Psychologie für den Alltag - Peter Kaiser - E-Book

Psychologie für den Alltag E-Book

Peter Kaiser

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Beschreibung

Gezielte Hilfe für eine optimale Bewältigung von Alltagsproblemen: anhand der verschiedenen Lebensphasen und konkreter Beispiele aus der Praxis und auf der Basis psychologischer und soziologischer Erkenntnisse beschreiben die Autoren die gesellschaftlichen Einflüsse zu jedem Aspekt und legen Wert auf die unterschiedliche Bedeutung der einzelnen Themen bereiche für Männer und Frauen.

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2007

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Peter Kaiser und Corinna Onnen-Isemann

Psychologie für den Alltag

Peter Kaiser und Corinna Onnen-Isemann

Psychologie für den Alltag

Wie man Probleme wirklich bewältigen kann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-636-06286-4 | Print-Ausgabe ISBN 978-3-86882-060-7 | E-Book-Ausgabe (PDF)

E-Book-Ausgabe (PDF): © 2009 bei mvgVerlag, FinanzBuch Verlag GmbH, München.www.mvg-verlag.dePrint-Ausgabe: © 2007 bei mvgVerlag, Redline GmbH, Heidelberg.Ein Unternehmen von Süddeutscher Verlag | Mediengruppe www.mvg-verlag.deAlle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Konzeption und Realisation: Ariadne-Buch, Christine Proske, München Redaktion: Cornelia Rüping, München Umschlaggestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising Umschlagabbildung: Masterfile, Düsseldorf (© masterfile / Anne Domdey) Satz: Redline GmbH, Jürgen Echter Druck: Himmer, Augsburg Bindearbeiten: Thomas, Augsburg Printed in Germany

EINLEITUNG

Jeder Mensch – ob jung oder alt, ob Frau oder Mann – möchte in den verschiedenen Bereichen und Situationen des Lebens erfolgreich sein, sich möglichst gut fühlen und gesund bleiben. Jeder möchte mit Schwierigkeiten zurechtkommen, sich schützen und sein Gesicht wahren.

Zu den meisten Fragen der Gestaltung und Bewältigung des Alltags hat die Psychologie in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte Erkenntnisse und Strategien entwickelt. Diese Ressourcen werden nach unseren Erfahrungen aber im Alltag in Beruf und Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis oder in der Freizeit immer noch viel zu wenig genutzt. Zwar sind die Medien voll von psychologischen Tipps, doch oft können Sie als Leser nicht erkennen, wie fundiert und seriös die Informationen sind und in welchen Zusammenhängen Sie diese sehen müssen. So erreichen Sie viele psychologische Anregungen, mit denen Sie häufig jedoch nicht genügend anfangen können, um für Ihre Lebenspraxis zu profitieren.

Um psychologische Erkenntnisse gewinnbringend umsetzen zu können, ist zunächst ein umfassenderes Verständnis der fraglichen Lebenszusammenhänge und der beteiligten psychischen und sozialen Mechanismen erforderlich. Erst wenn wir ausreichend verstanden haben, worum es geht und wo geeignete Ansatzpunkte für das weitere Vorgehen liegen, können wir fundiertere Entscheidungen treffen und souverän handeln. Sicher haben Sie längst erkannt, dass wissen und können nicht dasselbe sind. Allzu oft sind uns Emotionen im Weg, die uns hindern, so zu handeln, wie wir eigentlich möchten: Wir trauen uns nicht, wir sind zu nervös, wollen anderen nichts zumuten oder haben andere Gründe, warum wir nicht das tun, was wir wollen. Manches entgeht uns, weil wir wichtige Aspekte nicht (rechtzeitig) bemerken oder „vergessen“ haben. Manchmal verhalten sich Menschen anders, als es für sie vorteilhaft wäre, weil sie „nicht anders können“, ihnen nichts Besseres einfällt oder sie zu wenig wissen, worauf es überhaupt ankommt. So kommt es vor, dass wir uns selber zum Rätsel werden oder mit uns selbst unzufrieden sind.

Um wirklich weiterzukommen, also so zu werden, wie wir sein möchten , reicht es nicht aus, einen Ratgeber zu kaufen. Wir benötigen zusätzlich Wissen und Anleitung, wie die Inhalte darin in konkreten Fällen umzusetzen sind und wie psychische Prozesse ablaufen und zu beeinflussen sind. Erst dann lassen sich individuelle Strategien entwickeln, um die eigenen Vorhaben umzusetzen. Da das Erreichen von Zielen in den wenigsten Fällen nur von einem Menschen selbst abhängt, ist immer zu klären, welche Ressourcen er benötigt, welche Hindernisse im Weg stehen und in welche übergeordneten sozialen und gesellschaftlichen Systemkontexte er eingebunden ist. Hier treffen soziologische und psychologische Perspektiven aufeinander.

Auf der Basis unserer jahrzehntelangen Erfahrung in der Psychotherapie mit unterschiedlichen Patientengruppen sowie der Beratung von Paaren und Familien, von Fach- und Führungskräften, in Forschung, Lehre und Weiterbildung haben wir ein Kompendium zusammengestellt, von dem wir glauben, dass es Sie auf dem Weg zur besseren Gestaltung und Bewältigung des Alltagslebens unterstützen kann. Unser Buch lässt sich auf sehr unterschiedliche Weise nutzen. Sie können

sich über einzelne Themen informieren und finden Beispiele zur Veranschaulichung sowie zahlreiche Literaturhinweise zur Vertiefung; anhand der gebotenen Informationen und Anleitungen eigene Fragen klären und zu einem tieferen Problemverständnis gelangen; psychologische Strategien und Kompetenzen kennen und anwenden lernen und auf diese Weise Ihr Repertoire an Möglichkeiten des Handelns und Erlebens erweitern; die für Sie interessanten Themen mit Nahestehenden gemeinsam erarbeiten, darüber ins Gespräch und gemeinsam weiterkommen. Diese Vorgehensweise eignet sich besonders dazu, zwischenmenschliche Beziehungen zu verbessern.

Bei der Anwendung psychologischen Wissens und der hier beschriebenen professionellen Strategien gegenüber anderen Menschen sind bestimmte Grundhaltungen wie Verantwortungs- und Taktgefühl ebenso wichtig wie Wertschätzung der jeweiligen persönlichen Individualität Ihres Gegenübers. Verwechseln Sie dies aber nicht mit Kritiklosigkeit (siehe dazu Kapitel F und G).

Wir haben unser Buch in acht Abschnitte gegliedert, die durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis ergänzt werden.

Kapitel Astellt wesentliche grundlegende psychische Funktionen wie Wahrnehmung, Handeln/Denken/Problemlösen, Lernen und Gedächtnis, Motive und Motivation, Persönlichkeit, das Selbst, Lebenskonzepte/Modellvorstellungen, Emotionen, Kompetenzen und Kommunikation dar. Sie sind die Basis für das Verständnis psychosozialer Phänomene. Die Funktionen werden erklärt und anhand praktischer Beispiele veranschaulicht.

Kapitel Bspannt einen Bogen über den Verlauf des menschlichen Lebens von der frühesten Entwicklung bis hin zum Alter. In diesem Abschnitt werden die grundlegenden Bedürfnisse ebenso erklärt wie Fakten über das körperliche Altern oder die geistige Leistungsfähigkeit. Besonderen Stellenwert haben dabei die Strukturen und Prozesse, die für das Wohlbefinden und die Lebensqualität wichtig sind.

In Kapitel Cgeht es um zwischenmenschliche Beziehungen im sozialen Leben. Sowohl Familie als auch Funktionsweisen verschiedener Familienkonstellationen kommen hier zur Sprache, ebenso die (zum Teil unbewussten) Partnerwahlmechanismen oder die Gestaltung von Freundschaften oder nachbarschaftlichen Beziehungen.

Kapitel Dwidmet sich verschiedenen Aspekten des Arbeitslebens. Dabei geht es um das systemische Verständnis betrieblicher Strukturen und Prozesse, verschiedene Leistungs- oder Führungskonstellationen bis hin zu den Themen Mobbing am Arbeitsplatz und Work-Life-Balance. Damit Sie Ihr eigenes Arbeitsfeld besser verstehen lernen, führen wir in das psychologische Verfahren der Systemischen Mehrebenenanalyse ein.

Einen großen Bereich nimmt das Kapitel Eein, das sich mit Gesundheit und Krankheit beschäftigt. Gesundheit wird hier als Kompetenz und Entwicklungsaufgabe begriffen, die viel mehr umfasst als die Abwesenheit von Krankheit. Wir zeigen Ihnen Möglichkeiten auf, wie Gesundheit gefördert und Krankheit durch Vorsorge vermieden werden kann. Auch das breite Spektrum psychischer Störungen behandeln wir ausführlich.

Praktische Anleitungen zur Verbesserung der Lebensqualität finden Sie in Kapitel F. Hier stellen wir verschiedene Methoden für die Lebensplanung, das Zeitmanagement, die Sensibilisierung für die eigenen Gefühle (Focusing), eine bessere Entspannung und das Selbstmanagement dar. Zudem besprechen wir ausführlich die Erfolgsfaktoren, die bei der Alltagsgestaltung eine Rolle spielen, zum Beispiel Feinfühligkeit, Wertschätzung oder Konfliktmanagement.

Im letzten Kapitel Gstellen wir Möglichkeiten professioneller psychologischer Hilfe vor. Wir gehen nicht nur auf verschiedene Methoden und Strategien ein, sondern geben auch Hinweise dazu, wie Sie geeignete Fachleute und Einrichtungen finden.

Lassen Sie sich nun anregen zu einem Spaziergang durch die verschiedenen Bereiche der menschlichen Psyche und des Zusammenlebens. Menschenkenntnis ist keine Hexerei, sondern lässt sich weitestgehend erlernen. Je besser Sie sich selbst und andere verstehen lernen, desto besser werden Ihr „Durch-blick“ und Ihre Chancen, Ihre Lebensqualität und Ihr Wohlbefinden zu optimieren!

A GRUNDLAGEN

1 Wahrnehmung

Wahrnehmen heißt, Informationen aus der Umwelt über die Sinnesorgane aufzunehmen und zu verarbeiten. Darüber orientieren wir uns und können so Gefahren vermeiden und dafür sorgen, dass unsere Bedürfnisse befriedigt beziehungsweise nicht verletzt werden. Dabei sind bewusste, so genannte explizite Wahrnehmungen zu unterscheiden, die geistig verarbeitet werden, und implizite Wahrnehmungen, die nicht bis ins Bewusstsein vordringen, aber dennoch das Verhalten steuern und im Gedächtnis gespeichert werden. Die leise und eingängige Musik im Supermarkt zum Beispiel soll unser Einkaufsverhalten positiv beeinflussen und wird von uns meistens nicht direkt wahrgenommen – sie steuert aber unser Verhalten. Im Gegensatz dazu richtet sich unsere Wahrnehmung auf die Musik aus, wenn wir zu Hause bewusst eine CD anhören.

Charakteristika menschlicher Wahrnehmung

Wahrnehmung unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die im Alltag wichtig sind. Sie ist nicht passive Aufnahme von Reizen oder Informationen, sondern immer aktive Verarbeitung dieser. Ein Beispiel dafür: Sie grüßen einen Nachbarn, der antwortet nicht. Daraufhin sind Sie verstimmt, weil Sie erwarten, dass die Höflichkeitsregel, einen Gruß zu erwidern, eingehalten wird. Später erfahren Sie, dass Ihr Nachbar kurzsichtig und schwerhörig ist. Nun haben Sie eine andere Erklärung und sehen sein Verhalten in einem anderen Licht. Es stellt sich also die Frage, was und wie wir eigentlich wahrnehmen. Psychologische Forschungen auf diesem Gebiet haben ergeben, dass sich Wahrnehmung nicht nur an Realitäten, sondern auch an unseren psychischen Strukturen und Grundbedürfnissen orientiert.

Die Grundbedürfnisse sind in den Strukturen des Gehirns verankert: Wir streben danach, Lust zu erfahren sowie Unlust oder auch Schmerz zu vermeiden, nach Selbstwertbestätigung oder Geborgenheit und persönlichen Bindungen. Und auch die Wünsche nach Orientierung und Kontrolle gelten als Grundbedürfnisse. Aus diesen Bedürfnissen ergeben sich in jeder Lebenssituation bestimmte Ziele, die wir verfolgen. Kurz gesagt: Wir streben bestimmte Zustände an und versuchen, andere zu vermeiden (Motivation; siehe unten). Daran richtet sich auch unsere Wahrnehmung aus.

Wahrnehmungsfilter (Selektion von Informationen)

Die Informationsflut, der wir ausgesetzt sind, ist so groß, dass wir mit den begrenzten Möglichkeiten unseres Gehirns niemals alle Umweltreize zugleich verarbeiten können. In der Regel sind Situationen zu komplex, um auf alles achten zu können. Wir sind also gezwungen, auszuwählen: Man kann nicht gleichzeitig nach vorne und nach hinten schauen, nicht auf alle Situationsaspekte gleichermaßen achten, sondern muss die richtige Auswahl der Aspekte treffen, auf die geachtet werden soll. Hinzu kommt, dass diejenigen Informationen, auf die es ankommt, oft nicht so leicht zugänglich sind und erst zusammengesucht werden müssen. Dies können wir aber nur, wenn wir wissen, was gerade wichtig ist, der Wahrnehmungsfilter muss richtig eingestellt sein. Menschen nehmen in der Regel nur wahr, was sie kennen und was ihre Aufmerksamkeit erregt. Wenn wir zum Beispiel durch eine fremde Stadt gehen, bemerken wir die Hauptsehenswürdigkeiten oft gar nicht, wenn uns niemand darauf hinweist. Oft wählt unser Gehirn für uns aus und orientiert sich dabei an bereits vertrauten Reizen. Meist bemerken wir diesen Auswahlvorgang gar nicht, wir lassen uns ablenken. Wir achten dann nicht auf die unbekannten Sehenswürdigkeiten, sondern auf den Bratwurstduft, der uns in die Nase steigt. Unsere Wahrnehmung ist also immer gefiltert (selektiv; Goldstein, 2002).

Perspektiven der Wahrnehmung

Wahrnehmung geht immer von einer bestimmten Perspektive aus: Sie stehen entweder vor oder hinter einer anderen Person, ganz in der Nähe oder weiter weg. Aus der Nähe nehmen Sie andere Aspekte wahr als aus der Ferne, wo Sie zum Beispiel nur eine Gestalt oder Bewegungen erkennen können. Aus der Nähe nehmen Sie im Gegensatz dazu zum Beispiel Gerüche oder Details der Kleidung oder der Haut auf.

Stets kommt es auf die Situation an, in der wir jemandem begegnen. Wer gestresst ist, kann nur noch begrenzt Informationen aufnehmen und verarbeiten. Doch wer Kontakt sucht, zum Beispiel im Urlaub oder in einer Disco, hält aktiv Ausschau nach Menschen, die ihn interessieren könnten. Dabei werden bestimmte Merkmale beachtet, die uns wichtig sind (Alter, Geschlecht, Attraktivität etc.). Zugleich hängt von der Situation ab, was wir wahrnehmen (Goldstein, 2002): Ein Fußballfeld stellt sich außerhalb der Spielzeit völlig anders dar als zum Beispiel während der WM. Oder: Dieselbe Person gibt und verhält sich anders, wenn sie Ihre Nähe sucht oder Sie meiden möchte. Wenn wir müde oder krank sind, bekommen wir weniger mit, weil wir stärker mit uns selbst beschäftigt sind. Wer mit Spannung auf etwas sehr Ersehntes wartet, dem kann die Zeit lang werden. Eine glückliche Zeit geht hingegen meist viel zu schnell vorüber. Wir nehmen das Vergehen der Zeit unterschiedlich wahr. Andere Personen nehmen wir als vertrauenswürdig wahr, wenn sie bestimmte Merkmale wie seriöse Kleidung und gutes Auftreten zeigen. Dabei fallen wir leicht auf Täuschung und Betrug herein (Argyle, 1979). Doch nicht nur von anderen Menschen lassen wir uns täuschen, sondern auch durch Mechanismen innerhalb unserer eigenen Psyche.

Abwehrmechanismen

Unbequeme Informationen, die nicht mit dem eigenen Selbstbild vereinbar sind oder das Selbstwertgefühl bedrohen, versucht das Gehirn „auszusortieren“. So bleibt es uns erspart zu bemerken, dass wir vielleicht gar nicht so perfekt sind, wie wir uns gerne darstellen, oder dass das Leben nicht so ungefährlich ist, wie wir es gerne hätten. Die Risiken des Sonnenbadens zum Beispiel werden einfach ausgeblendet, wenn wir an den Strand gehen, und kaum einer denkt an Unfallgefahren, wenn er eine Reise antritt. Wir verdrängen oder „vergessen“ bisweilen solche Bedrohungen, um unsere Stimmung zu schützen. Manche Risiken oder Verstöße verharmlosen oder verleugnen wir sogar, weil wir sonst anders handeln müssten. Verstöße gegen Verkehrsregeln oder Steuergesetze werden gerne als „Kavaliersdelikte“ oder gar als sportliche Herausforderung umdefiniert, um auf diese Weise ihre Strafwürdigkeit zu vertuschen. Geraten wir mit jemandem in Streit, ist selbstverständlich der andere schuld, wir schieben ihm auch die Verantwortung und Motive zu, die wir eigentlich selbst haben. In der Psychologie heißt dies „Projektion“ (Thomä/Kächele, 2006).

Besonders kompliziert wird es, wenn die an einer Situation Beteiligten ihre „Altlasten“ einbringen. Werden alte Kränkungen oder Ängste aus früheren Lebensabschnitten in einer aktuellen Situation aktiviert, vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart leicht auf verwirrende Weise. Empirische Forschungen haben zum Beispiel ergeben, dass Untergebene gegenüber Vorgesetzten oft ihre Autoritätsprobleme aus der Schulzeit abarbeiten und ihre Arbeitskraft blockieren, indem sie sich „bockig“ stellen. Solche Übertragungen können die Zusammenarbeit erheblich erschweren. In Familie und Partnerschaft reißen aktuelle Begebenheiten leicht alte Wunden auf, was Auseinandersetzungen schnell eine völlig andere Richtung gibt. Daher ist es sehr interessant, eigene und fremde Übertragungen möglichst schnell und präzise zu erkennen. Nur so können Situationen wieder auf ihren aktuellen Gehalt reduziert und Eskalationen verhindert werden (Thomä/Kächele, 2006). Wie dies zu machen ist, wird uns noch ausführlich beschäftigen (siehe Kapitel A10).

Ist Wahrnehmung gleich Wahrheit?

Wie wir sehen, nimmt Wahrnehmung also weniger die Wahrheit auf, sondern konstruiert ein Bild, das wir für wahr nehmen. In der Psychologie unterscheiden wir daher zwischen objektiv feststellbaren Realitäten in unserer Umwelt und deren subjektiver Verarbeitung, die wir als individuelle Lebenswelt bezeichnen (Kaiser, 1982). Wie nützlich und zuträglich unser Bild ist, das wir uns von einer Realität machen, muss immer wieder überprüft und gegebenenfalls ausgehandelt werden. Im Zusammenleben mit anderen Menschen oder innerhalb von sozialen Systemen (zum Beispiel in der Familie oder im Betrieb) ist ein Abgleich der verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen wichtig, weil dieselbe Situation von jedem Beteiligten unterschiedlich gesehen und gewichtet wird. Da sich viele Menschen ganz selbstverständlich mit ihrer Sichtweise der Welt und der Dinge identifizieren und diese als Bestandteil ihres Selbstbildes empfinden, kommt es schnell zu Konflikten, wenn sich Wahrnehmungen unterscheiden. Wie man dann konstruktiv reden und zu gemeinsamen Realitätsdefinitionen kommen kann, wird uns noch ausführlich beschäftigen.

Schauen wir uns aber erst einmal die einzelnen Wahrnehmungskanäle genauer an. Man unterscheidet nach den durch Umweltreize aktivierten Sinnesorganen folgende Wahrnehmungen (Oerter/Montada, 2002):

Sehen: Mit den Augen erkennen wir Farben, Helligkeit und Kontraste, Formen, Gestalten und Linien sowie Bewegungen. Auf diese Weise können wir auch räumliche Zusammenhänge wahrnehmen. Wir erkennen andere Menschen am Gesicht und an ihren Bewegungen. Wir verständigen uns mit anderen visuell über Verhalten Blicke Bewegungen Mimik Gesten Hautverfärbungen Kleidung Hören: Mit dem Gehör nehmen wir Schallwellen auf, auch wenn wir dies nicht wollen, denn das Gehör ist – im Gegensatz zu den Augen – nicht zu verschließen. Das Gehör ist relevant zum Beispiel bei der Verständigung im Gespräch, um akustische Signale und Hinweisreize zu erkennen (Wecker, Herannahen eines Zuges), um Töne, Melodien und Rhythmen zu unterscheiden (Sprache, Musik), wenn wir unter Lärm leiden, wodurch die Gesundheit beeinträchtigt werden kann oder wichtige Informationen nicht mehr von unwichtigen zu unterscheiden sind.Tasten: Mit dem Tastsinn der Haut registrieren wir über so genannte Rezeptoren Unterschiede zwischen hart und weich, rau und glatt, heiß und kalt (mittels der Temperaturrezeptoren) Bewegungen, Geschwindigkeit, Druck/Stöße, Zug, Luftzug (mittels des Trigeminus-Nervs, der im Gesicht verläuft) Vibrationen Berührungen (zum Beispiel bei der Säuglingspflege oder anderem Körperkontakt) Druck beziehungsweise Widerstand von Materialien, was uns zum Beispiel vor Quetschungen schützt oder beim Umgang mit Geräten wichtig ist. Schmecken: Mit den Geschmacksknospen der Zunge können wir in gewissem Umfang die Qualität der Nahrung prüfen, uns vor Vergiftungen schützen oder genießen.Riechen mit der Nasenschleimhaut: Geruchsempfindungen sind eng mit Gefühlen verbunden. So zum Beispiel Gefühle von Anziehung oder Attraktivität, Brutpflege, Erotik, die über körpereigene Duftstoffe (Pheromone) gesteuert werden, sowie Appetit auf Nahrungsmittel ebenso wie Ekel, zum Beispiel vor Fäulnis, der vor Gefahren für die Gesundheit warnen soll.Wahrnehmung der eigenen Köperbewegung und -haltung sowie der Stellung der Glieder (kinästhetische Wahrnehmung) über Rezeptoren in einzelnen Köperteilen. Zeitwahrnehmung: Die Zeitwahrnehmung erfolgt durch kognitiven Bezug von Informationen aufeinander. Wahrgenommen werden können auf diese Weise zeitliche Abfolgen von Ereignissen (sequentielle Wahrnehmung), Zeitintervalle zwischen Ereignissen und Zeitspannen, das heißt die Dauer von Zuständen und Geschehnissen.

Zu ergänzen ist noch ein Spezialfall der Wahrnehmung, nämlich die Selbst- und die Fremdwahrnehmung.

Selbst- und Fremdwahrnehmung

Alles, was Sie bereits über die Stör- und Täuschungsanfälligkeit der menschlichen Wahrnehmung gelesen haben, trifft ganz besonders auf die Wahrnehmung der eigenen Person zu. Dies hat mehrere Gründe: Erstens können wir wegen der Konstruktion des Gehirns wichtige Bereiche unseres Selbst gar nicht bewusst wahrnehmen. Hierzu gehören genetische und frühkindliche Prägungen, beispielsweise bestimmter Persönlichkeitseigenschaften, des Bindungsstils und neuropsychischer Schemata. Wer sich aufgrund bestimmter Hirnstrukturen leichter erregen und irritieren lässt, nimmt auch anders wahr. Diese Faktoren bestimmen unser Selbst und unser Leben. Da wir nicht wissen, wie es dazu kommt, und wir kein anderes Selbst zum Vergleich ausprobieren können, ist es kaum vorstellbar, dass „man“ auch anders sein kann (LeDoux, 2003).

Zweitens ist das Bild, das wir uns von der eigenen Person machen, geprägt von unseren Grundbedürfnissen und Zielen sowie von Sollvorstellungen, die sozialen/familialen Idealbildern entsprechen. Welche Erfahrungen wir real mit uns machen und wie wir diese bewerten, ergibt ein Realbild, das wir mit dem Idealbild vergleichen. Dabei ist das Realbild unseren bisherigen Feststellungen entsprechend nicht besonders verlässlich, weil wir dazu neigen, uns selbst sehr selektiv und tendenziös zu betrachten. Das Idealbild aber hängt von sozialen Klischees ab, die uns unsere Umgebung nahe bringt und die ebenfalls selektiv und tendenziös sind. So stehen sich bei dem Vergleich von Real- und Idealbild zwei Bilder gegenüber, die beide nicht sehr tragfähig sind (Schütz, 2003). So könnte sich zum Beispiel eine Mutter mit zwei kleinen Kindern durch Erziehung und Alltagsgestaltung völlig überfordert fühlen. Sie lässt die Kleinen deshalb häufig fernsehen, damit sie selbst ein bisschen zur Ruhe kommt. Das Idealbild einer Mutter sieht aber anders aus: Gefühle der Überforderung und Kapitulationen bei der Erziehung passen da nicht hinein; die überforderte Mutter aus unserem Beispiel wird sich deshalb im Freundeskreis möglicherweise vehement gegen zu viel Fernsehen für Kinder aussprechen. Das Idealbild unterscheidet sich oft stark vom Realbild.

Fremdbeurteilungen der eigenen Person sind in vielem zuverlässiger, weil unsere Mitmenschen uns durchaus mit anderen vergleichen und beobachten können, wie wir uns in gewissen Situationen unter bestimmten Bedingungen verhalten. Menschen, die in regem sozialen Austausch mit anderen stehen und viele Rückmeldungen erhalten, lernen sich daher selbst besser kennen und können sich meist differenzierter wahrnehmen (zum Beispiel Schauspieler, Politiker). Selbstwahrnehmung ist auf Feedback aus wohlwollender Fremdwahrnehmung angewiesen. Auf Idealbilder und typische Rollenbilder werden wir später noch genauer eingehen (siehe Kapitel A6).

Zusammenfassung

Wahrnehmung ist aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und spiegelt die objektive Realität nicht unbedingt korrekt wider. Sie ist immer beeinflusst von unbewussten neuropsychischen Voreinstellungen, subjektiven Bewertungen und Umgebungsbedingungen. Wahrnehmungsfilter und der jeweilige Blickwinkel (Perspektive) beeinflussen das Handeln wie auch die Wahrnehmung weiterer Situationen. Wahrnehmung ist niemals objektiv.

Ob Wahrnehmungen zutreffend, nützlich und konstruktiv sind, muss im Dialog mit anderen Menschen und unter Einsatz von Prüfverfahren immer wieder geklärt werden. Der Augenschein kann leicht trügen.

2 Handeln, Denken und Problemlösen

Handeln unterscheidet sich von Verhalten durch seine Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit. Wenn Handeln auf andere Menschen bezogen ist, spricht man von sozialem Handeln, da es am Verhalten anderer ausgerichtet und dadurch sinnhaft wird. Soziologisch betrachtet handeln Menschen immer sinnhaft. Der Sinn einer Handlung ergibt sich durch die Absicht oder das Ziel, das der Handlung zugrunde liegt. Soziales Handeln kann auch an abstrakten und allgemein verbindlichen Regeln (Normen, Gesetzen) ausgerichtet werden – in diesem Fall spricht man von Gesellschaftshandeln.

Anders verhält es sich mit dem Denken. Es kann, muss aber nicht unbedingt im Dienste des Handelns stehen. Denken heißt zu überlegen, mit welchen Mitteln sich ein Ziel erreichen oder ein Problem lösen lässt. Wenn wir den Weg zum Ziel schon kennen, müssen wir uns vielleicht nur mit Einzelheiten beschäftigen, damit alles gut organisiert ist. Dann spricht man von reproduktivem Denken, weil dabei auf vorhandenes Wissen zurückgegriffen werden kann (Funke, 2006). Bei schwierigeren Aufgaben, deren Lösung wir noch nicht kennen, müssen wir hingegen produktiv nachdenken, um Mittel und Wege für die Zielerreichung zu finden. Die psychologische Forschung befasst sich schon sehr lange mit dem menschlichen Denken und hat eine Menge Ergebnisse vorzuweisen. So wissen wir heute recht gut darüber Bescheid, wie effektives kreatives Denken funktioniert und was dabei beachtet werden muss (Dörner, 1989).

Erfolgsbedingungen beim Denken und Problemlösen

Um beim Denken und Problemlösen erfolgreich zu sein, ist die richtige Abfolge geeigneter Schritte wichtig (Goldfried/D’Zurilla, 1969). Der erste Schritt besteht darin, die Ausgangssituation zu analysieren. Wer nicht weiß, von welchen Voraussetzungen er auszugehen hat und wo er steht, kann nicht sinnvoll planen. Zunächst ist also eine möglichst genaue Bestandsaufnahme der Situation oder des Problems vonnöten. Geht es zum Beispiel um eine Führungsentscheidung in einem Betrieb, heißt dies, sich folgende Fragen zu stellen:

Um was für einen Betrieb oder für eine Abteilung geht es? Welche Systemeigenschaften hat der Betrieb/die Abteilung?Welche Aufgaben sind hier zu erfüllen? Welches Anforderungsprofil ergibt sich daraus für die einzelnen Mitarbeiter? Sind die Rollen und Aufgaben so verteilt und abgestimmt, dass alle Aufgaben erfolgreich und ökonomisch erledigt werden können? Wie gut sind die Mitarbeiter ihren Aufgaben und ihrer jeweiligen Rolle gewachsen? Wie sieht die Hierarchie aus? Wer hat was zu bestimmen und darf daher nicht übergangen werden? Welche Mittel/Ressourcen stehen zur Verfügung? Welche Eigendynamik hat der Betrieb/die Abteilung? Welche Besonderheiten gilt es bei der Belegschaft zu beachten? Sind die Mitarbeiter vielleicht untereinander zerstritten, sodass sie gar nicht an einem Strang ziehen (können)?

Zu einer Bestandsaufnahme gehört darüber hinaus, künftige Entwicklungen abzuschätzen. Viele Ereignisse und Konstellationen kündigen sich lange vorher an und lassen sich mit den dann zu erwartenden verfügbaren Ressourcen in Verbindung bringen. Wenn sich eine Führungskraft über die Verhältnisse und Erkenntnisse in den betreffenden Bereichen gut informiert, kann sie – ohne in Spekulationen zu verfallen – meist recht verlässliche Zukunftsprognosen abgeben. Dabei handelt es sich zwar um Wahrscheinlichkeitsannahmen, jedoch sind diese oftmals recht zuverlässig. So ist zum Beispiel ohne größere Probleme vorherzusagen, wann (wenn überhaupt) bestimmte Mitarbeiter wahrscheinlich Kinder haben werden oder spätestens in Rente gehen oder wie hoch die Lebensdauer bestimmter Arbeitsgeräte ist. Viele dieser Entwicklungen liegen in der Struktur der Arbeitswelt begründet. Sie sind unabwendbar oder zumindest nicht individuell beeinflussbar – hierzu gehört zum Beispiel das Renteneintrittsalter. In der Psychologie wie auch in der Soziologie wird in diesem Zusammenhang vom Mehrebenencharakter von Realitäten gesprochen.

Systemisches Denken auf mehreren Ebenen

Täglich ist es in der Zeitung zu lesen: Das Ozonloch wächst, die Zahl der Rentner steigt, das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung sinkt. Entwicklungen wie diese sind zwar nicht unmittelbar wahrzunehmen, wohl aber recht plausibel erklärbar. Die Folgen davon spüren wir ganz persönlich. Als Einzelne sind wir gegen solche Prozesse jedoch machtlos, weil sie auf einer Makroebene und in Systemkontexten ablaufen, die uns nicht zugänglich sind und die wir als Individuum nicht direkt beeinflussen können.

Ein System besteht aus eng aufeinander bezogenen Elementen. Die Einzelteile können aus einer übergeordneten Sicht als zweck- oder sinngebundene Einheiten angesehen werden, die sich gegenüber der Umgebung abgrenzen. Zusammengehalten werden Systeme durch Strukturen, das sind gewissermaßen die Muster der einzelnen Elemente sowie ihre Beziehungen und Abhängigkeiten zueinander. Diese Strukturen, wie sie zum Beispiel im Staat und in Ökosystemen, in Familien und auf dem Arbeitsmarkt vorherrschen, sind für das Individuum nicht leicht zu durchschauen. Systeme sind Gebilde, die eigenen Regeln folgen und eine besondere Dynamik haben. Zudem stehen sie in oft schwer erkennbaren Wechselbeziehungen, wie es zum Beispiel bei Staat und Ökosystem der Fall ist.

Auch Entwicklungen beispielsweise im Betrieb oder in der Gemeinde (Mesoebene, mittlere Ebene zwischen individueller [Mikro-]Ebene und Makroebene) können wir kaum direkt beeinflussen. Wir können uns aber bewusst machen oder in Erfahrung bringen, welche Auswirkungen die damit verbundenen Erscheinungen für uns haben und wie wir uns gegebenenfalls durch vorausschauendes Denken vor Nachteilen schützen können. Wer es geschickt anstellt, hat unter Umständen auch Chancen, die eigene Wirkung zu erhöhen, indem er sich zum Beispiel in Parteien, Verbänden oder Initiativen engagiert. So kann er sich an geeigneter Stelle Gehör verschaffen und Einfluss nehmen. Es ist auch möglich, sich an Abgeordnete oder Gerichte zu wenden, die weiter reichenden Einfluss haben (Kaiser, 1993).

Auf jeden Fall muss zuerst einmal der richtige Ansatzpunkt ausfindig gemacht werden, um sich Einfluss auf höherer Ebene zu verschaffen. Wo besteht überhaupt ein Zugang zum betreffenden System? Ein solches Denken, das Systeme durchschaut und entsprechende Schlussfolgerungen ermöglicht, nennt man „systemisches Denken“. Im modernen Leben wird diese Art zu denken immer wichtiger. Eine Analyse von Systemzusammenhängen verschiedener Ebenen nennt man „Systemische Mehrebenenanalyse“ (Kaiser, 1993). Damit lassen sich Arbeitshypothesen über eine Situation entwickeln, aus denen sich Wahrscheinlichkeitsannahmen über weitere Entwicklungen ableiten lassen. Wenn Sie genauer hinschauen, erkennen Sie, dass das Leben mithilfe solcher Wahrscheinlichkeitsannahmen im großen Ganzen viel überschaubarer ist, als wir oft meinen. Zudem schadet es ja nicht, über alternative Szenarien zu verfügen, falls sich die Dinge anders entwickeln. Es lohnt sich, wenn Sie künftig für alle wichtigen Bereiche von Zeit zu Zeit eine Bestandsaufnahme machen und ermitteln, wohin Entwicklungen führen, wenn Sie nicht gezielt eingreifen. Je differenzierter und umfassender Ihre Analyse ausfällt, desto besser ist die Grundlage für weitere Entscheidungen. Dabei können Sie folgendermaßen vorgehen (Kaiser, 2007; vgl. Kapitel C):

Entwickeln Sie eine Zukunftsvision: Meist wird vieles leichter, wenn Sie zügig zu der Frage kommen, was an die Stelle der Probleme treten soll und wie eine angenehme(re) Zukunft aussehen könnte. Wenn Sie den Blick darauf richten, hat das zudem den Vorteil, dass durch die Vorfreude wieder angenehme Gefühle möglich werden. So verringern sich auch die Konfliktrisiken. Um aus der Verstrickung in aktuelle Probleme herauszukommen, denken Sie zunächst über übergeordnete Ziele nach, die weiter in der Zukunft liegen. Versuchen Sie zu skizzieren, wie ein für Sie optimales Leben in drei bis fünf Jahren aussehen könnte. Ziel dabei ist es, Visionen optimaler Szenarien für die relevanten Lebensbereiche zu formulieren und Fernziele zu klären, die die Richtung angeben. In der Psychologie gehen wir davon aus, dass Menschen ihre grobe Zielrichtung kennen müssen, damit sie bewusst ihr Leben entsprechend gestalten können. Es ist also sinnvoll, nach und nach die wichtigen Ober-Ziele für das (Zusammen-)Leben in den einzelnen Lebensbereichen (Karriere, Beziehung, Hobbys usw.) zu formulieren sowie Qualitätskriterien für das Erreichen dieser festzulegen. Die Ziele sollten so klar definiert werden, dass am Ende der Grad der Zielerreichung beurteilt werden kann. Hierzu empfiehlt es sich, die einzelnen Aspekte möglichst präzise aufzuschlüsseln und nach den Prioritäten anderer Beteiligter zu fragen (Partner, Angehörige, Kollegen etc.). Dabei stellt sich meist ziemlich schnell heraus, wie breit die gemeinsame Basis für eine zufriedenstellende Zukunft ist. Gegebenenfalls wäre nach Zielen zu suchen, die allen reizvoll erscheinen. Wo keine Einigung zu finden ist und sich die Probleme nicht lösen lassen, könnte sich ein Nachdenken über einen Rückzug anschließen. Legen Sie Zielprioritäten fest: Erst wenn die langfristigen Ober-Ziele für die wichtigsten Bereiche abgestimmt und in eine Rangreihe gebracht sind, ist es sinnvoll, über mittelfristige (Zwischen-)Ziele zu sprechen. Sonst besteht die Gefahr, dass Sie nachrangige Ziele formulieren, die nicht mit den Ober-Zielen zusammenpassen und daher auf Abwege führen. Sammeln Sie Vorgehensmöglichkeiten (Brainstorming): Sobald Sie die lang- und mittelfristigen Ziele für die wichtigsten Bereiche formuliert haben, ist zu klären, wie diese zu erreichen sind. Auch hier empfiehlt es sich, Schritt für Schritt zu erörtern und auszuarbeiten, welche Ressourcen und welche Schritte erforderlich sind: Widerstände bearbeiten, den Beteiligten Grenzen setzen, achtsamer vorgehen usw. Schätzen Sie die Folgen ab: Wenn Sie herausgefunden haben, wie Sie vorgehen wollen, ist zu prüfen, welche persönlichen Kosten, Risiken und Nebenwirkungen dabei zu erwarten sind. Diese können mittel- und längerfristig recht unterschiedlich ausfallen (zum Beispiel könnte häufiges Reisen negativ für das Familienleben, zugleich aber positiv für die Karriere sein). Wie ist es um die Ressourcen bestellt? Im nächsten Schritt ist zu klären, welche Ressourcen zur Verfügung stehen, welche zu beschaffen wären und welche ausbaufähig sind. Kümmern Sie sich um fehlende Ressourcen: Fehlen Kenntnisse oder Kompetenzen, können Sie auf eine Reihe international erprobter Verfahren und Programme zurückgreifen (siehe Kapitel F2). Stimmen die Unterstützung, materielle oder zeitliche Voraussetzungen nicht, ist es wichtig, rechtzeitig zu klären, woher die fehlenden Ressourcen kommen werden. Prozessfeedback und die Bewältigung von Problemen: Je differenzierter der Prozess der Zielentwicklung von allen verfolgt wird, umso leichter können sie auch kleinste Erfolge würdigen sowie Abweichungen erkennen und korrigieren. Sind die Beteiligten unsicher, kommt es leichter zu Widerständen und Konflikten, die mit geeigneten Methoden zu bearbeiten sind (siehe Kapitel F7).

Zusammenfassung

Denken und Problemlösen sind Bestandteile sozialen Handelns. Reproduktives Denken bezieht sich auf eine bekannte Wissensbasis, produktives Denken ist die kreativere Variante. Dabei sind einige Verfahrensschritte zu beachten, die helfen, das Denken zu strukturieren. Nachdem die Ausgangssituation analysiert wurde, erfolgt stets die Abschätzung zukünftiger und wahrscheinlicher Entwicklungen sowie der Risiken und Nebenwirkungen eigenen (Nicht-)Handelns. Gesellschaftliche Realitäten haben immer mehrere Ebenen, die im Rahmen von „systemischem Denken“ zu berücksichtigen sind. Wer erfolgreich Probleme lösen will, braucht Zukunftsvisionen, Zielprioritäten, muss sich mit möglichen Alternativen auseinandersetzen und die Folgen seiner Entscheidung abschätzen.

3 Lernen und Gedächtnis

Lernen heißt Erfahrungen zu machen, die im Gedächtnis gespeichert werden. Das Gehirn lernt unablässig, ohne dass wir es bemerken müssen. Nach neueren Erkenntnissen scheint das Gedächtnis vor allem zu speichern, was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dies ist nicht unbedingt das, worauf wir achten oder was wir lernen sollen, sondern was uns ganz individuell im Moment besonders anspricht. Dabei sind für die Aufnahme von Informationen andere neuronale Strukturen zuständig als für die Erinnerung. Gedächtnisinhalte werden in unterschiedliche Bereiche des Gehirns verteilt. Je höher die persönliche Bedeutung, desto intensiver prägen sie sich ein (Spitzer, 2002).

Aufgenommene Informationen gelangen zunächst in das sensorische Register, das zwar viel aufnehmen, dies aber nur kurzfristig speichern kann. Anschließend wird eine Auswahl wichtigerer Informationen ins Kurzzeitgedächtnis überführt, dessen Kapazität jedoch gering ist. Es kann gleichzeitig etwa sieben Elemente circa 18 Sekunden lang speichern. Die Kapazität kann mithilfe von Merkhilfen erhöht werden, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ein Satz, der sich reimt, unterstützt zum Beispiel das akustische Gedächtnis. So haben sich Generationen von Schülern das Jahr des Sieges von Alexander dem Großen über die Perser bei Issos im Jahr 333 vor Christus mit folgenden Reim gemerkt: „Drei drei drei – bei Issos Keilerei“ („Eselsbrücken“). Auch Suchstrategien (Heuristiken) helfen dem Gedächtnis und der Orientierung: In einem Buch ist es zum Beispiel leichter, eine bestimmte Stelle zu finden, wenn man im Inhalts- oder Stichwortverzeichnis nachschaut, als das ganze Buch durchzublättern. Namen sind besser zu merken, wenn man ein bestimmtes Bild oder eine Geschichte mit ihnen verknüpft: Lernen wir einen „Herrn Merkel“ kennen, können wir uns seinen Namen besser merken, wenn wir uns zum Beispiel die deutsche Bundeskanzlerin dazudenken und den Namen in eine interessante Geschichte einbetten, die unsere Phantasie anregt.

Sind Informationen in Gruppen sortiert, können circa sieben Gruppen (Chunks) behalten werden: Wer weiß, welche Gegenstände zu einer bestimmten Sportausrüstung oder in einen Verbandskasten gehören, braucht sich nicht die Einzelheiten zu merken. Es genügt, an die Stichwörter „Tennisausrüstung“ oder „Verbandskasten“ zu denken.

Wichtige Informationen und Ereignisse, die wir ausreichend oft oder als genügend bedeutsam erleben, prägen sich ins Langzeitgedächtnis ein und werden hier in einer Art Ordner abgelegt, in dem sie immer wiederzufinden sind. Wir haben etwas gelernt. Wenn Lernen so verstanden wird, bedeutet vergessen im Umkehrschluss nicht, dass das Gelernte gelöscht wird. Vielmehr bestehen unklare Zuordnungen und Schwierigkeiten, die Informationen wiederzufinden.

Es werden verschiedene Langzeitgedächtnissysteme unterschieden, die untereinander verbunden und nicht alle bewusst zugänglich (explizit) sind (siehe Abb. 1).

Das episodische Gedächtnis, das Bilder oder Sprache speichern kann, enthält Informationen über spezifische, raumzeitlich lokalisierbare Ereignisse, die in die eigene Biographie eingeordnet werden, zum Beispiel persönlich bedeutsame Szenen mit Bezugspersonen. Zudem ist es für Erinnerungen an Ereignisse in der eigenen Vergangenheit zuständig.

Im Wissensgedächtnis werden Informationen über die Umwelt und erworbene Kenntnisse gespeichert. Es wird auch als semantisches Gedächtnis für die Speicherung von Bedeutungen, Begriffen, Namen oder Kenntnissen bezeichnet. Hier kann auch hochorganisiertes Faktenwissen gespeichert werden. Mit zunehmender Entwicklung eines Kindes werden die Erfahrungen im Alltag sprachlich erfasst und gedanklich verarbeitet. Sind Erinnerungen sprachlich erfasst, können sie leicht abgerufen und später auch verbalisiert werden.

Abb. 1: Hirnregionen und Gedächtnissysteme (Markowitsch 2002, 104)

Im prozeduralen Gedächtnis werden motorische Fertigkeiten und Handlungsabfolgen sowie die zugehörigen Regeln gespeichert. Auf diese Weise merken wir uns Abläufe und die Koordination von Handlungen, zum Beispiel beim Klavierspielen, Autofahren oder Babywickeln.

Das Priming speichert wahrgenommene Muster oder Gemeinsamkeiten erlebter Situationen: So wissen wir zum Beispiel, dass wir immer schnell reagieren müssen, wenn etwas anbrennt oder wenn wir Schmerz empfinden.

Konditionierungenerfolgen entweder über instrumentelles oder über Reiz-Reaktions-Lernen.

Instrumentelles Lernen basiert auf den Konsequenzen unseres Handelns, die wir anstreben oder vermeiden wollen. Diese operante Konditionierung erfolgt auf vier Ebenen:

Erfolg und Belohnung wirken auf unser Verhalten verstärkend.Werden Beeinträchtigungen erleichtert, wirkt dies auf unser Verhalten verstärkend („negative Verstärkung“). Ein Ausbleiben von Erfolg lässt unsere Aktivitäten erlahmen, wir stellen unser Verhalten ein („Löschung“). Unangenehme Erfahrungen oder Strafe führen zur Unterdrückung des Verhaltens, solange Strafe droht. Bleibt sie aus, zeigt sich das Verhalten oft wieder, wie am Beispiel von Parkverboten gut zu beobachten ist.

Beim Reiz-Reaktions-Lernen (klassische Konditionierung) tritt ein neutraler Reiz (zum Beispiel ein Lichtsignal) gleichzeitig mit einem Auslöser (zum Beispiel Nahrung, Schmerz) auf. Nach mehrmaliger Erfahrung genügt der neutrale Reiz, um eine bestimmte Reaktion auszulösen (Speichelfluss, Flucht etc.). Um sich möglichst gut zu schützen, lernt der Organismus, auch bislang neutrale Hinweisreize in das Frühwarnsystem einzubeziehen. So reagieren wir nach kurzer Zeit auch auf Reize aus der Umgebung von Gefahrenherden, diese werden als konditionierte Reize bezeichnet.

Bekannt wurde dieser Vorgang durch den berühmten Versuch von Iwan Pawlow, der den Speichelreflex bei seinen Hunden binnen kurzer Zeit statt mit Futter auch mit Lichtsignalen auslösen konnte. Die Werbung nutzt diesen Effekt, indem sie uns zum Beispiel angenehme Situationen vorführt, während zugleich das angepriesene Produkt gezeigt wird. Nach kurzer Zeit löst auch das Produkt selbst die wohligen Gefühle aus.

Das unbewusste Gedächtnis

Wie bereits erläutert, führen Erfahrungen zu bestimmten neuronalen Verschaltungen und zum Aufbau neuronaler Netzwerke im Gehirn. Dies geschieht bereits im Mutterleib, wo das Ungeborene über den Anschluss an den mütterlichen Organismus auch an den Erfahrungen der Mutter teilhat. Regt sie sich auf, erlebt auch der Fötus den Stress, das heißt die körperliche Aufregung und Anspannung. Je häufiger und intensiver dies geschieht, desto besser werden die zugehörigen neuronalen Netzwerke gebahnt. Solche Menschen werden besonders empfänglich für bedrohliche Reize, sie „hören das Gras wachsen“ und reagieren viel früher und heftiger als andere (Grawe, 2004).

Das menschliche Gehirn organisiert sich für einige Anforderungen in bestimmter Weise. Alles, was wir mit hoher Intensität und häufig tun, wird im Gehirn besonders gut gespeichert und die Aktivierung des entsprechenden Verhaltens automatisiert. Was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist, können wir wie im Schlaf ausführen. Diese Automatisierung kommt durch den Aufbau neuropsychischer Schemata zustande, die durch minimale Hinweisreize ausgelöst werden und selbsttätig ablaufen, indem die untergeordneten Programme aufgerufen werden. Die für den Aufbau und die Auslösung verantwortlichen körperlichen Prozesse laufen unbewusst (implizit) ab und sind deshalb bewusster Erinnerung nicht zugänglich. Wir bemerken nur, dass wir auf bestimmte Situationen besonders stark reagieren.

Warum dies so ist, ist allenfalls durch Rekonstruktion der Ereignisse, nicht aber durch Erinnerungsarbeit oder durch psychotherapeutische Methoden aufzuklären. Wer besonders leicht in Unruhe gerät, wird bei Recherchen über die eigene Vergangenheit vielleicht feststellen, dass die Mutter während der Schwangerschaft schweren Belastungen ausgesetzt war. So hat bereits der Fötus „gelernt“, sich schnell auf Bedrohung einzustellen und sich in Alarmzustand zu versetzen. Eine solche „Programmierung“ kann später meist nur mithilfe geeigneter psychologischer Verfahren und einer gezielten Lebensweise verändert werden (Bauer, 2002; siehe Kapitel F). Wichtig ist zu wissen, dass dabei zwar neue günstige neuropsychische Schemata aufgebaut, aber die alten ungünstigen nicht gelöscht, sondern nur deaktiviert werden. Geraten wir in entsprechende Situationen, können die alten Muster wieder auftauchen. Wer durch frühe Traumatisierungen leicht irritierbar ist, tut also gut daran, auf eine achtsame, ruhige Lebensweise zu achten und sich von aufregenden Konstellationen möglichst fernzuhalten.

Lernen durch Beobachtung

Wie sich gezeigt hat, müssen wir nicht alle Erfahrungen selbst machen, sondern können auch aus denen anderer lernen. Diese Form nennt man Lernen am Modell. Beobachtete Beispiele können uns animieren, es anderen gleichzutun, oder sie können uns abschrecken. So gibt es mittlerweile viele Belege dafür, dass Gewaltdarstellungen in Filmen die Gewaltbereitschaft der Zuschauer erhöhen (Pfeiffer, 2005). Dies gilt umso mehr, wenn solche Filme häufiger gesehen werden und Gewalt als normale Form der Problemlösung erscheint oder von attraktiven Vorbildern gebraucht wird (Mietzel, 2001).

Lern- und Gedächtnistraining

Um Gedächtnisleistungen zu optimieren, ist zunächst zu fragen, wie wichtig uns der einzuprägende Stoff ist und welche Vorbehalte wir dagegen haben. Das Gehirn lernt nämlich permanent und spielerisch – aber eben nur das, was seine Aufmerksamkeit erregt. Wenn wir etwas anderes spannender finden als den Lernstoff, müssen wir daher immer unsere Prioritäten überprüfen. Nur was individuell als bedeutsam erlebt wird, weil es uns positiv anzieht oder aus Furcht alarmiert, zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Als Reaktion darauf wird das Hormon Dopamin in ausreichender Menge ausgeschüttet, was die Reizleitung in den Nervenbahnen fördert und Lernen erst ermöglicht. Sind wir aufmerksam, können wir diesen Zustand durch intensive Beschäftigung mit dem momentanen Thema unter angenehmen Bedingungen steigern. Derartige Achtsamkeit erfordert aber auch, weniger Wichtiges beiseite zu lassen und sich nicht zu verzetteln. Nicht umsonst schotten sich Mönche aller Religionen seit Jahrtausenden ab, um in ihrer Konzentration auf das Wesentliche nicht gestört zu werden. Für die Befriedigung der Grundbedürfnisse gibt es dabei stets genau festgelegte Orte und Zeiten.

Wichtig beim Lernen ist auch ein Belohnungssystem. Sie können komplexe Lernstoffe in überschaubare Portionen aufteilen, damit Sie für jeden Tag und jede Woche ein überschaubares Pensum vor sich haben. Gliedern Sie dieses in sinnvolle Einheiten wie die Kapitel eines Buches. Jedem Abschnitt und jedem Kapitel wird ein Zeitkontingent zugeordnet. Planen Sie dabei ausreichend Pufferzeiten für Unvorhergesehenes zwischendurch sowie für Wiederholungen und Korrekturen am Ende ein. Wer im Zeitplan bleibt, hat jederzeit ein gutes Gefühl und ein Erfolgserlebnis auch vor dem Abschluss der ganzen Arbeit (Schraeder-Naef, 1994). Diese Freude ist mit der Ausschüttung von Dopamin verbunden, was den eigentlichen Belohnungswert ausmacht. Werden Menschen nur gut bei Laune gehalten, strengen sie sich auch ohne reale Belohnung an und lassen sich auf diese Weise oft ausnutzen.

Um sich selbst bei guter Laune zu halten, ist neben klaren Prioritäten wichtig, die eigenen Grundbedürfnisse fest im Blick zu behalten. Bleiben Sie also nicht bis zur völligen Übermüdung bei der Arbeit, sondern hören Sie auf, solange Sie noch Freude empfinden. Das am Ende empfundene Gefühl bleibt in Erinnerung und entscheidet darüber, ob Sie beim nächsten Mal gern oder ungern wieder anfangen.

Wollen wir Gelerntes möglichst gut behalten, ist es am günstigsten, nach dem Lernen schlafen zu gehen und keine ablenkenden Aktivitäten zu beginnen. Dies könnte die Überführung des Gelernten in den Langzeitspeicher stören oder verhindern. Deshalb ist es so wichtig, sich in Arbeitspausen möglichst keine Ablenkung zu suchen, sondern sich ausschließlich auf die körperliche Erholung zu konzentrieren. Pausen sollten zudem rechtzeitig eingelegt werden, bevor sich Ermüdung einstellt. Aus der Beanspruchungsforschung wissen wir, dass die Konzentration spätestens nach 45 Minuten nachlässt. Deshalb sollte die Pause vorher eingelegt werden. Ist die Anstrengung besonders groß oder der Stoff besonders schwierig, kann eine Unterbrechung auch schon nach zehn Minuten fällig sein. Eine neurophysiologisch optimale Pause besteht darin, Flüssigkeit aufzunehmen (zwei Liter Wasser am Tag), sich körperlich zu entspannen und zu bewegen (vor allem bei sitzender Tätigkeit). Sie sollte drei bis vier Minuten dauern. Dann geht es weiter, um nicht in Ablenkung zu verfallen.

Man sollte keinesfalls andere ablenkende Tätigkeiten beginnen, die weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern sich psychohygienisch zum Beispiel gegen Telefon, Radio usw. abschirmen. Solche attraktiven Alternativaktivitäten sollten Sie optimalerweise an das Ende des Arbeitstags verlegen und als „Belohnung“ vorsehen – aber erst, wenn Sie Ihr Tagespensum erfüllt haben!

Der Lern- und Behaltenseffekt lässt sich steigern, indem Sie das Gelernte regelmäßig ausprobieren und mit anderen über den Lernstoff sprechen. So überprüfen Sie, ob Sie alles behalten und richtig verstanden haben. Durch derlei Feedback erfahren wir, ob wir Fortschritte gemacht haben, und setzen uns Anreize, alles immer noch besser zu machen und den Zeitplan einzuhalten.

Zusammenfassung

Werden Erfahrungen kurz- oder langfristig im Gehirn gespeichert, wird dies Lernen genannt. Es verhilft zu strukturiert gespeichertem Wissen, das sich jederzeit abrufen lässt. Wenn dieses Wissen nicht abrufbar ist, kann das Gehirn keine Zuordnungen vornehmen; hier spricht man von Vergessen. Dem Individuum bewusst zugänglich sind verschiedene Langzeitgedächtnissysteme: das episodische, das Wissens-, das prozedurale Gedächtnis sowie das Priming. Lernen selbst erfolgt auf verschiedenen Ebenen: Das instrumentelle Lernen basiert auf unserem Handeln, das Reiz-Reaktions-Lernen als klassische Konditionierung auf Reizen, die im unbewussten Gedächtnis gespeichert werden. Auch durch Beobachtungen kann man lernen und mit einem geeigneten Belohnungssystem sogar das Lernen selbst trainieren und die Lernfähigkeit verbessern.

4 Grundbedürfnisse, Motive/Motivation

Motive sind zeitlich stabile Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen und Ziele vorgeben. Die primären Motive sind angeborene Bedürfnisse nach Nahrung, Flüssigkeit, Leben und Unversehrtheit, Temperaturregulation, Fortpflanzung und Brutpflege. Damit im Zusammenhang stehen psychische Grundbedürfnisse sowie weitere Motive. Unterschieden werden sinnbildende und instrumentelle Motive. Zu den Ersteren zählen soziales Verantwortungsgefühl oder das Streben nach Selbstverwirklichung. Instrumentelle Motive richten sich darauf, Mittel und Wege zu finden, um ein wichtiges Ziel zu erreichen, zum Beispiel arbeiten wollen, um leben zu können (Hacker, 2005).

Wird ein Motiv aktiviert, entscheidet die aktuelle Motivation darüber, ob das damit verbundene Ziel angesteuert wird. Auch wenn wir unseren Beruf lieben, weil er uns Selbstbestätigung gibt und den Lebensunterhalt sichert, haben wir trotzdem nicht immer gleich viel Lust zur Arbeit: Die aktuelle Motivationslage kann durch andere Motive und Motivationen, zum Beispiel, etwas mit der Familie unternehmen oder einfach ausruhen zu wollen, beherrscht sein. Dann wird die Leistungsmotivation durch Gegenmotivationen aufgehoben.

Motivation, die auf eigene innere Motive zurückgeht, bezeichnet man als intrinsisch, durch äußere Anreize und Verlockungen entstehende Motivation als extrinsisch (Rheinberg, 2004). Letztere verflüchtigt sich leicht, wenn die Anreize entfallen.

Psychische Grundbedürfnisse

Die psychischen Grundbedürfnisse sind im Gehirn in eigenen neuronalen Schaltkreisen verankert. Diese sind untereinander vernetzt und aktivieren sich gegenseitig, wenn ein Grundbedürfnis bedroht ist (Grawe, 2004). Man unterscheidet

das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, das Bedürfnis nach Lust und Unlustvermeidung, das Bedürfnis nach Selbstbestätigung, das Bedürfnis nach Bindung.

Die psychischen Funktionen sind lebenslang grundlegend darauf ausgerichtet, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Stimmen eingehende Informationen mit den Erwartungen überein, erleichtern Dopaminneuronen über neue synaptische Verbindungen das Lernen. Dopamin ist ein Neurotransmitter (Botenstoff), der die Weiterleitung von Reizen im Gehirn fördert und aktivierend wirkt. Unangenehme Überraschungen dagegen aktivieren das Kontrollbedürfnis und führen zur Hemmung der Dopaminneuronen.

Um Grundbedürfnisse zu befriedigen und uns vor Enttäuschung zu schützen, entwickeln wir neuropsychische Schemata als „Steuersoftware“, die ausgerichtet ist auf

positive Ziele und Befriedigung (Annäherungsschemata): Wenn zum Beispiel jemand freundlich auf uns zukommt, freuen wir uns darüber und nehmen Kontakt auf. Wir brauchen dann nicht lange zu überlegen, wir lächeln, sagen und tun automatisch das Richtige. Mit den Bedürfnissen nach Bindung/Kontakt und Selbstbestätigung verbundene neuropsychische Schemata sorgen für das Weitere. Wir empfinden solches Verhalten als „spontan“ und „natürlich“, das unsere unbewusst wirksamen Annäherungsschemata üblicherweise auslösen. Vermeidung von Verletzungen, Enttäuschung oder Bedrohung (Vermeidungsschemata): Wenn uns zum Beispiel jemand bedrohlich oder mürrisch erscheint, weichen wir intuitiv, das heißt aufgrund eines aktivierten Vermeidungsschemas, zurück und schützen uns auf diese Weise vor Selbstwertbeschädigung, Kontrollverlust und Unlust- oder Schmerzerfahrungen (Kaiser, 2007).

Zu den einzelnen neuropsychischen Schemata gehören entsprechende Erwartungen und Verhaltensrepertoires sowie die passenden Verschaltungen im Gehirn, die im Lauf der Entwicklung immer weiter ausdifferenziert werden. Wenn die individuellen Bedürfnisse bereits von Kindheit an befriedigt werden, entwickelt der Betreffende überwiegend Annäherungsschemata und macht damit ermutigende Erfolgserfahrungen. Diese Erlebnisse tragen sehr zu günstiger Entwicklung, Wohlbefinden und Gesundheit bei. Hingegen entwickeln Menschen in einem bedrohlichen oder enttäuschenden familialen Umfeld Vermeidungsschemata, werden misstrauisch und verschließen sich. Starke Vermeidungsschemata können später die positive Bedürfnisbefriedigung auch in solchen Situationen behindern, in denen gar keine Beeinträchtigung droht. Davon Betroffene sind eher unzugänglich, lassen Kontaktmöglichkeiten eher vorbeiziehen oder „müssen“ gute Beziehungen (zer-)stören, weil sie die Nähe nicht aushalten können. Dies geschieht nicht aus bösem Willen, sondern ist durch unbewusste neuropsychische Vermeidungsschemata gesteuert. Man spricht hier von Bindungsstörungen, von denen in unterschiedlicher Ausprägung mehr als ein Drittel der Normalbevölkerung und praktisch alle depressiven Menschen betroffen sind (Grawe, 2004; siehe Kapitel E6). Wir können uns viele Enttäuschungen und Verletzungen ersparen, wenn wir solche Neigungen rechtzeitig und klar genug erkennen. Auf den Umgang mit solch schwierigen Mitmenschen kommen wir noch ausführlich zu sprechen (siehe Kapitel F7).

Häufige Frustrationen führen zu starken negativen Emotionen und entsprechenden physiologischen, hormonellen und neuronalen Reaktionen. Unabgesättigte Bedürfnisspannungen – gewissermaßen die Kluft zwischen Bedürfnis und realer Erfahrung – bilden die Grundlage für Vermeidungslernen. Der oder die Betroffene wird versuchen, es sich leichter zu machen, indem er oder sie Kontakte schnell beendet oder von vornherein vermeidet. Je stärker sich Vermeidungsschemata entwickeln, desto mehr ist aber die Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse infrage gestellt (Grawe, 2004).

Frühe Erfahrungen beeinflussen in hohem Maße die nachfolgenden Lebensabschnitte. Hohe Reizbarkeit, Stress- und Ärgeranfälligkeit sowie schlechte Regulation der Gefühle gehen einher mit schlechter Bewältigung von Lebenssituationen, einseitig negativer Wahrnehmung, starken negativen Gefühlen und Gedanken. Dadurch entwickeln sich im Gehirn mit der Zeit komplexe neuronale Erregungsmuster, die zu stark gebahnten neuropsychischen Schemata werden. Diese verselbstständigen sich zunehmend und tragen zu psychischen Störungen bei (zum Beispiel Depressionen, siehe Kapitel E6).

Bedeutung von Genen und Entwicklung

Es gibt genetische Anlagen, die eine erhöhte Erregbarkeit und erschwerte Beruhigbarkeit verursachen. Solche Veranlagungen müssen aber nicht zwangsläufig zu Fehlentwicklungen führen. Ob Gene sich auf die Entwicklung auswirken (Genexpression), hängt oft von äußeren Voraussetzungen und Erfahrungen im Lauf der Entwicklung ab (LeDoux, 2003).

Menschliche Entwicklung beginnt bereits im Mutterleib. Die genetische Anlage zu einem „Vermeidungstemperament“ prägt sich zum Beispiel aus, wenn sich die Schwangere unwohl fühlt und damit auch das Ungeborene unter Stress gerät. Dies geschieht vor allem, wenn zum Beispiel die Schwangerschaft unerwünscht ist oder Konflikte mit dem Partner oder in der Familie auftreten. Dann werden in den Nervenzellen von Mutter und Kind die Stressgene angeschaltet und beider Organismen in Alarmzustand versetzt. Wenn dies häufig und intensiv passiert, pendelt sich ein hohes Erregungsniveau als Dauerzustand ein. So können durch überstarke Adrenalinund Cortisolausschüttung Hirnschädigungen entstehen, die wiederum eine erhöhte Erregbarkeit und Stressanfälligkeit bedingen. Während der Schwangerschaft (pränatal) oder im Lauf der Geburt (perinatal) kommt es zudem nicht selten durch mechanische Einwirkungen, Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr, Stress oder ähnliche Komplikationen zu Schädigungen des Fötus. Diese können sich später als besondere Empfindlichkeit bemerkbar und den Umgang mit dem Kind schwierig machen („Schreikinder“; Petermann et al., 2004). Davon betroffene Kinder haben noch Chancen, wenn sich eine fähige, feinfühlige Mutter zuverlässig und liebevoll um sie kümmert und sich durch das unangenehme Schreien nicht irritieren lässt. Da das Gehirn flexibel reagieren und sich auch in späteren Jahren wieder verändern kann, bewirken gute freudvolle Bindungserfahrungen selbst bei Erwachsenen in fortgeschrittenem Alter oft noch eine Wendung zum Guten. Neue Erfahrungen lassen neue positive neuropsychische Schemata entstehen. Die alten Schemata werden aber nicht gelöscht, sondern nur deaktiviert. Sie leben bei erneuten unguten Erfahrungen möglicherweise wieder auf (Grawe, 2004). Traumatisierte Menschen bleiben besonders empfindlich und sollten sehr sorgfältig auf sich achten und sorgsam behandelt werden.

Motivationsverlust

Bei Misserfolgserlebnissen in persönlich wichtigen Bereichen wie Arbeit oder Partnerschaft werden die Bedürfnisse nach Selbstbestätigung, Kontrolle und Unlustvermeidung frustriert. Geschieht dies fortlaufend, reagieren wir zunehmend mit Entmutigung, die Motivation nimmt ab. Dieser Prozess wird auch als „innere Kündigung“ bezeichnet (siehe Abb. 2). Dabei kommt es zu charakteristischen Abläufen: Rückschläge im Umgang und Konflikte mit Kollegen lassen die Arbeitssituation in einem immer ungünstigeren Licht erscheinen. Wenn man nur an die Arbeit denkt, wird einem schon schlecht – es kommen immer mehr ungute Gefühle hoch. So entsteht immer mehr Distanz, der Betroffene blockt innerlich ab. Zunehmend meint er, sich zu erinnern, dass die Arbeit, der Betrieb und die Kollegen von Anfang an problematisch waren. Positive Erinnerungen werden immer mehr ausgeblendet, die Geschichte wird neu und negativ geschrieben. So wird der sich verstärkende innere Rückzug gerechtfertigt und der Ausstieg vorbereitet. Ähnliche Prozesse laufen ab, wenn man von zwischenmenschlichen Beziehungen enttäuscht ist und sich entfremdet (siehe Kapitel C7).

Abb. 2: Befunde zum Prozess der (inneren) Kündigung (Kaiser, 2002; in Anlehnung an Schneewind, 2002)

Umgang mit Lustlosigkeit und Motivationsblockaden

Arbeit und Lernen gelingen am besten, wenn dabei die Grundbedürfnisse berücksichtigt und die Inhalte mit den individuellen Interessen und aktuellen Befindlichkeiten abgeglichen werden. Hat man einmal keine Lust oder spürt Widerstände, ist es folglich sinnvoll, sofort und rechtzeitig genauer nachzuforschen, was es damit auf sich hat. Hierfür gibt es ein einfaches Rezept: Fragen Sie sich von Anfang an immer wieder, ob die gesetzten Ziele wirklich mit Ihren und den Grundbedürfnissen aller Beteiligten vereinbar sind. Nehmen Sie Papier und Bleistift und notieren Sie, inwieweit Ihre aktuelle Situation den einzelnen Grundbedürfnissen gerecht wird. Überlegen Sie, wie dies optimalerweise sein müsste und wo Sie am leichtesten ansetzen können.

Eine dauerhaft hohe Motivation entwickelt sich nur, wenn es gelingt, Leben und Beziehungen so einzurichten, dass ein möglichst hohes Maß an Befriedigung aller wichtigen Grundbedürfnisse erreicht wird. Dies kommt allen zugute, da innere Ausgeglichenheit und Gesundheit der Beteiligten wiederum die Beziehungen fördern. In diesem Zusammenhang ist ein wertschätzender, ermutigender Umgang mit sich selbst und anderen besonders wichtig.

Zur Optimierung der eigenen Motivation und Psychohygiene empfehlen sich zum Beispiel regelmäßige Versenkungsübungen (siehe F4, Focusing). Dabei können Sie zunächst sammeln, welche Bedürfnisse (Motivationen) Sie momentan haben und welche am wichtigsten sind. Nach dieser Bestandsaufnahme lässt sich leichter entscheiden, wie Sie Ihre Prioritäten setzen wollen. Dabei ist zu beachten, wie Ihre mittel- und längerfristigen Ziele aussehen und wie wichtig Sie diese nehmen (siehe Kapitel A2).

Wenn Sie sich selbst klar darüber geworden sind, was Sie wollen oder brauchen und was nicht, sollten Sie die anderen Beteiligten (Angehörige, Kollegen, Freunde etc.) nach ihren Bedürfnissen und Wünschen fragen und erst danach die Ihrigen benennen. Signalisieren Sie den anderen Akzeptanz und Verständnis und versuchen Sie dann, zu einem Abgleich der Wünsche und Interessen aller zu kommen. Dabei ist es wichtig, das Gespräch so zu führen, dass Sie Gemeinsamkeiten mit Ihren Gesprächspartnern herausfinden und diese sich von Ihnen als Personen wertgeschätzt fühlen – auch und gerade, wenn Sie in einzelnen Bereichen unterschiedliche Ziele und Bedürfnisse haben.

Zusammenfassung

Bedürfnisse beeinflussen unser Handeln und Erleben wesentlich. Dabei sind stabile Motive und Bedürfnisse, die sich auf dauerhafte Ziele richten, von vorübergehenden Motivationszuständen zu unterscheiden. Von Letzteren hängt ab, was wir aktuell wollen oder vermeiden. Für Gesundheit und Wohlbefinden ist es bedeutsam, in der Lebensführung die wichtigen Bedürfnisse zu berücksichtigen und Stress zu vermeiden.

5 Persönlichkeit

Der Begriff „Persönlichkeit“ ist von dem lateinischen Wort „persona“ abgeleitet, das so viel wie Rolle, Maske oder Charakter bedeutet. Im antiken Theater traten die Schauspieler mit Masken auf, die für bestimmte Rollen und Charaktere typisch waren. So versteht man in der Psychologie unter Persönlichkeit die Gesamtheit der stabilen psychischen Eigenschaften, die ein Individuum von anderen unterscheidet. Hierzu gehören die Kennzeichen des Denkens und Handelns, Gefühle, Vorlieben und Abneigungen sowie Einstellungen. Andererseits wirkt sich die Persönlichkeit in Form von Einstellungen, Modellvorstellungen und Verhaltensweisen darauf aus, wie die Umwelt wahrgenommen wird (Backhaus, 2004). Persönlichkeit ist als einzigartige Kombination von Ausprägungen zentraler Eigenschaften zu verstehen (Asendorpf, 2004).

Das derzeit anerkannteste Modell der Persönlichkeit ist das Fünf-Faktoren-Modell. Es umfasst Kategorien, die in vielen Kulturen verwendet werden, um Menschen zu beschreiben (Amelang/Bartussek, 2006; siehe Abb. 3). Diese fünf Faktoren haben sich ergeben, indem Tausende von Menschen mit umfangreichen Fragebögen befragt und die Antworten mithilfe einer statistischen Methode (Faktorenanalyse) ausgewertet wurden (McCrae/Costa, 1999; siehe Abb. 3). Aufwändige Untersuchungen in unterschiedlichen Ländern haben die kulturübergreifende Gültigkeit dieses Modells gezeigt. Andere bekannte Persönlichkeitsmodelle lassen sich in die Struktur des Big-Five-Modells als universaler Theorie der Persönlichkeit integrieren. Die fünf wichtigsten Persönlichkeitseigenschaften sind:

Abb. 3: Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (Schuler 2004, 304)

emotionale Irritierbarkeit (Neurotizismus), Extraversion, Umgänglichkeit und Kontaktfreudigkeit, Existenz und Ausdruck positiver Emotionen sowie Geltungsbedürfnis, Offenheit für neue Erfahrungen, Kultiviertheit, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit.

Die individuelle Ausprägung jedes Merkmals kann sich zwischen „extrem niedrig“ und „extrem hoch“ bewegen. Persönlichkeitseigenschaften entwickeln sich auf der Grundlage genetischer Dispositionen in Interaktion mit der Umwelt wesentlich in den ersten Lebensjahren und bleiben danach relativ stabil. Dennoch können sich einzelne Persönlichkeitseigenschaften weiterentwickeln. Srivastava et al. (2003) haben gezeigt, dass Menschen mit zunehmendem Alter verträglicher, gewissenhafter und emotional stabiler werden. Andererseits gehen Extraversion und Offenheit im Alter zurück. Die Veränderungen jenseits des 30. Lebensjahrs fallen jedoch deutlich moderater aus als die in Kindheit und Jugend.

Die Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaften unterscheidet sich auch bei den Geschlechtern: Frauen beschreiben sich in Persönlichkeitstests im Allgemeinen als verträglicher, Männer als emotional stabiler. Da Persönlichkeitstests mit Selbstbeschreibungen arbeiten, sind keine Aussagen darüber möglich, inwieweit dies den Tatsachen entspricht. Entscheidend ist, dass Frauen und Männer sich unterschiedlich darstellen (Backhaus, 2004).

Der Persönlichkeitsentwicklung zugute kommen vor allem eine fördernde und gut funktionierende Familie sowie gute Beziehungen zu Gleichaltrigen. Auch Umweltfaktoren wie das Klima wirken sich auf Persönlichkeitsmerkmale aus: So stellten Oliver John und seine Mitarbeiter an der Universität Berkeley fest, dass die Menschen in Regionen mit häufig schlechtem Wetter emotional irritierbarer sind (John, 2005). In dichter bevölkerten Gegenden sind die Menschen zwar offener und kultivierter, dafür aber weniger umgänglich und ungeduldiger. Wo es eine Vielfalt ethnischer Gruppen gibt, sind die Menschen aufgeschlossener. So beeinflusst die Umwelt anscheinend die Ausprägung von Persönlichkeitsmerkmalen. Auf der anderen Seite suchen wir solche Umgebungen, die zu unserer Persönlichkeit passen. Anscheinend neigen besonders offene Menschen verstärkt dazu, in dicht bevölkerte, ethnisch vielfältige Gebiete zu ziehen. In vielen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Menschen sich solche Umgebungen aussuchen, die ihren Veranlagungen und ihrem Selbstbild entsprechen und ihnen einen Belohnungswert bieten (Person-Umwelt-Passung). Menschen unterscheiden sich aber nicht nur in den Ausprägungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale, sondern auch in der Art und Weise, wie sie Informationen verarbeiten. Individuelle Unterschiede lassen sich etwa durch Intelligenztests erfassen. Der eine hat zum Beispiel ein besonders gutes räumliches Vorstellungsvermögen, der andere eine hohe sprachliche Kompetenz.

Je nachdem, welche Persönlichkeitseigenschaften im Vordergrund stehen, entwickelt sich das Selbstkonzept unterschiedlich. Hohe emotionale Irritierbarkeit, Introversion und Schüchternheit gelten als Risikofaktoren zum Beispiel für weniger Erfolg bei der Partnersuche und in der Paarbeziehung. Eine Partnerschaft stabilisiert die positive Entwicklung der Persönlichkeit, was wiederum der Beziehung zugute kommt. Neyer und Asendorpf (2001) zeigten in einer repräsentativen Langzeitstudie, dass junge Erwachsene, die in einer festen Paarbeziehung leben, emotional stabiler und selbstsicherer sowie kontaktfreudiger und gewissenhafter wurden. Dieser Effekt blieb auch nach einer Trennung stabil. Keine oder unbefriedigende Beziehungen dagegen destabilisieren die Persönlichkeit. Die emotionale Irritierbarkeit steigt, was die gesundheitliche Prognose und auch die Lebenserwartung ungünstig beeinflusst (Horwitz et al., 1996).

Für Frauen und Männer stellen sich die Befunde zur Verknüpfung von Persönlichkeit und Beziehungsqualität unterschiedlich dar: Während Extraversion und emotionale Stabilität beider Partner für den Kommunikationsstil in der Partnerschaft relevant sind, kommen bei den Männern zusätzlich deren Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit hinzu. Dabei kommt es sehr auf die partnerschaftsrelevanten Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit und Feinfühligkeit an (Kaiser, 2007).

Starken Einfluss hat die Persönlichkeit auch auf den Erziehungserfolg von Eltern. Reife, psychisch gesunde Eltern können ihre Rolle am besten wahrnehmen. Sie sind mit einem hohen Maß an Empathie am ehesten in der Lage, ihren Kindern eine warme und verantwortungsvolle, an klaren, in sich stimmigen Regeln und Strukturen orientierte (autoritative) sowie wachstumsfördernde Erziehung zuteil werden zu lassen. Selbstbewusste, souveräne Eltern pflegen eher einen konstruktiven Umgangsstil und zeigen mehr Wärme, Akzeptanz und Unterstützung, was eine positive Bindung des Kindes fördert. Dagegen wurde wiederholt festgestellt, dass depressive Mütter ihren Kindern mit weniger Empathie begegnen. Sie sind inkonsequenter bei ihrer Erziehung und neigen dazu, die Kinder mehr und härter zu bestrafen. Bei einer Konfrontation mit dem Kind ziehen sie sich eher zurück. Darüber hinaus sind depressive Mütter häufiger schlechter Stimmung. Darauf reagieren Kinder zunehmend mit negativen Gefühlen und Gereiztheit.

Viele Untersuchungen haben wesentliche Zusammenhänge zwischen den fünf wichtigen Persönlichkeitseigenschaften und berufsrelevanten Kompetenzen gezeigt. Daher werden Persönlichkeitstests immer häufiger im Rahmen psychologischer Personalauswahlmethoden verwendet.

Zusammenfassung

„Persönlichkeit“ umfasst sämtliche stabilen Eigenschaften eines Menschen, die sich im Verlauf des Lebens nur wenig verändern. Persönlichkeitseigenschaften werden aufgrund genetischer Anlagen und früher Erfahrungen entwickelt und verfestigen sich durch Erfahrungen im Lauf der Entwicklung. Sie werden meist mittels eines Fünf-Faktoren-Modells ermittelt.

Die Persönlichkeit ist in ihrer Merkmalskombination einzigartig. Persönlichkeitsmerkmale haben großen Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Bindungen von Menschen untereinander.

6 Selbst, Selbstbild und Selbstwertgefühl

Das Selbst umfasst alles, was einen Menschen ausmacht, seine Persönlichkeit, real praktizierte Lebenskonzepte, innere Modelle und Schemata und vieles mehr. In Interaktion mit der Umwelt entwickelt es sich ständig weiter. Dieses Selbst ist von anderen beobachtbar, in seiner Komplexität der Person selbst jedoch nur ausschnitthaft bewusst. Andere nehmen uns anders und meist vielschichtiger wahr, als uns selbst dies möglich ist. So erklären sich Diskrepanzen zwischen Selbstbild und Fremdbild. Selbsterkenntnis ist von jeher ein menschliches Anliegen. So fordert zum Beispiel eine Inschrift am Apollo-Tempel im griechischen Delphi aus dem 4. Jahrhundert vor Christus die Pilger auf: „Erkenne dich selbst!“ Durch Selbstreflexion sind wir in der Lage, zu einer komplexeren Sichtweise der eigenen Person, zu einem erweiterten Bild von uns selbst (Selbstbild) zu gelangen und uns neue Handlungsspielräume zu erschließen. Hier liegen auch die Möglichkeiten von Selbsterfahrung und Psychotherapie (siehe Kapitel G).

Das Selbstbild entwickelt sich besonders über Rückmeldungen von anderen Menschen, zunächst vor allem innerhalb der Familie. Zum Selbstbild gehören Sollwerte, die zur Bewertung von Erfahrungen mit der eigenen Person herangezogen werden. Werden die Kriterien erfüllt, erfährt das Kind von seinen Eltern Bestätigung und kann sich dieses Gefühl später selbst geben. Daraus entwickelt sich allmählich eine gefühlsmäßige Einstellung zur eigenen Person. Je nach Rückmeldung und Kriterien kommt es zu Bewertungen wie

„Ich bin zu dick.“ „Ich bin nicht der Schnellste im Rechnen.“ „Ich müsste im Tennis besser sein.“ „Beim Skifahren bin ich eine der Besten meiner Gruppe.“

Diese Sätze zeigen, dass sich das Selbstbild immer auf bestimmte Bereiche wie Körper, Schulfächer oder eine Sportart bezieht. Geht es um Fähigkeiten und Fertigkeiten, spricht man auch von Kompetenzbewusstsein oder Selbstwirksamkeitserleben (Bandura, 1977). Die Selbstbilder und das Selbstwertgefühl sind also je nach Bereich verschieden. Es gelten jeweils spezielle Standards, die wir oftmals übernehmen, ohne zu prüfen, ob sie auch zu uns passen. So wenden wir leicht Kriterien an, die für unsere persönlichen Verhältnisse gar nicht geeignet sind. Wenn wir uns mit Supermodels und Hochleistungssportlern vergleichen, können die meisten von uns nur schlecht abschneiden. Ein überzogener Anspruch ist einerseits unrealistisch und andererseits für unser Grundbedürfnis nach Selbstbestätigung nachteilig. Die sorgfältige Auswahl von Bewertungskriterien hat auch etwas mit der Achtung und der Achtsamkeit zu tun, mit der wir uns selbst und anderen begegnen. Wenn wir übertrieben hohe Anforderungen stellen, verhalten wir uns nicht fair und entmutigen uns selbst und andere leicht. Psychohygienisch günstiger ist es, wenn wir herausfordern, ohne zu überfordern.