Psychosomatische Anthropologie - Eckhard Frick - E-Book

Psychosomatische Anthropologie E-Book

Eckhard Frick

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Beschreibung

Medizin und Psychotherapie entwerfen mit verfeinerten diagnostischen Methoden ein immer klareres Bild vom Menschen, z. B. durch die Entschlüsselung des Genoms und durch die Untersuchung des Hirnstoffwechsels. Von welchem Menschenbild gehen die Wissenschaften aus, wenn sie den Menschen zum Gegenstand ihrer Forschung machen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen unserem zunehmenden Wissen über den Menschen und dem Unbewussten als dem Kern des Psychischen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Leib, der ich bin, und dem Körper, den ich habe, der vom Arzt untersucht und behandelt wird? Die 2. Auflage greift Fragen und Erfahrungen von Fachleuten und Studierenden auf und erschließt in zehn Kapiteln die zentralen Themen des Menschseins (z. B. Bindung, Angst, Leiden, Trauer) für Gesundheit, Krankheit und Therapie. Besonderer Wert wird dabei auf den Dialog zwischen Psychosomatik und der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Wesen des Menschen gelegt. Die Suche nach der Seele des Menschen wird ebenso thematisiert wie das Embodiment als aktueller Leitbegriff der Psychosomatik.

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Eckhard Frick

Psychosomatische Anthropologie

Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium

Unter Mitarbeit von Harald Gündel

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

 

 

In dankbarer Erinnerung an Ulrich Niemann (1935–2008)

 

 

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023036-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028873-7

epub:    ISBN 978-3-17-028874-4

mobi:    ISBN 978-3-17-028875-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

Statt eines Vorworts: Ein Gespräch zwischen Eckhard Frick und Harald Gündel

Gebrauchsanleitung

1 Der sich bindende Mensch

1.1 Was ist Bindung?

1.2 Neurobiologie der Bindung

1.3 Wahrnehmen und Bewegen: Gestaltkreis

1.4 Bindungsstile

1.5 Komplexe

1.6 Archetypen

1.7 Soziale Wahrnehmung

1.8 Repräsentation

1.9 Konflikt

1.10 These und Fragen 1

2 Der Zeichen verstehende Mensch

2.1 Zeichen und Symbole nach C. G. Jung

2.2 Input/Output (Reflex)

2.3 Lebenskreis: Die biologische Differenz

2.4 Anthropologische Differenz

2.5 Greifen und Zeigen (Joint attention)

2.6 Biosemiotik

2.7 Symptom

2.8 Vom Zeichen zum Symbol

2.9 Verstehen

2.10 These und Fragen 2

3 Der träumende Mensch

3.1 Traumdeutung (S. Freud)

3.2 Neurobiologie des Träumens

3.3 Der »Königsweg«

3.4 Das Unbewusste: Schibboleth der Psychoanalyse

3.5 Primär- und Sekundärprozess

3.6 Träume deuten

3.7 Theatermodell des Traumes

3.8 Imagination

3.9 Kreativität

3.10 These und Fragen 3

4 Der spielende Mensch

4.1 Die Holzspule

4.2 Neurobiologie von Spiel und Ausgeschlossensein

4.3 Spielfeinfühligkeit

4.4 Der Übergangsraum

4.5 Das Paradox der Arbeit: der Flow

4.6 Arbeitsstörungen

4.7 Schauspieler, Rolle, Person, Subjekt

4.8 Zwang

4.9 Heiliges Spiel

4.10 These und Fragen 4

5 Der sich ängstigende Mensch

5.1 Kierkegaard: Sich ängstigen lernen

5.2 Schwindel (V. v. Weizsäcker)

5.3 Die Affekte als modulares Zeichensystem

5.4 Propositionale Struktur der Affekte

5.5 Von Affekten zu Gefühlen

5.6 Was ist eine Neurose?

5.7 Eustress und Disstress

5.8 Dissoziation

5.9 Trauma

5.10 These und Fragen 5

6 Der Körper, den ich habe. Der Leib, der ich bin

6.1 Leib vs. Körper: eine sprachliche und anthropologische Differenzierung

6.2 Die Naturalismusfalle

6.3 Körper-Diskurse

6.4 Dienlichkeit vs. Lebendige Diensthaftigkeit

6.5 Zwischenleiblichkeit und Embodiment

6.6 Der Mensch – Mann und Frau

6.7 Scham

6.8 »Verwesung«: Die Leiche

6.9 Räume

6.10 These und Fragen 6

7 Der leidende Mensch

7.1 Ontisch vs. pathisch (V. v. Weizsäcker)

7.2 Spiegelneuronen

7.3 Zweifühlung

7.4 Sucht

7.5 Heilung

7.6 Hoffnung

7.7 »Total pain«

7.8 Krankheitsverarbeitung

7.9 Sorge und Care

7.10 These und Fragen 7

8 Der schuldige Mensch

8.1 Existenziales Schuldigsein (M. Heidegger)

8.2 Mindblindness

8.3 Sünde als philosophische Frage

8.4 Schuld-Scham-Dilemma

8.5 Schicksal

8.6 Gewissen und Wertprüfung

8.7 Schatten und Persona

8.8 Schuldgefühl

8.9 Schuldbewältigung

8.10 These und Fragen 8

9 Der trauernde Mensch

9.1 Trauer und Melancholie (S. Freud)

9.2 Neurobiologie der Trauer

9.3 Trauerarbeit

9.4 Das Symbol entsteht aus der Trauer

9.5 Wann ist der Mensch tot?

9.6 Trauma und Trauer

9.7 Trost

9.8 Abschiedlichkeit

9.9 Übergangs-Riten

9.10 These und Fragen 9

10 Der lebende Mensch

10.1 Das kleine Ich und das große Selbst (F. Nietzsche)

10.2 Neurobiologie des selbstbezogenen Prozesses

10.3 Spiegel

10.4 Verlierbarkeit des Ich

10.5 Ich-Selbst-Achse

10.6 Narzissmus, »falsches Selbst«

10.7 Seele: Die psychologische Differenz

10.8 Transzendenz

10.9 Spiritualitäten

10.10 These und Fragen 10

Nachwort: Was ist aus der Frage nach dem Menschen geworden?

Literatur

Stichwortverzeichnis

Personenregister

Statt eines Vorworts: Ein Gespräch zwischen Eckhard Frick und Harald Gündel

 

 

 

EF:

Warum ist für Dich als psychosomatischer Kliniker und Forscher die Anthropologie interessant, die Lehre vom Menschen, wie sie von der Philosophie betrieben wird, aber auch von vielen anderen Einzelwissenschaften wie z. B. der Völkerkunde, Soziologie, Theologie?

HG:

Bei der Anthropologie geht es um unsere Wurzeln. Darauf kann die heutige Psychosomatik stehen und neue Ideen entwickeln, neue interdisziplinäre Projekte aufgreifen, um zu innovativen Lösungen zu kommen, z. B. um die gesundheitlichen Risiken der Arbeitslosigkeit zu erfassen und zu bekämpfen, oder um Konflikt- und Stressbewältigung in der Industrie zu verbessern. Wir brauchen dafür immer mehr Synergien zwischen der Psychosomatischen Medizin und der Psychotherapie einerseits und den Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Politik und den Geisteswissenschaften andererseits.

EF:

Um Synergien zu entdecken, benötigen wir ein gemeinsames Fundament. Das scheint uns aber gerade bezüglich des Menschen als »Forschungsgegenstand« zu entgleiten. »Es weiß seit langer zeit/niemand mehr was ein mensch ist.« So hat Bertold Brecht das Paradox ausgedrückt, dass wir immer mehr über den Menschen wissen und immer weniger, was er/sie ist. Am Ende seiner »Archäologie der Humanwissenschaften« spricht M. Foucault davon, dass der Mensch verschwinden könnte »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1966/1971: 462). Wir können den menschlichen Körper zwar immer genauer vermessen und auch wissenschaftlich-technisch manipulieren. Aber Kants Fragen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? beziehen sich auf die letzte: 4) Was ist der Mensch? (Logik IX: 25). Die Frage nach dem Wesen des Menschen bleibt in der Medizin unbeantwortet. Kants Frage »Was ist der Mensch?« wird von der Philosophischen Anthropologie nicht durch humanwissenschaftliche Fakten »beantwortet«, sondern vielmehr im Dialog mit den Humanwissenschaften offengehalten. Die Übereinstimmungen mit anderen Lebewesen scheinen das Menschengesicht auf den ersten Blick zu überspülen und zu verwischen, seine eigentümliche Geistigkeit und exzentrische Positionalität (Plessner) unterscheiden ihn jedoch radikal von Pflanzen und Tieren. Zugleich scheint es manchmal, als ob die evidenzbasierte Medizin eine implizite Anthropologie habe; als ob sie im Menschen eher eine Maschine, genauer gesagt: eine Maschine mit Bedürfnissen sehe. Wie können unsere impliziten Annahmen über den Menschen bewusst gemacht und reflektiert werden?

HG:

Irgendwie haben wir den Boden vergessen, auf dem wir stehen, die Fundamente unserer Geistesgeschichte. Die Generationen vor uns haben sich ja auch Gedanken über das Menschsein und Kranksein gemacht. Das sind Schätze, die es zu heben und zu bewahren gilt, die wir mit dem verknüpfen müssen, was heute aktuell ist, mit der Neurobiologie, mit den gemischten Methoden von qualitativ-verstehenden und quantitativ-messenden Zugängen.

EF:

Wie konnte es denn passieren, dass wir die Frage nach dem Menschen vergessen, wo wir es als Ärzte und Psychoanalytiker doch mit dem Menschen zu tun haben und schon dadurch Humanwissenschaftler sind?

HG:

Mir fällt da eine Visiten-Situation ein, eine Patientin, die nur ihre jetzigen Probleme lösen, aber nichts von ihrer Lebensgeschichte erzählen wollte. Sie war von ihrer Biographie abgeschnitten und wir haben ihr geholfen, wieder einen Zugang zur eigenen Geschichte zu finden, auch um die aktuellen Probleme besser und nachhaltiger zu lösen. Es gibt vielleicht so etwas wie eine große kollektive Biographie der Menschheit. Eine Erinnerung daran, was die Kulturen, Religionen, Denker, Künstler und Ärzte über unser Fühlen, Leiden, In-Beziehung-Sein wissen und wussten. Wie ein Einzelner von seiner Biographie abgeschnitten sein kann und dies anfangs überhaupt nicht mit seinem Leiden in Verbindung bringt, so sind wir vielleicht auch kollektiv in der Gefahr, von unserer gemeinsamen »Biographie« abgeschnitten zu werden. …

EF:

… und können vielleicht auch unser Leiden erst ungenau beschreiben. Aber es zeigt sich in den Symptomen der körperlosen Seelenheilkunde und der seelenlosen Körpermedizin. Ich finde diese Parallele zwischen dem Abgeschnittensein des Einzelnen von seiner Biographie und dem Abgeschnittensein von der Menschheits-»Biographie« sehr spannend. Wahrscheinlich können wir unseren Patientinnen und Patienten besser helfen, wenn wir als psychosomatische Fachleute das Vergessen der Seele bearbeiten. Hast Du den Eindruck, dass die Anthropologie dafür hilfreich sein kann?

HG:

Anthropologie fragt ja nach dem, was früher unbefangen als »Seele« des Menschen bezeichnet wurde, nach seinem Denken, Fühlen, Wünschen, nach seiner Ganzheit. Heute erforschen wir quantitativ und qualitativ das Verhalten und Erleben des Menschen. Aber im Gebrauch des Wortes »Psyche« werden wir immer unsicherer.

EF:

Eigentlich merkwürdig, dass ein Begriff, der im Namen unseres Fachgebietes steckt, von diesem Fachgebiet kaum mehr verwendet wird!

HG:

Ja, teilweise scheint die »Seele« in den Bereich der Spiritualität verschoben zu werden und in unserer medizinisch-naturwissenschaftlichen Sprache nicht mehr vorzukommen. Gerade die Neurobiologie will die dualistischen Tendenzen vermeiden, die mit dem Wort »Psyche« verbunden sind.

EF:

Sicher gibt es solche Tendenzen, besonders in der neuplatonischen Philosophie und ihren Auswirkungen auf das Christentum. Bei den vorsokratischen Dichtern und Denkern wird psychē jedoch überhaupt nicht dualistisch verstanden. Es meint Aspekte des ganzen Menschen: Atem, Lebendigkeit, Fühlen und Spüren. Wegen dieser Bedeutungen wurde das hebräische Wort næfæš (anatomische Grundbedeutung: Hals, Kehlkopf) meist mit dem griechischen psychē übersetzt. Auch Aristoteles und Thomas von Aquin denken nicht dualistisch, wenn sie die Seele als »Form des Leibes« definieren, gewissermaßen als unsichtbaren und identitätsstiftenden Bauplan. Dies passt erstaunlich gut zu einer neurobiologischen Sicht unseres Selbst:

 

»Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass die scheinbar felsenfeste Stabilität, die dem einen Geist und dem einen Selbst zu Grunde liegt, ihrerseits von flüchtiger Natur ist und auf der Ebene der Zellen und Moleküle einem ständigen Rekonstruktionsprozess unterworfen ist. Diese merkwürdige Situation – ein scheinbares, kein wirkliches Paradox – hat eine einfache Erklärung: Zwar werden die Bausteine, aus denen sich unser Organismus zusammensetzt, regelmäßig ausgetauscht, doch die architektonischen Pläne für die verschiedenen Strukturen des Organismus werden sorgfältig aufbewahrt. Es gibt einen Bauplan für das Leben, und unser Körper ist ein Bauwerk« (Damasio 1999/2002:175f).

HG:

Solche »Baupläne« können wir jedoch nicht direkt beobachten, ebensowenig wie den Selbst-Sinn, den laut Damasio unser Gehirn konstruiert. Aber wir wissen inzwischen mehr über einige grobe neuroanatomische Korrelate psychischer Funktionen, z. B. in der Bindungs- und Traumaforschung.

EF:

Ja, das sind Korrelate. Direkt beobachten können wir das emotionale Geschehen der Bindung jedoch nicht. Wir sind, wie Viktor von Weizsäcker sagt, entweder auf der »Psycho«- oder auf der »Soma«-Seite der Drehtür. Walach spricht vom Komplementaritätsprinzip und beruft sich auf die Quantenmechanik. Das Gemeinte macht er am Phänomen des Vexierbildes deutlich.

 

Abb.: Ludwig Wittgensteins »H-E-Kopf«: »Man kann ihn als Hasenkopf, oder als Entenkopf sehen. Und ich muss zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden« (Wittgenstein LWS: XI: 504).

Wenn wir als Beispiel Wittgensteins H-E-Kopf wählen: Entscheidend ist dabei, dass wir in der Regel nur ein Tier sehen (Hase oder Ente), nach einem Aspektwechsel möglicherweise das andere. Beide Aspekte sind erforderlich, um das Bild und den Gegenstand »H-E« korrekt zu beschreiben. So ist es auch mit der Psychosomatischen Anthropologie: Für ein und denselben Gegenstand – gemeint ist der Mensch! – wenden wir zwei gegensätzliche Beschreibungsweisen an, nämlich die naturwissenschaftlich-somatischen (Bildgebung, Psycho-Neuro Endokrinologie usw.) und die geisteswissenschaftlich-verstehenden Methoden aus Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Sozialwissenschaft usw.

HG:

Meinst Du, diese unterschiedlichen Beschreibungsweisen werden immer so scheinbar unvereinbar bleiben?

Gebrauchsanleitung

 

 

 

Dieses Buch möchte einen Beitrag zur philosophischen Grundlegung einer biopsycho-sozial und zugleich spirituell verstandenen Medizin und zur humanwissenschaftlichen Grundlegung der philosophischen Anthropologie leisten. Deshalb wird auch dort, wo empirische Fakten dargestellt werden, auf die entsprechenden philosophischen Probleme hingewiesen – umgekehrt soll deutlich werden, was die Medizin von der philosophischen Anthropologie lernen kann. Die Konzeption unserer Überlegungen ist also nicht additiv, sondern integrativ und interdisziplinär.

Das Buch gliedert sich in zehn Kapitel mit je zehn Paragraphen:

1.  Der sich bindende Mensch: Die Bindungstheorie gilt heute als zentrales Paradigma der Verhaltenswissenschaften. Über alle »Schulzugehörigkeiten« hinweg erlaubt sie den Dialog über die lebenslange menschliche Entwicklung.

2.  Der Zeichen verstehende Mensch: Zeichen und Symbole stellen die Elemente von Kausal- und Sinnzusammenhängen dar. Auf der genetischen Matrix aufbauend bedürfen sie auf allen Ebenen der Bedeutungserteilung durch den Menschen.

3.  Der träumende Mensch: Sigmund Freud bezeichnete den Traum als die »via regia«, den »Königsweg« zum Unbewussten. Stellt er auch einen Königsweg zum Menschen dar?

4.  Der spielende Mensch: Im herkömmlichen Verständnis stellt das kindliche Spiel einen Gegensatz zur erwachsenen Arbeit dar. Wie verhalten sich beide zueinander? Sind Arbeitsstörungen zugleich Spielstörungen?

5.  Der sich ängstigende Mensch: Søren Kierkegaard zufolge geht es nicht darum, angstfrei zu sein, sondern darum, sich in rechter Weise zu ängstigen. Wie ist die »rechte Weise« des Sich-Ängstigens zu beschreiben?

6.  Der Körper, den ich habe. Der Leib, der ich bin: Wie weit reichen die Versuche, den Menschen (als Körper) zu vergegenständlichen? Wie realistisch ist die Rede vom Menschen als Leib?

7.  Der leidende Mensch: Was lehren uns das menschliche Leiden und die verschiedenen Pathologien, die es erforschen, über den Menschen?

8.  Der schuldige Mensch: Ist der Mensch schuldfähig? Lässt sich die Rede von der menschlichen Schuld auf die beschreibenden und erklärenden Theorien vom Menschen reduzieren?

9.  Der trauernde Mensch: Dieses Kapitel greift Überlegungen zur Bindung (engl. attachment; frz. attachement) auf und fragt nach dem Abschied, nach der Lösung der Bindung (frz. détachement).

10.  Der lebendige Mensch: Dieses Kapitel stellt Modelle vor, welche die Selbst-Werdung des lebenden Menschen und deren Gefährdungen erfassen.

Jedem Paragraphen ist ein Lernziel vorangestellt, sodass Sie überprüfen können, wo der jeweilige Lernstoff im Gesamtkontext verortet ist und welche zusätzlichen Hilfsmittel Sie gegebenenfalls heranziehen müssen. Bevor Sie mit dem ersten Paragraphen eines Kapitels beginnen, sollten Sie jeweils den dort angegebenen Basistext lesen, der in die Thematik des Kapitels einführt. Auf diese Weise finden Sie anhand eines großen Denkers eine Orientierung und Konzentration auf das Wesentliche, um die folgenden Details einordnen zu können.

bezeichnet kurze Definitionen und Zusammenfassungen.

weist auf notwendige Unterscheidungen/Verwechslungsmöglichkeiten hin.

Mit sind jeweils Literaturhinweise für das weiterführende Eigenstudium markiert. Der zweite Paragraph ist ein neurobiologischer Exkurs, den Sie überspringen können, falls Ihnen das dort Gesagte schon bekannt ist oder Sie erst später darauf zurückkommen möchten. Der zehnte Paragraph besteht jeweils aus einer zusammenfassenden These sowie aus Fragen zur Selbstkontrolle. Beides soll Ihnen das Eigenstudium, die Diskussion in der Lerngruppe, den kollegialen Austausch und die Prüfungsvorbereitung erleichtern. Die Gliederung nach überschaubaren Paragraphen erleichtert es Ihnen, Ihren eigenen Weg je nach Interesse baukastenartig zusammenzustellen.

Diesem Zweck dienen auch Querverweise () zu anderen Paragraphen und die Register am Ende des Buches. Wir wünschen viel Spaß beim Studium und freuen uns über Rückmeldungen und über Hinweise auf alles, was Ihnen verbesserungswürdig erscheint.

Um den Stoff beim Lesen und Wiederholen zu strukturieren, können Sie sich eine persönliche Mindmap erstellen. Gehen Sie dabei am besten von den zehn Hauptbegriffen aus, und stellen Sie inhaltliche Verbindungen zwischen den Kapiteln her, z. B. zwischen Bindung und Spiel, Bindung und Trauer, Zeichen und Leib/Körper, Leib/Körper und Leiden. Tragen Sie Brückenbegriffe wie Trauma, Zeichen, Gefühl, Leib in Ihre persönliche Mindmap ein. Erarbeiten Sie sich von dort aus die peripher angegebenen Begriffe bzw. die in jedem Kapitel formulierten Lernziele und Thesen.

Wir danken allen, die das Entstehen dieses Buches unterstützt haben:

Ruprecht Poensgen, Ulrike Döring und dem Verlag W. Kohlhammer, Anna Buchheim für ihre Mitarbeit am Modul über die Neurobiologie der Bindung, unseren Studierenden in Philosophie, Medizin und Psychologie. Besonders hilfreich waren alle, die die 2. Auflage des Buches in ihren verschiedenen Entwicklungsphasen gelesen und kritisch kommentiert haben: Dominik Lutz, Katrin Voll und Jakob Müller.

München und Ulm im Frühjahr 2015

Eckhard Frick

Harald Gündel

1         Der sich bindende Mensch

Bowlby 1970/1975: 196–205

1.1        Was ist Bindung?

Lernziel 1.1

Sie wissen, dass Bindung eine Beziehung ist, in der Sicherheit entsteht. Sie können Beispiele für Bindungsverhalten nennen.

Auf Aristoteles wird eine berühmte Definition des Menschen zurückgeführt: Er ist ein Lebewesen, das lógos hat (Sinn, Wort, Vernunft), lat.: animal rationale. Wir müssen ergänzen: ein abhängiges vernünftiges Wesen. Denn mit unserer Geschichte von Bindung und Bedürftigkeit betreten wir den Raum der philosophischen Reflexion. Wenn wir die Vorgeschichte der Kindheit vernachlässigen, dann vernachlässigen wir auch, was im weiteren Leben an Bindung und Bedürftigkeit auf uns zukommt, und dies nicht erst im hohen Alter (MacIntyre 2006).

Bindung ist ein hypothetisches Konstrukt, das sich nicht unmittelbar beobachten lässt. Hingegen ist Bindungsverhalten eine Klasse von variablen und altersabhängigen Verhaltensweisen, mit denen das Kind Bindung (wieder-)herstellt. Die Bindungstheorie bildet die Grundlage für ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das eine besondere Klasse von Beziehungen untersucht, nämlich solche, die Sicherheit vermitteln. Sie gehört gleichermaßen zur Ethologie (Verhaltensbiologie), Entwicklungspsychologie (insbesondere zur psychoanalytischen) und zur empirischen Säuglingsforschung. Bindung als Urbeziehung entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bowlby zählt kindliche Reaktionen auf, die zu Bindungsverhalten führen, d. h. die Mutter zum Kind bringen und in seiner Nähe halten:

•  Schreien und Lächeln

•  Nachfolgen und Anklammern

•  Saugen

•  Rufen

Diese das beidseitige Bindungsverhalten auslösenden kindlichen Signale haben ihre Entsprechungen in der späteren menschlichen Entwicklung, aber auch in tierischen Äquivalenten. So können wir das Rufen als Äquivalent von Disstress-Schreien kleiner Tiere, aber auch verzweifelter menschlicher Schreie in Situationen des Verlassenseins verstehen. Weiterhin können Totstellen und Sich-Unterwerfen als desorganisiertes Bindungsverhalten verstanden und innerhalb der Human-Pathologie mit somatoformen (6) Lähmungen, Krämpfen oder Schmerzen in Verbindung gebracht werden.

Bowlby stellt seine Erläuterungen zum menschlichen Bindungsverhalten in den Kontext der vergleichenden Verhaltensforschung. Bei wenig entwickelten Affen geht die anklammernde Initiative ganz vom Affenbaby aus, mit fortschreitender Höherentwicklung kommt es zur »evolutionären Gleichgewichtsverschiebung von der Gesamtinitiative für die Kontakterhaltung vom Baby zur Mutter« (1970/1975: 196).

Beim Menschen entwickelt sich das Bindungsverhalten im Kontakt mit der Hauptbindungsperson (in der Regel der Mutter). Bowlby stützt sich auf Forschungen seiner Schülerin Mary Ainsworth, die später den »Fremde-Situations-Test« (1.4) entwickelte. Als weißhäutige Fremde in Uganda stellte sie gleichsam eine mobile Versuchsbedingung dar und besaß schon durch ihre Hautfarbe eine besondere Eignung, ein Kind zu alarmieren. Allein durch ihre Anwesenheit konstellierte sie den Unterschied zwischen dem Vertrautsein mit der primären Bindungsperson und der ungewohnten Fremden.

Das Bindungsverhaltenssystem wird als Warnsystem nur in besonderen Situationen der Unsicherheit und Angst mobilisiert. Der Unterschied zwischen Bindungssystem und Bindungsverhalten liegt also einerseits in der Beobachtbarkeit und Operationalisierung, andererseits in der Provokation durch verunsichernde Auslöser. Diese sind beginnend mit der Acht-Monats-Angst bzw. dem »Fremdeln« im Kindesalter häufiger als im späteren Leben. Dennoch manifestieren sie sich immer wieder im Verlauf der lebenslangen Entwicklung, z. B. bei Trennung und Abschied, bei der Wahl von Partnerschaft und Beruf, bei der eigenen Elternschaft bis hin zur Beziehungsgestaltung zwischen Arzt und Patienten auf der Palliativstation (Loetz et al. 2013). Wird das Bindungsverhaltenssystem mobilisiert, ist dies an den gleichen Bindungsverhaltensweisen wie in der Kindheit erkennbar oder aber in deren (mehr oder minder regressiven) erwachsenen Gestaltungen bzw. in den verschiedenen neurotischen Abschattungen. Beispiele für Letzteres sind die »sichernden« Verhaltensweisen und Gedanken des zwangsneurotischen oder die Krisen des angstneurotischen Menschen ( ). Die Ausbildung einer stabilen Bindungsbeziehung ist eine wichtige Voraussetzung für zentrale Entwicklungsaufgaben, etwa für den Umgang mit dem Alleinsein.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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