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Wie können trans* Personen vor, während und nach ihrer Transition respektvoll und kompetent im Gesundheitssystem beraten und therapeutisch begleitet werden? Durch die Vielfalt von Genderidentitäten, -ausdrucksweisen und Erfahrungen der Behandlungssuchenden treffen TherapeutInnen auf ein großes Spektrum von Bedürfnissen, denen sie nur unvoreingenommen gerecht werden können. Dieses Buch hilft bei diesen Anforderungen, indem es die psychosozialen und medizinischen Grundlagen darstellt. LeserInnen bekommen nicht nur einen Überblick über die aktuellen Versorgungsstandards und -möglichkeiten. Das Buch rückt auch die Perspektiven unterschiedlichster Trans*Lebensweisen in den Vordergrund, sodass ein Dialog auf Augenhöhe möglich wird.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Dipl.-Gemeindepäd. Mari Günther, arbeitet als Systemische Therapeutin in eigener Praxis, in der Trans* Beratung und beim Bundesverband Trans* e. V. Dr. Kirsten Teren und Dr. Gisela Wolf sind als Psychologische Psychotherapeut_innen in freier Praxis tätig. Die drei Autor_innen (alle Berlin) verbindet neben ihrer praktischen Arbeit die Zugehörigkeit zu queeren Communitys.
Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass die Autoren große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-02881-8 (Print)
ISBN 978-3-497-61485-1 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61486-8 (EPUB)
2., aktualisierte Auflage
© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Satz: Sabine Ufer, Leipzig
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
Vorwort zur ersten Auflage
1 Einleitung
2Über Trans* sprechen
2.1 Bedeutung von Sprache
2.2Begriffe und Definitionen
2.3Schreibweisen
3Was ist Trans* – Modelle und Erzählungen von Trans*biografien
3.1Verständnis von Trans*geschlechtlichkeit
3.2Fluiditäten der Geschlechtlichkeit
3.3Genderidentitäten und sexuelle Orientierungen
3.4Die Fragen nach dem „Woher“
3.5Medizinische und psychologische Konzepte zur Trans*geschlechtlichkeit
3.5.1 Diagnostische Einordnung von Trans*identitäten als Zugangsvoraussetzung für Transitionsmaßnahmen■3.5.2 Diagnostische Kriterien für „Genderdysphorie im Kindesalter“ im DSM-5 und „Transsexualismus“ in der ICD-10 37
3.6Erzählungen von Trans*biografien im Gesundheitssystem
4Trans* im Kontext
4.1Versorgungsstandards und Versorgungsangebote
4.1.1 Kurze Entwicklungsgeschichte der Behandlungsrichtlinien■4.1.2 Medizinethische Überlegungen■4.1.3 Begutachtungsrichtlinien des Medizinischen Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen■4.1.4 Standards für die Gesundheitsversorgung von trans*geschlechtlichen und gendernonkonformen Klient_innen■4.1.5 Versorgungszugänge und -strukturen■4.1.6 Forderungen an eine verbesserte Trans*gesundheitsversorgung
4.2Diskriminierung und Gewalt gegen trans* Personen
4.2.1 Gesellschaftliche Ermöglichung von Diskriminierungen und Gewalt■4.2.2 Formen, Häufigkeiten und Folgen von Diskriminierungen und Gewalt gegen trans* Personen■4.2.3 Folgen von Diskriminierungen und Gewalt in den Trans*-communitys
5Trans* im Fokus
5.1Entwicklungsprozesse von Geschlechtsidentitäten
5.1.1 Herausforderungen im Entwicklungsprozess■5.1.2 Theorien der Geschlechtsentwicklung■5.1.3 Forschungsbefunde zur Entwicklung von geschlechtlichen Identitäten und Genderpräsentationen
5.2Coming-outs
5.3Trans*gesundheit
5.3.1 Das Recht auf bestmögliche Gesundheit■5.3.2 Epidemiologie gesundheitlicher Beeinträchtigungen bei trans* Personen■5.3.3 Modelle zu gesundheitlichen Risiken und Entwicklungen
5.4Ressourcen und Resilienzen
5.4.1 Die Vielfalt trans*spezifischer Ressourcen■5.4.2 Resilienzerfahrungen
5.5Re-Transition – Ein neuer Lebensabschnitt
5.6Trans* in Beziehungen
5.6.1 Trans* in vielfältigen sozialen Beziehungen■5.6.2 Trans* in Partner_innenschaften■5.6.3 Spezifische Beziehungsthemen■5.6.4 Trans* in polyamoren Beziehungen■5.6.5 Trans* in Familien
5.7Sexualität
5.7.1 Zugänge zur Sexualität■5.7.2 Sexualität und Genitalien■5.7.3 Sexualität vor einem Trans*coming-out■5.7.4 Sexualität nach einem Trans*coming-out■5.7.5 Einfluss von Hormontherapien auf die Sexualität■5.7.6 Sexualität nach Genitaloperationen■5.7.7 Beziehungsklärung mit dem eigenen Körper
5.8Reproduktivität
5.9Trauer, Scham und Schuldgefühle
6Trans* im Kontakt
6.1Im Kontakt mit sich selbst: Selbsterfahrung
6.1.1 Auseinandersetzung mit dem Konstrukt von Zweigeschlechtlichkeit■6.1.2 Die Begegnung mit der Verwirrung■6.1.3 Die Konfrontation mit dem Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit■6.1.4 Die Bedeutung der Beziehung zum eigenen Körper■6.1.5 Das selbstbestimmte vorzeitige Beenden der eigenen Fertilität■6.1.6 Die Reflexion der eigenen Trans*biografie■6.1.7 Der Umgang mit einer verinnerlichten Trans*negativität■6.1.8 Der unterschiedliche Zugang zu Privilegien■6.1.9 Der Kontakt mit Menschen, die Gewalt und Diskriminierungen erfahren haben■6.1.10 Die vermeintliche Kenntnis von Trans*lebenssituationen
6.2Im Kontakt mit trans* Personen
6.2.1 Ansprache und Beziehungsgestaltung■6.2.2 Anrede■6.2.3 Sprache■6.2.4 Selbstreflexion■6.2.5 Rolle und Macht
6.3Im Kontakt mit der Community
6.3.1 Gerechtigkeitsdefizite■6.3.2 Trans*verbündetenschaft
6.4Im Kontakt mit Kolleg_innen: Vernetzung und Kooperation
7Trans* in Therapie und Beratung
7.1Gestaltung der therapeutischen Beziehung
7.1.1 Aus welchen Erfahrungskontexten kommen trans* Personen?■7.1.2 Wie zeigen sich diese Erfahrungen in der Begegnung mit trans* Personen?■7.1.3 Wie kann die therapeutische Beziehung gestaltet werden?■7.1.4 Wie kann Ängsten, Unsicherheiten, Misstrauen oder Abneigungen begegnet werden?
7.2Diagnostik
7.2.1 „Diagnostik“ der Trans*geschlechtlichkeit■7.2.2 „Differentialdiagnostik“ bei Geschlechtsdysphorie■7.2.3 Diagnostik psychischer Störungen■7.2.4 Die Bedeutung der Diagnostik schwerwiegender psychischer Erkrankungen für den Transitionsprozess■7.2.5 Exploration der Kontextbedingungen und Ressourcen bei trans* Personen
7.3Therapeutische Aufträge
7.4Therapiekonzeption und -planung
7.5Therapeutische Themen und Prozesse
7.5.1 Grundprinzipien■7.5.2 Identitätserleben und Selbstbild■7.5.3 Diskriminierungserfahrungen■7.5.4 Coming-out-Prozesse■7.5.5 Passing■7.5.6 Körpermodifizierende Maßnahmen■7.5.7 Internalisierte Trans*feindlichkeit■7.5.8 Ressourcenaktivierung■7.5.9 Beziehungen und soziale Strukturen■7.5.10 Spezifische Dynamiken in Community-Konflikten■7.5.11 Arbeit mit Angehörigen■7.5.12 Sexualität■7.5.13 Integration des Identitätskonzeptes in bisherige und aktuelle Lebensbezüge■7.5.14 Emotionsfokussierte therapeutische Arbeit■7.5.15 Krisen■7.5.16 Pausen, Ferien und Abschluss gestalten■7.5.17 Anmerkungen zur therapeutischen Begleitung trans*geschlechtlicher Kinder und Jugendlicher■7.5.18 Fazit
7.6Psychische Erkrankungen
7.6.1 Bedingungsfaktoren psychischer Erkrankung bei trans*Personen■7.6.2 Anpassungsstörungen■7.6.3 Depressionen■7.6.4 Angststörungen■7.6.5 Schädlicher Substanzgebrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen■7.6.6 Essstörungen■7.6.7 Schmerzen und psychosomatische Beschwerden■7.6.8 Posttraumatische Belastungsstörungen■7.6.9 Dissoziative Störungen■7.6.10 Persönlichkeitsstörungen■7.6.11 Selbstschädigendes Verhalten■7.6.12 Autismus-Spektrum-Störungen■7.6.13 Zwangsstörungen■7.6.14 Psychosen■7.6.15 Psychische Symptome als Lösungsversuche
7.7Indikationen, Befundberichte, Stellungnahmen im körperlichen Transitionsprozess
7.7.1 Grundsätze im Umgang mit den Formalitäten im körperlichen Transitionsprozess■7.7.2 Indikationsstellungen■7.7.3 Psychotherapeutische Befundberichte■7.7.4 Stellungnahmen■7.7.5 Empfehlungen zur Vorbereitung körpermodifizierender Maßnahmen nach der aktuellen AWMF-Leitlinie
7.8. Einwilligungsprozesse in medizinische Behandlungen
7.9Körpermodifizierende Maßnahmen und Hilfsmittel
7.9.1 Nichtchirurgische Maßnahmen■7.9.2 Chirurgische Maßnahmen■7.9.3 Weitere Hilfsmittel
7.10Evaluation, Outcome, Qualitätskontrolle
7.10.1 Evaluation in der beratenden und therapeutischen Arbeit mit trans* Personen■7.10.2 Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität
8Trans* im Recht
8.1Gutachten zur Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem „Transsexuellengesetz“
8.2Reformbedarf und Handlungsempfehlungen zum „Transsexuellengesetz“
8.3Änderung des Namens nach dem Namensänderungsgesetz
8.4Dritter Geschlechtseintrag im Rahmen des Personenstandsgesetzes
8.5Vornamens- und Personenstandsänderung nach dem „Transsexuellengesetz“ bei trans* Personen aus anderen Ländern
8.6Asyl und Aufenthaltsrechte für trans* Personen
8.7Ärztliche und psychologische Gutachten, Atteste und Stellungnahmen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren
9Ausblick
Literatur
Sachregister
Vorwort zur ersten Auflage
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (Artikel 1, Satz 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland)
Die erste Auflage dieses Buches erscheint im Jahr 2019, 70 Jahre nach der feierlichen Verkündigung und dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949. Würden alle Menschen diese Aussage ernst nehmen, wären einzelne Kapitel dieses Buches, zumindest in ihrer Ausführlichkeit, nicht notwendig. Wir müssen uns aber die Frage stellen, warum manche Mitmenschen sich für berechtigt halten, Minderheiten, ich beziehe mich nun in erster Linie auf Personen, die in Bezug auf ihre sexuelle Identität und / oder Orientierung nicht der statistischen Norm entsprechen, zu diskriminieren. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Autor_innen setzen sich auch damit auseinander. Gleichzeitig wissen sie aber, dass sie „die Gesellschaft“ nicht ad hoc verändern können. Sie gehen daher differenziert vor, sprechen konkrete Probleme von gendernonkonformen und trans* Personen im Alltag und in der Auseinandersetzung mit dem Gesundheitssystem an und eröffnen auch konkrete Lösungsmöglichkeiten.
Ein wichtiger Adressat dieses Buches ist meine Profession: Psychiater_innen und Psychotherapeut_innen. Gerade die Psychiatrie hat diesen Personen, nicht nur aus meiner Sicht, viel Unrecht getan. War der Schritt von der Entkriminalisierung in die Pathologisierung historisch gesehen zwar ein wichtiger, so ist es lange Zeit leider dabei geblieben. Statt sich zu fragen, was denn bitte an Varianten der sexuellen Identität und / oder sexuellen Orientierung pathologisch sein soll, machte sich die Psychiatrie unkritisch und unhinterfragt zum „Erfüllungsgehilfen“ einer durch und durch normierten Gesellschaft. Wenn ein Psychiater (sic!) es wagte, sich der politischen Mehrheitsmeinung entgegenzusetzen, drohten ihm der Spott der Kollegen (sic!) und die Gefahr, selbst fortan als Außenseiter leben zu müssen.
Noch im Jahr 1973 wagte Jack Drescher es nicht, ohne Maske vor die American Psychiatric Association (APA) zu treten und sich für die Entpathologisierung von Homosexualität einzusetzen. Von Trans*themen war damals schon gar nicht die Rede. Das ist insofern bemerkenswert, als bei der Razzia von „Stonewall“ sich zuvorderst trans* Personen gegen die staatlichen Übergriffe gewehrt hatten, nicht homosexuelle cis Männer allein. In einzelnen Quellen liest man lediglich von „weiblich aussehenden Männern“, Trans* wurde nicht einmal erwähnt. 2019 werden auch 50 Jahre „Stonewall“ gefeiert.
Doch zurück zur Rolle der Psychiatrie. Sowohl Homosexualität als auch Transsexualität (sic!) erhielten ihren eigenen Platz in den diagnostischen Manualen der WHO (ICD) und der APA (DSM). Zwar gab es alle paar Jahrzehnte kleine Änderungen in den Diagnosekriterien, eine endgültige und allgemein akzeptierte Entpathologisierung hat aber bis dato leider noch immer nicht stattgefunden. Dies betrifft Trans*gender jedoch stärker als Homosexualität. Durch die unermüdlichen Bemühungen aus den queeren Communitys, gesetzliche Reformen wie die „Ehe für alle“ und das Antidiskriminierungsgesetz sowie die vorangegangenen Diskussionen hat sich viel zum Positiven hin entwickelt – auch wenn an vielen Stellen aktuell noch weiter diskriminiert werden darf und auch wird. So finden sich derzeitig immer noch trans*- und homofeindlich motivierte Konversionsversuche im kruden therapeutischen Bauchladen ideologisierter Therapeuten und Therapeutinnen, aber auch hier sind Gesetzesänderungen abzusehen.
Das Dilemma zwischen „Trans*“ und Psychiatrie ist gegenwärtig schwer aufzulösen: Nur wer eine Diagnose hat, hat Anspruch auf Leistungen der (gesetzlichen) Krankenkassen. Ohne Diagnose also keine geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen. Nur wenn beide „Parteien“ sich dieses Dilemmas bewusst sind und die Psychiater_innen und Psychotherapeut_innen sorgsam mit ihrer Macht umgehen – das Machtgefälle lässt sich beim besten Willen nicht wegdiskutieren –, lassen sich bei der derzeitigen Gesetzeslage pragmatische, gesichtswahrende und individuelle „Lösungen“ finden. Partizipative Entscheidungsfindung hat sich in der Medizin sehr bewährt. Gegenseitiger Respekt, Begegnung auf Augenhöhe und der feste Wille, das Gegenüber so zu akzeptieren, wie sie_er ist, helfen da weiter. „Runter vom hohen Ross“ möchte ich da manchen Kolleg_innen zurufen.
Immer hilfreich: sich fortzubilden. Und dafür eignet sich das vorliegende Buch ganz hervorragend. Ich möchte einige Punkte hervorheben, auf denen mein Urteil beruht:
1 Es ist wissenschaftlich fundiert, das lässt sich an den zahlreichen Zitaten von Expert_innen und der sehr ausführlichen Literaturliste nachweisen.
2 Es enthält Fallvignetten, die konkrete Sichtweisen von innen und damit eine differenzierte Perspektivübernahme erleichtern.
3 Es ist klar und deutlich, zeigt Probleme auf, bietet Erklärungen und daraus resultierende Lösungsansätze an. Besonders wichtig: Systemische Aspekte haben ihren Platz und zeigen auf, an welchen Punkten Vertreter_innen des Gesundheitssystems und Patient_innen gemeinsam an einer gestörten Interaktion arbeiten sollten.
4 Es ist authentisch: Die Autor_innen „outen“ sich selbst als trans* bzw. gendernonkonforme Personen und sind therapeutisch sowie beratend tätig – ein großes Plus, weil es sehr wichtige Stimmen im fachlichen Diskurs sind.
Vorworte werden meist zuletzt gelesen, zu Recht. Der Inhalt eines Buches ist das wichtigste. Dem möchte ich Rechnung tragen und meinen Beitrag deshalb kurz halten.
Abschließend möchte ich, nach längerem Überlegen, doch noch ein persönliches Statement abgeben. Als Mari Günther mich anrief und mich fragte, ob ich das Vorwort schreiben würde, habe ich mich gefreut und sofort zugesagt, ohne das Buch zuvor überhaupt gelesen zu haben. Denn ich kenne die Autor_innen aus der gemeinsamen Arbeit in einem Referat der DGPPN, Kirsten Teren auch aus unserer gemeinsamen Zeit im therapeutischen Team „meiner“ Klinik und war mir sicher, dass es ein gutes Buch wird.
Und das ist es geworden. Ich wünsche den Autor_innen viele positive Rückmeldungen von Mitarbeiter_innen des Gesundheitssystems und aus der Community – und natürlich hohe Auflagen.
Hamburg, im Mai 2019 Univ.-Doz. Dr. Gernot Langs
1Einleitung
Das Thema „Trans*“ beschäftigt uns alle drei seit vielen Jahren persönlich und beruflich. Obwohl dem Thema „Trans*“ in Psychotherapie und Beratung eine zunehmende Relevanz und Sichtbarkeit zukommt, liegt ein deutschsprachiges Kompendium bislang nicht vor. Auf Initiative des Ernst Reinhardt Verlags haben wir uns deshalb zusammengefunden, um dieses Buch zur psychotherapeutischen und beratenden Arbeit mit trans* Personen zu schreiben. Hierbei sind wir aus unterschiedlichen Positionen aufeinander zugegangen. Das vorliegende Buch stellt das gemeinschaftlich gestaltete Resultat sehr diverser Erfahrungen dar. Manche Abschnitte haben wir intensiv und lange diskutiert, bis wir uns schließlich alle darin wiederfanden, wodurch eine Vielschichtigkeit entstanden ist, die mehr umfasst, als jede* Einzelne von uns hätte zu Ende denken und formulieren können.
Mari Günther: Zu Beginn meiner Therapieausbildung vor 15 Jahren wurde genau geprüft, ob ich mit meiner trans*weiblichen Geschlechtsidentität für eine solche Ausbildung geeignet sei. Die Unterstellung, ob ich denn normal oder gesund genug dafür sei, schwang mit. Auch aus dieser Erfahrung heraus betrachte ich die Profession der Psychotherapie mit zwei verschiedenen Augen. Mit dem einen sehe ich die lange Geschichte der Verachtung und Verletzung von trans* Personen, ohne dass es bis heute ein deutliches Schuldeingeständnis der Akteur_innen gibt. Mit dem anderen Auge sehe ich, wie trans* Personen von guter Psychotherapie profitieren können. Die vielen therapeutisch arbeitenden trans* Personen möchte ich deshalb ermuntern und stärken, ihre biografische Kompetenz selbstverständlich in den Dienst ihrer Profession zu stellen. Mein im Gesundheitssystem häufig noch als Problem betrachtetes Trans*sein erlebe ich als eine ziemlich schöne Lösung. Ich arbeite seit 2008 als Systemische Therapeutin in eigener Praxis und in der Inter* und Trans* Beratung QUEER LEBEN Berlin.
Dr. phil. Kirsten Teren: In meiner Jugend sowie im jungen Erwachsensein bin ich sowohl aufgrund meines gendernonkonformen Verhaltens und Äußeren als auch hinsichtlich meiner sexuellen Orientierung mit dem Thema Trans* wiederkehrend konfrontiert worden. Seit Jahrzehnten lebe ich in queeren Lebenswelten. Die fortbestehenden Diskriminierungen gegenüber gendernonkonformen Erlebens- und Verhaltensweisen sowie gegen trans* Personen durch pathologisierende Versorgungsstrukturen nähren meine tägliche Motivation und Leidenschaft. Nach langjähriger Kliniktätigkeit arbeite ich seit 2012 in eigener Praxis in Berlin als Psychologische Psychotherapeutin mit den Schwerpunkten Geschlechtsidentität, Schmerzpsychotherapie, Psychoonkologie und bin als Gutachterin im Rahmen des „Transsexuellengesetzes“ (TSG) in verschiedenen Bundesländern tätig.
Dr. phil. Gisela Wolf: Auch ich bin in das Thema mit einer gendernonkonformen Kindheit und Jugend gestartet. Später kam eine nicht-heterosexuelle Fähigkeit, mich zu verlieben und zu verbinden, hinzu. Leider war mein Umfeld der Ansicht, mich deswegen als Jugendliche dem Gesundheitssystem anvertrauen zu müssen, und ich bin daraus ziemlich verwundet wieder herausgekommen. Aus diesen Erfahrungen kommt mein Entschluss, mich dafür zu engagieren, dass sich das Gesundheitssystem verändert, um queere Menschen gut zu versorgen. Meine Orte der aktivistischen, beratenden und später auch therapeutischen Arbeit mit trans* Personen waren zunächst die lesbisch-schwule-bisexuelle-trans*-inter*-queere (lsbt*i*q) Community sowie das Lesbentelefon in Freiburg. Seit 2014 biete ich Psychotherapie für queere Menschen in Berlin an und schreibe auch Gutachten im Rahmen des TSG. Gleichzeitig hoffe ich, dass das TSG bald so verändert wird, dass eine Vornamens- und Personenstandsänderung ohne Begutachtungszwang möglich wird.
Uns alle drei verbindet die Zugehörigkeit zu queeren Communitys, aus denen wir sehr viel Rückhalt mitgenommen haben. Unsere Kontakte zu queeren und trans* Personen und unterstützenden Freund_innen jeglichen Geschlechts waren entscheidend dafür, uns dorthin zu bringen, wo wir jetzt thematisch stehen. Wir möchten uns deshalb ganz besonders bedanken bei unseren Klient_innen, die das Wagnis eingegangen sind, der Zusammenarbeit mit uns zu vertrauen und uns ihre Erfahrungen zu erzählen. Ausdrücklich danken möchten wir Ilka Christin Weiss, die uns im Vertrauen in dieses Buch ihren Erfahrungsbericht für das Kapitel 5.4 „Ressourcen und Resilienzen“ geschenkt hat.
Zum Entstehen des Buches ganz wesentlich beigetragen haben unser Lektor Karl Teren, Dustin Poßin und Ulrike Landersdorfer vom Ernst Reinhardt Verlag, Karin Wolski durch das Bereitstellen ihres Wissens aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Ganz herzlich bedanken möchten wir uns auch bei unseren Testleser_innen Tjona Kristina Sommer, Dr. med. Andrea Bauder, Dr. med. Christoph Schuler und Uwe Knape, die manches Satzungetüm konstruktiv gezähmt und das Buch fachlich bereichert haben.
Unsere Arbeit in dem Themenfeld bewegt und verändert uns täglich, ist spannend, bereichernd, macht Freude und produziert in uns auch eine Menge Ärger über Versorgungshindernisse.
Ziel beim Schreiben dieses Buches war, durch Informationen und Anregungen zur Selbstreflexion das Gesundheitssystem zu einem sicheren Ort für trans* Personen zu machen. Wir wollen, dass trans* Personen die gesundheitliche Versorgung, die sie benötigen, bestmöglich, fachkompetent und diskriminierungsfrei erhalten. Mit der aktuellen Gesundheitsversorgung von trans* Personen können wir insgesamt nicht zufrieden sein: Immer noch erleben viele trans* und queere Personen dort auf der Suche nach Versorgung Diskriminierungen, Verachtung, Abwehr und Verweigerung notwendiger Behandlungen.
Die professionelle Arbeit mit trans* Personen im Gesundheitssystem berührt immer wieder ethische und menschenrechtliche Fragestellungen (Fraser 2015), insbesondere die Themen der Selbstbestimmung und der Würde von behandlungssuchenden trans* Personen. Als Professionelle im Gesundheitssystem sind wir aufgerufen, sehr sorgsam mit der Macht umzugehen, die uns durch unsere Rolle in der Versorgung anvertraut wird. Wir wünschen uns, dass behandlungssuchenden trans* Personen durchgängig in der Gesundheitsversorgung so begegnet wird, dass diese ihr Recht auf Selbstbestimmung in allen Lebensbezügen und insbesondere in Bezug auf ihren Körper wahrnehmen können.
An der gesundheitlichen Versorgung von trans* Personen sind wegen der Verbindung medizinischer und psychosozialer Bedarfe im Transitionsprozess zahlreiche Professionen beteiligt. Kolleg_innen unterschiedlicher Professionen und unterschiedlichen Geschlechts treffen hier auf Behandlungssuchende mit einer Vielfalt von Genderidentitäten und Genderausdrucksweisen sowie mit einer Vielfalt von Erfahrungen. Trans* Personen benötigen eine trans*respektvoll und trans*kompetent gestaltete Gesundheitsversorgung. Die Qualität der Versorgung hängt unter anderem davon ab, wie gut die Gesundheitsprofessionellen das Arbeitsfeld der jeweils anderen kennen und inwieweit die Versorger_innen bereit sind, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren.
In diesem Buch sprechen wir schwerpunktmäßig Psychotherapeut_innen und psychosoziale Berater_innen an. Wenn wir von Behandler_innen schreiben, meinen wir alle, die am Behandlungsprozess von trans* Personen beteiligt sind. Zum Teil gibt es im Themenfeld Überschneidungen der Arbeitsinhalte der unterschiedlichen Professionen.
Im Netz der gesundheitsbezogenen Versorgungsangebote, die trans* Personen zur Verfügung stehen, befindet sich insbesondere die Psychotherapie in einem Spannungsfeld, das von uns als Therapeut_innen eine ethische Positionierung erfordert. Viele trans* Personen nutzen Psychotherapie im Verlauf ihres Lebens, um einen Umgang mit Belastungen durch Diskriminierungen, Vernachlässigungen und jahrzehntelange Kommunikationsbeschränkungen innerhalb einer Gesellschaft, die trans* Lebensweisen nicht respektiert, zu erarbeiten. So leiden trans* Personen infolge gesellschaftlicher Stigmatisierungsprozesse gerade unter den psychischen Belastungssymptomen, die wir auch von anderen Menschen kennen, die über eine lange Zeit von gesellschaftlicher Marginalisierung betroffen sind. In diesen Fällen kann Psychotherapie, wenn sie kontextsensibel durchgeführt wird und die Verantwortlichkeiten für die Belastungen klar benennt, hilfreich und indiziert sein. Psychotherapeutische Angebote erweisen sich jedoch als janusköpfig, wenn sie als Zwangsvoraussetzung für die Bewilligung von in der Transition benötigten medizinischen Behandlungsmaßnahmen eingesetzt werden. Dass derzeitig in den aktualisierten Richtlinien des Spitzenverbandes der Medizinischen Dienste (MDS 2020) Psychotherapie immer noch als unvermeidbare Bedingung für die Kostenübernahme für Transitionsbehandlungen beschrieben wird, weist der Psychotherapie in der Versorgung von trans* Personen eine strukturelle Position zu, in der sie von trans* Personen als nicht unterstützend und teilweise auch als schädlich erlebt werden kann. Diese gesellschaftliche Zurichtung von Psychotherapie diskreditiert ihre Rolle in der gesundheitlichen Versorgung von trans* Personen. Wir alle sollten ein Interesse daran haben, dass sich dieser Missstand möglichst bald grundlegend zum Besseren ändert, und wir sollten auch etwas dafür tun. Denn die Aufgaben von Gesundheitsprofessionellen im Themenfeld sehen wir ausdrücklich nicht nur darin, eine gute und fachgerechte Versorgung für behandlungssuchende trans* Personen anzubieten, sondern auch darin, sich für eine Veränderung der diskriminierenden Bedingungen zu engagieren.
Bezogen auf die Inhalte empfiehlt es sich, das Themenfeld, wie Hale (2009) es treffend formulierte, mit Demut zu betreten. Wir befinden uns mit dem Thema der Gestaltung der gesundheitlichen Versorgung von trans* Personen in einem hochkomplexen Bereich, in dem sich politische und gesundheitliche Fragestellungen mit ganz persönlichen Themen wie Empfinden, Leben und Ausgestalten der eigenen geschlechtlichen Identität und Wahrnehmung verbinden. Der Wissensstand zum Thema entwickelt sich rasant weiter. Trans* Personen werden in ihrer Diversität sichtbarer, sie dulden Einengungen immer weniger. Für uns alle öffnen sich damit auch reichere Wege, Geschlechtlichkeit auszudrücken, zu leben, damit in Beziehung zu gehen. Dadurch, dass trans* Personen selbst ihre Erfahrungen mitteilen und die Trans*gesundheitsversorgung maßgeblich mitgestalten, kommen immer mehr Erkenntnisse hinzu. Trans* Personen sind als Pfleger_innen, Ärzt_innen und Therapeut_innen in der Versorgung zunehmend aktiv, und es gibt immer mehr Gesundheitsversorger_innen und -forscher_innen, die sich um eine trans*respektvolle Perspektive bemühen.
Wir haben das Buch so aufgebaut, dass wir nach einer Begriffsklärung zunächst unterschiedliche Verständnisse von Trans* zusammengestellt haben. Ausgehend von den Möglichkeiten, sich als trans* Person selbst zu definieren und damit das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung wahrzunehmen, wechseln wir über zu den Perspektiven, die in der Auseinandersetzung mit Trans*geschlechtlichkeit einst dominierten: den Sichtweisen von außen aus Medizin und Psychologie mit all den Problemen, die damit verbunden sind.
Trans* Personen sind wie alle Menschen eingebunden in Kontexte, die unter anderem ihre gesellschaftliche Positionierung, ihren Zugang zu Transitionsmaßnahmen und einer darüber hinausgehenden Gesundheitsversorgung prägen. Wir beschäftigen uns hier mit dem gesundheitlichen Versorgungssystem für trans* Personen, zeigen auf, wie sich eine gute Gesundheitsversorgung von trans* Personen gestalten lässt und gehen dann über zu den im gesellschaftlichen Kontext liegenden Gesundheitsrisiken: Ausgrenzungspraktiken in Form von Diskriminierungen und Gewalt gegen trans* Personen. Das Wissen über die Kontexte, auf die trans* Personen treffen, ist hoch relevant für ein Verständnis dessen, wie sich die Lebensweisen von trans* Personen gestalten.
Auf Faktoren der Lebensweise gehen wir im Kapitel 5 „Trans* im Fokus“ ein. Hier beschäftigen wir uns mit unterschiedlichen Möglichkeiten, Trans* in Beziehung zu anderen und zu sich selbst zu leben.
Das Kapitel 6 „Trans* im Kontakt“ zeigt die Möglichkeiten für Fachkräfte im Gesundheitswesen auf, mit behandlungssuchenden trans* Personen ein tragfähiges und kooperatives Bündnis aufzubauen und dabei in Kontakt mit sich selbst zu bleiben, sich selbst und die Kolleg_innen in Bezug zum Thema besser kennenzulernen und so in der Gesundheitsversorgung für trans* Personen gut zusammenzuarbeiten.
Anschließend legen wir die Grundlagen einer fachlich fundierten psychotherapeutischen Arbeit mit trans* Personen dar und beschreiben die aktuellen Abläufe in der körperlichen und rechtlichen Transition. In diesem Kapitel findet sich auch eine kurze Beschreibung wichtiger Punkte in der therapeutischen Arbeit mit trans* und gendernonkonformen Kindern und Jugendlichen. Für eine umfassendere fachliche Auseinandersetzung mit diesem umfänglichen Themenfeld möchten wir auf die im Text zitierte Literatur verweisen.
Zum Schluss noch eine Anmerkung zu den im Buch verwendeten Fallvignetten. Wir haben diese einzelnen Kapiteln vorangestellt, um so am Beispiel typischer biografischer Konstellationen die Bedeutung der jeweiligen fachlichen Inhalte für die Begleitung trans*geschlechtlicher Personen nachempfindbar zu machen. In die jeweiligen Fallvignetten sind die uns in unterschiedlichen Begegnungen berichteten Erfahrungen trans*geschlechtlicher Personen eingegangen. Wir haben hierbei Inhalte gezielt verändert, um die Anonymität der Personen zu schützen, und Erfahrungsinhalte mehrerer Personen in einer Fallgeschichte zusammengesetzt und verdichtet. Natürlich stellen alle in den Fallberichten verwendeten Namen Pseudonyme dar, bis auf den Erfahrungsbericht von Ilka Christin Weiss.
Wir wünschen nun Freude beim Lesen sowie zahlreiche neue Ideen und Erkenntnisse.
2Über Trans* sprechen
2.1Bedeutung von Sprache
Wir gehen davon aus, dass Sprache nicht nur versucht, Wirklichkeit abzubilden, sondern gleichermaßen auch Wirklichkeit formt. Daher ist die Verwendung von Sprache ein machtvolles Instrument. Recht greifbar kann dieser Gedanke angesichts der Frage von Pathologisierung oder Entpathologisierung von Trans*geschlechtlichkeit werden. Die Verwendung von Begriffen aus der Medizin und Psychologie schafft eher ein Stigma von Krankheit als die Verwendung von Begriffen, die trans* Personen für sich selbst und ihre Selbstbeschreibungen gewählt haben. Diese können Selbstbehauptung und Selbstkompetenz verdeutlichen. Wir sind uns als Schreibende dieses Buches unserer machtvollen Position bewusst und hoffen, damit verantwortungsvoll umzugehen.
Da wir uns in diesem Buch dem liebenswerten Phänomen der Trans*geschlechtlichkeit aus verschiedenen Perspektiven annähern und dabei gleichermaßen zu einer therapeutischen Arbeit einladen wollen, sprechen wir an unterschiedlichen Stellen auch in „verschiedenen Sprachen“. Es geht uns um eine respektvolle und auch genaue Sprache und wir hoffen, sowohl den Ansprüchen der trans* Behandlungssuchenden, der Community als auch denen der Behandler_innen weitgehend gerecht zu werden.
2.2Begriffe und Definitionen
Die in diesem Buch verwendeten und hier erwähnten queeren und trans*spezifischen Begriffe und ihre Definitionen erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und dauerhaften Bestand. Sie sind eher als Arbeitsdefinitionen zu betrachten und als ein Abbild unserer derzeitigen sprachlichen Wirklichkeit. Das über und mit trans* Personen Sprechen wird vermutlich noch lange Zeit ein Ringen um Verstehen, Respekt und angemessene Unterscheidungen sein. Maßgeblich und entscheidend für den Sprachgebrauch im Kontakt mit trans* Personen bleibt deren jeweilige Selbstbeschreibung.
Wir benennen in diesem Buch zahlreiche weitere Begriffe, die in queeren Communitys genutzt und in zahlreichen kreativen Prozessen weiterentwickelt werden, um Erfahrungen, Körper, Sexualitäten, Identitäten anerkennend, respektvoll und lustvoll zu bezeichnen („BDSM“, „butchig“, „Bigclit“ und viele weitere). Da wir nicht alle diese Begriffe definieren möchten und die Leser_innen gleichzeitig anregen möchten, sich zum vertieften Verständnis und um mitreden zu können, mit den ständig wachsenden Schätzen aus den Communitys auseinanderzusetzen, empfehlen wir hier, Begriffe, auf deren Bedeutung Sie beim Lesen neugierig werden, auf queerfreundlichen sites nachzuschlagen. Eine von vielen guten Möglichkeiten dafür bietet zum Beispiel das Queerlexikon (www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/was-bedeutet-eigentlich-das-queer-lexikon/11827704.html, 23.06.2019).
Unter dem Begriff der „Geschlechtsidentität“ verstehen wir eine geäußerte oder gezeigte Gewissheit, einem oder mehreren Geschlechtern anzugehören. Zu einer Thematisierung diesbezüglich kommt es aber in aller Regel nur, wenn die Betreffenden auf irgendeiner Ebene eine Diskrepanz erleben. Sie empfinden ihren Körper nicht, teilweise oder nicht immer in Kongruenz mit ihrer gefühlten geschlechtlichen Identität, oder sie beschreiben das „Gelesen_Werden“ in ihren sozialen Kontakten als nicht passend zu ihrem Selbstempfinden. Weiterhin verstehen wir die geschlechtliche Identität als eine im biografischen Verlauf in Maßen veränderliche, vom Kontext mitkonstruierte, aber nicht durch Fremdeinwirkung zu verändernde persönliche Gewissheit.
Die Bezeichnungen „Transsexualismus“ oder „Transsexualität“ wurden im medizinischen Kontext geprägt. Hinter diesen Begriffen steht die Diagnose einer psychischen Erkrankung. In psychomedizinischen Zusammenhängen wie auch in der Öffentlichkeit werden diese Begriffe auch noch häufig verwendet. Für einige Menschen hat sich der Begriff der „Transsexualität“ als Selbstbezeichnung erhalten.
Um deutlich zu machen, dass es beim Trans*sein wenig, gar nicht oder um viel mehr als Sexualität geht, wurden aus den Trans*communitys heraus Begriffe wie „Transgender“, „Transidentität“ und „Transgeschlechtlichkeit“ entwickelt. Diese Begriffe lenken den Blick eher auf Identität, geschlechtliches Selbsterleben oder das geschlechtsbezogene Rollenverhalten. Wir verwenden in diesem Buch den Begriff der „Trans*geschlechtlichkeit“ eher, wenn wir gerade die Tragweite der anstehenden Herausforderungen in Bezug auf die Selbstbehauptung der eigenen Geschlechtlichkeit, die damit verbundenen umfassenden Auswirkungen auf das Leben eines Menschen betonen wollen und um zu verdeutlichen, dass möglichst viele Aspekte des geschlechtlichen Erlebens, des Rollenverhaltens und der Identitätsbeschreibung – im Sinne des summarischen Begriffs „Geschlecht“ mitgedacht werden. Von „Trans*identität“ schreiben wir eher dann, wenn wir darauf fokussieren möchten, wie eine Person ihr Selbst in Bezug auf ihr Trans*sein wahrnimmt und beschreiben möchte. Dies hat für manche Personen auch Auswirkungen auf Entscheidungen für eine körperliche Transition, für andere wiederum nicht.
Wenn wir trans* Personen in ihrer selbstgewählten geschlechtlichen Zuordnung ansprechen wollen, sprechen wir von trans* Frauen oder trans* Weiblichkeiten (Mann-zu-Frau), trans* Männern oder trans* Männlichkeiten (Frau-zu-Mann) oder nicht-binären Personen.
Die Selbstbezeichnung „nicht-binär“ oder „nonbinary“ bzw. „nonbinär“ verwenden häufig Personen, die eine Zuordnung im Rahmen eines Zwei-Geschlechter-Verständnisses für sich ablehnen. Damit wird häufig auch eine Verwendung von den Pronomina „sie“ oder „er“ von der Person als unpassend erlebt. In der respektvollen Anrede sollte diese also vermieden und die Person nach ihrer gewünschten pronominalen Anrede gefragt werden. Auch trans*männliche oder trans*weibliche Personen können sich in ihrer Trans*identität als nicht-binär verstehen.
Recht ähnlich können die Begriffe „queer“ oder „genderqueer“ verwendet werden. Auch diese nutzen Personen für sich, um ihre geschlechtliche Identität und Zugehörigkeit zu beschreiben, die sich zwischen den herkömmlichen zwei Geschlechtern oder jenseits einer Annahme von Zweigeschlechtlichkeit befindet. Die hierfür wegweisende Queer Theory (Jagose 2001) stellt Zweigeschlechtlichkeit als Konstrukt infrage und kritisiert dabei insbesondere die Machtverhältnisse in einem Zweigeschlechtersystem.
Den Begriff „agender“ nutzen Personen, wenn sie sich keinem Gender zugehörig fühlen. Für die Bezeichnung von Menschen jeglicher Trans*geschlechtlichkeit verwenden wir „trans* Person“.
Wenn wir uns auf das Geschlecht beziehen, welches einem Kind aufgrund körperlicher Merkmale nach der Geburt zugewiesen wurde, verwenden wir den Begriff „Zuweisungsgeschlecht“. Die Begriffe „biologisches Geschlecht“ oder „Geburtsgeschlecht“ verwenden wir nicht, weil nach unserer Einschätzung weder an den sichtbaren körperlichen Merkmalen allein noch überhaupt anhand der Körperlichkeit eine bindende (Fremd-)Aussage über das Geschlecht und die geschlechtliche Identität eines Menschen getroffen werden kann.
In manchen Kapiteln schreiben wir allgemein von trans*geschlechtlichen Realitäten, in anderen Kapiteln, wenn trans* Personen in Kontakt mit dem medizinischen System kommen und den Wunsch nach körperlichen, psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungen haben, schreiben wir von „Behandlungssuchenden“. Zu betonen sei an dieser Stelle, dass bei weitem nicht alle trans* Personen den Wunsch nach trans*bezogenen medizinischen Behandlungen haben oder diese pauschal benötigen.
Als „Trans*community“ bezeichnen wir die Gesamtheit der Vernetzungen, Freund_innenschaften, Projekte, Vereine, Gruppen, Forschungen, Versorgungsangebote etc., die von trans* Personen erdacht, gestaltet und verantwortet werden. Als identitätsstiftend und verbindend erleben wir den fortlaufenden Selbstermächtigungsdiskurs, das Schaffen eigenständiger Strukturen, die Einbeziehung von Verbündeten, die wachsende Fähigkeit der Sorge umeinander und die Deutungshoheit über das Wissen über sich selbst (wozu übrigens dieses Buch auch beitragen möchte). Der Rückgriff von trans* Personen auf „ihre“ Community kann stärkend und Orientierung gebend sein sowie helfen, persönliche Denk- und Handlungsspielräume zu erweitern. Für die therapeutische Arbeit ist eine Rückbindung an die Trans*community eine wichtige Voraussetzung und häufig auch eine Erleichterung, da dort wichtiges Feldwissen zur Verfügung gestellt wird.
Der Begriff „cis“ oder „cisgeschlechtlich“ wird als Bezeichnung für „diesseitig“ verwendet, um einen sprachlichen Gegenpart zu „trans“ zu haben, analog des Wortpaares „Heterosexualität“ und „Homosexualität“. Es sind hier also Menschen gemeint, für welche das zugewiesene Geschlecht mit dem Identitätsgeschlecht (d. h. dem tief empfundenen Geschlecht) zumindest weitgehend übereinstimmt.
Der aus dem medizinischen Diskurs stammende Begriff „Intersexualität“ beschreibt geschlechtliche Variationen auf der somatischen Ebene. Als „intersexuell“ werden Personen bezeichnet, deren Körper sich nicht innerhalb des Zweigeschlechtersystems als eindeutig männlich oder weiblich einordnen lassen. In der Medizin wird für Intersexualität auch die pathologisierende Bezeichnung „Disorders of Sex Development“ verwendet. Seit einigen Jahren wird in der Medizin auch respektvoller von „Differences of Sex Development“ gesprochen. Im aktivistischen Kontext sind die Begriffe „Inter*“ und „Intergeschlechtlichkeit“ als selbstbestimmte Bezeichnungen üblich. Viele inter* Personen wenden jedoch den Begriff „inter*“ nicht im Sinne einer Identitätsbenennung auf sich an und bezeichnen sich lieber hinsichtlich ihrer Geschlechtlichkeit als „Mann“, „Frau“, „Trans*“ … Manche inter* Personen benötigen medizinische Behandlungen, um gesund in ihrem inter* Körper leben zu können. Viele brauchen jedoch keinerlei medizinische Intervention und lehnen die Durchführung geschlechtsnormierender kosmetischer Maßnahmen, die leider noch vielfach in der Medizin durchgeführt werden, ab (Deutscher Ethikrat 2012, Intersex Society of North America 2006, Klöppel 2016, Günther 2016). Wir gehen in diesem Buch nicht weiter auf die Intergeschlechtlichkeit ein, verweisen aber darauf, dass trans* Personen neben ihrer trans*geschlechtlichen Thematik gleichermaßen auch inter*geschlechtlich sein können. Daher ist ein gewisses Grundverständnis und Fachwissen bezogen auf Intergeschlechtlichkeit für die praktische Arbeit notwendig. In jedem Falle sollte die betreffende Person selbstbestimmt entscheiden können, welche Aspekte sie in ihr individuelles Identitätskonstrukt einbezieht.
„Coming-out“ meint hier einen oftmals diskontinuierlichen Prozess der Selbstwahrnehmung und Kommunikation der geschlechtlichen und sexuellen Identität einer Person. Dabei beschreibt das „innere“ Trans*coming-out den Prozess der individuellen Auseinandersetzung einer Person mit sich selbst mit dem Ergebnis der Selbsterkenntnis der geschlechtlichen Zugehörigkeit. Im „äußeren“ Trans*coming-out teilt sich eine Person anderen bezüglich ihrer geschlechtlichen Selbstwahrnehmung mit (Wolf 2004). Eine Gesellschaftsstruktur, in der trans*geschlechtliche Lebensweisen häufig noch nicht als selbstverständliche Bereicherungen menschlicher Vielfalt betrachtet werden, sondern von Sanktionen bedroht sind, erfordert es, dass trans* Personen immer wieder, je nach Kontext, Entscheidungen hinsichtlich des Offen- und Verstecktlebens bezüglich ihrer Identität oder Körperlichkeit treffen und sich entsprechend verhalten müssen.
„Crossdressing“ meint die Praxis von Personen, die sich mit ihrer geschlechtlichen Identität auseinandersetzen und dabei auch geschlechtlich konnotierte Kleidung und Accessoires nutzen, um sich zu erproben oder eine für sich stimmige Genderpräsentation zu finden.
Der Begriff „Passing“ ist zu übersetzen mit einem „durchgehen als“ und meint die Alltagserfahrung, von der Umwelt wie gewünscht im Identitätsgeschlecht gesehen zu werden. An der Frage eines gewünschten oder (nicht) gelingenden Passings werden der gesellschaftliche Normierungsdruck und der unterschiedliche Zugang zu entsprechenden Ressourcen deutlich.
Der Begriff „stealth“ in der Verwendung von „stealth lebend“ hat sich etabliert, um ein Leben, einen Lebensort oder eine Lebensphase zu beschreiben, in der eine trans* Person nicht geoutet lebt, also ihre Umwelt in der Annahme belässt, cis zu sein.
Für alle Maßnahmen, die eine Person auf der körperlichen, sozialen und rechtlichen Ebene unternimmt, um ihr individuelles Identitätsgeschlecht besser zum Ausdruck zu bringen, verwenden wir zusammenfassend die Begriffe „Geschlechtsangleichung“ bzw. „Transition“. Es sind damit ausdrücklich deutlich mehr Möglichkeiten gemeint, als die der Angleichung an ein weibliches oder männliches „Normgeschlecht“. Im subjektiven Empfinden der Person handelt es sich bei dem Transitionsprozess um ein Näherkommen an ein tief empfundenes geschlechtliches Erleben, und nicht um eine „Geschlechtsumwandlung“, weswegen wir auch den Begriff der „Geschlechtsangleichung“ für diesen Prozess vorziehen. Hormonelle oder chirurgische körperverändernde Maßnahmen, die zur Reduktion eines genderdysphorischen Erlebens beitragen, bezeichnen wir auch als „körpermodifizierende“ Transitionsmaßnahmen.
Statt des relativ gebräuchlichen Begriffs der „Trans*phobie“ verwenden wir den der „Trans*feindlichkeit“. Die Verwendung des Begriffs der „Phobie“ für eine gruppenbezogene Feindlichkeit wurde erstmals von Weinberg (1972) eingeführt, der mit dem Wort „Homophobie“ besonders die negativen Gefühlssensationen von psychoanalytisch tätigen Kolleg_innen gegen Lesben und Schwule beschreiben wollte. Der weiter entwickelte Begriff der „Trans*feindlichkeit“ nimmt hingegen mehr die Perspektive von angegriffenen trans* Personen ein, da diese die Auswirkungen eines solchen „phobischen“ Erlebens erleiden müssen. Damit soll deren Erleben gewürdigt und für die therapeutische Arbeit in den Fokus genommen werden. Zudem verwenden wir den Begriff der „Trans*negativität“, wenn wir die hinter einem feindseligen Handeln liegenden Haltungen und Strukturen besonders ansprechen wollen.
2.3Schreibweisen
Der „Gender_Gap“ (z. B. bei Therapeut_innen) wird verwendet, um Selbstbeschreibungen jenseits von weiblich und männlich Raum zu geben.
Für die Verdeutlichung der trans*geschlechtlichen Vielfalt verwenden wir die Zeichensetzung Trans“*“ oder trans“*“ (gesprochen „Trans Sternchen“). Das Sternchen * soll die respektvolle Beachtung unterschiedlicher Lebensmöglichkeiten ausdrücken und ist als Platzhalter für möglichst viele bekannte und noch unbekannte Trans*selbstbeschreibungen zu verstehen.
Eine Substantivierung des Wortes Trans* nutzen wir, um das Maßgebliche, das Trans*spezifische zu betonen, wie in „Trans*gesundheit“, „Trans*community“, „Trans*feindlichkeit“, „Trans*coming-out“. Wenn wir wiederum ausdrücken wollen, dass trans* einen Aspekt neben verschiedenen anderen Merkmalen der Person darstellt, schreiben wir „trans*“ klein wie in „trans* Kind“ und „trans* Person“. Damit wollen wir deutlich machen, dass wir nicht ungefragt einem Menschen unterstellen wollen, dass das Trans*sein identitätsstiftend oder maßgeblich sei. Unabhängig davon kann sich jedoch eine Person selbst z. B. als „Trans*mann“ oder eben als „trans* Mann“ beschreiben.
Da wir in diesem Buch sehr häufig Trans*begriffe verwenden und damit schon recht häufig Sternchen * im Text erscheinen, haben wir uns entschieden, an den anderen Stellen, an denen wir die Vielfalt von Geschlechtern verdeutlichen wollen, den Gender_Gap zu nutzen. Wir hoffen dadurch die Lesbarkeit etwas zu verbessern.
3Was ist Trans* – Modelle und Erzählungen von Trans*biografien
3.1Verständnis von Trans*geschlechtlichkeit
Wir wollen diesem Kapitel eine aktuelle Beschreibung von Trans*geschlechtlichkeit aus der Community voranstellen. Diese soll als Orientierung dienen: Mit trans* Personen sind hier Menschen gemeint, die sich dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht, nicht ganz oder nicht immer zugehörig fühlen.
Diese derzeitig recht häufig verwendete Beschreibung wurde von trans* Personen für sich selbst formuliert. Sie steht in deutlicher Abgrenzung zu Definitionsversuchen von medizinischer Seite, welche einen diagnostischen Anspruch erheben. Es war und ist ein wichtiger emanzipatorischer Schritt, dass trans* Personen sich selbst beschreiben und ihr So-Sein auch selbst definieren. Bei der Entwicklung solcher Selbstdefinitionen wird natürlich deutlich, in welcher großen Vielfalt und Bandbreite sich trans* Personen in ihrem Trans*sein erleben können. Sie können ihr Trans*sein innerhalb eines zweigeschlechtlich vorgestellten Bezugsrahmens verstehen und sich dem anderen Geschlecht zugehörig erleben. Innerhalb dieses Bezugsrahmens können sie ihren Transitionsprozess als einen Näherungsprozess betrachten, in dem sie auf emotionaler, körperlicher und rechtlicher Ebene immer mehr ihrem Identitätsgeschlecht entsprechen, bis sie für sich den (eventuell vorläufigen) Abschluss dieser Annäherung entscheiden. Gleichermaßen können trans* Personen ihr Geschlecht auch ohne einen Rückgriff auf Annahmen einer Konstruiertheit von Geschlecht als Kategorie oder Geschlechtsidentitätsmodell verstehen. So erleben sie einerseits ihre Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht als seit ihrer Geburt festgelegt. Mit der Selbstvergegenwärtigung des Geschlechts wird der „Geschlechtskörper“ aber als der falsche erkannt, der korrigiert werden muss.
Andererseits können trans* Personen ihr Geschlecht oder ihre Geschlechtsidentität zwischen den als „weiblich“ und „männlich“ benannten Scheitelpunkten eines Kontinuums von Geschlecht verstehen. Auch die Zugehörigkeit zu einem anderen Geschlecht kann Ausdruck von Trans*geschlechtlichkeit sein. Damit ist die Annahme eines „dritten“ oder „weiteren“ Geschlechts gemeint, das ohne eine graduelle Zuordnung zu Weiblichkeit oder Männlichkeit auskommen kann. Die Ablehnung nicht nur einer Geschlechterzuordnung, sondern überhaupt einer Annahme von Geschlecht als Kategorie, kann zu der Aussage führen: „Ich bin mein eigenes Geschlecht“. Damit wird eine unendliche individuelle Vielfalt von Geschlecht(ern) eröffnet.
Diese Versuche von Umschreibungen machen deutlich, dass trans* Personen immer wieder ihr Geschlecht denken und sich der Aufgabe einer dauerhaften Selbstlegitimation stellen müssen. Es stehen keine vermeintlichen Gewissheiten wie bei einem cisgeschlechtlichen Erleben zur Verfügung. Das eigene Trans*sein muss benannt werden und möglichst in verschiedenen sozialen Kontexten in jeweils kompatibler Form erklärt werden. Dafür müssen sich trans* Personen mit dem eigenen trans*geschlechtlichen Erleben auseinandersetzen, einen Umgang mit unterschiedlichsten Zuschreibungen finden und für sich selbst die darin enthaltenen Normierungen entweder annehmen oder sich ihnen widersetzen. Trans* Personen können solche Prozesse als sehr anstrengend und belastend erleben, aber auch als einen kreativen Prozess, der Lust macht auf das Probieren von neuen Selbstbeschreibungen bis hin zum (Er-)finden von neuen Pronomen oder Verwandtschaftsbezeichnungen.
Ein wichtiges Element scheint dabei die Reflexion der Frage von geschlechtlicher Zugehörigkeit und die Suche nach einer solchen zu sein. Ein Nicht-Eins-Sein mit dem eigenen Körper, das Gefühl, kein körperliches Zuhause zu haben, kann das Bedürfnis nach einer Gemeinschaft mit anderen, einer Zugehörigkeit, mitprägen. Da gleichermaßen im Rahmen der Auseinandersetzungsprozesse mit sich selbst auch das Erleben der eigenen – auch geschlechtlichen – Einmaligkeit identitätsbildend ist, kann die Suche und die Annahme von Zugehörigkeit ein spannungsgeladener und schmerzhafter Prozess sein, der häufig zu temporären Antworten führt. Für manche trans* Personen ist die Zugehörigkeit zu den anderen (cis) Frauen oder Männern von zentraler Bedeutung. Dafür müssen gerade die körperlichen Angleichungsschritte zu einem Gefühl der „richtigen“ oder zumindest „richtigeren“ Körperlichkeit führen. Hier scheint es für das trans*geschlechtliche Selbsterleben wichtig zu sein, ob die eigene Körperlichkeit im Rahmen eines Defizitdenkens verstanden wird: „Ich wünsche mir (sehnlichst) ein weibliches Genital, aber meines ist (noch) nicht (hinreichend) weiblich“. Oder ob zum Beispiel positiv formuliert werden kann: „Ich habe jetzt mein weibliches Genital“, oder „Mein Genital ist wie ein weibliches“. Die Akzeptanz, trotz aller Angleichungsschritte eben doch nicht „gleich“ zu sein, sondern „ähnlich“ den cisgeschlechtlichen Menschen zu sein, ist eine bedeutsame Leistung.
Für viele trans* Personen wiederum kann ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Trans*community von großer Bedeutung sein. Damit kann die Haltung verbunden sein, das eigene Trans*sein nicht nur als ein Übergangsthema zu betrachten, sondern als ein dauerhaftes Identitätsmodell, also das Trans*geschlecht als ein eigenes Geschlecht zu betrachten. In jedem Fall liegt dem eine Entscheidung zugrunde, mit der eigenen Geschlechtlichkeit anders und deutlicher sichtbar zu sein.
3.2Fluiditäten der Geschlechtlichkeit
Genderidentitäten sind nicht notwendigerweise fixiert. Viele Menschen erleben im Verlauf ihres Lebens Veränderungen oder Erweiterungen ihrer geschlechtlichen Identität, bei anderen bleibt das Empfinden der geschlechtlichen Zugehörigkeit relativ konstant. So können auch trans* Personen in jeglichen Lebensphasen an einen Punkt kommen, an dem das bisherige Selbstverständnis als trans*, agender, crossdressed, transsexuell etc. nicht mehr dem Selbsterleben entspricht. Eine Auseinandersetzung mit Kategorien, Schubladen, Definitionen setzt ein. Das Denken in Differenzen etabliert eine analytische Sicht darauf, ob die eigene Selbstbeschreibung und Selbstbezeichnung noch stimmig sind und einem sich verändernden Selbstkonzept angemessen dienen können. Die Akzeptanz einer gewissen Fluidität und Bandbreite des trans*geschlechtlichen Seins kann helfen, Spannungen abzubauen, eine bessere Selbstakzeptanz zu entwickeln, sich von Veränderungen weniger beunruhigen zu lassen. Geschlechtliche Selbstbeschreibungen, Begehrensstandpunkte, das sexuelle Begehren selbst, die Einstellung zu romantischen Beziehungen oder das Verhältnis zu den Genitalien in ihrem Sexualitäts- und Identitätsaspekt können fluide sein.
3.3Genderidentitäten und sexuelle Orientierungen
Genderidentitäten unterscheiden sich von sexuellen Orientierungen, können jedoch mit diesen vielfältig verwoben sein. Als „sexuelle Orientierungen“ werden hier die tief empfundene Zuwendung und das Begehren bezogen auf die Geschlechtlichkeit des Gegenübers verstanden. Sexuelle Orientierungen umfassen sexuelle Phantasien, sexuelle Handlungen, die sexuelle Selbst- und Fremddefinition sowie die erotische und emotionale Zuwendung zum Gegenüber. Oftmals sind nicht alle Aspekte einer sexuellen Orientierung bei einer Person gleichgerichtet. Die Bedeutungszuweisung an eine bestimmte sexuelle Orientierung wird durch soziokulturelle Konzepte beeinflusst, die auch die Beschreibungen von homo-, bi-, hetero- und pansexuellen Orientierungen geprägt haben (Wolf et al. 2015).
Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext kann davon ausgegangen werden, dass sich für Personen, deren Geschlechtsidentität vom Zuweisungsgeschlecht abweicht, die Artikulation ihrer sexuellen Orientierung schwieriger gestaltet, weil ihnen weniger Modelle dafür zur Verfügung gestellt werden, wie sie sich hinsichtlich ihrer Geschlechtlichkeit und Sexualität ausdrücken können (American Psychological Association 2015, Meyer 2003, World Professional Association for Transgender Health 2011). Offenere Konzepte von sexuellen Orientierungen und Wünschen (Sedgwick 1990), die neben der geschlechtlichen Einordnung des Selbst und des Gegenübers auch andere Merkmale sexuellen Erlebens (z. B. sexuelle Praktiken oder bezogen auf bestimmte Körper oder spezifische Beziehungskonstellationen) als ebenso wichtigen Ausdruck der Persönlichkeit eines Menschen betrachten, können hier eine Erweiterung des Blicks ermöglichen. Das Nach- oder Miteinander der Ausprägung geschlechtlicher Identitäten und sexueller Orientierungen wird in den Kapiteln 5.1 „Entwicklungsprozesse von Geschlechtsidentitäten“ und 5.2 „Coming-outs“ beschrieben.
3.4Die Fragen nach dem „Woher“
Die Geschichten, die Menschen darüber erzählen, wie sie zu derjenigen Person geworden sind, die sie gerade sind und wohin sie sich entwickeln möchten, sind zentral für die Wahrnehmung und Beschreibung der eigenen Identität (Rüsen 2006). Für das Selbsterleben von trans* Personen kann die Beschäftigung mit der Frage, woher das Trans*sein an sich und eben auch das eigene Trans*sein komme, dementsprechend eine große Bedeutung haben. Damit ist die Selbstakzeptanz angesprochen, auch Fragen einer inneren Ablehnung des eigenen Trans*seins, einer verinnerlichten Trans*feindlichkeit. Für das Aushalten solcher Gefühlslagen kann es als hilfreich erlebt werden, auf eine Ätiologie verweisen zu können, eine nachvollziehbare Entwicklung, die von eigenem „schuldhaften“ Handeln entlastet, die von einem „Irrtum“ oder einem „Verrücktsein“ freispricht. Auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Familie oder im Arbeitskontext können schlüssig klingende Erklärungen, warum jemand trans* sei, sehr entlasten und einen Rechtfertigungsdruck mindern. Bisher haben sich aber alle Erklärungsversuche als nicht sonderlich tragfähig erwiesen. Zudem scheint sich schon die Vielfalt trans*geschlechtlichen Lebens allgemeingültigen Erklärungsversuchen zu entziehen. Für trans* Personen kann es eine große Herausforderung sein, das eigene Trans*sein als ein grundloses So-Sein zu akzeptieren und sich selbst darin anzunehmen und möglicherweise auch einen entsprechenden Stolz zu entwickeln.
Bei aller Suche nach Zugehörigkeiten und sinnstiftenden Erklärungen des eigenen So-Seins bleibt häufig ein Erleben von Einsamkeit bestehen mit der Frage, wie es auszuhalten sei. Eine selbstbewusste Positionierung als trans*geschlechtliche Person stellt häufig familiäre, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeiten in Frage, die Unsichtbarmachung des Trans*seins führt andererseits auf der Ebene der geschlechtlichen Identität ebenfalls zu einer Vereinsamung. So sehen sich trans* Personen häufig in dem Dilemma, nur entscheiden zu können, welche Art der Einsamkeit sie vermutlich besser ertragen können.
Die Versuche, sich selbst im eigenen Trans*sein zu verstehen, führten und führen auch immer wieder dazu, diagnostische Beschreibungen von Seiten der Medizin zu Rate zu ziehen.
3.5Medizinische und psychologische Konzepte zur Trans*geschlechtlichkeit
Ein Trans*sein in der derzeitigen gesellschaftlichen Situation ist kaum ohne eine Korrespondenz mit medizinischen Konzepten verstehbar. Mit Hilfe des von ihnen beobachteten trans*geschlechtlichen Lebens haben sich verschiedene medizinische und psychiatrische / psychologische Fachrichtungen mit Trans*geschlechtlichkeit auseinandergesetzt, zum Teil in heftiger Opposition zueinander im Kampf um die Deutungshoheit im Themenfeld (Johnson 2007). Dabei lassen sich mehrere Diskursstränge unterscheiden: Von psychiatrischer und psychoanalytischer Seite ab Beginn des 20. Jahrhunderts sowie später ab den 1950er Jahren von verhaltenstherapeutischer Seite wurde Trans*geschlechtlichkeit als eine mittels psychotherapeutischer Methoden zu behandelnde schwere psychische Störung dargestellt.
Parallel dazu entwickelten sich in der somatischen Medizin, insbesondere der Endokrinologie und Chirurgie, Konzeptionen von Trans*geschlechtlichkeit, die körpermodifizierende medizinische Behandlungen legitimieren sollten. Ausgehend von medizinischen Konzepten der Trans*geschlechtlichkeit wurden zahlreiche organische Ätiologiehypothesen aufgestellt (Johnson 2007), von denen sich keine einzige bislang als tragfähig erweisen konnte. Einem medizinischen Verständnis, welches körpermodifizierende Maßnahmen als Behandlungsmöglichkeit für trans*geschlechtliche Menschen benannte, wurde von psychiatrisch-psychoanalytischer Seite zum Teil sehr heftig und polemisch entgegengetreten (Johnson 2007).
Zudem wurde innerhalb der letzten hundert Jahre von medizinischer und psychologischer Seite versucht, Trans*geschlechtlichkeit eindeutig von Homosexualität abzugrenzen (Johnson 2007). Vielfach erfolgte dies mit der Vorstellung, dass beides sowohl gesellschaftlich unerwünscht als auch pathologisch sei. Medizin und Psychologie haben sich so lange Zeit zu Handlangern gesellschaftlicher Diskriminierung gemacht, diese legitimiert und immer wieder neu aufgerichtet (Johnson 2007, Rauchfleisch et al. 2002, Wolf 2013).
Unterdessen hat sich der gesundheitsprofessionelle Konsens von einer Perspektive, die Genderdysphorie als Störung oder Krankheit betrachtete, dahin bewegt, die Vielfalt von Geschlechtern anzuerkennen (Fraser 2015). Jede geschlechtliche Identität wird seit der maßgeblichen Stellungnahme des Weltärztebundes (World Medical Association 2015) als gesunde Möglichkeit betrachtet, mit der eine Person Lebensglück und Zufriedenheit erreichen, Beziehungen leben und zur Weiterentwicklung der Gesellschaft beitragen kann. Zudem wird die Bereitstellung einer guten Gesundheitsversorgung für trans* Personen als Menschenrecht angesehen (Fraser 2015). Bis diese Fachmeinung erreicht werden konnte, musste ein langer Weg zurückgelegt werden.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich der jüdische Berliner Arzt Magnus Hirschfeld in seiner bahnbrechenden sexualwissenschaftlichen Arbeit mit Trans*geschlechtlichkeit auseinander (Güldenring 2015). In vielen Städten in den USA und auch in Berlin war es damals illegal, in der Öffentlichkeit mit einer Bekleidung aufzutreten, die nicht dem Zuweisungsgeschlecht entsprach (Stryker 2008). Bis in die Gegenwart wurden und werden in vielen Ländern trans*geschlechtliche Menschen für Crossdressing-Verhalten durch Ordnungsbehörden angegriffen (Amnesty International 2001). Hirschfeld versuchte damals, polizeiliche Schikanen gegen trans*geschlechtliche Menschen in Berlin durch Gespräche mit den Polizeibehörden abzuwenden. In seinem Institut für Sexualwissenschaften waren auch trans*geschlechtliche Menschen tätig, und es wurden bereits in den 1930er Jahren dort erste körpermodifizierende Operationen durchgeführt (Stryker 2008).
Besonders wichtig für die Erarbeitung des heutigen medizinischen Verständnisses von Trans*geschlechtlichkeit wird der Entschluss von Christine Jorgensen betrachtet, 1952 ihre geschlechtsangleichenden Operationen durchführen zu lassen. Sie hatte sich selbst zuvor geschlechtsangleichende Hormone besorgt und diese angewendet. Durch die Veröffentlichung ihrer Erfahrungen bewirkte sie eine breite Diskussion (Johnson 2007). Ab dieser Zeit wurden zunehmend geschlechtsangleichende Operationen durchgeführt und sowohl Operateur_innen als auch die betreffenden trans* Personen berichteten darüber.
Trans*geschlechtliche Menschen nahmen also immer wieder entscheidend Einfluss auf den Verlauf der Diskurse, indem sie mit sehr viel Mut die Geschichten ihrer Transition erzählten und auch Verletzungen ihrer Menschenrechte im Gesundheitssystem anprangerten (Scholinski 1995, 1998).
1966 publizierte Dr. Harry Benjamin sein Werk „The Transsexual Phenomenon“, in dem er Trans*geschlechtlichkeit als eine Form der psychischen Intersexualität interpretierte. In die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) wurde Trans*geschlechtlichkeit erstmals 1965 in der achten Version als „transvestitism“ aufgenommen. 1968 wurde die entsprechende Einordnung in das DSM-II (Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen; englisch: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) übernommen (ebenfalls als „transvestitism“).
1975 folgte die ICD-9 mit der ausdifferenzierten Diagnose „transvestitism and transsexualism“. Das DSM-III schloss 1980 mit der Diagnose „transsexualism“ an und führte zusätzlich die Kategorie einer Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter ein.
Dies wurde 1987 im DSM-III-R weitergeführt. Das aktuell noch gültige ICD-10 differenziert die sogenannten „Störungen der Geschlechtsidentität“ in „Transsexualismus“, „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechterrollen“ und „Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter“ sowie sonstige und nicht näher bezeichnete Störungen der Geschlechtsidentität (Kapitel 7.2 „Diagnostik“).
Ab 1994 wird im DSM auf den Begriff „Transsexualism“ verzichtet. Das DSM-IV sprach sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen von einer „Gender Identity Disorder“.
Ab 2013 wird in der aktuellen Version DSM-5 der Begriff „Gender Dysphoria“ verwendet (Fraser 2015, Dilling / Freyberger 2008, Wolf 2013).
Psychiater_innen und Psycholog_innen haben Versuche unternommen, trans*geschlechtliches Erleben psychodiagnostisch zu erfassen und in das vorliegende Verständnis von psychischen Störungen einzupassen. Die in den jeweils gültigen diagnostischen Systemen daraufhin postulierten und so vermeintlich „sicheren“ Kriterien haben trans* Personen eingeladen, ihr eigenes Erleben daran zu messen. Anhand von Übereinstimmungsgraden mit den geltenden Kriterien versuchten sie, ihr Gefühlsleben als ein „richtiges“ trans*geschlechtliches Erleben zu akzeptieren oder es den vorgegebenen Kriterien anzupassen, um daraus Selbstsicherheit zu gewinnen.
Hinzu kommt hier noch der aktuell durch die ICD-10 festgeschriebene Umstand, dass weitere darin enthaltene Diagnosen wie „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“, „Fetischistischer Transvestitismus“, „Sexuelle Reifungskrise“, „Ichdystone Sexualorientierung“ konstruiert wurden. Diese schreiben das Fremde und Unverständliche jenseits einer hetero- und cisnormativen Vorstellungswelt diagnostisch als Störungen fest. In der Beschäftigung mit solchem Störungsdenken und besonders im Kontakt mit Diagnostiker_innen erleben trans* Personen eine Haltung, die ihr Erleben als psychische Störung wertet und die somit – leider aktuell immer noch – im Gegensatz zum oben genannten WMA-Statement (WMA 2015) auf der Basis der ICD-Diagnosen davon ausgeht, dass trans* Personen psychisch krank sind. Solch eine Psychopathologisierung kann bei trans* Personen natürlich Zweifel an sich selbst auslösen oder verstärken. Das eigene Trans*sein kann in Frage gestellt werden und auch die Richtigkeit der eigenen Entscheidungen in den verschiedenen Lebenssituationen.
Manche trans* Klient_innen erleben in ihren Psychotherapien, dass therapeutischerseits eine kausale Verknüpfung von erlittener Traumatisierung mit der Entwicklung von Trans*geschlechtlichkeit vorgenommen wird. Steinbrück (2012) hat beispielsweise einen Bericht einer trans* Person dokumentiert, nach dem in der Therapie ein Zusammenhang zwischen Trans*männlichkeit und Täterintrojekten konstruiert worden war.
Traumabezogene Ursachentheorien von „Transsexualität“ lehnen sich an Defizittheorien zur Genese von Homosexualität an. Mediziner_innen, Psycholog_innen und auch Seelsorger_innen, die Homosexualität als gesellschaftsschädlich und krank betrachteten, suchten nach den Ursachen dieser unerwünschten Entwicklung, um Ansatzpunkte für die Verhinderung von Homosexualität zu finden. Innerhalb dieses Referenzrahmens formten sie die These, dass der Entwicklung von Homosexualität schädigende Erlebnisse zugrunde liegen müssten. Diese Thesen stützen die Wissenschaftler_innen je nach ihrer Gebundenheit an eine Therapieschule epistemologisch auf psychoanalytische (Torelli 2006) oder auf lerntheoretische Überlegungen. Mit einer traumagenetischen Deutung ihrer sexuellen Orientierung wurden und werden in diesem diskriminierenden Referenzrahmen insbesondere traumatisierte lesbische Frauen in Psychotherapien konfrontiert (Frossard 2000, Wolf 2004, Wolf 2013).
Vergleichbare wissenschaftliche Bemühungen zur Erhellung der Genese heterosexueller Orientierungen blieben aus. So wurde entsprechend auch die empirische Tatsache, dass viele heterosexuelle und cis Personen Traumaerfahrungen haben (Fischer / Riedesser 2009), nicht ausgenutzt, um Heterosexualität und Cisgeschlechtlichkeit kausal aus Traumatisierungserfahrungen abzuleiten. Aus den beschriebenen Fokusbildungen und gezielten Auslassungen des wissenschaftlichen Interesses lässt sich also eine interessengeleitete Tendenz der Forschungen zur Genese von nicht-normativen sexuellen Orientierungen und Genderidentitäten erkennen. In diesem vorurteilsgeprägten Rahmen ist eine offene und respektvolle Diskussion der Bedeutung von Traumaerfahrungen für die Möglichkeiten einer Person, eine bestimmte Genderidentität zu entwickeln, nicht möglich.
Selbst ein Verständnis, welches nach wissenschaftlicher Evidenz fragt, würde hier antworten, dass keine kausale Verknüpfung von Erfahrungen in der sozialen Umwelt, Erziehungsfaktoren oder Traumata mit der Entwicklung von Trans*geschlechtlichkeit vorgenommen werden kann (Ettner 2015). Theorien, die trotzdem von einer Traumagenese der Trans*geschlechtlichkeit ausgehen (Korte et al. 2008), weisen für diejenigen trans* Personen, an denen sie angewendet werden, ein Schädigungspotential auf. So verwischen falsche Ursachentheorien zum Beispiel den Blick darauf, dass eine trans*idente Entwicklung der Traumatisierung oft vorgängig ist und dass Gewalt gegen trans* Personen dann oft das Ziel verfolgt, sie am Leben ihrer Trans*geschlechtlichkeit zu hindern. Diese Theorien kaschieren damit dann gleichzeitig auch die Verantwortlichkeit derjenigen, die trans* Personen Gewalt antun (Birck 2001). Damit erschweren sie es auch einer traumatisierten trans* Person, ihre Wahrnehmung für ihr Leiden zu schärfen und genau zu unterscheiden, wer ihr Gewalt angetan hat und wer auf ihrer Seite steht.
Wir möchten darauf hinweisen, dass schädigungs- und traumaorientierte Genesetheorien der Trans*geschlechtlichkeit zudem Kommunikationsbarrieren in der therapeutischen Beziehung errichten. Sie schwächen die therapeutischen Möglichkeiten, trans*geschlechtlichen Entwicklungen respektvoll zu begegnen und damit auch die Entwicklung von Selbstakzeptanz bei trans*geschlechtlichen Klient_innen zu unterstützen (American Psychiatric Association 1998). Traumagenesetheorien der Trans*geschlechtlichkeit implizieren zudem die problematische Annahme, eine wirksame Traumabehandlung könne konversionstherapeutisch in Richtung der Induzierung einer Cisidentität wirken (American Psychological Association 2009).
Insbesondere in Psychotherapien während der Transition verschweigen viele trans* Personen Traumatisierungen und auch Traumafolgestörungen aus Sorge, ihr_e Therapeut_in könne problematischen Ursachentheorien anhängen und denken, sie hätten sich ohne eine Traumatisierung nicht trans*geschlechtlich entwickelt. Durch das Verschweigen möchten sich die Klient_innen davor schützen, dass sie in der Psychotherapie in ihrer Trans*identität angezweifelt werden und die psychotherapeutischen Stellungnahmen zur Befürwortung der benötigten geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen nicht erhalten (Fuchs et al. 2012).
Nach unserem Verständnis handelt es sich auch dann, wenn eine Person mit Traumatisierungserfahrungen in Kindheit und Jugendzeit eine trans*geschlechtliche Identität in sich verspürt und zeigt, um einen selbstbestimmten Entwicklungsprozess, der gerade bei Personen mit sehr belastenden biografischen Erfahrungen als enorme Lebensleistung zu würdigen ist. Es gibt keinen fachlich zu vertretenden Grund, einer trans*geschlechtlichen Person aufgrund von Traumatisierungserfahrungen geschlechtsangleichende Maßnahmen zu versagen (Di Ceglie 2015).
3.5.1Diagnostische Einordnung von Trans*identitäten als Zugangsvoraussetzung für Transitionsmaßnahmen
Ohne Diagnose ist medizinisches und auch psychotherapeutisches Handeln nicht legitim (British Medical Association 1992, 38) und im deutschen Gesundheitssystem auch nicht abrechnungsfähig. Der diagnostische Prozess soll der diagnostizierenden Person eine Orientierung und statusstabilisierende Sicherheit geben, sie vor Ängsten und Unsicherheiten bewahren und ihr eine Distanz zur diagnostizierten Person ermöglichen (Güldenring 2015). Eine Diagnostik kann vor diesem Hintergrund auch Schaden anrichten, indem z. B. die Diagnose an sich zur Ausgrenzung, Entwertung und Demütigung einer Person benutzt wird (Courtois / Ford 2016).
In der „Begleittherapie“ und auch in der Begutachtung nach dem „Transsexuellengesetz“ stehen Behandelnde und Gutachter_innen vor dem Dilemma, dass sie einerseits die Diagnose F64.0 „Transsexualismus“ (nach ICD-10) vergeben müssen, um einer Person den Zugang zur Änderung ihres Vornamens und Personenstands und zu medizinischen Maßnahmen in der Transition zu eröffnen. Auf der anderen Seite reifizieren sie durch ihr therapeutisches und gutachterliches Handeln ein System, welches von trans* Personen eine Duldung der Psychopathologisierung ihrer Geschlechtsidentität verlangt, um Maßnahmen zu erhalten, die für die Selbstannahme und ihre gesellschaftliche Anerkennung notwendig sind. Benötigen trans* Personen keine Transitionsbehandlungen und auch keine Gutachten für die rechtliche Transition nach dem TSG (mehr), empfehlen wir im therapeutischen Setting einen konsequenten Verzicht auf eine psychopathologisierende Einordnung der Trans*geschlechtlichkeit einer behandlungssuchenden Person.
Die diagnostischen Kriterien für „Genderdysphorie“ im DSM-5 und „Transsexualismus“ in der ICD-10
Wir gehen davon aus, dass Behandler_innen und Gutachter_innen die diagnostischen Kriterien für „Transsexualismus“ in der ICD-10 und im DSM-5 kennen sollten, um trans* Personen dabei zu unterstützen, eine bedarfsgerechte Versorgung zu erhalten. Insofern haben wir uns entschieden, diese diagnostischen Kriterien auch in dieses Buch aufzunehmen, medizinsystemimmanent zu diskutieren und zu kritisieren.
In der Versorgungspraxis sehen wir viele trans* Personen, deren Selbstwahrnehmungen an vielen Stellen nicht den diagnostischen Kriterien entsprechen, die jedoch trotzdem aufgrund ihrer Trans*geschlechtlichkeit körpermodifizierende Behandlungen benötigen. In vielen Fällen erteilen wir also letztlich die Diagnosen F64.0 „Transsexualismus“ bzw. F64.2 „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“, auch wenn die diagnostischen Kriterien nicht alle erfüllt sind, weil wir behandlungssuchenden Personen den Weg in eine ethisch vertretbare Versorgung ebnen wollen.
In der für die Abrechnungspraxis innerhalb des Gesundheitssystems in Deutschland maßgeblichen ICD-10 ist die Diagnose „Transsexualismus“ (F64.0) im Kapitel F6 („Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“) aufgeführt.
Die diagnostischen Kriterien für „Transsexualismus“ (F64.0) bei Personen im Erwachsenenalter lauten:
„A. Die Betroffenen haben den Wunsch, als Angehörige des anderen Geschlechts zu leben und als solche akzeptiert zu werden, in der Regel verbunden mit dem Wunsch, den eigenen Körper durch chirurgische und hormonelle Behandlungen dem bevorzugten Geschlecht soweit als möglich anzugleichen.
B. Die transsexuelle Identität besteht andauernd seit mindestens zwei Jahren.
C. Der Transsexualismus ist nicht Symptom einer anderen psychischen Erkrankung, wie z. B. einer Schizophrenie und geht nicht mit einer Chromosomenaberration einher“ (Dilling / Freyberger 2008, 259).
Mit der Diagnose F64.1 („Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ wird in der ICD-10 Crossdressingverhalten psychopathologisiert, auch in den Fällen, in denen die betreffende Person nicht darunter leidet. Zudem gibt es im Unterkapitel F64.- noch die diagnostischen Unsicherheitskategorien F64.8 („sonstige Störungen der Geschlechtsidentität“) und F64.9 „nicht näher bezeichnete Störung der Geschlechtsidentität“ (Dilling / Freyberger 2008, 260, 262). Unter F65.- („Störungen der Sexualpräferenz“) wird zudem mit F65.1 der „Fetischistische Transvestitismus“ (S. 263) als psychopathologisch eingeordnet.
Im Kindesalter wird in der ICD-10 die Diagnose F64.2 für „Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters“ vergeben. Die Geschlechterbezeichnungen innerhalb der ICD-10 erfolgen dabei noch aufgrund des bei Geburt dem Kind zugewiesenen Geschlechts (d. h. ein „Mädchen“ in der ICD-10 ist ein Kind, welchem bei Geburt ein weibliches Geschlecht zugewiesen wurde).
Die Kriterien für F64.2 in der ICD-10 lauten:
„Bei Mädchen:
Andauerndes intensives Leiden daran, ein Mädchen zu sein, und erklärter Wunsch, ein Junge zu sein (nicht begründet mit kulturellen Vorteilen für Jungen). Oder das Mädchen besteht darauf, bereits ein Junge zu sein.
Entweder 1. oder 2.:
1. Anhaltende deutliche Aversion gegen üblicherweise weibliche Kleidung und Bestehen auf typisch männlicher Kleidung, z. B. männlicher Unterwäsche und anderer Accessoires;
2. anhaltende Ablehnung weiblicher anatomischer Strukturen, die sich in mindestens einem der folgenden Merkmale äußert:
a. Behauptung, einen Penis zu besitzen, oder dass ein Penis wachsen wird;
b. Ablehnung, im Sitzen zu urinieren;
c. Versicherung, keine Brüste zu bekommen oder nicht menstruieren zu wollen.
Das Mädchen hat bis jetzt nicht die Pubertät erreicht.
Die Störung muss seit mindestens sechs Monaten vorliegen.
Bei Jungen:
Anhaltendes intensives Leiden darunter, ein Junge zu sein sowie intensiver Wunsch oder – seltener – Behauptung, bereits ein Mädchen zu sein.
Entweder 1. oder 2.:
1. Beschäftigung mit typisch weiblichen Aktivitäten, z. B. Tragen weiblicher Kleidungsstücke oder Nachahmung der weiblichen Erscheinung, intensiver Wunsch, an Spielen und Zeitvertreib von Mädchen teilzunehmen und Ablehnung von typisch männlichem Spielzeug, Spielen und Aktivitäten;
2. Anhaltende Ablehnung männlicher anatomischer Strukturen, die sich durch mindestens eine der folgenden wiederholten Behauptungen äußert:
a. dass er zu einer Frau heranwachsen wird (nicht nur in eine weibliche Rolle);
b. dass sein Penis oder seine Hoden ekelhaft sind oder verschwinden werden;
c. dass es besser wäre, keinen Penis oder Hoden zu haben.
Der Junge hat bis jetzt nicht die Pubertät erreicht.
Die Störung muss seit mindestens sechs Monaten vorliegen“ (Dilling / Freyberger 2008, 261–262).
In der ICD-10 sollen Geschlechtsidentitätsstörungen bei Jugendlichen in der Pubertät unter F66 klassifiziert werden.
Das Unterkapitel F66.- umfasst in der ICD-10 die sogenannten „Psychische(n) und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung“. Hierunter gefasst sind die
■ „Sexuelle Reifungskrise“ (F66.0), die ein Leiden an der Unsicherheit bezüglich der eigenen Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung diagnostisch erfassen soll,
■ die „Ichdystone Sexualorientierung“ (F66.1), die den Wunsch, die eigene sexuelle Orientierung möge wegen begleitender psychischer und Verhaltensstörungen anders sein, diagnostisch erfassen soll,
■ die „Sexuelle Beziehungsstörung“ (F66.2), nach der die eigene Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung „bei der Aufnahme oder Aufrechterhaltung einer Beziehung mit einem Sexualpartner Probleme“ bereitet,
■ sowie die „Sonstige(n) psychische(n) und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung“ (F66.8) und die „Psychische und Verhaltensstörung in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung, nicht näher bezeichnet“ (F66.9) (Dilling / Freyberger 2008, 268–269).
Auch im DSM-5 der Amerikanischen Psychiatrischen Assoziation wird das Geschlecht entsprechend des Zuweisungsgeschlechts etikettiert.
3.5.2Diagnostische Kriterien für „Genderdysphorie im Kindesalter“ im DSM-5 und „Transsexualismus“ in der ICD-10
Die diagnostischen Kriterien für „Genderdysphorie im Kindesalter“ (302.6) lauten im DSM-5:
A) Eine deutliche Inkongruenz zwischen dem erlebten / ausgedrückten Geschlecht und dem Zuweisungsgeschlecht über mindestens sechs Monate. Mindestens sechs der folgenden Kriterien sind erfüllt. Eines davon muss Kriterium A1 sein.
1. Ein starker Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören oder ein Bestehen darauf, dem anderen Geschlecht anzugehören (oder irgendeinem alternativen Geschlecht, welches sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet).
2. Bei Jungen (entsprechend dem Zuweisungsgeschlecht) eine starke Neigung zum Crossdressing oder dazu, sich weiblich zu kleiden; oder bei Mädchen eine starke Bevorzugung ausschließlich typisch männlicher Bekleidung und ein starker Widerstand gegen typisch weibliche Kleidung.
3. Eine starke Neigung, gegengeschlechtliche Rollen im Spiel zu übernehmen.
4. Eine starke Neigung zu Spielzeugen, Spielen oder Aktivitäten, die stereotyp dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden.
5. Eine ausgeprägte Bevorzugung von Spielgefährten des anderen Geschlechts.
6. Bei Jungen (entsprechend dem Zuweisungsgeschlecht) eine starke Zurückweisung typisch männlich besetzter Spielzeuge, Spiele und Aktivitäten und ein ausgeprägtes Vermeiden von Kampf- und Tobespielen, oder bei Mädchen (entsprechend dem Zuweisungsgeschlecht) eine starke Zurückweisung typisch weiblicher Spielzeuge, Spiele und Aktivitäten.
7. Eine ausgeprägte Ablehnung der eigenen primären Geschlechtsorgane.
8. Ein starker Wunsch, die primären und / oder sekundären Geschlechtsmerkmale zu haben, die dem selbstempfundenen Geschlecht entsprechen.
B) Der Zustand geht mit klinisch signifikantem Stress oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen wichtigen Lebensbereichen einher (American Psychiatric Association 2013, 452–453, nicht autorisierte Übersetzung: G. W.).
Eine eventuell vorliegende intersexuelle Entwicklung wird laut DSM-5 zusätzlich zur Genderdysphorie kodiert.
Die entsprechenden diagnostischen Kriterien für „Genderdysphorie in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter“ lauten im DSM-5 (302.85):
A) Eine deutliche Inkongruenz zwischen dem erlebten / ausgedrückten Geschlecht und dem Zuweisungsgeschlecht über mindestens sechs Monate. Mindestens sechs der folgenden Kriterien sind erfüllt. Eines davon muss Kriterium A1 sein.
1) Eine deutliche Inkongruenz zwischen dem erlebten / ausgedrückten Geschlecht und primären und / oder sekundären Geschlechtsmerkmalen (oder bei jungen Adoleszenten: antizipierten sekundären Geschlechtsmerkmalen).
2) Ein starker Wunsch, die primären und / oder sekundären Geschlechtsmerkmale los zu werden (bzw. bei jungen Adoleszenten: ein Wunsch, die Entwicklung der antizipierten sekundären Geschlechtsmerkmale zu verhindern).
3) Ein starker Wunsch, die primären und / oder sekundären Geschlechtsmerkmale des anderen Geschlechts zu haben.