Pulang (Heimkehr nach Jakarta) - Leils S. Chudori - E-Book

Pulang (Heimkehr nach Jakarta) E-Book

Leils S. Chudori

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Beschreibung

Leila S. Chudoris Roman erschien 2012 in Indonesien und erregte viel Aufsehen. Die Autorin war gerade drei Jahre alt, als die Massenmorde an angeblichen Sympathisanten der Kommunistischen Partei Indonesiens im September 1965 begannen. Hunderttausende Menschen starben, weil sie eine eigene politische Meinung hatten. Damit begann die Diktatur von Präsident Suharto. Leila S. Chudoris Buch gilt als wichtiger Beitrag der Aufarbeitung dieses Themas, als »Gegengift« gegen die offizielle Version der Geschichte, die unter Suharto verbreitet wurde. Der Roman verknüpft die historischen Ereignisse mit dem persönlichen Schicksal zweier Generationen. En passant erfährt man viel über Indonesien, seine Politik und seine Kultur. Auch das Essen ist der Autorin wichtig: Für sie ist es Teil der gelebten Kultur ihres Landes, und sie schildert die Kochkünste des Protagonisten detailliert und inspirierend. Ein großartiger und groß angelegter Roman und ein Stück Weltliteratur.

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Über das Buch

»Pulang (Heimkehr nach Jakarta« erschien 2012 in Indonesien und erregte viel Aufsehen. Die Autorin war gerade drei Jahre alt, als die Massenmorde an angeblichen Sympathisanten der Kommunistischen Partei Indonesiens im September 1965 begannen. Hunderttausende Menschen starben, weil sie eine eigene politische Meinung hatten. Damit begann die Diktatur von Präsident Suharto. Joshua Oppenheimer hat die Pogrome in seinen Filmen »The Act of Killing« und »The Look of Silence« auf außergewöhnliche Weise dokumentiert. Pulang (das indonesische Wort für nach Hause) befasst sich mit dem Schicksal einer Gruppe von Journalisten, die aufgrund der Ereignisse im September 1965 im Exil in Paris leben und nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. Pam Allen (»Inside Indonesia«) charakterisiert Leila S. Chudoris Buch als wichtigen Beitrag der Aufarbeitung dieses Themas, als »Gegengift« gegen die offizielle Version der Geschichte, die unter Suharto verbreitet wurde.

Der Roman verknüpft die historischen Ereignisse mit dem persönlichen Schicksal zweier Generationen. Dimas Suryo, der 1965 im Ausland war und nicht mehr nach Indonesien zurückkehren konnte, lebt als Mitbesitzer eines indonesischen Restaurants in Paris und leidet lebenslang unter seiner Heimatlosigkeit. Lintang Utara, seine Tochter mit der Französin Vivienne, reist 1998 für die Examensarbeit ihres Filmstudiums nach Jakarta und begegnet auf ihre Art der Geschichte und Gegenwart Indonesiens. Sie gerät in die Studentenunruhen, die zum Ende der Ära Suharto führten.

»Pulang (Heimkehr nach Jakarta« ist nicht nur spannend, en passant erfährt man viel über Indonesien und seine Kultur. Vor allem das Essen ist der Autorin wichtig: Für sie ist es Teil der gelebten Kultur ihres Landes, und sie schildert die Kochkünste des Protagonisten detailliert und inspirierend.

Das Buch ist in seiner Struktur komplex gebaut; verschiedene Zeitebenen und Erzählperspektiven setzen das Narrativ gekonnt zusammen. Ein großartiger und groß angelegter Roman, der weit mehr ist als ein Bild Indonesiens: Er ist ein Stück Weltliteratur.

Über die Autorin

Leila S. Chudori

Pulang

(Heimkehr nach Jakarta)

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2015

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe, Pulang, erschien 2012 bei Kepustakaan Populer Gramedia, Jakarta

© Leila S. Chudori 2012

Printausgabe: © Weidle Verlag 2015

Die Veröffentlichung dieses Buchs wurde ermöglicht mit freundlicher Unterstützung durch das Übersetzungsförderungsprogramm des Ministeriums für Bildung und Kultur der Republik Indonesien Dank an John McGlynn, Claudia Kaiser, Anita Sobron und das Restaurant Indonésia in der Rue de Vaugirard, Paris.

Lektorat: Barbara Weidle

Korrektur: Kim Keller, Angelika Singer

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 15.09.2015

ISBN 978-3-95988-027-5

Inhaltsverzeichnis

Prolog Jalan Sabang, Jakarta, April 1968
DIMAS SURYO Paris, Mai 1968
Hananto Prawiro
Surti Anandari
Terre d’Asile
Die vier Säulen des Tanah Air
LINTANG UTARA Paris, April 1998
Narayana Lafebvre
L’Irréparable
Ekalaya
Vivienne Deveraux
Blutgetränkte Briefe
Flâneurs
SEGARA ALAN Ein Diorama
Bimo Nugroho
Familie Aji Suryo
Schattenbilder
Mai 1998

Für meine ElternWilly und Mohammad Chudori und meine TochterRain Chudori-Soerjoatmodjo

Prolog Jalan Sabang, Jakarta, April 1968

Die Nacht war hereingebrochen, ohne Wenn und Aber. Als hätte sich ein schwarzes Wurfnetz über Jakarta gelegt, oder als hätte sich die Tinte eines Riesenkraken über das gesamte Stadtgebiet ergossen. Undurchdringlich wie die Zukunft, die ich nicht vorausahnen konnte.

In der Dunkelkammer sah ich weder Sonne noch Mond. In der Dunkelheit, in die dieser Raum getaucht war, herrschte der Geruch von Chemikalien und Angst.

Es war nun schon drei Jahre her, daß die Redaktion der Berita Nusantara von »Ungeziefer« und »Schmutz« gesäubert worden war. Die Armee war das Desinfektionsmittel. Wir, die dort arbeiteten, waren das Ungeziefer und der Schmutz. Und wir mußten von der Erdoberfläche getilgt werden. Ohne Spuren zu hinterlassen. Einer dieser Schädlinge verdiente nun seinen Lebensunterhalt im Tjahaja Fotostudio an der Ecke zur Jalan Sabang.

Ich machte die rote Lampe an, um einige Negativstreifen zu überprüfen, die noch zum Trocknen an der Leine hingen. Es muß gegen sechs Uhr gewesen sein, denn ich konnte den Ruf des Muezzins zum Abendgebet hören, der gedämpft zu mir hereindrang. Ich stellte mir die Atmosphäre auf der Jalan Sabang vor, das nervige Knattern der Bemos, die sich träge vorwärtsbewegenden Opelets, das Quietschen der ungeölten Becaks, das Klingeln und Bimmeln der Fahrräder, die sich ihren Weg auf die andere Straßenseite bahnten, und die Verkäufer mit fahrbaren Imbißständen, die ihre Waren lautstark anpriesen. Ich konnte mir genau vorstellen, wie der Wind den Geruch der Sate-Spieße aus Lammfleisch herüberwehte, die Pak Heri an seinem Straßenstand an der Ecke Jalan Sabang und Asem Lama auf den Grillrost gelegt hatte. Ich war sicher, daß er genau in diesem Augenblick eine Handvoll Erdnüsse mahlte und diese dann mit süßer Sojasoße und Zwiebelringen mischte. Ich erinnere mich noch genau, wie mein Freund Dimas Suryo die Erdnußmischung von Pak Heri aufmerksam studierte und sie mit ihm besprach, ganz so als würde er über Verse des Dichters Rivai Apin diskutieren.

Die Kakophonie auf der Jalan Sabang gipfelte für uns bei Tjahaja allabendlich im Pfeifen des Kessels, das von Suhardis Verkaufs-karren herüberklang. Jeden Abend hielt Suhardi mit seinem mobilen Stand vor dem Fotostudio, und mit der gleichen Regelmäßigkeit kauften wir bei ihm unsere Putu. Dieses Pfeifgeräusch und der Duft der Sate-Spieße von Pak Heri waren normalerweise das einzige, was bis in die Dunkelkammer vordringen konnte. Alle anderen Stimmen und Geräusche schienen in der Schwärze des Raumes erstickt zu werden. Die süßen Putu hingegen klopften mit ihrem Duft und dem Pfeifen des Kessels an die Türen und Fenster des Fotostudios. Das war das Zeichen für mich, den Raum, in dem es keine Zeit gab, zu verlassen.

Ich hätte nicht sagen können, warum es mir an diesem Tag widerstrebte, nach draußen zu gehen. Ich sah den Verkaufsraum als einen Ausschnitt der deprimierenden Außenwelt vor mir: Das Licht der Neonlampen ergoß sich auf den Fußboden und in die Glasvitrinen; Suhardjo und Liang bedienten Kunden, die ihre Fotoabzüge oder Paßfotos abholten. Letzteres war in den vergangenen zwei Jahren zu unserer beste Einnahmequelle geworden. Fast täglich kamen mindestens zehn bis fünfzehn Personen, die um ein Paßfoto baten. Sie benötigten es für ein offizielles Schreiben, in dem sie erklären mußten, daß sie nicht an der Bewegung des 30. September beteiligt gewesen waren.

Das beharrliche Pfeifen am Putu-Stand lockte Kunden herbei. Ich blieb bewegungslos stehen. Mir kam es vor, als mischte sich das Pfeifen des Putu-Kessels mit dem Pfeifen eines Mannes. Dann hörte ich immer deutlicher kräftige Schritte in unseren Laden treten. Ich wußte nicht, was lauter war: das Pfeifen des Putu-Kessels oder mein klopfendes Herz.

»Guten Abend«, sagte eine unbekannte Männerstimme.

»Guten Abend«, erwiderte Adi Tjahjono, der Inhaber des Fotostudios Tjahaja.

»Kann ich mit Pak Hananto sprechen?«

Ich konnte nicht hören, was Adi darauf antworte, aber ich erkannte, daß er alarmiert war. Ich vermutete, sie waren zu dritt oder zu viert.

»Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ich bin sein Cousin aus Zentral-Java«, sagte eine andere Männerstimme, die sanfter und gebildeter klang.

Adi schwieg.

Ich wußte, Adi Tjahjono würde der Sanftheit und der Freundlichkeit des Mannes, der vorgab, mein »Cousin aus Zentral-Java« zu sein, nachgeben müssen. Doch ich hörte nichts. Ich stellte ihn mir vor, wie er angestrengt über eine Antwort nachdachte.

»Hananto Prawiro!« Eine andere Stimme war zu hören, schwerer und drängender. Es klang, als würde sich diese nachdrückliche Stimme Adi Tjahjono nähern und ihm an die Kehle gehen, wenn er weiterhin so täte, als versuche er sich an etwas zu erinnern.

Ich stand wie angewurzelt in der Dunkelkammer und war unfähig, einen klaren Gedanken über die nächsten möglichen Schritte zu fassen. Ich hörte das Pfeifen des Putu-Kessels und wunderte mich darüber, daß es wie »Miroirs« von Ravel klang. Warum nicht »Boléro«, fragte ich mich. Vielleicht weil »Miroirs« den Ansturm meiner Gefühle dämpfen konnte.

Die Dunkelkammer hatte keine Fenster. Das bedeutete, daß ich – selbst wenn ich mich nach draußen schleichen und fliehen wollte – die Tür zum Verkaufsraum hätte nehmen müssen. Und das bedeutete wiederum, daß sie mich dort sofort erwischen würden, ganz gleich, wie schnell ich auch rannte. Aber die Wahrheit war: Ich wollte nicht länger auf der Flucht sein. Nicht, weil es ein Leben voller Entbehrungen und in Armut bedeutete. Auch nicht, weil ich meine Entschlossenheit zum Widerstand verloren hatte. Ich wollte nicht länger auf der Flucht sein, weil mich unlängst diese eine Nachricht erreicht hatte: Surti und die Kinder waren von der Wache der Militärpolizei Guntur in das Distrikt-Militärkommando auf der Jalan Budi Kemuliaan verlegt worden. An diesem Punkt mußte ich Schluß machen. Nicht, weil ich nicht mehr an den Kampf glaubte. Sondern weil ich wollte, daß Surti und unsere drei Kinder in Sicherheit lebten. Das zumindest war ich ihnen nach den drei Jahren, in denen ich auf der Flucht war, schuldig.

Die Tür zur Dunkelkammer wurde geöffnet und knarrte. Warum vergesse ich nur immer wieder, die Scharniere zu ölen? Adis Stimme erklang, fast durch das Pfeifen des Putu-Kessels übertönt, überbrachte er mir die Nachricht vom Besuch des »Cousins aus Zentral-Java«. Ich verstand nicht alle Worte, wußte aber die Bedeutung des Gesagten. Ich mußte mich ergeben. Adi und ich sahen uns an. Ich bemerkte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. Ich wußte, er war machtlos. Ich nickte ihm zu und nahm meine Jacke von der Garderobe. Es war der 6. April 1968. Ich blickte auf mein Handgelenk, aber dann erinnerte ich mich, daß ich meine Armbanduhr Dimas gegeben hatte. Es ging das Gerücht um, daß er, Nug und Risjaf in Peking untergetaucht waren. Die Titoni-Uhr mit dem aus siebzehn Edelsteinen gefertigten Lager konnte Dimas jetzt vielleicht dazu dienen, die Zeit besser im Blick zu behalten.

Die vier »Gäste aus Zentral-Java« reagierten augenblicklich auf mein Erscheinen. Sie stellten sich in bemerkenswerter Gleichförmigkeit um mich herum, jeweils mit einer Hand in der Innenseite ihres Jacketts. Genauer gesagt, sie hatten mich umzingelt und waren bereit, mich sofort zu erschießen, wenn ich auch nur den Versuch unternahm, mich ihnen zu entwinden und zu fliehen. Einer der vier, vermutlich ihr Anführer, kam noch näher.

»Herr Hananto, ich bin Lettu Mukidjo.« Er lächelte. Es war seine freundliche Stimme, die vorhin zu hören gewesen war und die auf gute Umgangsformen schließen ließ. Nun konnte ich seine leuchtenden Augen sehen. Er lächelte zufrieden. Sein Lächeln ließ einen Goldzahn zwischen seinen Lippen kurz auf blitzten. Ich wußte, mit welcher Befriedigung er mich nun stellte, das letzte Glied einer Kette. Seitdem die Verfolgungen vor drei Jahren begonnen hatten, waren bereits Hunderte von Freunden verhaftet worden.

»Bitte folgen Sie uns ...!«

Lettu Mukidjo machte tatsächlich einen kultivierten Eindruck. Auch wenn ich mich innerlich darauf einstellte, gleich von allen Seiten getreten und geschlagen zu werden. Freunde hatten berichtet, daß mich die Militärs unbedingt hatten finden wollen und mich inzwischen »den Schatten« nannten. Ich nickte ruhig, machte die ersten Schritte, begleitet von den vier Männern in Zivil, die sich von Adi Tjahjono verabschiedeten.

Die Nacht war hereingebrochen, ohne Wenn und Aber. Ich folgte ihnen zu zwei Autos, die vor dem Fotostudio Tjahaja geparkt standen: ein Nissan Patrol und ein Toyota Landcruiser mit einem Verdeck aus Leinenstoff. Lettu Mukidjo, der Goldzahnbesitzer, bat mich, in den Toyota einzusteigen. Vor meinem inneren Auge tauchten die Gesichter von Surti, Kenanga, Bulan und Alam auf. Und von all meinen Freunden, die ich nun vor mir sah, blickte – aus welchem Grund auch immer – nur Dimas Suryo mir nach. Als der Motor ansprang, ging mein Blick in die Nacht und entlang der Jalan Sabang: Ich sah den Putu-Stand von Suhardi, Pak Heris Sate-Stand, die Nudelgarküche und schließlich die flackernde Neonlampe des Fotostudios Tjahaja. Ein letztes Mal.

Dimas Suryo

Paris, Mai 1968

Sie erschien mir wie die unvollendete Zeile eines Gedichts.

Unter den Tausenden von Studenten, die sich für eine Kundgebung auf dem Platz vor der Sorbonne versammelt hatten, fiel nur sie mir auf. Sie stand am Denkmal für Victor Hugo. Ihre Haare, brünett, dick und wellig, trotzten dem Wind. Nur einige widerspenstige Strähnen umflatterten ihr Gesicht und bedeckten es teilweise. Obwohl ich in einiger Entfernung von ihr stand, konnte ich ihre grünen Augen erkennen, deren Anblick mein betrübtes Herz durchdrang. Nur für einen Augenblick schaute sie zu mir herüber. Eine Sekunde lang. Zwei Sekunden. Sogleich war sie wieder damit beschäftigt, den um sie herum stehenden Studenten Anweisungen zu geben. Ich war fast sicher, daß sie ein Lächeln verbarg.

... Versucht der Wind nicht gerade

ihre makellosen Lippen zu berühren ...

Doch der Maiwind machte sich wieder an ihrem Haar zu schaffen. Die Frühlingssonne wetteiferte mit dem letzten Wehen des Pariser Winters. Mit gespielter Verärgerung streifte sie die widerspenstigen Strähnen zur Seite. Nicht mit der geschmeidigen Bewegung einer Tänzerin, auch nicht mit dem eitlen Schwung einer Frau, die versucht, die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich zu ziehen. Ihre Bewegung machte deutlich, daß sie mit derlei kleinen Störungen keine Geduld hatte. Sie stand da mit aufrechter Körperhaltung und einem unnachgiebigen Blick. Aus einiger Entfernung beobachtete sie eine Gruppe von Kommilitonen. Ihre Lippen waren zwar fest aufeinandergepreßt, aber ihre Augen lächelten. Hin und wieder biß sie sich auf die Unterlippe. Dann schaute sie auf die Armbanduhr. Wenige Minuten später stemmte sie die Hände in die Hüften.

Ein Mann kam auf sie zu und gab ihr eine Flasche Bier der Marke 1664. Er hatte lockiges Haar und trug eine Brille. Wenn er nicht so zerzaust gewirkt hätte, hätte er glatt zu den gutaussehenden Franzosen zählen können. Aber ich war sicher, seit gestern hatte der nicht mehr geduscht; genau wie Tausende Studenten der Sorbonne, die hier demonstrierten. Ihr Protest richtete sich gegen die Verhaftung von einigen Studenten der Universität Paris X in Nanterre und gegen die einstweilige Schließung ihres Campus.

Ich roch die Mailuft, sie war allerdings schwer vom muffigen Geruch der Körper, die selten ins Freie kamen. Dazu der Geruch aus Mündern, die zwar schon lange keine Zahnpasta mehr gesehen, dafür aber alkoholische Getränke geschmeckt hatten. Hier wurde die unvergleichliche Leidenschaft des Widerstands ausgedünstet.

Ich war neidisch. Ich war eifersüchtig. Bei dem Kampf, der hier und heute in Paris tobte, war ganz klar, worum es ging. Es war klar, wo der Schuldige und wo der Ankläger stand. Die Kontrahenten waren die Studenten und Arbeiter auf der einen Seite und die Regierung de Gaulles auf der anderen Seite. In Indonesien waren uns Durcheinander und Chaos sehr wohl vertraut, aber wir wußten nie, wer unser Freund und wer unser Feind war. Wir wußten noch nicht einmal, welche Ziele die jeweiligen Konfliktparteien verfolgten, außer vielleicht, daß es ihnen um Macht ging. Was für ein Chaos und was für eine Finsternis!

Zwei Briefe steckten in meiner Jackentasche. Bereits seit Anfang des Jahres wurde in Indonesien jeder, der mutmaßlich Mitglied oder Sympathisant der Kommunistischen Partei war, verfolgt, verhaftet und verhört. Dazu zählten auch Familienangehörige, Freunde, Arbeitskollegen und selbst Nachbarn von Mitgliedern der PKI oder von Personen, die man als PKI-nahe verdächtigte. Mein jüngerer Bruder Aji berichtete von unzähligen schrecklichen Vorfällen; von massenhaft verschwundenen Menschen und von einer weit größeren, noch unbekannten Zahl von Getöteten.

Den ersten Brief hatte Aji geschrieben, darin verbot er mir und meinen drei Freunden, nach Indonesien zurückzukehren. Aji teilte uns jedes Mal per Brief mit, wenn ein Freund, ein Nachbar oder ein Bekannter in die Hände des Militärs gefallen war.

Aber die Nachricht, die er in seinem jüngsten Brief übermittelte, hatte ich am meisten gefürchtet. Ich hatte die Hoffnung nie aufge-geben, daß man Mas Hananto nicht erwischen würde.

Diese Hiobsbotschaft war nun doch eingetroffen. Mas Hananto, mein Freund, mein Vorgesetzter, mein Kollege, mein Gesprächspartner, Surtis Ehemann und der Vater von Kenanga, Bulan und Alam, wurde schließlich doch gefaßt. Man hatte ihn vor etwa einem Monat an seinem Arbeitsplatz in der Jalan Sabang in Jakarta verhaftet.

Plötzlich lag Paris im Schatten. Mein Herz verfinsterte sich. Ich wagte nicht, den zweiten Brief zu öffnen. Ich ahnte, daß sein Inhalt mich noch mehr lähmen würde. Er war von Kenanga, Hanantos ältester Tochter.

Es war absurd. An jenem Abend in Jakarta hätte sich die Schlinge des Militärs um meinen Hals legen müssen. Aber ich war hier, inmitten einer wogenden Menge französischer Studenten. Umgeben von ihrem Tumult, nahm ich plötzlich den unverwechselbaren Geruch der Gosse Jakartas wahr, vermischt mit dem Duft von Nelkenzigaretten und dem Aroma schwarzen Kaffees. Das Leuchten in den Augen der französischen Studenten erinnerte mich an die Freunde in Jakarta. Das Leuchten in ihren Augen und ihre überschäumende Begeisterung für die Sache. Mit kräftigen Stimmen forderten sie eine gerechtere Gesellschaft. Auch wenn später sicherlich nicht wenige der idealistischen Studenten zum Erhalt genau dieser momentan abgelehnten Machtverhältnisse beitragen würden.

Die Begeisterung für die Sache strahlte auch aus den Augen der brünetten Frau. Allerdings starrte sie gerade den ungeduschten Lockenkopf mit Brille an. Der zottige Mann wirkte verunsichert und wandte sich von ihr ab. Er trank den letzten Rest aus seiner Bierflasche und hatte im selben Augenblick das Interesse an der hübschen Frau verloren.

Ich hätte mich ihr allzugern genähert. Bestimmt war die Farbe ihrer Augen aus dem Grün von Weinblättern und dem Blau des Indischen Ozeans gemischt worden. In diesen frischen Farben wollte ich Zuflucht suchen. Das Grün ihrer Augen wäre mein Teppich aus Gras, hier könnte ich mich niedersetzen oder mich auf den Rücken legen; das Meeresblau wäre der Himmel, der sich wie ein Schirm über mir spannte.

Mein Körper und meine Augen hatten sich bereits auf den Weg zu ihr gemacht, aber meine Beine waren schwer wie Blei, meine Füße fühlten sich an, als lägen sie wie die eines zum Tode verurteilten Schwerverbrechers in Ketten. Um mich herum rauschte und wehte der Pariser Wind und verhöhnte meine Hemmungen. Ich starrte auf meine erbärmlichen Füße, die mir den Dienst versagten.

Plötzlich sah ich ein zweites Paar Füße, eines, das dunkelblaue Turnschuhe trug und aus verwaschenen Jeans ragte. Langsam hob ich meinen Blick. Die blaugrünen Augen blickten direkt in meine. Ganz nah.

»Ça va ...?«

Die blaugrünen Augen lächelten.

Sie kam zu mir wie die fehlende Zeile eines Gedichts. Sie setzte meinen Atem fort, der plötzlich angehalten hatte.

»Ça va ...?«

Vivienne Deveraux und ich wurden zwei Punkte, die zu einer Linie verschmolzen und jede Pore des Körpers der Stadt Paris erkundeten. Nur wenige Wochen nach unserer ersten, kurzen Begegnung führte uns die Natur wieder zusammen. Es war auf der Rue de Seine, ich schaute mir gerade eine Reihe von Plakaten an, die dort an Gebäuden entlang der Straße hingen und nahezu alle Wände des Rive Gauche bedeckten. Diese Bilder katapultierten mich nach Indonesien zurück. Ich dachte an einige befreundete Maler und sah ihre Werke mit den unterschiedlichsten Motiven in leuchtenden Farben vor mir: Kurkumagelb, flammendes Rot oder Blauviolett. Andere indonesische Künstler waren der Technik des Holzschnitts treugeblieben, und deren Bilder erinnerten mich häufig an die Werke osteuropäischer Künstler. Die Plakate hier nun in der Rue de Seine wirkten provokativ und schienen ihre Botschaften lautstark vermitteln zu wollen. Allerdings mußte ich mir deren Bedeutung zunächst übersetzen.

»Toute la Presse est Toxique«, »La Lutte Continue«

»The struggle continues ...«

Diese Stimme! Da war sie wieder. Vivienne stand neben mir. Mit ihren blaugrünen Augen und diesen Lippen, deren einziger Makel war, daß sie nicht durch meine verschlossen waren.

Vivienne lächelte und zeigte auf das Plakat, auf dem die Umrisse von sechs Personen abgebildet waren und die Zeile »La Lutte Continue« geschrieben stand. »That means: The struggle continues«, sagte sie in einem bezaubernden Englisch.

»Bedeutet das, daß Studenten und Arbeiter in ihrer Entschlossenheit vereint sind?«

»Es geht um die Entschlossenheit des gesamten französischen Volkes«, sagte sie entschieden. Ich nickte, aber Vivienne bemerkte die Skepsis in meinem Gesicht. Sie schlug vor, in eines der Straßencafés zu gehen. Als wir uns hingesetzt hatten, bestellte sie gleich zwei Tassen Kaffee für uns beide. Der Kaffee in Paris wurde immer in diesen winzigen Tassen serviert, die mir eher dazu geeignet schienen, einen Edelstein aufzubewahren. Als ich zum ersten Mal einen Schluck Kaffee daraus probierte, wäre ich fast umgefallen. Auf meiner Zunge hatte sich eine ölige und unglaublich süße Masse ausgebreitet. Was taten die Franzosen bloß in ihren Kaffee? Ein Kilo Zucker und eine Gallone Milch?

Selbst jetzt, nach dem soundsovielten Pariser Kaffee, übermannte mich beim ersten Schluck erneut die Empfindung, daß die Sahne sich wie pures Fett auf meine Zunge legte. Ich verschluckte mich. Was hatten nur alle mit diesem europäischen Kaffee?

»Magst du keinen Kaffee?« Vivienne entging nicht, wie schwer es mir fiel, den Kaffee hinunterzuschlucken.

»Du solltest den Kaffee aus Indonesien probieren! Wir haben Hunderte, vielleicht sogar Tausende Sorten von Kaffee«, übertrieb ich. Offenbar wollte ich sie mit meinem Heimatland beeindrucken. Bestimmt wußte Vivienne wie viele andere Franzosen nicht besonders viel über l’Indonésie.

Während ich ihr lang und breit von den Kaffeesorten Toraja, Mandailing, Tubruk und Luwak vorschwärmte, hörte sie mir lächelnd zu. Ich erzählte ihr, wie die Kaffeebohnen für den besonders begehrten und teuren Luwak gewonnen werden: Die reifen Kaffee-kirschen werden von Tieren einer bestimmten Schleichkatzenart, den Luwak, gefressen und wieder ausgeschieden; anschließend werden die Bohnen eingesammelt, gewaschen und geröstet. Vivienne war anzusehen, daß sie ein Lachen unterdrückte, um nicht unhöf lich zu erscheinen. Sie glaubte mir nicht. Ich konnte in ihren Augen lesen, daß sie sich fragte, wie im Verdauungstrakt eines Tieres mit Namen Luwak der erste Schritt der Veredelung von Kaffeebohnen vonstatten gehen konnte, die später als Köstlichkeit gehandelt wurden. Als ich dann auch noch beschrieb, wie stark der Luwak-Kaffee war und daß der erste Schluck des Tages dem Genießer einen -morgendlichen -Orgasmus bescherte, lachte Vivienne endlich schallend auf.

»Du hast es geschafft, daß ich für einen Moment das Chaos in meinem Land vergessen habe«, sagte sie.

»Was für ein Chaos?« Vivienne lachte nicht mehr.

»Die Polizei geht auf meine Freunde los. Der Campus ist geschlossen, und die Politiker sind ratlos.«

Vivienne klagte nicht. Sie sprach, als trüge sie reine Fakten vor. Ich beobachtete ihre Lippen, während sie sprach. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, was Chaos in meinem Land bedeutete. Die Berichterstattung über Indonesien nahm in Le Monde und Le -Figaro gewiß nur einen marginalen Raum ein. In Frankreich verstand man unter Indonesien lediglich ein Land in Südostasien, das nach seiner Lage auf der Landkarte nicht weit von Vietnam entfernt war (die einzigen asiatischen Länder, die die meisten Franzosen kannten, waren Vietnam und China). Für Vivienne und ihre Freunde, die gegenwärtig für die Widerstandsbewegung der jungen Generation in Europa und Amerika brannten, war der völlig sinnlos geführte Vietnamkrieg der Auslöser ihrer Proteste. Sie hatten die Namen von Sukarno, Hatta, Sjahrir oder Tan Malaka noch nie gehört. Ganz zu schweigen von den blutigen Ereignissen um den 30. September 1965. Sie mußten ja erst einmal den Atlas zur Hand nehmen, um nachzuschlagen, wo Indonesien überhaupt lag.

Vivienne aber redete weiter, über den Beginn des Protestes der Studenten in Nanterre, wie dieser immer weitere Kreise zog und sich zu einer gewaltigen Studentenbewegung entwickelte, der sich schließlich auch die Arbeiter anschlossen. Ich hielt es kaum mehr aus. Ich war sicher, wenn Vivienne gewußt hätte, was in Indonesien passierte, dann würde sie auf hören zu reden. Andererseits wollte ich nicht (oder noch nicht) über das Blutbad in meinem Heimatland sprechen. Wie aber ließ sich ihr Geplapper abstellen?

Ich entschloß mich, den Platz zu wechseln und mich neben sie zu setzen. Ich berührte ihr hübsches spitzes Kinn und drehte sanft ihren Kopf zu mir. Tatsächlich, sie hörte auf zu sprechen. Ihre Augen weiteten sich, und in ihnen erkannte ich Begehren. Dann schloß ich ihre Lippen mit meinen. Wir küßten uns, als wollten wir niemals mehr damit auf hören.

In den folgenden Monaten benahmen wir uns wie zwei flâneurs auf einer Entdeckungsreise durch die Straßen von Paris. Es schien mit einem Mal, als hätte die Mai-Revolution 1968 nicht das geringste hinterlassen. Frankreich war wieder das flamboyante Land, in dem es lebhaft und bunt, aber dennoch kultiviert und geordnet zuging.

In dieser Zeit drängte mich Vivienne kein einziges Mal, über mich oder meine Vergangenheit zu sprechen. Sie fragte mich selten – oder genauer gesagt, faßte selten den Mut, mich zu fragen –, wie es in meiner Vergangenheit aussah. Umgekehrt wußte ich bereits eine ganze Menge über sie.

Vivienne war das jüngere von zwei Kindern der Familie Deveraux, die in Lyon lebte. Ihr Bruder Jean arbeitete seit einigen Jahren für das Rote Kreuz und war als Freiwilliger in verschiedenen Ländern Afrikas im Einsatz. Ihre Cousinen Marie-Claire und Mathilde studierten wie sie an der Sorbonne. Zusammen bildeten sie das Trio Brunette. Während der Mai-Demonstrationen waren ihre Stimmen schrill und laut zu hören gewesen.

Vivienne war zweifelsohne eine kluge Frau, und ihre natürlichen Begabungen wurden in ihrem Elternhaus bereits früh gefördert. Ihre Familie gehörte zur intellektuellen Mittelschicht, die besonders großen Wert auf eine akademische Ausbildung legte. Diese Art von Klugheit allerdings war überall in Frankreich oder überhaupt in Europa zu finden. Was Vivienne von ihren beiden Cousinen unterschied, war ihre Sensibilität. Vivienne hatte sofort verstanden, daß ihre offene Haltung mir gegenüber nicht automatisch ein Tauschpfand für Informationen aus meiner Vergangenheit war. Ihr war bewußt, daß ich nicht nach Paris ausgewandert war, weil ich aus einer Familie der Bourgeoisie stammte. Sie wußte, daß es etwas gab, das mich gezwungen hatte, mein altes Leben zurückzulassen, und das mich nun in Europa festhielt. Sie spürte es vielleicht an der Vorsicht, mit der ich Banknoten zählte, oder an der langen Zeit, die ich in Antiquariaten verbringen konnte, ohne etwas zu kaufen.

Sie hatte nicht nur diesen festen, wohlgeformten Körper und dieses brünett schimmernde Haar, sondern Vivienne verfügte zudem über ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. Sie drängte mich nicht, möglichst noch am Anfang unserer Beziehung sämtliche Details meiner Vergangenheit in enzyklopädischer Form wiederzugeben. Sie überließ es mir, ihr den Inhalt aus der Flasche meiner Erinnerung Tropfen für Tropfen anzubieten.

Als Neuankömmling in Paris kannte ich bislang nur die Metro--Linie, die in dem Viertel verkehrte, in dem sich auch mein heruntergekommenes Appartement und einige vietnamesische Imbißstuben befanden. Das Essen in diesen Läden glich mehr der indonesischen oder der chinesischen Küche als der europäischen, in der man mit Gewürzen eher sparsam umging. Vivienne bot mir an, mit mir zur Bibliothèque Nationale im Palais Mazarin zu fahren. Dort liehen wir mit ihrem Mitgliedsausweis einige Bücher über Literatur und Politik aus. Die Bibliothek war riesig und flößte mir solche Ehrfurcht ein, daß ich nicht wagte, durch alle Stockwerke zu gehen. Ich schwor mir, eines Tages allein wiederzukehren.

Vivienne führte mich an Orte in Paris, an denen man auch mit dem kleinen Geldbeutel eines Reisenden, wie ich einer war, durchkam (ich wußte immer noch nicht, wie ich mich selbst bezeichnen sollte: als Flüchtling? Reisender? Arbeitsloser? Oder als jemand mit mehr Ansehen: als Autor? als Journalist ohne Zeitung?). Wir – das waren meine drei gerne lautstark kommunizierenden Freunde und ich – hatten bereits das Grand Palais und die Kathedrale Notre-Dame besucht sowie die Île Saint-Louis erkundet. Wir spielten uns gerne als romantische Abenteurer auf. Dabei waren wir nichts anderes als ein paar Exilanten, die der Politik Indonesiens zum Opfer gefallen waren.

Die Lebensadern von Paris mit Vivienne zu erkunden war eine Offenbarung für mich. Ein anderer Paris-Liebhaber – Ernest Hemingway – konnte seiner Leidenschaft für die Stadt in dem Roman A Moveable Feast Gestalt geben. Vivienne schien den Körper dieser Stadt noch besser zu verstehen – vielleicht weil sie eine Frau war.

Ich hätte nicht sagen können, ob Paris ein ewiges »Fest« war, wie es Hemingway nannte. Für uns war Paris in erster Linie Terre d’Asile. Darüber hinaus gab es in Paris natürlich die Seine, den Buchladen Shakespeare & Company oder auch die Parkbank auf der Île Saint-Louis, auf der Vivienne und ich uns geküßt hatten. Paris als Terre d’Asile versorgte uns mit einem Dach über dem Kopf und der nächsten Mahlzeit – die immateriellen Genüsse der Stadt, ihre Schönheit und ihr Klang, ernährten unsere Seelen. Ich war bereits einige Male auf der rechten Seite der Seine entlanggegangen, die besonders bei Touristen beliebt war. Wir vier – Mas Nug, Tjai, Risjaf und ich – hatten uns versprochen, sämtliche Winkel von Paris zu inspizieren, bevor wir nach Hause zurückkehren konnten (wann auch immer das sein mochte).

Aber es war Vivienne, die mir die interessanten Stadtteile auf der linken Seite der Seine zeigte. Hier gab es gleich eine ganze Reihe von Antiquariaten. In einem dieser Geschäfte stellte mir Vivienne den Inhaber, Monsieur Antoine Martin, vor. Der pensionierte Polizist liebte die Literatur und war glücklich, wenn er den Besuchern seines Ladens Auszüge aus den Romanen von Alain Robbe-Grillet und Marguerite Duras oder Gedichte von René Char vorlesen konnte. Diese kleinen Darbietungen reichten, um das Interesse der Kunden zu wecken, die schließlich für einen relativ geringen Preis die gebrauchten Bücher kauften. Durch solche Tage, die wir als flâneurs verbrachten, wuchs nach und nach mein französischer Wortschatz. Am Anfang bestand mein Wörterbuch, das lediglich in meinem Kopf existierte, allein aus den Wörtern oui, non und ça va. Vivienne brachte mich dazu, jeden Tag mindestens zehn neue französische Vokabeln hinzuzufügen. So begann ich schließlich, diese bezaubernde Sprache ernsthaft zu erlernen. Aber ich muß gestehen, es war nicht die Sprachpraxis, die mich ständig zu Vivienne hinzog. Es waren ihre Augen. In ihre grünen Augen wollte ich eintauchen und für immer darin begraben sein.

Jakarta, August 1968

Mas Dimas,

im April wurde Mas Hananto von vier Männern des Geheimdiensts gefaßt. Wir haben es von Adi Tjahjono erfahren. Wir wissen nicht, wohin sie Mas Hananto gebracht haben. Vielleicht ist er in Guntur. Andere wollen wissen, daß er in das Haus in Gunung Sahari IV gebracht wurde. Von ihm selbst haben wir überhaupt nichts gehört.

Mbak Surti haben sie auch abgeholt. Seit den Ereignissen 65 wurde sie immer wieder in Guntur verhört. Sie will Kenanga, Bulan und Alam nicht alleinlassen. Alam ist der jüngste Sohn von ihr und Hananto und gerade erst drei Jahre alt. Schließlich wurden die drei Kinder zusammen mit Mbak Surti in die Jalan Budi Kemuliaan mitgenommen. Kenanga mußte Dinge mit ansehen, die kein Kind mit vierzehn Jahren sehen sollte. Und was soll mit ihren beiden jüngeren Geschwistern werden? Bulan mit ihren sechs Jahren und Alam, der noch jünger ist? Diesem Brief lege ich einen Brief von Kenanga an Dich bei. Kenanga meinte, Mas Hananto hätte ihr einmal gesagt, daß Du ein zweiter Vater für die drei Geschwister seist.

Ich konnte ihren Brief einfach nicht lesen.

Mutter hat nochmals betont, wie wichtig es ist, daß Du in Europa bleibst. In Jakarta sind wir wenigstens nicht mehr in ständiger Anspannung. Aber das Vorgehen der Militärs wird aggressiver. Nicht nur gegenüber den Menschen, die als Kommunisten oder PKI-Sympathisanten verdächtigt werden. Inzwischen werden auch Familienangehörige oder ganze Familien festgenommen. Einige kehren wieder, manche verschwinden einfach, andere werden in den Fluß geworfen. Mutter und ich wurden bislang nur ein paar Mal nach Guntur vorgeladen. Nachdem wir jeweils einen ganzen Tag lang Fragen beantwortet hatten, durften wir wieder nach Hause gehen. Die meisten Fragen drehten sich um Deine Aktivitäten und darum, ob wir Mas Hananto, Mas Nug, Bung Tjai und Bung Risjaf kennen. Sie fragten auch immer wieder danach, was Du vor ein paar Jahren in Peking gemacht hast. Und sie wußten sogar von irgendwoher, daß damals eigentlich Mas Hananto nach Santiago, Havanna und Peking hätte reisen sollen.

Als ich verhört wurde, habe ich Menschen brüllen hören, die gefoltert wurden. Schrill drangen ihre Schreie durch die Wände. Und ich hoffe nur, daß sie auch in Gottes Ohr drangen. Was Kenanga sehen und hören mußte, ist noch viel schrecklicher. Lies ihren Brief, und bitte antworte bald.

Jakarta ist die Hölle. Bete für uns. Dein Bruder,

Aji Suryo

Einige Tage später hielt ich meine Traurigkeit kaum mehr aus. An diesem Abend machte ich mit Vivienne einen Spaziergang auf der Île Saint-Louis. In einer der engen Gassen war der Mond zu sehen, ich blieb stehen und berührte ihr Kinn.

»Was ist los mit dir?« fragte Vivienne.

»Ich habe Nachrichten aus Jakarta.«

Vivienne forderte mich auf, mich auf eine Parkbank zu setzen. Es war die Parkbank, die später für mich eine fast historische Bedeutung haben sollte.

»Kannst du mit mir darüber sprechen? Vertraust du mir?«

Sie stellte mir also schließlich doch diese Frage. Die Frage nach meiner Vergangenheit, an der Blut klebte.

»Peut-être«, antwortete ich knapp. Sie hatte sich eng an mich geschmiegt, und ich wollte nicht, daß sich das änderte.

Für einen Augenblick berührte ich ihre Lippen. Ich sah Zuneigung in ihren Augen. Sie zog mich zu sich heran, und wir küßten uns lange. Es fühlte sich an, als bahnte sich Vivienne einen Weg in meine Seele, in jede Faser meines Körpers, in mein Herz. Auch wenn ich noch nicht sprach, ahnte ich, daß Vivienne bereits die Bitternis in meinem Blut und in meinem Speichel wahrnahm. Und in diesem Moment war ich bereit, den Vorhang, der meine schwarze Vergangenheit verhüllte, für Vivienne beiseitezuschieben.

Ich zog den Brief von Kenanga Prawiro, der ältesten Tochter Mas Hanantos, hervor. Ich versuchte ihn, so gut es mit meinem begrenzten Vokabular ging, ins Französische zu übersetzen.

Jakarta, August 1968

Lieber Om Dimas,

ich schreibe Dir diesen Brief jetzt, wo ich bei Oma bin. Sie hat mir gesagt, daß Om Aji Dir schreiben würde und ich einen Brief von mir mit in den Umschlag stecken könnte. Wir sind traurig. Aber wir lassen uns nicht unterkriegen.

Im April wurde mein Vater verhaftet, und seitdem haben wir ihn nicht mehr gesehen. Keiner weiß, wo er festgehalten wird. Deshalb hat Mutter uns auch alle mitgenommen, als sie verhaftet wurde. Sie wollte nicht von uns getrennt sein. Und wir wollten auch nicht von ihr getrennt sein. Bulan hat wohl noch gar nicht verstanden, daß wir in einem Gefängnis waren, Alam erst recht nicht. Es gab dort ein paar Männer von der Armee, die ganz nett zu uns waren und ihm ein paar Spielsachen mitbrachten.

Wir wurden zu einer Art Büro gebracht – ich habe den Namen vergessen, es war eine Abkürzung –, in der Gegend um die Budi Kemuliaan. Ich habe mich an das Viertel sehr gut erinnern können, weil wir mal alle zusammen dort waren, um uns die Baustelle des Monumen Nasional anzuschauen.

In dem Gefängnis haben sie Mutter immer wieder verhört. Jeden Tag. Bis sie ganz erschöpft war. Ihre Augen waren geschwollen, und auf ihrem Gesicht lag ein dunkler Schatten. Während Mutter von morgens bis abends befragt wurde, bekam ich die Aufgabe, jeden Morgen einige Räume zu fegen und darin sauberzumachen.

Am Anfang wußte ich nicht, wozu diese Räume dienten. Erst waren es auch nur Staub und Zigarettenkippen, die ich beseitigen mußte. Aber eines Tages war getrocknetes Blut auf dem Fußboden, ich mußte es aufwischen. Jetzt wußte ich, daß dort gefoltert wurde. Ich habe die Schreie gehört, von Männern, von Frauen. Es waren sehr viele. Immer wieder andere. Vor etwa einem Monat habe ich eine Rochenschwanz-Peitsche gefunden, an ihr klebte noch Blut. Ich war geschockt. Ich zitterte. Ich konnte nicht mehr auf hören zu weinen. Ich konnte es nicht sofort Mutter erzählen, weil sie schwach war und auch noch Fieber hatte. Ich konnte kaum essen, weil mir immer übel war.

Ein anderes Mal sah ich, wie ein paar Männer wie Vieh durch einen Gang getrieben wurden, sie waren etwa im Alter meines Vaters, ihre Gesichter waren blutig. Warum wurden sie gefoltert? Und warum haben sie immer wieder meine Mutter verhört und mit den immer gleichen Fragen? Ich hörte, wie sie angebrüllt wurde: Ob sie von Vaters Aktivitäten gewußt hatte, von den Aktivitäten seiner Freunde. Ob Mutter bei den Treffen dabeigewesen war. Ob Vater mal von seinen Aktivitäten erzählt hat und so weiter. Die Männer waren immer in Wut, unfähig, in einer normalen Lautstärke zu sprechen. Sie mußten immer schreien.

Ich bin traurig und habe Angst. Bulan ist noch so klein und folgt mir auf Schritt und Tritt. Alam ist noch ein Säugling, daher haben sie Mutter ihn auch stillen lassen, obwohl sie anschließend zurück in den Raum mußte, wo sie weiter verhört und angeschrien wurde.

Ich hoffe, Dir geht es gut. Vater hat mir früher einmal gesagt, daß ich mich mit Dir in Verbindung setzen soll, wenn etwas passiert.

Deine Kenanga Prawiro

Vivienne sah mich an. Tränen in ihren Augen. Wir umarmten uns lange, ohne ein Wort zu sagen.

Hananto Prawiro

Ein drückend heißer Sommerabend. Wir saßen auf dem Fußboden in Viviennes Appartement und versuchten uns so wenig wie möglich zu bewegen. Nur mit meinen Augen erkundete ich den nicht allzu großen Wohnraum. Mit allem, was mein Blick einfing, fühlte ich mich auf Anhieb vertraut. Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Sie standen in Regalen sortiert oder lagen in Stapeln auf dem Boden und auf dem Tisch. Außer Werken von Simone de Beauvoir entdeckte ich andere französische Schriftsteller, aber auch Autoren aus England, Irland, Japan, China und Indien. Für einen Moment blieb mein Blick an A Portrait of the Artist as a Young Man und Ulysses von James Joyce haften. Die gesamte Pflichtlektüre rund um die Lehren von Karl Marx stand auf einem gesonderten Bücherbord. In einem der Regale fand ich den halb-autobiographischen Roman von Ayn Rand We, the Living und ihr kontroverses Werk The Fountainhead. Ich verstand sofort, daß Vivienne eine Entdeckungsreisende war. Darin waren wir uns ähnlich. Am liebsten hätte ich Vivienne fest in meine Arme geschlossen und sie nie wieder losgelassen.

Vivienne öffnete die Fenster, so weit es ging. Sie trug ein ärmelloses T-Shirt, und der feine Schweißfilm auf ihrem schlanken Hals erregte mich. Sie nahm zwei Flaschen Bier der Marke Alsace aus dem Kühlschrank und gab mir eine davon. Vivienne setzte ihre Flasche an und stürzte den Inhalt hinunter, als gäbe es kein Morgen. Ich beobachtete die Sehne an ihrem Hals, wie sie bei jedem Schluck deutlich hervortrat. Die sichtbare Anstrengung stand dem Umstand entgegen, daß ein Teil des Biers an Viviennes Kehle und an ihrem Hals hinabrann.

Vivienne las meine Gedanken. Sie setzte die Flasche ab und sah mich mit einem herausfordernden Lächeln an. »Erzähl mir von Indonesien ...«

Ich schwieg. Mit welchem Kapitel meiner Geschichte von Indonesien hätte ich beginnen sollen? Bei meiner Familie? Mit der völlig chaotischen Situation, die momentan in diesem Land herrschte? Mit Sukarno, dem ersten Präsidenten Indonesiens? Je länger Bung Karno, wie er von seinen Anhängern genannt wurde, an der Macht war, desto undurchsichtiger wurde sein politischer Kurs. Wie stand er zu seinen politischen Weggefährten auf der linken Seite? Was bezweckte er mit seinem politischen Konzept »Nasakom«? Allein zum Akronym Nasakom, das Sukarno aus den indonesischen Begriffen für Nationalismus, Religion und Kommunismus geschöpft hatte, war so viel zu erklären. Und dann Sukarnos eigene Rolle während des Putschversuchs am 30. September 1965. Meine Freunde in Jakarta diskutierten bis heute darüber, weshalb der Präsident auf dem Militärflughafen Halim Perdanakusuma anwesend war, als die sieben Generäle entführt und ermordet wurden. Wie konnte ich alle diese Rätsel vor Vivienne ausbreiten? Oder sollte ich besser mit meiner Liebe zu den Geschichten des Wayang, des indonesischen Schattenspiels, beginnen? Konnte Vivienne nachvollziehen, daß ich von den Geschichten der Helden und der tragischen Gestalten des -Wayang nahezu besessen war?

Die Geschichte meines Landes glich dem chaotischen Inneren eines überfüllten Lagerhauses. Sollte ich Vivienne dort hineinbringen? Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Flasche, setzte sich auf meinen Schoß und küßte mich. Das Bier floß von ihrem Mund in meinen. Ich versuchte mich, so gut es ging, zu beherrschen. Es kostete mich allerdings große Anstrengung, Vivienne nicht merken zu lassen, wie es in meinem Inneren aussah. Aber wie sollte das gelingen, wenn sie auf meinem Schoß saß?

Mein Blut brodelte. Schließlich gab ich nach. Ich fuhr mit meiner Zunge über Viviennes Hals und über ihre Brust. Mir war, als ob Viviennes Brüste das enganliegende T-Shirt sprengen und ihre langen Beine sich aus der engen Jeans befreien wollten.

Im Sommer trug Vivienne selten einen BH. Ich hatte bereits mehrfach dagegen protestiert, weil ich nicht umhin konnte, auf ihre Brustwarzen zu starren, die sich unter ihrem T-Shirt abzeichneten und mich erregten. Eine Zumutung war das! Dabei sollte ich mich doch darauf konzentrieren, meine Zukunft in Paris zu planen. Was sich unter Viviennes T-Shirt verbarg, war diesem Vorhaben mehr als abträglich.

Und was war Viviennes Antwort?

»Hast du etwa schon mal im Sommer einen BH getragen? Und weißt du, wie unangenehm das ist?« Sie hielt mir einen roten BH vor die Nase.

Ich bewegte mich nicht. Mein Atem stockte. Ich weiß nicht, ob sich Vivienne bewußt war, wie sehr mich ihre Brustwarzen unter dem T-Shirt erregten. Warum nur waren Frauen oft so grausam zu uns Männern?

Im Hier und Jetzt entschied ich mich dann aber doch, der Natur für die Hitze dieses Sommers dankbar zu sein. Denn ohne vorher ein Gedicht vortragen oder einen klugen Satz zitieren zu müssen, fielen wir übereinander her. Paris war heiß, und wir glühten.

Nur wenige Minuten später lagen wir nackt auf dem Fußboden und schauten an die Decke des Appartements. Ein drückend heißer Abend im August.

»Hast du schon einmal kretek probiert?« fragte ich.

Vivienne hatte ihren Kopf auf meine Brust gelegt. »Nein, noch nicht. Aber Mathilde hat mal Nelkenzigaretten in Amsterdam gekauft. Sie meinte, es sei ein ganz außergewöhnliches Geschmacks-erlebnis.«

Ich griff in meine Jackentasche und kramte darin herum. »Ah, es sind noch welche da.« Ich nahm das Päckchen, in dem noch ein paar Nelkenzigaretten steckten, heraus und zündete eine davon an. Vivienne und ich zogen abwechselnd an der duftenden Zigarette.

»Das schmeckt süß, was ist das?« fragte Vivienne, sichtlich angenehm überrascht.

»Getrocknete und gemahlene Nelken«, antwortete ich und versuchte meine auf keimende Sehnsucht nach Nelkenduft, oder besser nach allem, was nach Indonesien roch, beiseitezuschieben.

»Eigentlich sollten wir dazu eine Tasse Luwak-Kaffee trinken.« Da war es, ich hatte eines der gefährlichen Wörter ausgesprochen. In meinem erbärmlichen Zustand und mitten in Europa sollte ich mit meinen Äußerungen über etwas Exotisches, das ich vermißte, vorsichtiger sein. Eine solche Äußerung konnte ein Beben in meinem Inneren auslösen. Ich sollte Indonesien und alles, was damit in Verbindung stand, fest einschließen und vergraben. Und sei es nur vorübergehend. Ich mußte in der Lage sein, mein Leben weiterzuleben.

Während ich meinen Gedanken nachhing, hörte ich plötzlich meine eigene Stimme, sie nahm Vivienne mit auf die Reise in das Jakarta vor vier Jahren.

Jakarta, Dezember 1964

Eine Nelkenzigarette war das Zeichen für uns. Mit einer Nelkenzigarette und einer Tasse schwarzem Kaffee auf dem Pasar Senen beendeten wir für gewöhnlich unsere langen politischen Debatten.

Zu der Zeit war Jakarta alles andere als eine ruhige und behagliche Stadt.

Das Redaktionsbüro der Berita Nusantara lag unweit des lebhaften Marktes in der Jalan Asem Lama. Mitten durch das Büro zog sich eine Demarkationslinie: Auf der einen Seite standen die Kollegen, die mit der PKI zusammenarbeiteten oder mit ihr sympathisierten. Hier standen aber auch die Kollegen, die der Kulturorganisation LEKRA verbunden waren oder sich häufig mit LEKRA-Künstlern austauschten. LEKRA oder Lembaga Kebudayaan Rakyat, das Institut für die Volkskultur, war bereits seit seiner Gründung 1950 ideologisch und auch personell eng mit der PKI verbunden. Auf der anderen Seite der Demarkationslinie oder, anders gesagt, am anderen Ende des politischen Spektrums standen die Redaktionsmitarbeiter, die alles, was nur im entferntesten nach links aussah, ablehnten. Hier waren die Kollegen zu finden, die der Gruppe um Mohammad Natsir, dem Mitgründer und Vorsitzenden der Masjumi-Partei, nahestanden, wie etwa Bang Amir, wie wir ihn nannten. Ich stand irgendwo dazwischen, war eine Art Grenzgänger. Ich fühlte mich sehr von der Philosophie Karl Marx’ angezogen, von ihren Idealen. Alle Bücher, die mir Mas Hananto darüber gab, las ich mit großer Begeisterung. Ich versäumte kaum eine Diskussion, die Hananto mit seinen Freunden in den Redaktionsräumen in der Jalan Asem Lama führte. Gleichzeitig unterhielt ich mich aber auch sehr gerne mit Bang Amir; wir sprachen über Dinge, die mehr religiöser oder spiritueller Natur waren.

Während Mas Hananto und Mas Nug davon überzeugt waren, daß im Sozialismus etwas lag, was sie »heilsam« nannten, machte ich in jeder Theorie ein paar Schwachpunkte aus. Ich erörterte Mas Hananto gegenüber meine Ansicht, daß in der Tat einige Dinge besser in den Händen der Regierung aufgehoben waren, wie etwa das Gesundheitswesen oder die öffentlichen Dienstleistungen. Andererseits glaubte ich, daß einige andere Aufgaben besser von privater Seite bewältigt werden würden.

In der letzten Zeit war überall in Jakarta zu spüren, daß die politischen Spannungen zunahmen. Ich erinnerte mich noch genau an den Nervenkrieg zwischen den LEKRA-Künstlern und den Nicht- LEKRA-Künstlern. Während die einen forderten, künstlerisches Schaffen sollte die Auseinandersetzung mit sozialen Fragen widerspiegeln, unterstrichen die anderen, daß es in der Kunst um die persönliche Freiheit und die Menschlichkeit gehe.

Für mich stellte sich bei einem literarischen Werk die Frage, ob es aus seinem Inneren heraus strahlte oder nicht. Diese Strahlkraft rührte dabei nicht vom Thema her, etwa von der Leidensgeschichte eines Arbeiters oder eines Bauern. Diese Strahlkraft rührte vielmehr daher, daß das Werk die Seele des Lesers zu berühren vermochte.

In diesem Punkt unterschied sich meine Auffassung grundlegend von der Hanantos.

Hananto Prawiro. In unserer Redaktion war er für die Auslandsberichterstattung zuständig. Er war nicht nur mein Vorgesetzter, er war auch mein Freund. Ich nannte ihn »Mas«, das ist die javanische Anrede für einen Mann, der älter als man selbst ist und ein Freund. Aber er war auch mein Lehrer und mein Mentor. Mas Hananto, Leiter der Abteilung Außenpolitik bei Nusantara News, lieh mir ständig Bücher, von denen er dachte, sie würden meinen Horizont erweitern.

Er war der Meinung, mein Denken sei zu sehr vom bourgeoisen Geist beeinflußt. Romane wie Madame Bovary oder sämtliche Werke von James Joyce bezeichnete er verächtlich als »selbstverliebt«.

» Self-indulgent! Nichts anderes ist das hier. Hier geht es nicht im geringsten um das Leben; hier geht es auch nicht um Klassenunterschiede oder Armut«, sagte Mas Hananto eines Tages, während er mir das Buch A Portrait of the Artist as a Young Man vor die Nase hielt und dabei die Seiten ganzer Kapitel mit dem Daumen abblätterte.

»Aber Stephen Dedalus begibt sich über den Weg der Religion und der Kunst auf die Suche nach sich selbst. Ich finde, das ist ein ganz natürlicher Prozeß«, versuchte ich zu erklären, hatte aber das Gefühl, es war vergebens. Ich hatte diesen Roman wieder und wieder gelesen und mich keinen Augenblick gelangweilt. Dedalus war eine tragische und gleichzeitig komische Gestalt. Er nahm sich selbst viel zu ernst. Aber Mas Hananto konnte den schwarzen Humor in den Werken von Joyce nicht erkennen. Mas Hananto wiederholte seine Argumente ständig, und wenn meine Ohren sprechen könnten, hätten sie herausgeschrien: welche Klischees! Die Terminologie des sozialistischen Realismus war in manchen Kreisen fast heilig. Wer immer sich bei unserem Redaktionsleiter, der der Führung der Kommunistischen Partei Indonesiens nahestand, einschmeicheln wollte, der brauchte nur den Begriff »sozialistischer Realismus« fallenzulassen oder ein paar Sätze aus Gorkis Mutter zu zitieren. Wer so tat, als habe er das ganze Buch gelesen, der konnte gleich in den innersten Kreis der Clique um den Redaktionsleiter einsteigen.

Ich fand Die Mutter – Pramoedya Ananta Toer hatte den Roman unter dem Titel Ibunda ins Indonesische übersetzt – ehrlich gesagt langweilig. Für mich stand hier viel zu sehr der Inhalt im Vordergrund, Stil und Form waren nebensächlich. Wenn es den Verfassern lediglich um den Inhalt ging, dann würde ich empfehlen, das nicht Literatur oder Dichtung zu nennen. Eine Rede oder ein Propagandaartikel wären meiner Ansicht nach angemessenere Formen für solche Inhalte.

Mas Hananto sagte einmal zu mir, ich gliche Wibisono. König Wibisono herrschte einst über Lanka, einen Teil des heutigen Sri Lanka, und ist im hinduistischen Epos Ramayana verewigt. Als Liebhaber des Wayang war mir die Figur natürlich vertraut. Wibisono ist der jüngere Halbbruder des Dämonengottes Rahwana und im Gegensatz zu diesem von gutem Charakter. Er steht auf der Seite Ramas, der siebten Inkarnation des Hindugottes Vishnu und späteren Herrschers von Lanka. Mir war nicht klar, wen Hananto als Rahwana und wen er als Rama in der indonesischen Politik sah. Ich verstand nur, daß er nicht genau wußte, was er mit meiner Sicht der Dinge anfangen sollte. Um ehrlich zu sein: Wenn ich schon mit einer Figur aus dem javanischen Pantheon verglichen werden sollte, hätte es eher Bima, einer der fünf Pandara-Brüder aus dem Mahabharata-Epos sein müssen.

Obwohl Bima sich unsterblich in Drupadi verliebte, verzichtet er, als sein älterer Bruder Arjuna Anspruch auf sie erhebt.

Daß ich den Bezug zu Bima herstellte, hatte allerdings rein gar nichts mit der Politik Indonesiens zu tun. Vielmehr mit meiner frühe-ren Liebe.

Mas Hananto wußte nur zu gut, daß man nicht an mich herankam, indem man mein künstlerisches Empfinden kritisierte. Er wußte, daß ich mich nicht für Romane interessierte, die er deshalb lobte, weil sie für das Volk sprachen. Einmal hatte ich ihm die Gegenfrage gestellt: Sollten wir nicht für alle Menschen eintreten, anstatt nur für die Unterschicht? Warum nennen wir es nicht einfach »die Menschlichkeit in uns selbst umarmen«? Mas Hananto lachte mich schallend aus. Aber im Gegensatz zu Mas Nugroho, den meine Aufsässigkeit häufig ärgerte, versuchte Mas Hananto mich zu verstehen. Er war wie ein älterer Bruder, der seinem verstockten jüngeren etwas beizubringen versucht.

Das war der Grund, warum ich in unserer Redaktion trotz der Demarkationslinie, die zwischen den Anhängern und den Gegnern der PKI verlief, eine Art neutrale Zone bildete. Mir war es möglich, auch mit Bang Amir und seinen Freunden zu diskutieren. Ich nannte Amir »Bang«, eine Form der Anrede, die von »abang« oder »großer Bruder« stammt, weil er wirklich wie ein großer Bruder für mich war. Bang Amir, ebenfalls Journalist der Berita Nusantara, stand »Bung« oder »Genosse« Sukarno äußerst kritisch gegenüber. Er war der Meinung, daß der indonesische Präsident der PKI-Führung zu nahe stand, und außerdem hatte Sukarno Mohammad Natsir, den früheren Premierminister und einen der höchsten religiösen Führer des Landes, 1961 wegen Hochverrats ins Gefängnis nach Malang in Ostjava bringen lassen, wo er immer noch in Haft saß.

Meine Position zwischen den beiden unversöhnlichen Lagern in der Redaktion war unangenehm, besonders deshalb, weil der Redaktionsleiter alles andere als unparteiisch war: Er war der Kopf der Clique um Mas Hananto und Mas Nugroho, die man beide als eindeutig links einordnete. Als dann plötzlich Bang Amir in die Anzeigen-Abteilung versetzt wurde, war ich nicht nur überrascht, sondern ich betrachtete das als Angriff auf ihn persönlich und auf unsere Profession. Natürlich sind Marketing und Anzeigen in jeder Zeitung wichtig. Aber Bang Amir war einer unserer besten und zuverlässigsten Journalisten. Er war immer mutig genug, seine Kritik offen zu äußern. Er war derjenige, der durch seine umgängliche Art in engem Kontakt zu den Mitgliedern sämtlicher politischer Parteien stand – außer denen der Kommunistischen Partei Indonesiens, die für gewöhnlich Mas Hananto als Informanten dienten. Außerdem schrieb er seine Artikel schnell und auf den Punkt. Er erfüllte sämtliche Anforderungen einer Nachrichtenredaktion an einen guten Journalisten.

»Warum nimmst du das als persönlichen Angriff?« fragte mich Mas Hananto, als ich ihn nach den Hintergründen der Entscheidung unserer Vorgesetzten, Bang Amir zu versetzen, befragte.

»Weil es absurd ist, Mas Hananto. Bang Amir wurde einfach versetzt, ohne einen triftigen Grund. Es sieht nach politischen Motiven aus. Oder etwa nicht? Wenn dem so sein sollte, dann ist das eine falsche Entscheidung.«

Mas Hananto sah mich verärgert an, widersprach mir aber nicht.

»Was im Leben ist denn bitte schön nicht politisch?«

Ich haßte es, wenn jede meiner Fragen mit einer Gegenfrage beantwortet wurde. Er war vielleicht mein Vorgesetzter und mein Mentor, und vielleicht hatte er in vielen Dingen mehr Erfahrung als ich. Das -bedeutete aber nicht, daß er immer Recht hatte. Natürlich war alles politisch. Aber Bang Amir kaltzustellen, aus was für Gründen auch immer – und es waren sicherlich politische –, war nicht nur falsch. Es war ungerecht.

»In jedem Kampf«, fuhr Hananto fort. »müssen wir auf Dinge gefaßt sein, die von uns Opfer fordern.«

Wie bitte? Plötzlich klang er ja wie Sukarno. Was hatte der politische Kampf mit der Zwangsversetzung von Bang Amir zu tun? Versuch bloß nicht, philosophisch zu sein, wenn es um ein Problem aus unserem Alltagsleben geht, dachte ich bei mir, sprach es aber nicht laut aus. Allein mein finsterer Blick sorgte schon dafür, daß Mas Hananto sich unwohl fühlte. Ich dagegen fühlte mich nicht nur unwohl, ich war wütend. Hananto wußte, wenn er mich weiter bedrängte, dann würde unser Streit nur noch heftiger werden. Er drehte sich um und ließ mich einfach stehen.

An diesem Nachmittag beschloß ich, Bang Amir zu besuchen. Er wohnte zusammen mit seiner Frau Saidah in einem Haus in Salemba, einem zentral gelegenen Viertel von Jakarta. Nachdem ich durch einen schmalen schattigen Gang zu Bang Amirs Haus gelangt war und an die Tür geklopft hatte, bat mich Saidah einzutreten. Bang Amirs Frau hatte langes, lockiges Haar und eine sanfte Stimme. Sie klang wie eine Mutter, die niemals wütend auf ihr Kind sein konnte. Sie bat mich, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und bot Tee an.

»Bang Amir ist zum Abendgebet. Er wird bald zurück sein, Mas.«

Ich nickte. Ich sah das Buch Capita Selecta von Mohammad Natsir neben einigen anderen Büchern auf dem Wohnzimmertisch liegen. Ein Buch mit einem geschlossenen Füllfederhalter darauf lag ebenfalls dort. Ich wußte, daß Bang Amir schon lange Anhänger der Masjumi-Partei war. Aus einer gewissen Distanz heraus hatte ich Mohammad Natsir als freundlichen und aufrichtigen Menschen wahrgenommen. Mein Wissen um seine politischen Anschauungen und die Ideologie der Masjumi-Partei hielt sich allerdings in engen Grenzen. Bei einer unserer Unterhaltungen im Redaktionsbüro hatte Bang Amir mir gegenüber seine tiefe Hoffnung geäußert, daß Natsir bald aus dem Gefängnis in Malang freikäme. Leider hatten wir nicht die Gelegenheit, unsere Unterhaltung fortzusetzen, da wir dringende Nachrichtenartikel schreiben mußten.

»Dimas Suryo ...!«

Die Stimme Bang Amirs war zu hören. Sie klang wie die des Sängers und Schauspielers Rachmat Kartolo. Manchmal suchte ich das Gespräch mit Bang Amir nur, weil ich seine tiefe und volle, aber dennoch sanfte Stimme hören wollte.

Aber was er sagte – nicht nur seine Kritik am Chefredakteur, auch seine anderen Gedanken und Ideen –, war interessant für mich.

Die Freundschaft mit Bang Amir trug mir in der Redaktion den Platz in der »neutralen Zone« ein.

Ich stand auf, um Bang Amir zu begrüßen, und wir schüttelten uns herzlich die Hände. Ich wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und ihm sagen, wie sehr es mich getroffen hatte, ihn aus dem Redak-tionsbüro weggehen zu sehen. Aber ich war sicher, daß ihm der Anlaß meines Besuches längst klar war. Er wußte, wie verbunden ich ihm als Redaktionskollege war und daß ich für ihn eintreten würde. Er wußte, daß mich die Entscheidung des Redaktionsleiters, ihn ohne eindeutigen Grund zu versetzen, wütend machte. Wie dem auch sei, wir unterhielten uns lebhaft über dies und das und genossen den Tubruk-Kaffee und einige Kretek, ohne dieses leidige Thema auch nur am Rande zu streifen. Bang Amir erzählte, wie er und Saidah sich kennengelernt hatten. Sie waren sich auf der Hochzeit eines gemeinsamen Freundes zum ersten Mal begegnet. Sie hatten sich angesehen und sofort ineinander verliebt. Solange Saidah an seiner Seite war, sagte er, vertraue er darauf, daß er jede noch so große Gefahr durchstehen könne. »Auch die Tatsache, daß ich in die Anzeigenabteilung versetzt worden bin.« Nun hatte er doch die Tabuzone betreten. »Ich bete, und ich danke Gott dafür, daß er mir Saidah zur Seite gestellt hat. Ohne sie wäre ich ein schwankendes Boot auf hoher See. Gemeinsam mit ihr bleibe ich ruhig und gefaßt.«

Bang Amir verließ die Tabuzone sogleich wieder und sprach mit großer Ernsthaftigkeit über seinen Glauben.

»Ich glaube daran, daß Allah mir seinen Segen hat zuteil werden lassen, indem Er in meinem Herzen, im Herzen Seines Dieners, eine kleine Kammer eingerichtet hat. Es ist ein kleiner leerer Raum, eine Blase der Leere, sie ist gefüllt nur mit dem Raum zwischen Ihm und mir. Hier an diesem Ort versuche ich zu verstehen, was passiert, Dimas.«

Ich verstand zwar nicht wirklich, was Bang Amir mit diesem »leeren Raum« und der »Blase der Leere« meinte, doch seine Worte zogen mich in ihren Bann. Ich löste mich darin auf wie Kakaopulver in heißer Milch. Lag es an der sanften Stimme Bang Amirs oder an seinen Worten? Ich war sprachlos.

»Willst du noch keine Familie gründen, Dimas?« Diese Frage kam völlig unvermittelt und katapultierte mich in die profane Welt zurück.

Ich lächelte. Plötzlich huschte der Schatten von Surti an mir vorüber. Strahlend. Hell. Der Duft von Kurkuma in einer Küche. Ein Kuß, der alles um mich herum vergessen ließ. Ich war überrascht.

Warum tauchte Surtis Bild gerade zu einem Zeitpunkt auf, da ich mich über Hananto ärgerte?

»Nun, es sieht ja ganz so aus, als gäbe es da schon jemanden. Ist sie hübsch? Wer ist es denn, Dimas?«

Ich lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein, Bang, ich bin wirklich noch allein. Vielleicht später, eines Tages.«

»Hab keine Angst, Dimas. Du wirst deiner Saidah schon noch begegnen«, sagte er und lächelte mich an. Ich hielt seine Offenheit kaum mehr aus. Ich stand auf, entschuldigte mich und umarmte ihn. Ich verließ das Haus und schaute mich nach einem Becak um. Mein Herz fühlte sich an, als sei es von Stahl umklammert.

***

An einem Abend waren wir früher als gewöhnlich mit unseren Artikeln fertig. Es sah ganz so aus, als könnten wir bereits um zehn Uhr Feierabend machen. Zuerst hatte ich den Plan, etwas zu essen und dann nach Hause zu gehen. Doch Mas Hananto signalisierte mir, daß ich mit ihm kommen sollte. Als wir in seinem geliebten Nissan Patrol saßen und ich ihn nach unserem Ziel fragte, lächelte er nur und umfaßte das Lenkrad. Ich bohrte nicht weiter. Während der Fahrt erzählte Mas Hananto mir, wie er und Mas Nugroho inzwischen die Korrespondenz mit wichtigen Leuten um Andrés Pascal Allende intensiviert hätten.

»Meinst du etwa den Neffen von Salvador Allende?« Ich stieß meine Frage hervor wie ein Landei, das soeben den Namen eines Prominenten gehört hatte.

Lächelnd bejahte er und ergänzte: »Und der Mitgründer des Movimiento de Izquierda Revolucionaria, der linksgerichteten Partei in Chile.«

Ich schwieg und wagte nicht nach dem Inhalt der Korrespondenz zu fragen.

Der Wagen hielt in der Jalan Cidurian in Menteng.

Ich schwieg noch immer. Ich wußte, daß in der Straße das Hauptquartier der linken Kulturorganisation LEKRA lag. Als wir tatsächlich auf das Haus, in dem sich der Sitz der Organisation befand, zugingen, sah ich einige Leute davor sitzen.

»Mas ...« flüsterte ich.

»Nur ruhig, Dimas. Ich möchte dich nur ein paar Freunden vorstellen. Und außerdem möchte ich dir ein Buch geben.«

Ich setzte mich zu den neun oder zehn Personen, die sich dort in entspannter Atmosphäre miteinander unterhielten. Bald beteiligte ich mich an den Gesprächen, trank Kaffee und rauchte – bis tief in die Nacht.

Nachdem wir von dort wieder aufgebrochen waren, fuhr mich Hananto zu meinem Wohnheim.

Bevor ich ausstieg, gab er mir ein Buch mit dem Titel Tikus dan Manusia, die indonesische Fassung von John Steinbecks Of Mice and Men, übersetzt von Pramoedya Ananta Toer.

»Das Buch gehört dir, nimm es nur«, sagte Mas Hananto.

Ich schwieg und war nicht einmal in der Lage, mich bei ihm zu bedanken.

»Wenn du es gelesen hast, möchte ich von dir wissen, ob du den sozialistischen Realismus immer noch uninteressant findest.«

***

»Was wurde aus Hananto und seiner Familie?«

Viviennes Stimme brach den Bann der Erinnerungen und riß mich blitzartig ins Paris des Jahres 1968 zurück. Ich konnte nicht gleich antworten. Vivienne ahnte, daß es weitere bittere Kapitel in meiner Erzählung gab, bevor ich Mas Hanantos Schicksal aufrollen konnte.

Ich schaute in ihre Augen und streichelte ihr Gesicht. Als ich bereits aufgestanden war, wurde mir plötzlich meine Nacktheit bewußt. Ich sah zu Vivienne, die aber offenbar den Anblick meiner Beine und meiner Brust genoß. Sie lächelte.

»Seine Frau Surti und ihre gemeinsamen Kinder sind noch in Haft.«

»Auch Kenanga?«

»Ja, das ist ihre älteste Tochter.«

»Ein schöner Name.«

»Kenanga – so heißt eine Blume in Indonesien. Ihr zweites Kind heißt Bulan, das bedeutet la lune. Der Jüngste heißt Alam, das bedeutet la nature, er ist erst drei Jahre alt.« Ich fuhr im Plauderton fort, zog meine Hose an und verbarg mein Gesicht. Ich wollte Vivienne noch nicht sagen, daß diese drei Namen von mir stammten. Diese Namen waren mir für unsere künftigen Kinder eingefallen, als wir uns unsere Zukunft ausmalten. Und wir, das waren Surti und ich.

»Und Hananto?« fragte Vivienne.

Ich antwortete nicht. Der Zigarettenrauch stieg in Wolken auf, verteilte sich im Raum und nebelte uns ein.