Psychoanalytische Behandlungstechnik - Wolfgang Mertens - E-Book

Psychoanalytische Behandlungstechnik E-Book

Wolfgang Mertens

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Beschreibung

Psychoanalytically based treatment procedures & particularly psychotherapy based on analytical and depth psychology & were first accepted for remuneration by statutory health-insurance companies in Germany in 1967, following empirical evidence of their effectiveness. They play central roles in psychotherapeutic care for the population. Although Freud=s psychoanalysis still represents the foundation for these procedures, major further developments have taken place. Several of the most important concepts, such as free association, evenly-suspended attention, psychodynamic diagnosis, indication, therapeutic goals, analytical surface, resistance and active factors are presented and discussed here in accordance with the current state of knowledge and research.

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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

 

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber Ulrich Moser, Henric Parens, Christa Rohde-Dachser, Anne-Marie Sandler, Daniel Widlöcher

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/psychoanalyse-21

 

Der Autor

 

Prof. em. Dr. Wolfgang Mertens war von 1982 bis 2011 Professor für Klinische Psychologie und Psychoanalyse am Department für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Psychoanalytiker und psychoanalytischer Psychotherapeut (DGPT) und war viele Jahre als Dozent, Lehranalytiker und Supervisor der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München e. V. tätig.

Wolfgang Mertens

Psychoanalytische Behandlungstechnik

Konzepte und Themen psychoanalytisch begründeter Behandlungsverfahren

2., erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., erweiterte Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-042344-2

 

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-042345-9

epub:      ISBN 978-3-17-042346-6

Geleitwort zur Reihe

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Inhalt

Geleitwort zur Reihe

Vorwort

1          Veränderungen in der Theorie der psychoanalytisch begründeten Verfahren

1.1       Terminologisches

1.2       Veränderungen

1.2.1     Veränderungen in der Persönlichkeitstheorie der Psychoanalyse

1.2.2     Veränderungen in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie

1.2.3     Veränderungen in der Allgemeinen und Speziellen Krankheitslehre

1.2.4     Veränderungen in der psychoanalytischen Theorie der Behandlung

1.3       Anstöße von anderen Disziplinen

1.3.1     Aus den Sozial- und Kulturwissenschaften

1.3.2     Aus der Linguistik

1.3.3     Aus der Philosophie

1.3.4     Aus Neurowissenschaft und Cognitive Science

2          Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit: Methoden des psychoanalytischen Standardverfahrens

2.1       Psychoanalyse als Behandlungsmethode

2.2       Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit – mittlerweile überholt oder nach wie vor wertvoll?

2.2.1     Freie Assoziation: Methode der Selbstbeobachtung und Grundregel mit interaktivem Bezug

2.2.2     Was leistet die freie Assoziation?

2.2.3     Komplikationen – häufig zu Behandlungsbeginn

2.2.4     Die Angst des Analytikers vor der psychoanalytischen Methode

2.2.5     Seine eigenen Geschichten erzählen können

2.2.6     Differenzierungen

2.3       Gleichschwebende Aufmerksamkeit und andere Modi des Zuhörens

2.3.1     Gleichschwebende Aufmerksamkeit

2.3.2     Statt des Hörens mit dem dritten Ohr die konzentrierte Beobachtung des Assoziationsflusses – Zur Prozessanalyse von Paul Gray

2.3.3     Empathie in Form stellvertretender Introspektion

2.3.4     Intersubjektives Zuhören

2.3.5     Vor- und Nachteile der jeweiligen Modi des Zuhörens

2.4       Freie Assoziation und Zuhören: Künstliche Gesprächsform oder unschätzbares Erkenntnisinstrument?

2.5       Unterschiede zwischen Psychoanalyse, analytischer Psychotherapie und tiefenpsychologisch fundierter Therapie

3          Psychoanalytisch begründete Therapieverfahren – ein Überblick

3.1       Welche Patienten behandeln Psychoanalytiker gegenwärtig?

3.2       Psychoanalyse als hochfrequentes Standardverfahren

3.3       Überblick über psychoanalytisch begründete Therapieverfahren

3.4       Abgrenzungen und Missverständnisse: Überflüssige oder notwendige Stadien eines Professionalisierungsprozesses?

4          Diagnostik und Indikation

4.1       Diagnostik

4.2       Indikationsentscheidungen

4.2.1     Diskussion

4.2.2     Die Vielfalt diagnostischer Einschätzungen

4.2.3     Zum Problem der Geltungsbegründung diagnostischer Eindrücke

4.3       Zur Indikationsstellung – was ist zu beachten?

4.3.1     Indikation für eine Therapie nach den Psychotherapie-Richtlinien?

4.3.2     Therapie: Ja oder nein?

4.3.3     Kognitiv behaviorale Verfahren oder psychoanalytisch begründete Verfahren?

4.3.4     Analytische Psychotherapie oder tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie?

4.3.5     Weitere Indikationen

4.4       Schwierige Entscheidungen

5          Von der Oberfläche in die Tiefe

5.1       Die Oberfläche als Ausgangspunkt

5.2       Das präzise Verständnis der Oberflächen-Metapher

5.3       Die Oberfläche wird von Theorien bestimmt

5.3.1     Oberfläche bei Gill

5.3.2     Oberfläche bei Gray

5.3.3     Oberfläche bei Kris

5.3.4     Oberfläche bei Schwaber

5.4       Sich-Verlassen-Können auf die unbewusste Kommunikation?

6          Warum ist Veränderung so schwierig?

6.1       Zur Ubiquität von Abwehr und Widerstand

6.2       Die klassische Einteilung der Widerstände

6.3       Einige Aspekte zeitgenössischer Auffassungen über Widerstände

6.4       Sind alle Widerstände interaktionell?

7          Was heilt? Von der Übertragungsdeutung zum Umgang mit der interpsychischen Kommunikation – Veränderungsprozesse in der Psychoanalyse

7.1       Vom Archäologen und Detektiv zum intersubjektiven, miterlebenden Mitgestalter

7.2       Die Anfänge der Psychoanalyse: Übertragung und Gegenübertragung – Vom größten Hindernis zum mächtigsten Hilfsmittel

7.3       Psychoanalyse in Nordamerika: »Übertragungsdeutung only«

7.4       Ein neues Verständnis von Gegenübertragung

7.5       Mutative Übertragungsdeutungen, »lex talionis« und Invalidierung pathogener Überzeugungen

7.6       Das Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen dynamisiert sich – Einige Konzepte der Kleinianer

7.7       Nichtsprachliche Kommunikation als wertvolle Mitteilung und die Stärkung von Ich-Funktionen

7.8       Übertragungsdeutungen sind nicht immer hilfreich und angemessen

7.9       Sich-verwenden-Lassen und Empathie als Wundermittel?

7.10    Die intersubjektive Erweiterung der Selbstpsychologie

7.11    Implizites Beziehungswissen und Momente der Begegnung

7.12    Dyadische Bewusstseinserweiterung und interpsychische Kommunikation

7.13    Zwischen Affirmation und Aporie

Empfehlenswerte neuere Literatur mit kurzem Kommentar

Literatur

Sachregister

Personenregister

Vorwort

Zu allererst möchte ich Ruprecht Poensgen und dem Kohlhammer-Verlag ganz herzlich für die Inverlagnahme der umfangreichen Reihe zur »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert« danken. Psychoanalytisches Denken durchdringt zwar nahezu jede Faser eines aufgeklärten Menschen und doch ist es keineswegs nur beliebt. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass es uns auch immer wieder mit unliebsamen Fragen konfrontiert, die unserer Selbstliebe keineswegs schmeicheln, sondern uns auch in die Abgründe des Menschlichen und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit unserer Natur blicken lässt. Andererseits stellt die Beschäftigung mit individuell und gesellschaftlich unbewussten Prozessen auch eine große Bereicherung und Möglichkeit dar, sein Menschsein tiefgründiger verstehen zu können. Man muss diese Chance nur zu ergreifen wissen.

Wie immer danke ich den vielen Studierenden, Patienten, Lehranalysanden und Supervisanden, von denen ich seit nunmehr fast vierzig Jahren lernen konnte. Ohne ihre Verbundenheit wäre das Interesse an der Beschäftigung mit psychologischen bzw. psychoanalytischen Fragestellungen zwar nicht versiegt, aber die Freude am Schreiben wäre wohl um Einiges geringer ausgefallen. Bedanken möchte ich mich vor allem auch bei meiner Frau für ihre Unterstützung. Und ganz besonderer Dank ergeht an Celestina Filbrandt, die auch dieses Mal wieder das Manuskript mit besonderer Sorgfalt redigiert hat.

1        Veränderungen in der Theorie der psychoanalytisch begründeten Verfahren

Einführung

In diesem einführenden Kapitel gilt es zunächst, terminologische Fragen zu klären: Was ist in diesem Buch unter »psychoanalytisch begründeten Verfahren« zu verstehen? Welche politischen Auseinandersetzungen gehen mit der Wahl dieser Begrifflichkeit einher?

Im Anschluss daran sollen einige ausgesuchte Veränderungen in den für die Behandlungspraxis wichtigen psychoanalytischen Disziplinen skizziert werden. Haben die grundlegenden Konzepte und Auffassungen der psychoanalytischen Theorie der Behandlung in den zurückliegenden zwei bis drei Jahrzehnten wesentliche Veränderungen erfahren und wenn ja, welche? Und was folgt daraus für die Behandlungstechnik?

Lernziele

•  Einen Überblick über eine Kontroverse bei den psychoanalytisch begründeten Verfahren bekommen, die sich in den verwendeten Begrifflichkeiten äußert

•  Einige Veränderungen im Überblick kennen lernen, die in den zurückliegenden drei Jahrzehnten in der psychoanalytischen Theorie und Praxis stattgefunden haben

1.1       Terminologisches

Zunächst einmal ist ein terminologisches Problem zu klären, das wichtige Implikationen aufweist. In den Psychotherapie-Richtlinien (»PT-Richtlinien«) wird der Terminus »Psychoanalytisch begründete Verfahren« als Oberbegriff für die Gruppe der analytischen Psychotherapie (AP) und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (TP) verwendet.

Die analytische Psychotherapie (AP) wurde mit der Einführung als Kassenleistung im Jahr 1967 als eine Anwendungsform des psychoanalytischen Standardverfahrens beschrieben und hinsichtlich ihrer Bestimmungsstücke festgelegt. Sie umfasst 160 Stunden zwei- bis dreistündiger Therapie, wobei eine Verlängerung auf 240 Stunden, in Ausnahmefällen auch bis zu 300 Stunden erfolgen kann.

Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP, als ältere Abkürzung findet sich auch noch das Akronym tfP) wurde ebenfalls im Jahr 1967 in die Psychotherapie-Richtlinien als Alternativverfahren zur analytischen Psychotherapie eingeführt. Sie umfasst insgesamt 50 bis 80, maximal 100 Sitzungen. Die TP schließt als Sonderformen die folgenden weiteren Verfahren ein: Kurztherapie, Fokaltherapie, Dynamische Psychotherapie, Niederfrequente Therapie in einer längerfristigen Halt gewährenden therapeutischen Beziehung.

Ferner gibt es – und dies ist auf den ersten Blick verwirrend – die Bezeichnung der »Psychodynamischen Psychotherapien«, die im Jahr 2004 vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie ebenfalls als Oberbegriff für die analytische Psychotherapie und für die tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren eingeführt wurde. Mit dieser Bezeichnung ergibt sich somit ein Gegensatz zum Begriff der psychoanalytisch begründeten Verfahren, der in den Psychotherapie-Richtlinien der Oberbegriff für die beiden genannten Verfahren ist.

Dieser Gegensatz zwischen der Terminologie der Psychotherapie-Richtlinien und derjenigen des Wissenschaftlichen Beirats deutet bereits Einiges über das Spannungsfeld an, in dem sich psychoanalytische Psychotherapeuten derzeit bewegen: Sollen sie sich als Psychoanalytiker begreifen oder als Psychodynamiker? Was spricht für die eine und was für die andere Auffassung? Soll die Bezeichnung des Wissenschaftlichen

Tab. 1.1: Verschiedene Oberbegriffe für Analytische und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Beirats deutlich machen, dass die aus dem Standardverfahren abgeleiteten Verfahren sich so weit von diesem entfernt haben, dass es nicht mehr zeitgemäß erscheint, den Oberbegriff »Psychoanalytisch begründete Verfahren« zu benützen, wie es den Kommentatoren der Psychotherapie-Richtlinien immer noch als sinnvoll erscheint? Klingt die Bezeichnung »psychodynamisch« umfassender und moderner, US-amerikanisch? Tatsächlich kennen amerikanische Psychoanalytiker den Begriff der »Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie« nicht und sprechen, ohne allerdings völlig Vergleichbares damit zu bezeichnen, von »psychodynamic therapy«.

Der Ausdruck »Tiefenpsychologie« erscheint vielen als veraltet, weil die Raummetapher der »Tiefe« kein wissenschaftliches Konzept oder gar eine wissenschaftliche Disziplin begründen könne. Deswegen sollte ihrer Auffassung nach die Bezeichnung »Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie« am sinnvollsten durch »Psychodynamische Psychotherapie« ersetzt werden. Mit zu dieser Bezeichnung beigetragen hat wie gesagt auch der Umstand, dass der Ausdruck »tiefenpsychologisch« in der nordamerikanischen Psychoanalyse nicht gebräuchlich ist und sich dort die Bezeichnung »psychodynamic« für all jene Verfahren eingebürgert hat, die nicht im engeren Sinn psychoanalytisch sind, sondern eher »psychoanalysis light« darstellen (vgl. z. B. Cabaniss et al., 2011). Zudem werden unter »psychodynamisch« zunehmend auch solche Verfahren subsumiert, die ursprünglich nicht dem psychoanalytischen Denken entstammen.

Ganz schön verwirrend alles, oder? Aber diese Verwirrung lässt uns auch teilnehmen an den gegenwärtigen berufspolitischen Kontroversen zwischen unterschiedlichen Traditionen, Interessensvertretungen und Verbänden, aber auch teilweise ungelösten Problemen.

Machen wir uns kurz klar, woher die Bezeichnung psychodynamisch kommt und was sie ursprünglich bedeutet hat. Sie stammt von keinem Geringeren als von Sigmund Freud, der allerdings noch nicht von »psychodynamisch« gesprochen hat, sondern von »dynamisch«. Diese Charakterisierung stellte für ihn das wichtigste und zentralste Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse dar. Er thematisierte psychische Phänomene unter drei metapsychologischen Koordinaten oder Gesichtspunkten, der Dynamik, Ökonomik und Topik:

»Die Psychoanalyse als Tiefenpsychologie betrachtet das Seelenleben von drei Gesichtspunkten, vom dynamischen, ökonomischen und topischen. In ersterer Hinsicht führt sie alle psychischen Vorgänge – von der Aufnahme äußerer Reize abgesehen – auf das Spiel von Kräften zurück, die einander fördern oder hemmen, sich miteinander verbinden, zu Kompromissen zusammentreten usw. Diese Kräfte sind ursprünglich alle von der Natur der Triebe, also organischer Herkunft, durch ein großartiges (somatisches) Vermögen (Wiederholungszwang) ausgezeichnet, finden in affektiv besetzten Vorstellungen ihre psychische Vertretung« (Freud, 1926f, S. 301).

Freud drückte die seelischen Kräfte dem damaligen wissenschaftlichen Zeitgeist entsprechend in Metaphern physikalischer Energie und der Hydromechanik aus. Jede Wissenschaftlergeneration kleidet ihre erfahrungsfernen Konstrukte in Metaphern. Bei Freud galt die Physik als Leitwissenschaft. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Informations- und Computerwissenschaft ihren Siegeszug antrat, verwendete man Computermetaphern, bis die Biologie zur Leitwissenschaft wurde und man entdeckte, dass auch die bisherigen Computermetaphern unzureichend sind, weil das informationsverarbeitende Gehirn immer verkörpert, »embodied« ist. Dabei erfolgen die metapsychologischen Perspektivierungen auf einem hohen Abstraktionsniveau, sind aber für die Konzeptualisierung mentaler Daten unerlässlich, will man nicht bei lediglich phänomennahen Beschreibungen stehen bleiben. Man könnte diese Gesichtspunkte auch als Konstrukte bezeichnen, die über die reine Beobachtbarkeit hinausgehen, aber natürlich auch immer einen Referenzpunkt in dieser aufweisen müssen. Jede fortgeschrittene Wissenschaft arbeitet selbstverständlich mit Konstrukten unterschiedlicher Abstraktionsstufen.

Mit der dynamischen Perspektive distanzierte sich Freud vor allem von einer Betrachtungsweise, bei der seelische Konflikte auf eine degenerative Erbanlage oder angeborene Unzulänglichkeiten zurückgeführt wurden. Vielmehr kommen in ihnen widerstreitende Seelenkräfte zum Ausdruck, die sich dem ständigen Wirken unbewusster Triebe, wie Selbsterhaltung und Sexualtriebe, Psychosexualität und Aggression, verdanken. Freud (1915e) unterschied in topischer Hinsicht zwischen dem deskriptiven und dem dynamischen Unbewussten. Sein Hauptinteresse galt dem dynamischen Unbewussten, nicht dem vorübergehend nicht Erinnerbaren, dem Vorbewussten.

Das dynamische Unbewusste ist kausal wirksam. Es ist somit nicht einem Archiv abgelagerter Erinnerungseindrücke vergleichbar, sondern es steht im ständigen Kontakt zum Bewusstsein, versucht auf Umwegen, mittels so genannter Abkömmlinge kontinuierlich Zugang zum Bewusstsein zu finden und sich Geltung zu verschaffen. Im Traumbewusstsein gelingt dies scheinbar mühelos, allerdings auch nur in maskierter Form. Dieser ständige Kontakt dynamisch unbewusster Prozesse mit bewussten Vorgängen des Wahrnehmens, Erinnerns, Denkens ist wiederum für eine psychoanalytische Betrachtungsweise konstitutiv.

Mit der Entwicklung des strukturellen Denkens in Das Ich und das Es postulierte Freud (1923b), dass auch Teile des Ichs, wie die Abwehrmechanismen, im dynamischen Sinn unbewusst sind wie auch das Überich, das als ein Generationen übergreifender Bestand der familiären Werte, modifiziert durch individuelle projektive Vorgänge zu betrachten ist. Auch Überich-Regungen können deshalb unbewusst sein und einen erheblichen Einfluss auf die Dynamik seelischer Konflikte ausüben. Unbewusste Sühnehandlungen, Unfallneigungen, falsche Partner- und Berufswahl bis hin zum kriminellen Agieren (»Verbrecher aus Schuldgefühl«) sind bekannte Beispiele Freuds hierfür. Auch das Wirksamwerden der Signalangst, die zum Vermeiden von Schuld- und Schamangst auslösenden Handlungen führt, ist ein unbewusster Vorgang.

In späteren Versionen der Ichpsychologie stellen jede Handlung, jedes Symptom und jeder Traum immer eine Kompromissbildung aus triebhaften Impulsen, Überich-Normen, Ängsten, Abwehrprozessen und den Anforderungen der jeweiligen Situation bzw. Realität dar. Die zuletzt genannten Erscheinungen implizieren selbstverständlich auch einen adaptiven und einen systemischen Gesichtspunkt.

Was folgt aus diesem Exkurs nun für die Betrachtung der eingangs aufgeworfenen Frage?

Der vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie eingeführte Oberbegriff der »Psychodynamischen Psychotherapien« hat die Absicht, die in manchen Kreisen mittlerweile als veraltet oder als zu eng geltende Bezeichnung »Psychoanalyse« zu vermeiden. Für Außenstehende wirkt der Begriff »psychodynamisch« offenbar zeitgemäßer und moderner. Psychoanalyse bliebe dann aber nur noch ein untergeordnetes Verfahren, nicht jedoch der Ursprung von allem. Unbekannt bleibt für Viele dabei auch, dass Freud die zentrale Betrachtungsweise psychischer Prozesse wie ausgeführt dynamisch begründet hat. Und wir haben gehört, dass in den USA aus dem dynamischen Gesichtspunkt und der »deep psychology« dann irgendwann der Terminus »psychodynamic« wurde.

Ein weiterer Grund für dieses offensichtliche »Updating« ist, dass in der psychotherapeutischen Versorgung diejenigen Therapeuten, die tiefenpsychologisch fundierte Therapieverfahren praktizieren, gegenüber den analytischen Psychotherapeuten seit dem Inkrafttreten des Psychotherapeuten-Gesetzes im Jahr 1999 eindeutig in der Überzahl sind, und dass sich viele von ihnen aufgrund berufspolitischer Gründe von der »Mutter Psychoanalyse« endlich emanzipieren wollen, um nicht mit der angeblich veralteten, aber auch standespolitisch immer noch als mächtig wahrgenommenen Psychoanalyse in einen Topf geworfen zu werden. Diese Loslösungs- und Individuationsbewegung gleicht aber in mancherlei Hinsicht dem Hin- und Hergerissensein von Frühadoleszenten: Zum einen wollen sie bereits weitgehend selbstständig sein, zum anderen sind sie aber noch sehr auf ihre Eltern angewiesen und ohne sie genau genommen nicht überlebensfähig. Allerdings muss diese Abhängigkeit kräftig verleugnet werden, denn sie täte dem Selbstwertgefühl des Heranwachsenden überhaupt nicht gut. Aber wie kann man tiefenpsychologisch oder psychodynamisch argumentieren und vor allem auch qualifiziert behandeln, wenn man nicht über den Wissensschatz der Arbeitsweisen unbewusster Prozesse, der Entstehung von Konflikten, der Auswirkungen und Verarbeitungen von Traumatisierungen, der vielfältigen Abwehrmodalitäten, der Entstehung von Persönlichkeitszügen, entwicklungspsychologischer Abfolgen, der Wirkungsweise unbewusster Abwehrvorgänge, des Erkennens und Durcharbeitens von Widerständen u. a. m. verfügt? All diese Themen bilden aber den genuinen Erfahrungsschatz der Psychoanalyse, der sich im 20. Jahrhundert weltweit entwickelt, konsolidiert und diversifiziert hat. Nur wenn man aus Unkenntnis oder aus berufspolitischen Gründen die Psychoanalyse auf das Werk Freuds begrenzt, hätte man mit der Auffassung Recht, dass man sich von dieser »veralteten« Form der Psychoanalyse distanzieren und eine moderne, auch »evidenzbasierte« Form der psychodynamischen Therapie vertreten müsse. Denn tatsächlich ist Einiges von Freuds ursprünglichen Auffassungen heutzutage nicht mehr vertretbar. Und solange eine kaum mehr überschaubare Pluralität psychoanalytischer Richtungen, Minitheorien und Modelle besteht, kann man auch wiederum diejenigen Kollegen verstehen, die eine operationalisierte Begriffssprache und handhabbare psychodynamische Manuale der schwer zu durchdringenden Komplexität psychoanalytischer Begriffe und Konzepte vorziehen. Und schließlich lässt sich auch nicht übersehen, dass die Nachfrage nach zeitlich begrenzten und auf Symptomreduktion abzielenden Verfahren sehr hoch ist, deren Evidenzbasierung zudem leichter zu erreichen ist als bei Langzeittherapien.

1.2       Veränderungen

Es wäre aber mehr als verwunderlich, wenn sich psychoanalytisches Wissen im 20. Jahrhundert nicht kontinuierlich weiterentwickelt hätte. Wenn viele Außenstehende ihr attestieren, dass sie ja immer noch an den ursprünglichen Freud’schen Positionen festhalte, dann scheinen diese Personen so gut wie nichts von dieser Weiterentwicklung mitbekommen zu haben oder zu wollen.

Natürlich spielen hierbei auch Wissenslücken selbst bei solchen Menschen eine Rolle, die dem psychoanalytischen Projekt der Aufklärung durchaus wohlgesonnen sind: So konnte man in einem Gespräch zwischen dem Hirnforscher Gerhard Roth und dem Psychoanalytiker Otto Kernberg im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im Jahre 2014 lesen, dass Roth anzweifelte, ob die Psychoanalyse ausreichend wirkungsvoll sei, da sie ja nur auf Prozesse der Einsicht abziele. Worin könnte hierbei die Wissenslücke bestehen?

Schon Freud verglich in einer fiktiven Ansprache an Ärzte, die seine junge Wissenschaft Psychoanalyse ohne genauere Kenntnisse lediglich nach dem Hörensagen anwendeten, wenn sie zum Beispiel glaubten, neurotische Symptome allein durch das Benennen kindlicher Konflikte und Traumata beseitigen zu können, mit dem Austeilen von Menükarten an Hungernde in Zeiten einer Hungersnot. Nur die Berücksichtigung der Beziehung und der Arbeit mit der Übertragung und dem Widerstand, also nur eine emotional fundierte, beziehungsmäßig und körperlich basierte therapeutische Anstrengung kann zu einer schrittweisen Verbesserung seelischer Leidenszustände führen. Dies ist aber mit anderen Worten ausgedrückt genau das, was Roth im Gespräch mit Kernberg äußert und anmahnt: Veränderungen sind das Ergebnis eines langwierigen und durchaus auch mühseligen Prozesses, in der es zunächst zu einer intensiven Bindung zwischen Patient und Therapeut kommen muss. Ohne diese gefühlshafte Bindung werden keine unbewussten Lernvorgänge aktiviert, die wiederum die Voraussetzung für die Veränderung von bereits früh gelernten Gefühlsgewohnheiten im limbischen System sind (vgl. »Der Spiegel« 2014, Heft 7, S. 131 f.). Kognitive Einsicht in einer eher funktionalen und zweckinstrumentellen Beziehung alleine, wie sie lange Zeit von der Kognitiven Verhaltenstherapie favorisiert wurde, kann nach Roth nicht zu den gewünschten Veränderungen führen, sondern ein Patient muss auf intensive Weise emotional ergriffen werden. Aus diesem Grund betonte Freud vor mehr als einem Jahrhundert, wie wichtig die Arbeit mit der Übertragung sei (Kap. 7).

Es ist nun in der Kürze, die dieser Einführungsband mit sich bringt, nicht möglich, auf all die verschiedenen Entwicklungen der Psychoanalyse seit Freuds Tod vertieft einzugehen. Im Folgenden werden deshalb nur einige der in den letzten 20 bis 30 Jahren erfolgten wichtigsten Veränderungen in der Theorie und Praxis der Psychoanalyse skizziert, so weit sie für das vorliegende Thema von Interesse sind (weitere Literatur z. B. Eagle, 2012, Ehlers & Holder, 2009, Küchenhoff, 2010, Westen & Gabbard, 2002a, b).

1.2.1     Veränderungen in der Persönlichkeitstheorie der Psychoanalyse

•  Die rasch expandierende Bindungstheorie trug dazu bei, dass die Beschaffenheit von frühen Mutter-Kind-Interaktionen nicht nur empirisch gut nachvollziehbar wurde, sondern auch die – vor allem von Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie postulierte – wichtige Rolle der Mutter in den ersten Lebensjahren beim Aufbau von Bindungssicherheit eine empirische Bestätigung erhielt (z. B. Brisch et al., 2002). Die Konzentration auf die gut messbaren Bindungsverhaltensweisen führte aber auch zu einem deutlichen Defizit hinsichtlich des Verstehens des menschlichen Phantasielebens, das nicht nur aus Bindungsthemen und den unmittelbaren und sichtbaren Resultaten der Eltern-Kind-Interaktion besteht

•  Dieser erkennbare Mangel wurde in den letzten Jahren zu beheben versucht, indem über den Zusammenhang von Bindung und Psychosexualität neue Hypothesen entwickelt wurden (z. B. Widlöcher, 2002, Diamond, 2007, Target, 2007, Müller-Pozzi, 2008, Strauß et al., 2010, Fonagy, 2011)

•  Die zweite Generation der Bindungsforschung unter psychoanalytischen Vorzeichen schuf ebenfalls wichtige Erkenntnisse über die Entwicklung des Mentalisierungsvermögens und der Theorie des Geistes (z. B. Fonagy et al., 2004)

•  Das Konzept der allgemeinen Verführungstheorie von Laplanche und damit des grundlegenden Primats des Anderen ermöglichte eine intersubjektive Erweiterung der aus psychoanalytischer Sicht nach wie vor grundlegenden Dimension menschlicher Psychosexualität (z. B. Laplanche, 1996, Müller-Pozzi, 2008, 2012, 2014, Gammelgaard & Zeuthen, 2010, Scarfone, 2014)

•  Ebenfalls in die Richtung der Dekonstruktion des Triebs als einer biologisch vorgegebenen Naturkategorie zielten die Arbeiten von Lorenzer. Triebe werden in prä- und postnatalen Interaktionen vom physiologischen Körpersubstrat des Fetus/Säuglings und dem mütterlichen Organismus hergestellt; die Triebstruktur entsteht deshalb immer innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation (z. B. Lorenzer, 1972, Busch, 2001).

1.2.2     Veränderungen in der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie

•  Die Arbeiten der dritten und vierten Generation entwicklungspsychologisch orientierter Psychoanalytiker, wie z. B. John Bowlby, Robert N. Emde, Peter Fonagy, Joseph Lichtenberg, Allan Schore, Daniel Stern führten zu einer Korrektur und Differenzierung früherer Modelle und Konzepte (z. B. Palombo, 2009, Kapfhammer, 2014, Staats, 2021a, b).

•  Die zunehmende Überzeugung, dass menschliche Entwicklungsprozesse nicht linear, sondern nonlinear konzeptualisiert werden müssen (z. B. Meissner, 2000, Mayes, 2001, Sander, 2002, Tyson, 2002, Galatzer-Levy, 2004, Knight, 2011) führte zu einer Revision von rekonstruktiv genetischen und entwicklungspsychologischen Annahmen. Nicht nur die Pubertät stellt eine Chance für Veränderungen des in der (frühen) Kindheit Erlebten dar, sondern jede Entwicklungsphase ist offen gegenüber Veränderungsimpulsen. Diese viel größere Bereitschaft für Destabilisierungen schafft die Voraussetzung für ein kontinuierlich emergentes Wachstum und befreit Kliniker – zumindest teilweise – von der angestrengten Suche nach dem Früheren und Regressiven. Auf diese Weise kann auch der Analytiker zu einem neuen »Entwicklungsobjekt« werden (Abrams & Solnit, 1998)

•  Der trieb- und objektbeziehungstheoretischen Sichtweise des ödipalen Konflikts wurden kognitive Theorien der Denk- und Theory of Mind-Entwicklung an die Seite gestellt; dies hat z. B. zur Folge, dass seine Auflösung oder sein »Niedergang« nicht mehr so selbstverständlich erscheint wie von der klassischen Psychoanalyse behauptet (z. B. Brüggen, 2005, Fonagy, 2010, Fosshage, 2010)

•  Weitere weibliche Versionen des Ödipuskomplexes wurden entworfen, wie z. B. der Kore-Persephone-Komplex, um der spezifischen Entwicklung des Mädchens Rechnung zu tragen; diese aus der Mythologie entnommenen Konfliktkonstellationen dürfen aber nicht als generelle Gesetzmäßigkeiten, sondern lediglich als eine der vielen Varianten von Mutter-Tochter-Konflikten betrachtet werden (z. B. Kulish & Holtzman, 1998, Flaake, 2001, Silverman, 2012)

•  Neuere Konzepte und Überlegungen zur Bedeutung der frühen Triangulierung des Jungen für die männliche Identitätsbildung entstanden (z. B. v. Klitzing, 2002, Blaß, 2010, Diamond, 2010, Hopf, 2014)

1.2.3     Veränderungen in der Allgemeinen und Speziellen Krankheitslehre

•  Symptome, neurotisches und psychosomatisches Erleben, beeinträchtigte zwischenmenschliche Beziehungen wurden noch konsequenter als individuelle Kompromissbildungen aufgefasst. In diesen wird eine Balance von Wohlbehagen, Selbstakzeptanz und Sicherheit und gleichzeitiger Vermeidung von depressiver Angst, Scham und Schuld angestrebt, wobei die Anpassung an die jeweilige äußere Realität hierbei ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt (z. B. Busch, 1995, Steiner, 1998, Abend, 2005)

•  Einem Verdrängungsmodell wurde ein Dissoziationsmodell an die Seite gestellt. Sprachlich symbolische Repräsentanzen bleiben im pathologischen Fall von subsymbolischen Emotionsschemata dissoziiert (z. B. Bucci, 2007a, b). An die Stelle der Aufhebung von Verdrängungen tritt die transformierende Arbeit: Körperliche Emotionsempfindungen werden mit symbolischen Repräsentanzen verknüpft und dadurch erst in einem »psychischen Innenraum« verwörterbar (s. u.)

•  Der Stellenwert des ödipalen Konflikts wurde relativiert: Am übersichtlichsten hat die Arbeitsgruppe OPD diese Entwicklung zusammengefasst und neben dem ödipalen Konflikt sechs weitere unterschieden (Arbeitsgruppe OPD, 2006)

•  Die unfruchtbare Polarisierung von Konflikt und defizitärer Ich-Entwicklung, aber auch von Konflikt und Trauma wurde beendet (z. B. Weinshel, 1990, Busch, 2005)

•  Auf die epidemiologischen Befunde über eine Zunahme von Patienten mit niedrig strukturierten Ichfunktionen (z. B. Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Patienten mit einer paranoid-schizoiden Organisation) wurde mit einer Modifizierung der psychoanalytischen Standardvorgehensweise und der Entwicklung diverser, aus der Psychoanalyse abgeleiteter Therapieverfahren reagiert (s. z. B. Kernberg et al., 2000, Rudolf, 2004, Streeck, 2004 u. Kap. 3)

•  Die Diagnose und Behandlung von Perversionen wurden vom »Reifungsziel« der Heterosexualität und moralistischen Konnotationen befreit (z. B. Kulish & Holtzman, 2014, Phillips, 2014)

•  Die Wiederentdeckung des Freud’schen Konzepts der Aktualneurose als Somatisierungsstörung, chronisches Erschöpfungssyndrom (»Burnout«) und als Ausdruck mangelhafter Symbolisierung und Mentalisierung führte zu einem neuen Verständnis psychosomatischer Erkrankungen im Kontext der zeitgenössischen Bindungstheorie (z. B. Hartocollis, 2002, Solano, 2011)

•  Somatoforme Störungen lassen sich als somatische Äquivalente einer Angststörung und/oder einer Depression verstehen (z. B. Verhaeghe et al., 2005, 2007)

•  Borderline-Persönlichkeitsstörungen weisen Mentalisierungsdefizite in bestimmten Affektkategorien auf (z. B. Lecours & Bouchard, 2011).

1.2.4     Veränderungen in der psychoanalytischen Theorie der Behandlung

•  Es setzte sich immer stärker die Erkenntnis durch, dass der diagnostische Prozess ein multidimensionales Vorgehen erfordert und viele Urteilsfehler aufweisen kann. So laufen eindimensionale psychogenetische Schablonen – wie zum Beispiel Mangel an Empathie, fragmentiertes Selbst, schlechte Bemutterung, unaufgelöste Symbiose, abwesender Vater, beeinträchtigte Triangulierung, gestörte ödipale Phase, unaufgelöste Bindung an einen Elternteil, narzisstische und sexuelle Traumatisierung – Gefahr, der Nonlinearität und Komplexität menschlicher Entwicklung nicht ausreichend Rechnung zu tragen (z. B. Rubovits-Seitz, 1998)

•  Das Konzept der Analysierbarkeit des Patienten verlor an Bedeutsamkeit, die subjektive Indikationsstellung sowie die Passung zwischen Analytiker und seinem Patienten und das bereits in den probatorischen Sitzungen sich einstellende Arbeitsbündnis wurden zu wichtigen prognostischen Variablen des Therapieerfolgs (z. B. Safran et al., 2009, Danckwardt, 2014)

•  Das archäologische Denken ebenso wie das Konzept der historischen Wahrheit wurden zunehmend kritisiert; das Kriterium der narrativen Wahrheit rückte an dessen Stelle (z. B. Mertens & Haubl, 1996, Kettner, 2014), was u. a. zu der Auffassung führte, dass die Vergangenheit nur insoweit wichtig ist, als sie sich im Hier und Jetzt äußert (z. B. Fonagy, 1999, Bornstein, 2010)

•  Das Auftauchen neuer Erinnerungen dient folglich nicht mehr in erster Linie der Rekonstruktion der Vergangenheit als vielmehr einer Validierung der Interpretation im Hier und Jetzt. Rekonstruktionen werfen Licht auf die Gegenwart, um das Verständnis der Gegenwart zu erleichtern (z. B. Sandler & Sandler, 1994)

•  Die metaphorisch als Tätigkeit eines Detektivs bezeichnete Tiefenhermeneutik (»Hermeneutik des Verdachts«, Ricoeur) verlor gegenüber Metaphern des »Haltens« und »Containens« und v. a. auch gegenüber der Transformationsarbeit bezüglich bislang unsymbolisierter und unrepräsentierter psychischer Erfahrungen an Bedeutung (z. B. Haubl & Mertens, 1996, Lachmann, 2008, Lecours, 2007, Sugarman, 2006)

•  Die Symbolisierung von bislang nur sensomotorisch und körperlich sowie handlungssprachlich erlebten Phänomenen und deren Transformation in symbolisierbare und reflexionsfähige Repräsentanzen wurde zu einem intensiven behandlungstechnischen Anliegen (z. B. Freedman & Russell, 2003)

•  Der Psychoanalytiker wurde nicht nur als Übertragungsobjekt bedeutsam, sondern ebenso als Entwicklungsobjekt, an das neue entwicklungsfördernde, reparative und hoffnungsvolle Wünsche gerichtet werden (z. B. Täkhä, 1993, Walter, 2010, Mertens, 2011).

•  Der Analytiker wurde noch viel stärker in seiner Subjektivität und als Person herausgefordert: Konzepte wie »ästhetische Erfahrung«, »Performanz« und »Verwandlungsobjekt« machten deutlich, wie wichtig es ist, dass sich der Analytiker, emotional ergreifen und berühren lässt (z. B. Bollas, 1997, Hübner, 2006, Pflichthofer, 2014)

•  Mit Bion beginnend wurde die Intersubjektivität in der Analytiker-Patient-Beziehung zunehmend betont (Orange et al., 2001, Altmeyer & Thomä, 2006, Ermann, 2014)

•  Die verborgenen cartesianischen Überreste wurden identifiziert und ihr Einfluss auf das Freud’sche und Post-Freud’sche Denken aufgezeigt, wie z. B. die Entwertung des Nichtsprachlichen als Agieren (Klüwer, 1995, Boston Change Process Study Group, 2002)

•  Die leibliche Dimension sowohl des Patienten als auch des Analytikers (seine »verkörperte gleichschwebende Aufmerksamkeit«) erfuhr eine noch stärkere Beachtung (z. B. Geißler & Heisterkamp, 2007, Scharff, 2010)

•  Ein zunehmendes Wissen darüber, dass die Affekt-Kommunikation unsere »primäre Sprache« darstellt, setzte sich immer mehr durch. Wenn man diese Erkenntnis auf die therapeutische Situation anwendet, dann ist die Affektkommunikation ein impliziter und expliziter Bestandteil aller therapeutischen Interventionen und somit von maßgeblicher Bedeutung für den Verlauf und das Ergebnis einer Therapie (z. B. Grossmann, 2009, Stern, 2011)

•  Neben die verbale Domäne der analytischen »Sprechkur« rückten die impliziten relationalen Phänomene immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit (z. B. Stern et al., 1998, Moser, 2001, Harrison, 2014)

•  Die Erkenntnis wurde immer wichtiger, dass im Prozess der analytischen Therapie kontinuierlich neue Bedeutungen hergestellt werden und sich ein Patient immer stärker als Schöpfer einer Polysemie von Bedeutungen erleben kann (Harrison & Tronick, 2011 u. Kap. 7)

•  Es wurde zunehmend deutlich, dass nonverbale/körperliche Kommunikationsvorgänge in Bruchteilen von Sekunden vor sich gehen, nicht bewusst zu werden brauchen und dennoch wichtige Veränderungsprozesse erzeugen können (z. B. Westen & Gabbard 2002 u. Kap. 7)

•  Es wurde postuliert, dass die Bedeutungen von Handlungen keineswegs nur sprachlich symbolischer Natur sind und demzufolge alle Veränderungsprozesse mittels sprachlicher Deutung geschehen, sich somit im Bereich des deklarativen, expliziten Gedächtnisses abspielen, sondern dass Bedeutungen bereits schon sehr früh im nichtsprachlichen Bereich entstehen (Boston Change Process Study Group, 2002)

•  Die Einseitigkeit eines ausschließlich psychoanalytischen Vorgehens wurde als zu wenig patientenadaptiert kritisiert; vormalige Polarisierungen zwischen dem analytischen Standardverfahren und der analytischen Psychotherapie sowie der tiefenpsychologisch fundierten/psychodynamischen Psychotherapie werden eher als Kontinua betrachtet (z. B. Wallerstein, 1990a, Lecours, 2007, Mertens, 2009 u. Kap. 3)

•  Die ausschließliche Konzentration auf die intrapsychische Realität als genuin psychoanalytische Domäne wurde vor allem von interpersonellen, relationalen und intersubjektiven Richtungen als zu eng eingeschätzt; auch das Wechselspiel von interpersonellen und intrapsychischen Phänomenen ist selbstverständlich Gegenstand des Analysierens (z. B. Mitchell, 2003, Wachtel, 2008)

•  Das Analysieren im Hier und Jetzt wurde immer wichtiger sowie die genaue Betrachtung der subjektiven Einflüsse der Person des Analytikers auf den psychoanalytischen Prozess, die als unvermeidbar angesehen werden (z. B. Renik, 1993)

•  Dem vorübergehenden »Mitagieren« in der Inszenierung des Analysanden wurde von immer mehr Analytikern der Gegenwart eine stärkere Aufmerksamkeit gewidmet (z. B. Carpy, 1989, Ginot, 2009); früher galt es, dieses tunlichst zu vermeiden

•  Das Konzept des neutralen Analytikers wurde zunehmend mehr in Frage gestellt (z. B. Zwiebel, 2004, Schneider, 2012)

•  Immer stärker setzte sich die Erkenntnis durch, dass Veränderungen überwiegend dann geschehen, wenn vor allem emotionale Vorgänge angesprochen und berührt werden, die als implizite Lern-, Gedächtnis- und Affektregulierungsprozesse bezeichnet werden (Stern, 2005, Schore, 2007)

•  Die Konzepte der Regression und der Übertragungsneurose wurden differenzierter betrachtet (Körner & Rosin, 1992, Aron & Bushra, 1998)

•  Es entstanden aus dem Standardverfahren abgeleitete Therapien, wie z. B. auf spezielle Krankheitsgruppen zugeschnittene, z. T. auch manualisierte Verfahren, die aber nach wie vor auf dem begrifflichen Instrumentarium der Psychoanalyse beruhen (z. B. Luborsky, 1995, Milrod et al., 1997, Bateman & Fonagy, 2004, Caligor et al., 2007)

•  Neue Konzeptualisierungen über kognitive Ich-Funktionen ließen innovative Möglichkeiten entstehen, mit Patienten, die wenig selbstreflexive Fähigkeiten aufweisen und eher zum handlungsorientierten und konkretistischen Denken neigen, modifiziert psychoanalytisch arbeiten zu können (z. B. Busch, 1996, Streeck, 2004, Sugarman, 2006, Tuch, 2007)

•  Das Interesse an Psychotherapieforschung nahm weiterhin zu; es wurden Forschungseinrichtungen gegründet und zahlreiche Projekte durchgeführt (z. B. Levy, Ablon & Kächele, 2012); psychodynamische Langzeittherapien zeigten gute bis sehr gute und vor allem nachhaltige Behandlungsergebnisse (z. B. Shedler, 2011, Huber et al., 2012)

•  Forschungsergebnisse wiesen darauf hin, dass die Persönlichkeit des Therapeuten sowie die Beziehung zwischen ihm und seinem Patienten (zwei psychoanalytische Essentials) den größten Varianzanteil an Veränderungen in Meta-Analysen erklären (Wampold, 2001, Orlinsky, 2008)

•  Es erfolgte eine Auffächerung der Wirkfaktoren angesichts interdisziplinärer Befunde; die (klassische) Übertragungsdeutung verlor an Bedeutung (z. B. Gabbard & Westen, 2003)

•  Der mimische Affektausdruck wurde seit den Forschungsarbeiten von Rainer Krause und seinen Mitarbeitern zu einem wichtigen Bestandteil der Psychotherapieforschung (z. B. Benecke, 2014)

•  Es fand ein Bewusstwerden darüber statt, dass die in Deutschland aus der Richtlinien-Psychotherapie heraus begründeten Abgrenzungen zwischen den verschiedenen psychoanalytisch begründeten Verfahren sich mehr bürokratischen Erfordernissen verdanken als klinischen Notwendigkeiten (Danckwardt & Gattig, 2011a, b)

•  In den zurückliegenden 30 Jahren wurden vor allem in den USA eine Anzahl von Symposien durchgeführt und Zeitschriftenartikel veröffentlicht, in denen aufgezeigt wurde, in welchem Ausmaß implizite und explizite theoretische Konzepte das behandlungspraktische Vorgehen bestimmen (z. B. Silverman, 1987, Kernberg & Bohleber, 1998)

•  Neben einer Würdigung der Vielfalt der pluralen Richtungen (z. B. Zwiebel, 2013) begann auch eine Suche nach dem common ground (z. B. Wallerstein, 1990b)

•  Hierzu war es notwendig die impliziten Modellannahmen und Mini-Theorien zu explizieren, die in einer komplexen Interaktion mit den öffentlich vertretenen Theorien stehen (z. B. Canestri, 2006, Bohleber, 2007, Will, 2008, Mertens, 2010–2012)

•  Dabei richtete sich das Interesse immer stärker darauf, wie Analytiker tatsächlich arbeiten, egal ob sie sich als Post-Ichpsychologen, Selbstpsychologen, Kleinianer oder als psychoanalytische Pluralisten bezeichnen (z. B. Tuckett, 2012)

•  Die zeitgenössische Pluralität und die Herausarbeitung eines empirischen Common ground führt auch zu einer immer stärkeren Berücksichtigung von Befunden aus angrenzenden Nachbarwissenschaften (z. B. Gabbard & Westen, 2003, Leuzinger-Bohleber, 2007)

•  Die Bereitschaft, sich mit interdisziplinären Theorien und Befunden auseinanderzusetzen, wurde als dringende Notwendigkeit betrachtet. Die vorübergehende – im Rahmen der »hermeneutischen Wende« in den 1980er-Jahren erfolgte – ausschließliche Beschäftigung mit dem klinischen »Wie-macht-man-es?«-Aspekt wurde immer mehr als Rückzug von dem Anspruch betrachtet, Psychoanalyse auch (wieder) als eine wissenschaftliche Disziplin aufzufassen und zu betreiben und nicht nur als therapeutische Kunst, von denen es mittlerweile unüberschaubar viele gibt (z. B. Moser, 2009)

1.3       Anstöße von anderen Disziplinen

Von Beginn an stand Freuds Psychoanalyse im Austausch mit einschlägigen Nachbarwissenschaften, wie der Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, Theologie, Evolutionstheorie sowie den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften. Dieser Umstand ergab sich allein schon deshalb, weil sich Freud in einer fast enzyklopädischen Belesenheit mit fachlichen Autoritäten aus vielen Wissensgebieten von Anfang an auseinandergesetzt hat. Patrizia Kitcher (1995) prägte deshalb den Ausdruck vom »interdisziplinären Traum« Freuds.

Auch wenn der Fortschritt in den genannten Wissenschaften kaum mehr überblickbar ist, so gibt es dennoch wichtige interdisziplinäre Anschlüsse, von denen hier überwiegend aus Platzgründen allerdings nur ein kleiner Teil genannt werden kann.

1.3.1     Aus den Sozial- und Kulturwissenschaften

•  Die Gender-Perspektive, die in der Psychoanalyse bereits in den 1920er-Jahren mit den ersten Schriften feministisch orientierter Psychoanalytikerinnen begann, erfuhr hierzulande vor allem durch die Arbeiten von Christa Rohde-Dachser (z. B. 1991) einen kräftigen Anschub (z. B. Mens-Verhulst et al., 1996, Flaake, 2001, Kulish, 2010, King, 2014)

•  Die »neosexuelle Revolution« führte zu einer Relativierung der klassischen psychosexuellen Gesundheits- und Reifekriterien von Genitalität (z. B. Friedman & Downey, 2002)

•  Eine stärkere Berücksichtigung von kulturell und gesellschaftlich verankerten Vorstellungen von Männlichkeit kann fest verankerte, nur dem Anschein nach in der Biologie wurzelnde und »natürlich« erscheinende Annahmen über männliche Entwicklung und Identität relativieren (z. B. König, 2012, Quindeau & Dammasch, 2014)

•  Eine stärkere Berücksichtigung der teilweise sehr unterschiedlichen Therapievorstellungen von Menschen verschiedener Kulturen, Ethnien, Religionen und Schichtzugehörigkeiten (z. B. Altman, 2000, Bohleber, 2012)

•  Über die Konstatierung von sozialen Pathologien aufgrund der (spät-)kapitalistischen Ökonomie hinausgehend erfolgte eine Reflexion über das Befreiungspotenzial einer gesellschaftskritisch gewendeten Psychoanalyse (z. B. Krovoza, 2012)

1.3.2     Aus der Linguistik

•  Die Wiederentdeckung der Zeichentheorie von Charles Sander Peirce führte zu einer Differenzierung des psychoanalytischen Symbolbegriffs und zu fruchtbaren therapeutischen Umsetzungen (z. B. Olds, 2000, Salomonsson, 2007, Saller, 2014, Küchenhoff & Warsitz, 2015)

•  Die Anwendung der Konversationsanalyse auf psychoanalytische Gesprächsprotokolle ermöglichte neue Erkenntnisse für die resonante Dimension des Unbewussten (Peräkylä, 2008, Buchholz & Gödde, 2013, Grimmer, 2014)

1.3.3     Aus der Philosophie

•  Postcartesianische Konzepte in der Philosophie führten zu veränderten Auffassungen über Beziehung und Intersubjektivität (z. B. Lesmeister, 2009, Orange, 2004)

•  Die Überzeugung setzte sich somit mehr und mehr durch, dass die Therapeut-Patient-Beziehung nicht mit der klassischen, naturwissenschaftlichen Beziehung zwischen dem erkennenden Forscher und dem zu beforschenden Objekt gleichgesetzt werden darf, wie sie in medizinischen sowie psychologischen Diagnostik- und Therapieverfahren vorherrscht, sondern als eine Relation zu begreifen ist, in welcher der Erkennende, in dem Fall der Therapeut, zu einem wesentlichen Teil des emotionalen Beziehungsgeschehens wird. Seine Persönlichkeit, seine eigenen gelösten wie ungelösten Konflikte und Traumatisierungen, seine Einfühlungs- und Liebesfähigkeit gehen unweigerlich in alle Erkenntnis-, Analyse- und Therapieprozesse maßgeblich mit ein (alle zeitgenössischen psychoanalytischen Richtungen)

•  Postmoderne Subjekttheorien nahmen Einfluss auf metapsychologische Konstrukte: So wurde zum Beispiel das Konzept des Gesetzes des Vaters durch Auffassungen über Anerkennung und Verhandlung in kommunikativen Prozessen infrage gestellt (z. B. Benjamin, 2004, Heenen-Wolff, 2007)

•  Die abduktive Logik rückte an die Stelle eines Covering Law Modells oder eines H-O-Schemas der Erklärung, das in früheren Arbeiten von Kritikern der Psychoanalyse noch als wissenschaftstheoretische Messlatte (z. B. Möller, Perrez, Grünbaum) für Deutungen angelegt wurde. Mit der modifizierten abduktiven Logik von Charles Sander Peirce wurde ein potentes wissenschaftstheoretisches Modell gefunden, mit dem Psychoanalytiker ihre Deutungsoperationen angemessen beschreiben können (z. B. Kettner, 1995, 2012)

•  Die zunehmende Erkenntnis über das schwierige Verhältnis von Theorie und Empirie und die Problematisierung früherer wissenschaftstheoretischer Auffassungen über ein einheitswissenschaftliches Vorgehen bestätigten die psychoanalytische Einstellung, einen eigenen Erfahrungsbegriff zu kreieren, welcher der unbewussten Intersubjektivität von Analytiker und Patient gerecht wird (z. B. Hampe, 2001)

1.3.4     Aus Neurowissenschaft und Cognitive Science

•  Die Unterscheidung von zwei Gedächtnissystemen, dem impliziten oder nichtdeklarativen und dem expliziten oder deklarativen Gedächtnis schuf ein neues Verständnis für kindliche Amnesien und für das, was und wie erinnert werden kann. Sie wurde vor allem auch für das Verständnis von Übertragungen bedeutsam. Das implizite Gedächtnis bleibt von Säuglingstagen (in Fragmenten auch schon seit der fötalen Existenz) an in Verhaltens- und Erlebensmustern aufbewahrt, die sich im späteren Leben als implizite Beziehungs- und Übertragungsmuster manifestieren (z. B. Clyman, 1992, Köhler, 1998, Busch, 2003, Mancia, 2006, Junker, 2013, Geißler, 2014)

•  Diese aus der kognitiven Gedächtnispsychologie und Neuroscience entnommene Auffassung über zwei unterschiedliche und als überwiegend getrennt gedachte Gedächtnissysteme wurde jedoch auch wegen der Vernachlässigung sprachlicher Prozesse und der allzu rigorosen Trennung in zwei Systeme kritisiert (z. B. Vivona, 2006, 2009, Bucci, 2011, Singer & Conway, 2011)

•  Die Entwicklung der affektiven und »embodied« Cognitive Science (Damasio, LeDoux, Panksepp) betonte die zentrale Bedeutung von Emotionen und impliziten Motivationen für die kognitive Informationsverarbeitung und ermöglichte damit eine Annäherung an psychoanalytisches Denken (z. B. Leuzinger-Bohleber et al., 2013)

•  Theorien aus der kognitiven Entwicklungspsychologie und Affekttheorie schufen ein differenziertes Verständnis für psychoanalytische Modelle vom Traum, der Neurose, Psychose, Affektregulierung und Abwehr (z. B. Moser, 2003, 2005, 2009)

•  Die Forschungen über Spiegelneuronen vertieften und differenzierten psychoanalytische Auffassungen über Empathie (z. B. Gallese, 2006, 2008, Gallese, Eagle & Migone, 2007)

•  Die Erkenntnisse über den zentralen Stellenwert der empathischen Einstimmung für die Affektregulierung und die Rolle der rechten Gehirnhälfte bei der affektiven nichtbewussten Kommunikation bestätigten und erweiterten psychoanalytische Auffassungen über den Transfer von Unbewusst zu Unbewusst (z. B. Schore, 2005, 2007).

Zusammenfassung

Nach der Klärung berufspolitisch motivierter Differenzen hinsichtlich des Begriffs der »psychoanalytisch begründeten Verfahren« wurden einige ausgesuchte Veränderungen in den für die Behandlungspraxis wichtigen psychoanalytischen Disziplinen skizziert. Dabei wird deutlich, wie sehr die von Sigmund Freud gegründete Psychoanalyse nicht nur eine Wissenschaft im steten Wandel ist, sondern auch interdisziplinär viele fruchtbare Impulse von anderen Wissenschaften erhält.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

Bohleber, W. (2012).Was Psychoanalyse heute leistet. Stuttgart: Klett-Cotta.

Fonagy , P. (2006). Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta.

Frick, E. (2009). Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr-und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium. Unter Mitarbeit von Harald Gündel. Stuttgart: Kohlhammer. 2., überarb. u. erweit. Aufl. 2015.

Küchenhoff, J. (2010). Der Wandel psychoanalytischer Theoriekonzepte. Klinische Herausforderungen und technischer Fortschritt. In K. Münchnch, D. Munz & A. Springer (Hrsg.), Die Psychoanalyse im Pluralismus der Wissenschaft