. »Bitte geh nicht, mir geht es echt nicht gut«, bat ich ihn, zumal ich noch immer unter Nachblutungen litt. Vielleicht hatte die Episode in der Wohnung meiner Mutter ihr Übriges dazu beigetragen. Michael aber nahm meine Symptome auf die leichte Schulter. »Dann beeil Dich diesmal wenigstens, und komm schnell wieder«, nahm ich ihm immerhin das Versprechen ab, mich nicht länger als unbedingt nötig alleine zu lassen. Er willigte ein und machte sich auf den Weg. Enttäuscht blieb ich zurück, alleine mit mir und meinen Schmerzen und den Spaghetti, die ich gerade für uns vorbereitete, da das Mittagessen zuvor bei meiner Mutter ja ein jähes Ende gefunden hatte.

 

Zwei Stunden waren bereits vergangen, seit er aufgebrochen war. Meine Schmerzen wollten mich hingegen nicht verlassen. Stattdessen wurden sie immer stärker und manifestierten sich in reißenden Unterleibskrämpfen. Verängstigt lief ich aufs Klo, und dort ging es los. Blut schoss mir die Beine hinunter, und ich bekam Panik. Ich krümmte mich vor Schmerzen, während mir schlagartig kalt wurde und ich zu zittern begann. »Wo zum Teufel ist Michael?«, zischte ich vor mich hin und biss die Zähne fest zusammen. Aus heutiger Sicht schwer vorstellbar, aber Handys waren zu der Zeit noch nicht weit verbreitet, und ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Also rief ich meine Mutter an, die glücklicherweise nur zehn Minuten entfernt wohnte und sofort zu mir kam. Mein Zustand verschlechterte sich weiter, und mein Körper versuchte inzwischen blutige Gewebeklumpen abzustoßen, was ich mit großem Entsetzen wahrnahm. Ich dachte, ich müsste verbluten! Besorgt rief meine Mutter daraufhin meinen Gynäkologen Dr. Oltenau an, der mich sofort in das nahe gelegene Flörsheimer Krankenhaus beorderte mit der Aussicht, ihn dort zu treffen. Ich fand aber trotzdem noch Zeit, einen gelben Post-it-Zettel von außen an die Wohnungstür zu heften. »Danke, dass Du mich alleine gelassen hast, Arschloch! Ich bin im Krankenhaus Flörsheim«, war darauf zu lesen.

 

Mit Krankenhäusern hatte ich damals noch keine großen Erfahrungen machen müssen, aber ich glaube, an Worte wie Notoperation, Ausschaben und Veröden gewöhnt man sich ohnehin nie. Nach meiner Fehlgeburt waren offenbar Teile der Plazenta nicht ordnungsgemäß abgegangen und hatten sich anschließend entzündet. Zu allem Überfluss musste ich mit einer in Eile geleisteten Unterschrift bestätigen, dass während des Eingriffs im Notfall die Gebärmutter entfernt werden darf. Mir war bewusst, dass diese Maßnahme zur Folge hätte, dass ich niemals Kinder bekommen könnte. Voller Angst und Panik lag ich auf dem kalten Operationstisch, bis schließlich die Narkose einsetzte und ich einschlief. Während der Operation verlor ich weiterhin viel Blut, was eine Bluttransfusion notwendig machte. Meine Gebärmutter konnte ich aber glücklicherweise behalten.

 

Unsanft wurde ich durch das Ziehen des Tubus aus der Bewusstlosigkeit gerissen, doch richtig wach wurde ich dadurch nicht. War ich tot? »Falls ich tot bin, dann bin ich wenigstens im Himmel«, lächelte ich in mich hinein. Über mich gebeugt stand nämlich eine Nonne, die ich zunächst für einen Engel hielt. Sie hatte schneeweiße Haare, war ganz in Weiß gekleidet, und um ihren Hals baumelte ein großes, goldenes Kruzifix direkt vor meinem Gesicht. Sanft streichelte sie meinen Kopf und gab mir mit ruhiger Stimme zu verstehen, dass alles gut werden würde. Doch etwas stimmte nicht. »Wenn ich wirklich im Himmel bin, wieso habe ich dann Schmerzen?«, dämmerte es mir, und tatsächlich: Ich war nur allzu lebendig und befand mich im Aufwachraum des Krankenhauses.

 

In meinem stationären Krankenhauszimmer warteten Michael und meine Mutter bereits auf mich. Er war zwischenzeitlich nach Hause gekommen, hatte meine Nachricht entdeckt und sich auf den Weg ins Krankenhaus gemacht. Ich war maßlos enttäuscht von ihm, und das ließ ich ihn auch wissen. »Mal wieder waren Deine falschen Freunde wichtiger als ich, das kann so nicht weitergehen«, konfrontierte ich ihn trotz meines erschöpften Zustandes mit meinen Gedanken. Michael entschuldigte sich und besuchte mich daraufhin jeden Tag im Krankenhaus, bis ich entlassen wurde. Doch auch die Zeit auf der Station hinterließ ihre Spuren. Kaum ein Wort sagte ich während meines Aufenthaltes. Meine Bettnachbarin, eine eigentlich nette junge Frau, lag dort mit vorzeitigen Wehen. Schon bald würde sie ihr Kind zur Welt bringen, während der Vater voller Vorfreude und Fürsorge aktiv an ihrem Zustand teilhatte. Wie auf einer Gynäkologie üblich, kamen ohnehin ständig neue Babys auf die Welt, die sich lauthals Gehör verschafften und meinen Verlust unabsichtlich immer realer werden ließen. Meine Gebärmutter hatte ich zwar behalten dürfen, trotzdem sollte zunächst unklar bleiben, ob ich in Zukunft Kinder haben könnte. Trotz Michaels Besuchen fühlte ich mich einsam. Jeder Babyschrei brach mir das Herz, und nach einer Weile konnte ich meine Bettnachbarin mit ihrem Mann nicht mehr ertragen und drehte ihr nur noch den Rücken zu.