Pulaster - Angela Steinmüller - E-Book

Pulaster E-Book

Angela Steinmüller

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Beschreibung

Mit Raumschiffen, die fast halbe Lichtgeschwindigkeit erreichen, hat sich eine interstellare Flotte der Menschen etabliert, die sowohl im Sonnensystem als auch bei anderen Sternen Stützpunkte unterhält. Einer davon befindet sich auf dem Sumpfplaneten Pulaster, wo die Hreng leben, vernunftbegabte Saurier in einer steinzeitlichen Gesellschaft. Fabius Grosser wollte auf Pulaster eigentlich nur kurz Zwischenstation machen, muss aber wegen einer seltenen Erkrankung bleiben, wahrscheinlich für immer – eine entsetzliche Aussicht für den Flottenmechaniker, der es gewohnt ist, im Kälteschlaf Lichtjahre und Jahrhunderte zu überspringen. Bald schon verwickeln ihn das Fortschrittsstreben der Menschen und der Beharrungswille der Hreng in Konflikte, die ihn dem Planeten und seinen Ureinwohnern näher bringen, als ihm lieb ist. "Pulaster" gehört zum Zyklus um das Steinmüller-Universum und wurde mit dem Preis "Traumfabrikant" als bester DDR-SF-Roman der Jahre 1986 und '87 ausgezeichnet. 2008 von den Steinmüllers für ihre Werkausgabe überarbeitet, erscheint der Roman nunmehr mit sechs ihn umrahmenden Anhängen, von denen zwei – eine Chronologie und ein Nachwort der Autoren – hier erstmals veröffentlicht werden.

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Seitenzahl: 503

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Angela und Karlheinz Steinmüller

Pulaster

Roman eines Planeten

Angela und Karlheinz Steinmüller

Werke in Einzelausgaben. Band 5

Herausgegeben von Erik Simon

Impressum

Angela und Karlheinz Steinmüller: Pulaster. Roman eines Planeten

(Werke in Einzelausgaben. Band 5)

Herausgegeben von Erik Simon

Vignette von Thomas Hofmann

© 1986, 2008 Angela und Karlheinz Steinmüller (für den Roman)

© 1989, 2008 Angela und Karlheinz Steinmüller (für »Alles über Pulaster«)

© 2021 Angela und Karlheinz Steinmüller (für Chronologie, Nachwort und Karten)

© 2008 Angela und Karlheinz Steinmüller (für die übrigen Anhänge)

© 2021 Thomas Hofmann (für die Titelvignette)

© dieser Ausgabe 2021 by Memoranda Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion der Neufassung: Erik Simon

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-48-9 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-49-6 (E-Book)

Inhalt

Pulaster

Teil I: Pulcher Aster

Teil II: Das Hrengdorf

Teil III: Die Flottensiedlung

Teil IV: Der Sumpf

Anhänge

Kontakt ist Nonsens: Die Hreng als edle Wilde

Auszüge aus der Millenniums-Fassung von Alles über Pulaster

Wiun-jon: Erkunder der Menschen

Memo zur Pulaster-Strategie

Chronologie

Von Stern-Buchholz nach Pulaster Ein Zwiegespräch der Autoren

Pulaster

Roman eines Planeten

Teil I: Pulcher Aster

Zwei Wege der Evolution

Vor fünfundsechzig Millionen Jahren kollidierte – der gängigsten Hypothese zufolge – die Erde mit einem massiven Asteroiden: Die Wucht des Zusammenpralls warf den Alten Planeten zwar nicht aus der Bahn, lenkte jedoch die Entwicklung der Lebenswelt auf ein anderes Gleis.

Monatelang verdüsterte der aufgewirbelte Staub die Sonne und verwandelte den Tag in trübe Nacht. Nach katastrophalen Temperaturstürzen pegelte sich ein kühleres Klima ein. Drei Viertel der Tier- und Pflanzenarten gingen zugrunde. In den Meeren erloschen Dutzende Familien von Algen und von Kopffüßlern, die meisten urtümlichen Knochenfische und viele Amphibien. Auf dem Lande verfaulten die Wälder. Die eben noch die Welt beherrschenden Dinosaurier, See- und Flugechsen starben aus, mit ihnen ihre Parasiten und Aasverwerter.

So wurde Platz für Blütenpflanzen und für Knochenfische mit neuerem Bauplan, für Vögel und für die Säuger, die bislang ein kümmerliches Dasein im Schatten der Riesen fristeten. Der Paß, der letztlich zum Menschen führen sollte, war freigesprengt worden.

Pulaster ist zugleich jünger und älter als die Erde: älter an Jahren und jünger, gemessen am Stand der Evolution. Von den ersten Protozoen an verlief die Entwicklung der Lebenswelt auf Pulaster in groben Zügen parallel zu der auf der Erde. Wie auf der Erde bildeten komplexe Moleküle aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und einigen anderen Elementen den Ausgangspunkt. Wie auf der Erde folgten auf primitive einzellige Lebewesen immer höher differenzierte Mehrzeller. Wie auf der Erde eroberten zuerst Pflanzen und Insektenartige, später Wirbeltiere die Kontinente. Die Anpassung an nahezu gleiche Umweltbedingungen hat zu oft frappierenden Ähnlichkeiten in den Bauplänen der Organismen geführt. Allerdings fehlen auf Pulaster ganze Gruppen trockenliebender Pflanzen und Reptilien, wohingegen feuchteliebende Arten in größerer Vielfalt vertreten sind.

Kein kosmischer Zusammenstoß in der oberen Kreide hat den Sumpfplaneten aus der mesozoischen Ruhe aufgeschreckt, unter der dichten Wolkenhülle scheinen die Kräfte der Entwicklung nun zu schlummern. In langen Perioden tektonischer Inaktivität hat die Erosion die Gebirge eingeebnet, weite Feuchtgebiete umschließen die Inselkontinente, Flora und Fauna haben sich auf einem nach irdischem Maßstab primitiveren Entwicklungsniveau recht einseitig entfaltet. Dennoch hat dieser Planet wie die Erde eine vernunftbegabte Spezies hervorgebracht, und zwar aus dem pulastrischen Gegenstück zu dem auf Terra längst verdorrten Seitenzweig der Reptilbeckensaurier und nicht aus dem in den Wipfel strebenden Ast der Primaten.

Als werkzeugproduzierende Lebewesen können die Hreng auf eine mindestens doppelt so lange Geschichte wie die Menschheit zurückschauen. Dem behäbigeren Schrittmaß der pulastrischen Evolution entsprechend, erklommen sie bis zur Errichtung der Flottenbasis jedoch erst eine jungsteinzeitliche Kulturstufe.

Flottenservice: Alles über Pulaster, a. c. c. 610

Ein schöner Stern

Feuchtwarm schwappte die Luft zur Luke herein, es knirschte, pfiff und krachte, und die Gerüche verschlugen einem fast den Atem. Ungelenk stapfte Fabius Grosser die Gangway von der Fähre hinunter. Mit dem ersten Windstoß prasselte Nieselregen auf ihn ein. Die Luft stank nach Fäulnis, Raketentreibstoff und verschmorten Pflanzen. Ringsum war das Erdreich von den Fährenstarts und -landungen aufgepflügt, in den Furchen stand brackiges Wasser, und von der grünen Wand des Urwalds schallte es wie schnarrendes Gelächter herüber.

Fabius hustete. Ihm schwindelte, strauchelnd tastete er nach dem glitschigen Geländer. Ein Mann schob ihn beiseite und zwängte sich vorbei. Fabius dagegen hatte es alles andere als eilig. In der Orbitalstation, bei den wenigen Übungen zum Muskelaufbau, für die ihm Zeit geblieben war, hatte er sich ausgemalt, wie es auf Pulaster war. Die Wirklichkeit übertraf seine schlimmsten Erwartungen. Niemals hätte er dieses Planeten-Kaff aus freien Stücken gewählt! Was hatte diese Welt – außer kaum atembarer Luft und ermüdenden 1,1 g Schwerkraft – schon zu bieten? Jeder Planet ist ein Anfang, hieß es in der Flotte. Was für ein Unsinn! Pulaster wirkte eher wie ein Ende, eine Sackgasse in jeder Beziehung, evolutionär und sonstwie. Aber wie dem auch sei, er musste das Beste daraus machen.

Der sogenannte feste Boden gab bei jedem Schritt glucksend nach, eine lehmige Masse klebte an den Stiefeln fest, die laut Beschreibung absolut schmutzabweisend sein sollten. Dazu schwitzte er schlagartig aus allen Poren. Nebelschwaden stiegen aus dem schmutzigen Grün der krautüberwucherten Piste und trieben zerfasernd über Pfützen und niedriges Gebüsch. Trüb und grau verhüllten die schweren Wolken, in die nicht einmal die landende Fähre ein Loch hatte brennen können, den Himmel. Hüfthohe Gräser luden ihre Tropfenfracht an der Kombination ab. Auf einer zivilisierten Welt hätte man wenigstens den Raumbahnhof ordnungsgemäß betoniert!

Schillernde Fliegen tanzten ihm in Schwärmen vor dem Gesicht herum. Grashüpfer, wuchtig wie Metallschrauben, schnellten ihm gegen die Brust und krallten sich an den orangefarbenen Flotteninsignien fest, ekliges, schmieriges, aufgedunsenes Ungeziefer, das sich lieber zerquetschen ließ, als davonzuspringen. In der Orbitalstation hatte er seinen Widerwillen niedergekämpft und die ersten Kapitel von Alles über Pulaster angeschaut. Die größten und schrecklichsten Echsen, vergleichbar den irdischen Tyrannosauriern, sollten längst ausgestorben sein. Die Hreng aber, diese angeblichen Vernunftträger, konnten den Menschen in keiner Beziehung das Wasser reichen, armselige Steinzeitsaurier, die sie waren. Sie lebten, wie die Filmchen anschaulich gezeigt hatten, noch in Schlammlöchern und Erdhügeln und hatten außer ein paar Masken praktisch keinerlei Kultur hervorgebracht. Ein Wunder, daß sie überhaupt das Rad erfunden hatten! Benutzen konnte man es auf einem wegelosen Planeten sowieso nicht.

Auch die flache, von rötlichen Roststrähnen überzogene Baracke am Rand des Landefeldes entsprach nicht gerade dem Bild eines aufstrebenden Flottenstützpunktes. Zwar verkündete eine flechtenbehangene Buchstabenzeile in längst veralteter Schrägschrift PULASTER ASTRO-PORT I, doch war das gelogen, denn als Astroport konnte man die verwahrloste Piste, auf der selbst die gut stabilisierte Fähre ins Holpern gekommen war, kaum bezeichnen, und die römische Eins verriet lediglich, daß seit langer Zeit alle hochfahrenden Pläne gründlich gescheitert waren. An diesem Fakt konnten auch die beiden Bodendienstler nichts ändern, die die Baracke himmelblau anpinselten. Ein Transparent PULASTER GRÜSST DEN … war zur Hälfte ausgerollt, der Name des hohen Besuchers blieb verborgen. Dergleichen nostalgischer Gebäudeschmuck hatte im 28. Jahrhundert einmal als schick gegolten.

In einigem Abstand stakste Fabius hinter den anderen Passagieren, sieben Menschen und einem Hreng, her. Erst jetzt, in seiner Heimatwelt, kam das Hreng, ein mit einem silbernen Flottenoverall bekleideter Saurier, voll zur Geltung. Wie ein Riese unter Zwergen stampfte es, aufgereckt und aus den Nüstern dampfend, neben den ihm gerade bis zum Bauch reichenden Menschen einher. Mit jedem Einschlag der wuchtigen, dreizehigen Tatzen verspritzte es Schlamm, der dunkelgrüne Schwanz schleppte, bald nach links, bald nach rechts zuckend, nach. In der linken Vorderpranke hielt es einen winzigen mattschwarzen Koffer.

Vor der Baracke standen unter einem weitgespannten grauen Regenzelt zwei Tische. Hinter dem einen hockte reglos ein Hreng, das über einem Buch seine Umwelt vergaß. Es streckte die krallenbewehrten und gräulichblau beschuppten Echsentatzen unter der Platte hervor, so daß jedermann ausweichen mußte. Über das groteske Haupt hatte es sich einen dreckig-gelben Sombrero mit Nackenschutz gestülpt. Nebenan agierte sein Instruktor, ein strammer Bodendienstler unbestimmten Alters. Er hakte die Neuankömmlinge auf einem wasserfesten Bildschirm ab und klärte sie über dies und jenes auf. Betont freundlich winkte er das Flottenhreng heran. »Bin geehrt, Primus, dich wieder auf Pulaster begrüßen zu können.« Dann schaltete er erneut auf geschäftig leere Routine um.

Es war einfach unglaublich: Dieses Urvieh gehörte zur Flotte! Da hatte er während der letzten fünfzig Jahre im Kältesarg doch so manches verschlafen … Der Gedanke an den Anabiosetank, wie das Ding offiziell hieß, ließ ihn erschauern. Um Haaresbreite war er dem Tod von der Schippe gesprungen.

»Befindet sich unter euch ein Fabius Grosser?« schnarrte es plötzlich aus dem Kommunikator, einem goldglänzenden, ovalen Gerät, das dem lesenden Hreng vor der schuppigen Brust baumelte – für Menschen in Kopfhöhe. »Grosser, Fabius, sechsundzwanzigstes, Hydro/Hydriker?«

Fabius faßte seine Tasche fester und trat vor das Hreng.

»Der Administrator begehrt dich zu sprechen. Dringlich. Morgen. Erster Termin.«

Der Planetenchef? Fabius hielt erstaunt inne. Der höchste Flottenbeamte auf Pulaster verlangte nach ihm. Sofort. Das war ungewöhnlich …

»Was will er von mir? – Ich zähle nach wie vor zum fliegenden Personal.« Beinahe hätte er sich versprochen: zum geflogenen Personal.

Nun mischte sich der Instruktor ein. »Darüber haben wir keine Angaben.« Er strich umständlich die Regentropfen vom Bildschirm und tat, als suche er Informationen. »Eine ganze Stunde hat sich Meridor für dich reserviert …«, meinte er anerkennend.

Fabius zuckte betont lässig mit den Schultern. »Kann das nicht ein, zwei Tage warten?« So leicht ließ er sich nicht überrumpeln.

»Spiel dich nicht auf. Einen Termin beim Administrator schlägt man nicht aus.« Ein Grinsen huschte über das sonnengebräunte Gesicht des Instruktors. »Wirst ja noch eine Weile bei uns bleiben.«

Wer in der Flotte diente, bekam mit der Zeit ein dickes Fell. Aber das ging zu weit. Woher kannte der Instruktor seine medizinischen Daten? Die gingen niemanden etwas an. Doch ehe Fabius sich beschweren konnte, wurde er beiseite geschoben. Eine Frau, rotes Haar unter rotem Regencape, drängte sich an ihm vorbei.

»Ich benötige ebenfalls einen Termin beim Administrator. Subito. Höchste Dringlichkeit. Ich bin Georgia Tufail, siebenundzwanzigstes, Extemporalistin. Mitglied der Centauri-Akademie. Nun stellen Sie mich doch schon zum Sekretär des Administrators durch. Subitissimo!«

Der Instruktor hob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit. Er sei ja nur der Instruktor. Sie müsse sich schon an das Hreng, den planetarischen Empfangsspezialisten, wenden. Das Hreng aber las seelenruhig in seinem Buch. Es reagierte nicht einmal, als sie ihm – wie aus Versehen – auf die Krallenzehen trat. Statt des Hreng nahm sie nun der Instruktor aufs Korn. Ob er einmal den Inhalt ihres Koffers sehen dürfte? Die Extemporalistin holte kurz Luft, und dann blies sie den Instruktor fast vom Stuhl. »Das ist ein Vakuumkoffer, junger Mann. Wenn Sie das nicht erkennen können, sind Sie falsch auf Ihrem Posten. Den schraube ich in dieser Suppe von Atmosphäre keinesfalls auf. Er enthält wissenschaftliche – wissenschaftlichste! – Instrumente. Und jetzt geben Sie mir schon einen Termin bei Meridor!«

Der Instruktor war des mehrfachen Sies wegen, das schrill aus dem flottenüblichen Duzen ausbrach, ernstlich beleidigt. Wortlos klebte er eine in allen Regenbogenfarben schillernde Funkbanderole um den zylinderförmigen Koffer. Die Extemporalistin würde ihn nur unter Aufsicht und bei Quarantänebedingungen öffnen dürfen. Es war eben auf Pulaster nicht anders als sonstwo: Das Bodenpersonal spielte sich nach Kräften auf und zeigte den Neuen, wer unten das Sagen hatte.

Mit einemmal erhob sich, als hätte es der Zwischenfall auf eine Idee gebracht, das Hreng mit dem Sombrero und stieß eine schrille Pfeifsalve aus. Dabei prallte es gegen das Zeltdach. Grünlich veralgtes Wasser ergoß sich über Fabius.

»Dürfte ich mir höflichst noch die Frage erlauben«, erklang es aus dem Oval des Kommunikators, »ob du, Fremdling aus dem Kosmos, in Unkenntnis der Bestimmungen unlizensierte irdische Ein-, Zwei- oder Mehrzeller bei dir aufbewahrst?«

Fabius blickte zu dem hoch über ihm schwebenden Echsenhaupt auf. Das Wasser rann ihm in den Halskragen. Schicksalsergeben schüttelte er den Kopf – und verneinte dann verbal – für den Kommunikator.

Akkurat wie ein Automat und geradezu widerwärtig freundlich erläuterte das Hreng, daß irdische Organismen zwar im allgemeinen den lebenstüchtigeren von Pulaster unterlegen seien, einige Arten jedoch, insbesondere die ungeprüften, das delikate Ökosystem Pulasters aus seinen bewährten Kreisläufen kippen könnten. Der biologische Unfall mit Bellis perennis vor einhundertsiebenunddreißig Jahren, bei dem erst in letzter Minute eine planetarische Katastrophe vermieden worden sei, habe das bewiesen. Heterotrophe Einzeller, Grünalgen insbesondere, könnten gefährlich werden. Obwohl die Biochemien Pulasters und Terras hinreichend differierten, um …

Stumm ließ Fabius die Wortflut über sich ergehen. Der Kommunikator pendelte, Worte ratternd, in Höhe seiner Augen – bis das Hreng plötzlich den Hals herabkrümmte und ihm eine Wolke weißlichen Atemnebels ins Gesicht blies. »Darf ich annehmen, daß du meinen Gedanken folgen konntest?«

Hilfesuchend wandte sich Fabius um, aber der Instruktor war heftig damit beschäftigt, Abreisekanditaten auf seiner Liste abzuhaken. Wußte das Hreng denn nicht, daß er in der Orbitalstation einen dreitägigen Biocheck durchlaufen hatte? Nicht der niedrigste Organismus konnte da durchschlüpfen.

»Das werden wir, deine freundliche Mitwirkung vorausgesetzt, sogleich überprüfen«, säuselte der Kommunikator. »Bitte, sei so gütig und drehe deine Taschen um. Da findet man immer etwas.«

Fabius hätte wetten mögen, daß sich das Hreng auf seine Kosten belustigte – falls denn Hreng so etwas wie Humor kannten. Der Kommunikator dolmetschte die Pfeiftöne mit ewig gleicher, unergründlicher Höflichkeit. Angeblich verrieten die Farbnuancen des Nackenkammes etwas über die Stimmung eines Hreng. Aber erstens war dieser unter Sombrero und Nackenschutz verborgen und zweitens war Fabius in Alles über Pulaster noch nicht bis zu diesem Kapitel vorgedrungen. – Achselzuckend wendete er zuerst seine Hosentaschen, dann die des Oberteils um.

Geschäftsmäßig beugte sich das Hreng herab. »Und das da?« Eine Daumenkralle, groß wie das Horn eines Rhinozeros, zeigte auf etwas, das sich in den Fäden der Brusttasche verfangen hatte: einen Apfelkern. Fabius stöhnte.

»Pflanzensamen sind besonders heimtückisch.« Das Hreng ergriff den Kern unglaublich geschickt mit zwei Krallenspitzen, steckte ihn in das dampfende, von dreieckigen Zähnen strotzende Maul und kaute zufrieden darauf herum. »Willkommen auf Pulaster, Mensch Fabius.«

Am Rande einer schnurgeraden Betonpiste wartete Fabius mit den übrigen Neuankömmlingen auf den Schweberbus. In den Wasserlachen auf der Straße kämpften faustgroße Kaulquappen mit furchterregenden Insektenlarven. Fabius tappte in eine quallenähnliche Masse und wäre ausgerutscht, hätte ihn nicht ein Flottenkamerad festgehalten.

»Aristid Nozaki, achtundzwanzigstes«, nannte dieser bündig Namen und Jahrhundert. Dann huschte ein Lächeln über das dunkle Gesicht. »Ist Pulaster nicht ein herrlicher Planet? So ein geballtes Leben! So viel Natur!« Er wies mit einer umfassenden Geste ins Rund.

»Herrlich?« Fabius spuckte grimmig aus – wenn das keine Kontamination war! »Herrlich ist nur das All.« – Dann riß er sich zusammen. Er würde sich an diesen Planeten trotz Schlamm und Gestank und zu großer Schwere gewöhnen müssen. Er sah den Arzt der Orbitalstation noch einmal vor sich, hörte ihn sprechen: Nein, nicht deine Anabiosekammer ist defekt, Grosser, du bist »defekt«. Dein Immunsystem hat eine Art Allergie gegen den Kälteschlaf entwickelt. Kannst noch von Glück im Unglück reden. Hätte man deinen Kasten wie üblich ins nächste Schiff umgeladen …

In einer Wolke aufsprühender Tröpfchen wendete der Schweber, der die Abreisekanditaten herangebracht hatte. Fauchend senkte er sich auf den nassen Beton. Fabius kletterte als letzter hoch. Auf den vorderen drei Bänken breitete sich das Hreng Primus aus, die Extemporalistin verstellte den Gang mit ihrem Gepäck. Weiter hinten, neben Nozaki, fand er Platz.

Die Rotoren liefen gerade singend an, da schrillte es markerschütternd aus dem nahen Dschungel. Starr, hoheitsvoll und stumm ragten die lianenverwobenen Urwaldriesen in den fahlen Himmel. Das Luftkissenfahrzeug hob sich, Nebel wehte zu den Bäumen hinüber. In diesem Moment brachen zwei Sauriergestalten aus dem Unterholz hervor. Äste und Schlingpflanzen wedelten durch die Luft. Die Ungeheuer rangen miteinander, krachend droschen sie mit den Schwänzen aufeinander ein, traten einander mit den Krallenfüßen in die Flanken, als wollten sie sich zerfleischen. Mit einem Ruck fuhr der Schweber los.

Das also waren die berühmten extraterrestrischen Intelligenzen! Nackte, blutrünstige Echsen! Kein Wunder, daß sich damals nach der Entdeckung Pulasters im 25. Jahrhundert alle Welt so enttäuscht gezeigt hatte. Da hatte man jahrhundertelang nach den »Geschwistern in der Vernunft« gesucht – und endlich Kontakt bekommen! Eine Fernsonde sandte Bilder, jedermann freute sich. Und dann stellte es sich heraus, daß die ersehnten kosmischen Geschwister primitive Saurier waren, die in Erdhügeln hausten. – Auch das »zivilisierte« Hreng vor ihm wirkte in seiner kolossalen Reglosigkeit ungeschlacht und primitiv, was der unförmige Flottenoverall, der über mächtigen Muskelpaketen spannte, noch unterstrich.

Falls der erste Eindruck nicht trog, war Pulaster tatsächlich ein Planet der Monster, urzeitlich und gnadenlos. Vielleicht hätte er all das unter anderen Umständen spannend und exotisch gefunden, gerade recht für einen kurzen abenteuerlichen Abstecher, mit dem man später prahlen konnte, irgendwann, irgendwo daheim. Aber ein ganzes Leben hier zu verbringen … Was hatte er nicht alles unternommen, um diesem Schicksal zu entgehen! Sich tausend Tests unterzogen, die Kältesarg-Spezialisten in der Orbitalstation bedrängt und ausgeholt, immer wieder auch die medizinischen KIs konsultiert. In den letzten zwei Jahrhunderten waren ganze 83 Fälle von Anabiose-Unverträglichkeit bekannt geworden. Zu wenige und offensichtlich auch zu unterschiedliche, als daß die Flotte massiv in die Erforschung des seltenen Risikos investiert hätte. Es gab noch nicht einmal einen Gen-Check dafür. – Er konnte, wie der Arzt meinte, wirklich froh sein, überhaupt wieder aufgewacht zu sein. Und sein neu geschenktes, zweites Leben fand jetzt hier auf Pulaster statt …

Links und rechts der Piste stob die mal grüne, mal nebelgraue Front des Dschungels vorbei, unheimlich und drohend. Mit dem Fahrtwind prasselten Fabius dicke Tropfen ins Gesicht. Eine Gänsehaut rann ihm den Rücken hinab, Hustenreiz würgte ihn. Weshalb schob man denn nicht das Sichtdach über die Passagierplattform? Nozaki deutete vielsagend auf das Hreng, dann zog er aus der Brusttasche seines Overalls eine Pfeife mit Porzellankopf, stopfte sie zeremoniell und bat Fabius, den Wind abzuschirmen. Schließlich lehnte er sich zurück und paffte genüßlich.

»Ziemlich ungemütlich hier«, meinte Fabius, um ein Gespräch anzuknüpfen.

Nozaki lächelte kurz. Das bißchen Feuchtigkeit störe ihn nicht, und ein wenig Urwald liebe er nachgerade. Und wann hatte er zum letzten Mal Regen auf der Haut gespürt? Buchstäblich vor Jahrhunderten! Damals auf Terra … Jetzt sei er aus dem Raumdienst ausgemustert, alters- und gesundheitshalber, irgendwann stünde dies ohnehin jedem bevor. Und nun suche er ein Zuhause, wolle sich einrichten. Eben in einer Welt mit Regen.

»Einrichten?« Fabius blieb der Husten im Halse stecken. Planeten mochten als Anfänge gelten, aber recht eigentlich waren sie Zwischenstationen, auf denen ein Flottenmensch nicht heimisch wurde. Allein die Erde und das Sonnensystem waren Anfang und Ende jeder Lebensreise. Irgendwann, irgendwo das Zuhause.

»Nun ja, Terra«, brummte Nozaki und sog an der Pfeife. Reichlich unverständlich, was man von dort höre: »mesokosmische Evolution«, »unteres Quintär«, »Eroberung der Kruste«, »Populationsstabilisierung« – nichts für altmodische Leute wie ihn.

»Du urteilst über Dinge, die du primo nicht begreifst und die secundo längst Vergangenheit sind«, schallte es von der Bank vor ihnen. Ohne allen Anstand mischte sich die Extemporalistin in ihr Gespräch.

»Eben«, konterte Nozaki, »deshalb vertraue ich auf das, was mir bekannt ist.«

Sie lachte gellend auf. »Pulaster und bekannt!« Sie hatte sich zu ihnen umgedreht. Unter der roten Kapuze lugte eine rote Haarsträhne hervor. Ihr schmales Gesicht war unnatürlich blaß, dafür kamen ihre lebhaften Augen desto deutlicher zur Geltung. »Der Planet, der von allen die größten Überraschungen birgt – flieg lieber ins irdische Quintär, wenn du in Ruhe im Regen stehen und deine Pension genießen willst.« Sie zwinkerte Fabius verschwörerisch zu, und schon sahen sie nur noch die Kapuzenrückseite.

Ein pyramidenförmiges Hochhaus reckte seine antennenbekrönte Spitze aus dem Nebel. Beiderseits der Straße lichtete sich der Urwald. Tonnenförmige Hügel aus violettem Ton drängten sich zwischen die Bäume, keiner von ihnen glich den anderen. Laut Alles über Pulaster hießen diese Erdhügel Hrengburgen. Kaninchenbau hätte besser gepaßt. Gräben um sie leiteten das Regenwasser ab.

»Weißt du eigentlich, was ›Pulaster‹ bedeutet, Fabius?«

Wieso fragte Nozaki? Gleich auf der ersten Seite von Alles über Pulaster stand es schwarz auf weiß: »Pulaster: Sumpfwelt. Von ›paluster‹, sumpfig, im Sumpf lebend.« Irgendwer war wohl seines Lateins nicht recht kundig gewesen. Auf jeden Fall traf der Name zu.

Der Schweber bremste, die Grenze der Siedlung war erreicht. Einstöckige Häuschen marschierten an den wie mit einem Lineal gezogenen Straßen auf, Wohneinheiten, die Fabius von der Kindheit her kannte. Nur die Gärten waren größer, allerdings verwahrlost, überwuchert vom Grün oder von bunten Blütenteppichen. Das Bild paßte zu einer Randwelt, auf der man die Dienstjahre möglichst anstrengungslos abschrubbte. Hier schlug keiner Wurzeln. Nur wenige Menschen schlenderten – langsamer als anderswo – die Straßen entlang, dafür aber viele Hreng. Ausnahmslos trugen sie Sombreros.

»Sumpfwelt ist eine zu einfache Auslegung.« Nozaki rieb den Porzellankopf der Pfeife trocken und steckte sie weg. »Glaubst du wirklich, Gij und Chad Luivens hätten, als sie den Planeten tauften, Vokale vertauscht? Nein, Pulaster rührt von pulcher aster her: schöner Stern.«

In Fabius’ Ohren klang es wie blanker Hohn.

Der Liebesschuß der Tirambia

Als ein unverrückbares Wahrzeichen der Menschenmacht thronte die Pyramide über Dschungel und Sumpf. Sie beherbergte alles, was für die Flotte und ihr Personal wichtig war: Leitungsbüros und Kantine, das Nachrichtenzentrum und Freizeiträume. Fabius bezog vorerst ein Gästeappartement in der sechsten Etage. Er fühlte sich zerschlagen von der Pulasterschwere und übersättigt von all den neuen Eindrücken, zugleich aber war er zu aufgeregt, um sich gleich von seinem Deltawellen-Stimulator in Schlaf versetzen zu lassen. Also ließ er sich auf der Terrasse, die eine ganze Seite der Pyramide einnahm, den kühlen Wind um den Kopf blasen. Der Regen, zum Glück, hatte aufgehört.

Die Luft quoll über von unbekannten Gerüchen, und neben einer ekelhaften, säuerlich-rauhen Komponente wehte ein Duft wie von betäubenden Blumen oder einem der maßgeschneiderten Parfüms aus dem 27. Jahrhundert heran. Die Atmosphäre sei biologisch unschädlich und chemisch inaktiv, hatten ihm die Raumdienstler in der Orbitalstation versichert. Den vorherrschenden Gestank hatten sie verschwiegen. Flottenangehörige haben keine Nase.

Mit beiden Händen stützte er sich auf die Stahlrohrbrüstung, die die Terrasse umgab. Was sollte aus ihm werden? Er war »transitunfähig« geschrieben. Nach den Regeln der Flotte konnte er sich zur Ruhe setzen – mit gerade einmal 35 Biojahren – und dann auch noch auf dem sumpfigsten Planeten im ganzen Universum! Ein Flug mehr, und die Erdsonne hätte für ihn geleuchtet! Ruhestand auf Pulaster, das verhieß Langeweile bis zum Tod. Aber er sollte sich nichts vormachen. Für die Flotte war er bereits gestorben. Ein Eintagsmensch. Auf einem Planeten gescheitert. Dennoch mußte er sich eine Beschäftigung suchen. Aber brauchte man auf einem Planeten Antriebstechniker? Also hieß es umlernen. Wahrscheinlich auf Saurierkunde, was sonst … Einen Lichtblick gab es: Mit dem nächsten Schiff kam Iris. Er schloß die Augen und schwelgte einen Moment in Erinnerungen. Das abgedunkelte Planetarium der Flottenakademie, monoton säuselte der Lehrroboter (ebenfalls in bestem Retro-Design) von nahen Doppelsternen und den verschlungenen Bahnen ihrer Planeten. Auch seine Hände folgten verschlungenen Bahnen, als sie nach Iris tasteten. Mit keinem Laut durften sie sich den anderen verraten, was den Reiz noch erhöhte … Sex unter freiem künstlichen Sternenhimmel … Mein Gott, war er damals in Iris verknallt gewesen! Dann, nach der Akademie, hatten sich ihre Wege getrennt. Aber über all die Zeit, trotz Parsecs Distanz war sie seine Vertraute geblieben. Das lag nicht zuletzt daran, daß sie beide aus Kokkygia stammten, der Zylinderwelt, die einst um die Erde gekreist war. – Mit Iris konnte er seine Situation besprechen. Sie allein verstand ihn.

Zuvor aber wollte und sollte er sich mit Pulaster anfreunden. Der Planet hatte doch gewiß auch seine Reize. Den grau verhangenen Himmel etwa mußte man ja nicht unbedingt düster und trist nennen, schließlich schützte er Tiere und Pflanzen vor der angeblich zu gleißenden Sonne (die man nur nie zu Gesicht bekam), und der Nebel, der in schweren Schwaden über die flachen Dächer der Siedlung wallte, verhinderte wenigstens, daß sich der Urwaldlärm zu sehr ausbreitete. Still und träge floß ein breiter, nebelverschleierter Strom dem Meer zu. Wenn man nur richtig hinschaute, dann wehrten am nahen Hafen die Kräne mit ihren Auslegern die herandräuenden Dunstmassen majestätisch und reglos ab, und daneben am Kai träumten zwei grünbewachsene Speicherbaracken mit geschlossenen Toren davon, daß Sumpfröschen erlöst würde. – Was für einen Unsinn malte er sich da aus! Er war schlicht zu lebenslang schlechtem Wetter verurteilt …

Er riß sich zusammen. Morgen war er zum Administrator bestellt. Nicht einmal einen Tag Eingewöhnung gönnte man ihm. Dabei hatte es hier doch niemand eilig. Schlußfolgerung: Er sollte überrumpelt werden. Aber zu welchem Zweck? Merkwürdig, sehr merkwürdig.

Die nächsttiefere Terrasse war leer bis auf einige verkrautete Blumenbänke. Doch an der Wand, direkt unterhalb der Kante, kroch ein dunkler, schwabbliger Fleck empor, ein schneckenhafter Fassadenkletterer, der sich endlich über die Kante schob und schleimig quellend mit der Eroberung der Ebene begann.

In diesem Moment rissen die den Horizont verhüllenden Wolken sekundenlang auf, und ein paar dünne rötliche Sonnenstrahlen streiften über die ihnen nur selten zugängliche nasse Welt. Wie in einem stroboskopischen Foto erstarrte alles Leben. Die wenigen Hreng in den Straßen hielten inne, die Menschen breiteten die Arme aus, plumpe Vögel, eben noch zielstrebig geradeaus gleitend, stürzten wie Steine herab. Ein dumpfes Trommeln dröhnte aus dem Dschungel.

Reflexe tanzten auf der glitschigweißen Haut des Weichtieres. Blaue und smaragdgrüne Organe zuckten in dem milchigen Inneren. Härchen umflimmerten die Basis. Zwei Handbreit vor Fabius’ Fuß schleimte das lebende Gallert unbeirrt schmatzend auf dem Steinboden entlang. War es nur das soeben wieder abgeschnittene Sonnenlicht, das dieses Tier so rot pulsieren ließ? Das Wesen klumpte zu einer grauen Kugel zusammen und katapultierte heimtückisch blitzschnell ein schwarzes Geschoß aus seinen Eingeweiden.

Vor Schreck und Schmerz schrie Fabius auf. Er hüpfte in sichere Distanz, umfaßte das getroffene Bein. Dann lehnte er sich keuchend an die Glaswand des Appartements und befühlte die Wunde im Unterschenkel. Vergiftung, Wundinfekt, was war nicht alles möglich! Das Geschoß saß wie festgewachsen. Verbissen zerrte er an dem Stachel.

Schwere Schritte näherten sich. Dreizehige Krallenfüße gerieten in sein Blickfeld, darüber plumpe, warzenbedeckte Hinterextremitäten, ein Flottenoverall: das Hreng Primus aus dem Weltraum.

»Welch staunenswürdiger Vorfall! – Eine Tirambia iaculans!« tönte mitleidlos der Kommunikator. Das Hreng beugte sich gelenkig nieder, um die Verletzung zu mustern. Sein Schwanz schlängelte sich wie ein separates Lebewesen auf Fabius zu. Dann grapschten die klobigen, hornigen Klauen nach der Wunde. Fabius hielt die Luft an und kniff die Augen zu. Ein scharfer, stechender Schmerz. Das Hreng richtete sich zu voller Größe auf und reichte ihm das Geschoß herunter, das einem in Teer getauchten Bleistiftstummel ähnelte. Harte Grannen, Widerhaken liefen von der Spitze nach hinten. Zaghaft und seiner Formulierungen nicht sicher, murmelte Fabius einige gedrechselte Dankesworte.

»Was gibt’s, Gabriell?« erklang eine helle Stimme von dem Appartement her, das das Hreng soeben verlassen haben mußte.

Ein jugendlicher Mann in einem sahneweißen Anzug trat durch die Tür. Feiner Duft aromatischer Essenzen strömte von ihm aus. Dieser Mann hatte eindeutig nie in der Flotte gedient. Denn da waren Geruchsbelästigungen verpönt.

»Oh, darf ich mich vorstellen? Lich Oulemm, dreißigstes.«

Sowie er lächelte, blitzten Synthesebrillanten an den Ohrläppchen auf. »O je, was ist dir denn widerfahren? Bist du nicht heute erst gelandet? Ich bring dich zum Arzt. Kannst du gehen? Stütz dich doch auf mich.«

Fabius zog es vor, tapfer zu humpeln. Oulemm, aber auch das Hreng Primus mühten sich nach Kräften um ihn. Das Hreng trapste voraus, schuf allein durch seinen wuchtigen Leib Platz, wenn ihnen in einem Gang Menschen entgegenkamen, hielt die Lifttüren mit seinen Pranken offen, marschierte, ohne nach links oder rechts zu schauen, durch das Vorzimmer des Medpunktes – und dann lag Fabius schon halb benommen auf der Behandlungsliege, die Instrumente kreisten über seinem Bein, säuberten die Wunde. Er nahm kaum wahr, daß Oulemm ihm wie einem Schwerverletzten die Hand tätschelte. Und während sich die Wunde unter der Wirkung der Stoffwechselstimulantien allmählich schloß und Fabius fühlte, wie sich alle Kraft seines Körpers auf die winzige Stelle konzentrierte, überschüttete ihn der Kommunikator des Hreng mit Erklärungen. Daß die Tirambiae, wenn man ihre Eigenart berücksichtigte, völlig harmlos seien, daß sie ihre Eier in lebendes Gewebe deponierten, daß die geschlüpften Larven den Wirt von innen auffräßen, daß die Samenkapsel der Tirambia allgemein als »Liebespfeil« bezeichnet werde, dies jedoch auf einer Fehldeutung eines Wortes aus der Berghrengsprache beruhe. Fabius wartete darauf, daß ihm endlich schwarz vor Augen würde; statt dessen kehrten seine Kräfte zurück.

»Man sollte jeden Neuankömmling vor diesen Bestien warnen!« beschwerte er sich, als sie sich auf den Rückweg machten. Oulemm schaute ihn erstaunt an: »Hast du nicht Alles über Pulaster gelesen?«

Als sie wieder oben anlangten, war die Tirambia davongerutscht. Das Hreng postierte sich an der Brüstung und verschränkte die Pranken ineinander – für Menschen in Kopfhöhe. Starr wie ein Plastiksaurier stierte es in die Dämmerung.

Oulemm brach das Schweigen. »Hast du dich mit Gabriell schon bekannt gemacht, Fabius? Genauer Gab-hriell, Flottenname Primus. Müßte eigentlich Primum heißen … Wir haben uns bereits angefreundet, bevor Gabriell in der Orbitalstation ausgebildet wurde«, plauderte Oulemm voller Überschwang fort. »Den meisten Menschen fällt es schwer, mit den Hrengeng engere Bande zu knüpfen. Ich aber habe den Ehrgeiz, sie ein wenig zu studieren.« Die Brillanten strahlten.

»Lich beliebt, meinen Wert als Studienobjekt zu überschätzen.« Das Hreng Primus, genauer Primum, oder Gabriell, genauer Gab-hriell, zuckte mit keinem Muskel. Das Drachenmaul – oder sollte man bei einem vernunftbegabten Lebewesen Mund sagen? – blieb, während es pfiff, halb geschlossen. »Ohne ihm widersprechen zu wollen, möchte ich behaupten, daß mich eher eine Menschenpsyche steuert. Ich bin ein chemisch reiner Assimilant.«

Oulemm lachte lauthals. »Glaub ihm kein Wort. Siehst du, daß Olivgrün und Hellbraun den Nackenkamm sprenkeln? Es scherzt.«

Wärme stieg Fabius in Stirn und Wangen, mit ihr erfaßte ihn eine plötzliche Mattheit und Schläfrigkeit. Er wünschte sich sehnlich, möglichst bald ins Bett kriechen und die Sumpfwelt vergessen zu dürfen. Das Hreng schien seine Müdigkeit zu erahnen: »Gestatte, o Fabius, daß ich mich in meine Gemächer zurückziehe. Und ich danke dir für die Erfahrung deiner Bekanntschaft. Mir ist wohl bewußt, daß ihr Menschen uns Hreng baumhoch überlegen seid, aber kein Hreng würde sich so dilettantisch von einer Tirambia befruchten lassen.« Würdevoll stampfte es durch die offene Glastür.

Oulemm zerfloß in hilfreicher Mitteilsamkeit. »Du denkst jetzt«, ereiferte er sich, »daß Gabriell rührend altmodisch ist. Irrtum. Dieses falsche Bild gaukeln dir die Kommunikatoren vor, die irgendein Holzkragen programmiert hat, der von den wahren Hrengeng nicht die blasseste Ahnung hatte. Ich rate dir, besorge dir einen von den Nitzeschen Translatoren. Die arbeiten mit einer deutlich besseren Situationserkennung.«

Drunten in der Siedlung sprang die Helligkeit von Fenster zu Fenster. Die Lichtwerfer der Schweber bohrten weiße Kegel in den wallenden Nebel. Auf der Hauptstraße zerteilten Infrarotstrahler den Dunst. Eine Flottenniederlassung schlief nie.

»Gabriell ist für mich der Schlüssel zu den Hrengeng.« Oulemm rückte näher. In vertraulichem Ton beklagte er sich über die Flotte, die einfältigerweise die Erforschung der »Hrengeng«, wie bei ihm der Plural lautete, als prinzipiell abgeschlossen betrachte. Nur alle fünfzig Jahre sei ein Überflugplatz für einen Hrengologen frei. Ihre Untersuchungen brächten angeblich keinen praktischen Nutzen mehr. »Dabei sind die Hrengeng die interessantesten Wesen im Universum, und unsere Wissenschaft über sie steht trotz den Luivens und trotz den drei großen Expeditionen erst am Anfang. Manchmal glaube ich sogar, daß wir ein wesentliches Moment ihrer Kultur nicht fassen oder sie uns etwas verheimlichen. Aber das ist wohl Wunschbild, romantische Spekulation. Allerdings, die Metallstatuette, die wir Wiun-jon verdanken, läßt sich nicht wegdiskutieren. Metall – in der Steinzeit!«

Fabius konnte und wollte das Gähnen nicht länger verbergen. Was gingen ihn die Probleme eines Hrengologen an!

»Du bist natürlich sehr müde«, Oulemm legte ihm die feingliedrige Hand sanft, ja zaghaft auf den Unterarm, »also gute Nacht denn. Und falls du Mühe hast, dich hier einzugewöhnen, falls du eine Auskunft brauchst, du kannst dich immer an mich wenden.« Er tänzelte, einmal kurz mit den Brillanten aufflackernd, in das Appartement des Hreng. Erleichtert stieß sich Fabius vom Geländer ab und dehnte und reckte sich.

Auf der Suche nach der Dunklen Energie

»Ist er weg?« flüsterte es. Aus dem Schatten eines Pfeilers trat eine Gestalt. Ein Lichtschein fiel auf rotes Haar.

Für einen Augenblick verspürte Fabius den Impuls, mit zwei Schritten in sein Zimmer zu fliehen.

»Diese Hreng sind wirklich eine Landplage. Und die Hrengologen ebenso.« Sie ergriff ihn an der Schulter und bugsierte ihn durch eine geöffnete Glastür. Kraftlos sträubte er sich, er wußte schon kaum mehr, ob er wachte oder träumte.

In dem für Hreng bemessenen, hallenartig weiten Zimmer herrschte ein Durcheinander wie in einem überladenen Planetenpendler nach einer Serie von Notbeschleunigungen. Papiere waren über die niedrige Liege und den Fußboden verstreut. Über mehrere flexible Bildschirme flossen Zahlenkolonnen, Kleidungsstücke, meist in Pastelltönen, häuften sich auf dem Tisch, der Deckel des Vakuumkoffers war unter den Stuhl gerollt, die Funkbanderole zerschnitten. Wie hatte sie das bewerkstelligt, ohne einen planetenweiten Alarm auszulösen?

»Möchtest du einen Drink? Ich hab was Spezielles: Tufails Tetra-Turbo.«

Die durchsichtige Flüssigkeit im Becher roch säuerlich. Er nippte: bitter. Weshalb sollte er sie nicht anhören, das verpflichtete zu nichts. Zögernd trank er. Hui, das pfiff durch die Kehle, in den Magen, hoch in den Kopf.

»Jetzt willst du fragen, warum der Überfall, nicht wahr?« Sie fegte ein Moskitonetz vom Stuhl und drückte Fabius auf die harte Sitzfläche. Sie selbst setzte sich auf eine über die Liege ausgebreitete Landkarte.

»Also du bist mit der CARL SAGAN geflogen. Man bewirbt sich nicht aus Zufall für ein Kontaktschiff. Ergo leiten uns die gleichen Ideale. Wahrscheinlich sind wir beide sogar die einzigen auf Pulaster, die im Kontakt das höchste Menschheitsziel erkannt haben.«

»Das ist lange her …« Er fühlte sich zwar munter, aber seine Zunge war wie gelähmt, und die Gedanken mahlten nur langsam voran. »Und das Altair-System war ein ziemlicher Flop.« Fünf winzige Steinklumpen von Planeten, kahle, rötliche Welten, in deren Felsritzen nicht einmal Mikroorganismen Fuß gefaßt hatten. Und während er auf dem Rückflug im Kältesarg lag, hatte man entdeckt, daß das gesamte Universum förmlich mit der Zahl zutapeziert war. Die Zahl – mit ihr war er groß geworden, Spekulationen über das lang gesuchte Signal einer irgendwie gearteten kosmischen Intelligenz waren Tagesthema in der Akademie gewesen. Als er losflog, hieß es noch, daß dieses Signal von einer punktförmigen Quelle aus einem ziemlich leeren Winkel des Universums kam. Und nun prasselte es in millionenfacher Ausführung – einmal um Mikrosekunden, einmal um Jahrzehnte zeitversetzt – aus allen möglichen Richtungen auf die immer empfindlicheren Antennen ein, als wäre das gesamte All nur ein einziger riesiger Resonanzboden …

»Richtig. Das war ein himmelschreiender Unsinn, Kontakt mittels Raumschiffen zu suchen! Nur mit Köpfchen findet man den. Die Außerzeitler haben uns nicht ohne Grund die Zahl über das kosmische Hintergrundrauschen zugeschanzt.«

Sie tastete auf der Bettdecke nach Unterlagen, ihr Redefluß stockte, aber ehe Fabius etwas sagen konnte, überfiel sie ihn von neuem. »Hör zu. Ich habe dir das Beste anzubieten, das du auf diesem versumpften Planeten finden kannst: eine Expedition. Ich beabsichtige keinesfalls, freilaufende Saurierfreunde anzuheuern oder Hohlköpfe, die von anderen Hohlköpfen dazu verdonnert werden. Ich brauche einen fähigen Raumdienstler. Ich weiß, du bist nicht mehr transitfähig. Aber ansonsten doch gesund, oder?«

So mühsam ihm das Denken fiel: Das war zuviel! Wie hatte sie Zugang zu seinen Personaldaten bekommen? Oder hatte da jemand – einer der Ärzte in der Orbitalstation – geplaudert?

»Reg dich nicht auf. Ich habe Quintillionen Stellen der Zahl analysiert, in ihr soll ja alles Wissen des Universums verschlüsselt sein, darunter das berühmte Pulsarschema. Das legt auch eine Sternposition fest: die Stachels.«

»Was ist Stachel?«

»Spina. Die Sonne Pulasters. Du solltest unbedingt Alles über Pulaster lesen. – Ergo deutet die Zahl auf eine Superzivilisation im Spinasystem hin. Na, klickt’s?« Sie hockte vornübergebeugt da und belauerte ihn wie eine Katze, bereit, ihn anzuspringen.

Fabius spreizte die Finger ab, preßte die Hände gegeneinander. »Das ist doch, Entschuldigung …«

»Heraus, heraus!« ermunterte sie ihn.

»… ausgemachter Humbug. In keinem System hat man eine Spur der Außerzeitler entdeckt – leider. Die bestausgerüsteten Institute haben jahrhundertelang jedes Bit der Zahl um und um gedreht …«

»Beweist nichts, es sei denn etwas über diese Institute. Schau dir nur einmal die Hreng an. In biologischer Hinsicht eine absolute, irrwitzige Ausnahme. Vernunftbegabte Saurier, schön, wer Einfaltspinsel genug ist, zu glauben, daß sich dergleichen von allein entwickelt, meinethalben. Aber daß es bei ihnen nur ein Geschlecht gibt! Steinzeitsaurier, die noch nicht einmal das Feuer kennen, sollen sich – aus Gründen, die völlig im Nebel liegen – mit den Mitteln primitiver Viehzüchter zu Zwitterwesen umkonstruiert haben! Jetzt fallen dir die Schuppen von den Augen, was?«

»Du meinst«, Fabius suchte nach einem Verb, das dem technischen Ausdruck »aufrüsten« entsprach, »daß die Außerzeitler … die Hreng … auf Pulaster …« Irgendwo zwischen »manipuliert« und »evolviert« mußte dieses Wort doch zu finden sein!

»Meinen! Meinen!« Sie blies sich amüsiert über seine Verwirrung das Haar aus der Stirn. »Junger Mann, ich meine nie. Bereits aus der Orbitalstation habe ich in der Region von Tebit nahe an einem Hrengdorf eine Gravitationsanomalie geortet. Um dir meine Hypothese mit einem Wort zu umreißen: Dunkle Energie!« Triumphierend reckte sie die Nase in die Höhe.

Das war endgültig zuviel. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß diese Frau, Georgia, sich verstieg, dann waren es jene zwei Wörter »Dunkle Energie«. Seit Viltbaks Nachlaß in der Mitte des 28. Jahrhundert veröffentlicht worden war, spukte es durch die Köpfe der Kontaktbesessenen. Die Außerzeitler hätten einst – so Viltbak – eine Methode gefunden, die gleichmäßig über das Universum verteilte Dunkle Energie einzusammeln und in »DE-Flaschen« einzuschließen, angeblich um damit die Raumkrümmung zu manipulieren. Die Dunkle Energie versprach den Durchbruch zu überlichtschnellen Antrieben … Immer wieder waren seither DE-Flaschen in den entlegensten Systemen vermutet worden. Und mehr als einmal hatte die Flotte ein Schiff auf die Jagd nach dem Phantom geschickt. Gewaltige Mittel waren dafür verschwendet worden. Gab es eine, wenn auch nur astronomisch geringe Chance, die die erneute Suche rechtfertigte?

»Du glaubst mir nicht. Soll ich es dir vorrechnen, ja?«

»Nein. Außerdem werde ich schon deshalb nicht gleich an einer Expedition teilnehmen, weil ich mich mit einer alten Freundin treffen will. Und sie kommt erst in dreißig Tagen mit der FLAMMARION.«

Mit einem Japsen schoß Georgia hoch und schlug sich in gespieltem Entsetzen die Hände vors Gesicht. »Eine Freundin, der Herr Raumfahrer ist verhindert, weil er treusorgend seine Liebste erwartet. Und das mir! Nein, was können alle Außerzeitler der Welt gegen die Liebe!«

»Tut mir leid«, meinte Fabius verärgert, »du wirst deine Dunkle Energie allein ausbuddeln müssen.«

»Raus! Banause! Und so ein Ignorant brüstet sich als Kontaktsucher! Schämen Sie sich!«

Erleichtert eilte er zur Glastür. Doch bevor er sie hinter sich schließen konnte, hatte Georgia ihren Fuß in den Spalt geschoben. »Fabius Grosser, ich brauche dich wirklich: Überleg es dir gut. Welche Chance und so weiter … Ich bin eben etwas temperamentgeschädigt und mag nicht, daß man mir einen Korb gibt. Und« – sie zögerte kurz – »wenn du mich schon nicht begleiten willst, dann möchte ich dich doch um einen Gefallen bitten. Tausche doch bitte deinen Termin bei Meridor mit mir. Ich bin erst in drei, vier Tagen dran, und dann rückt der Trâl zu nahe.«

Fabius überhörte ihr Flehen. Reichlich verwirrt stolperte er durch das neblige Dunkel der Pulasternacht in sein ebenfalls hallenartiges Zimmer. Behutsam streifte er den linken Stiefel ab. Die Wunde war fast verheilt. Ja, Planeten waren anstrengend. Menschen, bunt zusammengewürfelt aus den unterschiedlichsten Jahrhunderten und mit allen möglichen Marotten, trafen hier aufeinander. In der Flotte dagegen wußte man stets, woran man war, da herrschten Ordnung und einsichtige Sitten.

Nun glühte allein noch ein Bereitschaftslämpchen. Ganz wie in einem Schiff. Weshalb beschleunigte man? Ach ja, er befand sich auf einem Planeten mit 1,1 g Schwerkraft … Und weshalb dröhnte das Aggregat so gefährlich? Woher kam dieses ungeheuerliche Brummen?

Hellwach richtete er sich auf. Ein Wort, und das Licht brannte wieder. Dafür war das Geräusch verstummt. Er mußte sich getäuscht haben. Doch kaum verblaßte die Beleuchtung, hörte er es aufs neue.

»Licht!« Stille wie vorher. Nur das Blut rauschte ihm in den Ohren. Was um alle Welt hatte so gräßlich gebrummt? Ein Insekt, gewiß ein Insekt! Flüsternd bat er, die Helligkeit zu mindern. Fahler glommen nun die Leuchtleisten. Schatten machten sich in den Winkeln breit. An der hrengisch hohen Zimmerdecke aber kroch ein vierfacher, undeutlicher Streif, handgroß der Kern. Was für ein Biest! Erschauernd langte er nach dem Kopfkissen und schleuderte es empor. Das Untier wich aus und torkelte plötzlich schattenhaft herab. Er duckte sich und zog rasch das Deckbett über den Kopf.

Nach einer Weile lugte er vorsichtig hervor. Da, direkt vor ihm, saß das Insekt, langbeinig und grünäugig, und putzte sich den Stechrüssel, der wie ein Stahlbohrer glänzte.

Er schnellte nach vorn. Das Insekt flatterte auf, schwirrte dann gemächlich unter den Leuchtleisten entlang. Wie gebannt starrte Fabius auf den unheimlichen Angreifer. Sollte er um Hilfe rufen? Wenn hier sogar Schnecken Pfeile verschossen …

Im Hellen verhielt es sich anscheinend ruhig. Er räusperte sich und stammelte: »Licht.« Das Tier rollte sich blitzartig in seine Flügel und plumpste auf den schmalen Tisch. Vorsichtig angelte er nach einem Schuh, holte aus – getroffen. Das Insekt zuckte noch einmal, dann erstarb die Bewegung. Mit geheimem Ekel packte er es am Flügel, um es nach draußen zu befördern. Der zerquetschte Leib war so lang wie sein Unterarm.

Auf der Terrasse hastete Oulemm ihm entgegen. »Ist dir etwas passiert? Hat es bei dir so gepoltert?«

Fabius hob das Insekt.

»Ach, eine Taba.« Oulemms Interesse erlosch. »Ein harmloser Blutsauger.«

»Harmlos?« Fabius schüttelte sich. Wie mußten dann gefährliche Wesen beschaffen sein?

»Die Taba, eigentlich Pseudotabanus pulastricus, ist thermotrop. Sie steuert nur Hautpartien an, deren Temperatur der hiesigen Fauna, den Hrengeng und ihren Verwandten, entspricht. Und die liegt eindeutig über der der Menschen. Aber das alles steht …«

»Ich weiß.«

»Also dann gute Nacht, und falls du wieder belästigt wirst, wirfst du einfach einen Schuh gegen die Wand.«

Vor der Audienz

Eine doppelte Munterpille, hinuntergespült mit einem Schluck Leitungswasser, das so fade und abgestanden schmeckte, wie man es von Pulaster erwarten mußte, verhalf Fabius auf die Beine. Aber auf was für Beine! Beim kleinsten Schritt sträubte der Muskelkater sein stachliges Fell. Pulaster forderte von Neulingen seinen Tribut, und mehr als einmal liebäugelte Fabius damit, den Kater durch ein Schmerzmittel zu verjagen. Humpelnd und ächzend wollte er dem Administrator um keinen Preis gegenübertreten. Die Bodendienstler spotteten ohnehin gern über schlaffe Astronauten, die jeder Belastung auswichen und sich selbst für einen Ausflug auf den Erdmond ein Exoskelett anmontierten. Ein wenig Gymnastik konnte also nicht schaden.

Fabius hielt sich an der Tischkante fest und ging schön langsam in die Hocke – es stach und zwickte. Er ruhte sich eine Sekunde auf den Fersen aus, dann stemmte er sich Zentimeter um Zentimeter in die Höhe. Auf dem Tisch klebten Reste der Taba in bräunlichen Flecken – eingetrocknetes Saurierblut. Ein Lichtreflex von der Deckenleuchte wanderte über einen Flügel, der wie eine Öllache schillerte. Obwohl der Pulastertag längst angebrochen sein mußte, hatte Fabius die Schwärzung der Fenster nicht aufgehoben, draußen würde es doch nur regnen.

Nach einigen weiteren Kniebeugen meldete sich der Hunger. Fabius rasierte sich flüchtig. Ein hageres, grobknochiges Kältesarg-Gesicht starrte ihm aus dem Spiegel entgegen, wenig präsentabel mit den Augenrändern und dem zwar gestutzten, doch nicht recht gebändigten dunklen Haar. Bis Iris anreiste, sollte er sich im hiesigen Solarium etwas Frische auf die bleiche Haut brennen lassen. Mit Pulastersonnenschein war ja nicht zu rechnen.

Dennoch insgesamt zufrieden, stelzte er auf den Flur, ständig bemüht, einen leichten, elastischen Gang vorzutäuschen. Drei Ebenen schwerewärts oder »Etagen tiefer«, wie die Bodendienstler sagten, befand sich die Messe. Aus Astronautenstolz verschmähte er den Lift und stakste gravitätisch die Treppe hinab.

Als er das Tor mit der Aufschrift »Kantine« aufstieß, glaubte er im ersten Moment, sich in einen halbleeren Lagerraum verirrt zu haben. Runde möbelartige Gebilde wucherten in der unzureichenden Beleuchtung wie gigantische Trompetenpilze aus dem Boden. In Augenhöhe schloß diese nachempfundenen Gewächse eine Platte ab, aus deren Mitte ein kleinerer Pilz hervorsproß. Um zwei dieser Möbel gruppierten sich, auf Schwanz und Beine wie auf Säulen gestützt, einige Hreng. Die zur Linken versteckten die Nackenkämme unter kurzen Stoffbahnen, die an ihren Sombreros befestigt waren, die zur Rechten hatten Gürtel umgeschnallt, an denen grobschlächtiges Werkzeug baumelte. Sie löffelten mit bronzen funkelnden Kellen Suppe aus Trögen, schmatzten und pfiffen dabei und knirschten mit den Zähnen, als bissen sie auf Kiesel. Bisweilen bedienten sie sich aus der zweiten Tischetage.

Fabius schritt entschlossen auf die Tische zu. Es roch streng und wie nach Honig – gewiß nicht allein von den Speisen. Konnte man die Saurier denn nicht bewegen, ein Deodorant zu benutzen? Es verschlug einem ja glatt den Appetit.

Die Hreng senkten, als Fabius sie passierte, die Löffel und gafften ihn von oben herab an wie Erwachsene ein ungehorsames Kind. Er ignorierte die aufdringlichen Blicke und schritt stur an den Sauriern vorbei, die ihm, ob er sich es nun eingestehen wollte oder nicht, schon ein wenig unheimlich waren. Nun wohl, daran würde man sich irgendwie gewöhnen …

Geradeaus lockte die hellere Abteilung der Kantine, die einer normalen Schiffsmesse glich. Nur die Geschirrfänger für plötzlich aussetzende Schwere fehlten. Jenseits des Dämmers verflüchtigte sich auch der abstoßende Geruch. An den wenigsten Tischen frühstückten noch Menschen, an einem plauderte Lich Oulemm mit einer schlicht gekleideten Frau. Seine Ohrringe flackerten wie zwei Flare-Sterne, als er Fabius entdeckte.

»Guten Morgen, Fabi«, grüßte er in einem viel zu vertraulichen Ton, der sehr nach der saloppen zweiten Hälfte des 29. Jahrhunderts klang. »Gesell dich zu uns.« Er rückte einen Stuhl zurecht und schaffte demonstrativ Platz auf dem Tisch.

Die Frau, Sadhana mit Namen, entstammte Fabius’ Zeitalter, war allerdings im Unterschied zu ihm auf der Erde geboren und nicht in einem Weltraumhabitat. Sie musterte Fabius interessiert, so wie man in den Zügen eines alten Bekannten, der lange abwesend war, forscht. Ihr Gesicht war mattbraun, und bis auf einen winzigen Stein, der ihren linken Nasenflügel schmückte, hatte sie auf jeden modischen Zierrat verzichtet.

»Sei mir willkommen auf Pulaster, Fabius.« Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag, denn sie hatte nicht das flottenübliche Latein gesprochen, sondern ihn in der versunkenen Sprache seiner Heimatwelt Kokkygia angesprochen – wie sonst nur Iris.

Fabius murmelte eine Erwiderung. Wie durch eine Zauberformel heraufbeschworen, stürmten Bilder auf ihn ein: die gedämpfte nächtliche Feier, Iris ihm gegenüber im Schein des züngelnden Abschiedsfeuers. Die Eltern hatten sich bereits zurückgezogen, seine Schwester Luisa verhüllte trauernd den Kopf mit einem Tuch. Wer seine Zeit verläßt, stirbt für seine Familie. Er dagegen redete von den gewaltigen – galaktischen! – Aufgaben der Menschheit, vom Fortschritt, was letztlich auch fort von der Erde, fort von Sol bedeutete. Er schwärmte von der einzigartigen Chance, anderen Intelligenzwesen zu begegnen – und konnte doch die Wehmut nicht überspielen. Mit dem Verstand hatte er sich damals längst von der dörflichen, einfältigen Idylle Kokkygias gelöst, hatte sogar den bedächtigen Schritt der Habitatler abgestreift, aber doch fühlte er, wie er seine Wurzeln aus dem Boden riß. Iris lächelte ihm zu, ermunterte ihn fortzufahren, Luisa aber stocherte betrübt und unwillig in der Glut, daß die Flammen hoch aufloderten. »Kann man auf Flottenlatein auch scherzen und dichten? Wer spricht fern in Raum und Zeit unsere Sprache?«

Auf altmodische, flottenunübliche Weise tauschte er mit Sadhana einen Händedruck. Dann erlosch der Zauber. Sadhana gehörte zum Alten Planeten, sie war kein Kind Kokkygias, sie hatte kein Recht auf seine Heimatsprache.

Der Speisenspender an der Kantinenwand unterschied sich von dem einer Schiffsmesse lediglich durch seinen verlotterten Zustand, die Bildschirme waren zerkratzt, und die Blende der Ausgabe klapperte in ihrer Fassung. Außerdem zeigten die Bildschirme fast nur unbekannte Gerichte: verklumptes Fleisch – vielleicht Naturfleisch? –, aus dem angekohlte Knochen ragten, aufgebauschtes Blattwerk, bunt geschichtete Nahrungswürfel undefinierbarer Zusammensetzung. In welchem Jahrhundert hatte man diesen Fraß zu sich genommen? Frisches Obst, etwa aus der Orangerie der Orbitalstation, fehlte. Da Fabius nicht wußte, nach welchen kulinarischen Moden man all diese Nährgebilde synthetisierte, und er keine Lust hatte, sich über die Inhaltsstoffe zu informieren, wählte er Vertrautes: Frühstücksriegel mit Kaffeezellen nach Flottenstandard. Nach ein Paar Sekunden kündigte ein nerviger Posaunenstoß an, daß sie produziert waren.

»Es freut mich, daß du den Schock so gut verwunden hast«, empfing ihn Sadhana, als er zum Tisch zurückkehrte.

Wußte denn hier jeder von seiner Transitunfähigkeit? Eine Privatsphäre schien es auf diesem Planeten nicht zu geben … Unwillig brach Fabius das erste Stück von dem angenehm heiß verkrusteten Riegel und biß die Kaffeezelle auf. Es schmeckte nicht anders als sonst irgendwo in der Flotte.

»Du wirst dich mit unserer Welt schon anfreunden.«

»Und mit den Hrengeng«, ergänzte Oulemm.

»Ich bin nicht freiwillig hier.« Es kam schroffer heraus, als er beabsichtigt hatte. Sie boten ihm ihre Freundschaft an, und er stieß sie vor den Kopf! In seiner Verlegenheit fiel ihm ein, daß für Erdstämmige die Witterung ein unverbindliches Gesprächsthema abgab. Wie also schafften sie es, sich auf einer Welt einleben, auf der es fast ununterbrochen – er suchte nach einem kräftigen Ausdruck – vom Himmel heruntersaute?

»Besser ein Zuviel an Niederschlag als ein Mangel.« Sadhana lehnte sich nach vorn. »Zwei Jahre lang habe ich damals in den Wüsten des ehemaligen Amazonasgebiets Gras gesät und Bäume gepflanzt. Wie sehnten wir jede Wolke herbei! Nachts freilich entschädigte uns ein sternenklarer Himmel, und oft, wenn deine Welt über das Firmament wanderte, habe ich mich gefragt: Wie leben die da oben? Haben sie es nicht besser ohne die Bürden der Vergangenheit? Aber vielleicht wird ihnen das bequeme Dasein nur langweilig. – Du merkst, ich hatte reichlich unklare Vorstellungen damals.«

Fabius kniff die Lippen zusammen. Man sollte nicht wecken, was tiefer und tiefer ins Vergessen entglitt. Kaum einmal hatte er während der letzten Flüge zurückgedacht. Doch seit er auf Pulaster war, kamen die Erinnerungen wieder hoch. Der Höflichkeit halber bequemte er sich zu einem vieldeutigen: Es sei eben Ansichtssache. Langweilig in gewisser Beziehung, ja, manch einer habe mit dem Teleskop hinabgeschaut. Er verriet nicht, wie er selbst, angestachelt durch den so faszinierenden wie schockierenden Geschichtsunterricht bei seiner Mutter, mit dem Fernglas nach den Schauplätzen von welterschütternden Ereignissen gesucht hatte. Meist vergeblich. Bis auf einige wenige Sehenswürdigkeiten war alles umgepflügt, planiert, überbaut. Geschichte gab es nur noch als Simulation.

»Vielleicht haben sich unsere Blicke einmal getroffen?«

Oulemm kicherte. Das Gespräch, auf Persönliches abzielend, behagte Fabius immer weniger. Kokkygia war unwiederbringliche Vergangenheit, versank immer weiter und weiter in den Nachkegel.

Im anderen Teil der Messe veranstalteten die Hreng ein regelrechtes Pfeifkonzert, so als ob Sombreroträger und Werkzeugumgürtete sich gegenseitig niederschreien wollten. Oulemm rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Sadhana hingegen beirrte dies nicht. Sie habe gedacht, daß es für einen Habitatsbewohner nicht nur physisch, sondern auch psychisch ein geringer Schritt sei »von der Heimat in den Raum«. Gewiß, die Motive entschieden. Aber lebte man »da oben« den Sternen nicht näher?

»Woran haben Sie – hast du eigentlich erraten, daß ich in Kokkygia aufgewachsen bin?« wich Fabius der Antwort aus. »Steht das auf meiner Stirn geschrieben?«

Die Hreng krakeelten, daß man sein eigenes Wort kaum hörte. Einige fuchtelten mit den Löffeln in der Luft herum. Jeden Moment mußte eine Kantinenschlacht losbrechen mit fliegenden Suppenpötten, umstürzenden Tischen und vielen Scherben. Saurier im Porzellanladen … Doch der Krach steigerte sich nicht weiter, die Drohgebärden eskalierten nicht, die Hreng schienen unfähig, sich über einen gewissen Punkt hinaus aufzuputschen.

Sadhana bewahrte eine lächelnde, lockere Selbstsicherheit. Sie hätte, meinte sie, besser daran getan, die Begrüßung sogleich durch eine Erklärung zu ergänzen. »Mitunter verfalle ich in den Fehler, meine Mission als allgemein bekannt vorauszusetzen, selbst dann, wenn ich mich um die Neuankömmlinge kümmere. Die Passagierlisten der Fähren …«

Das Toben der Hreng verstummte auf einen Schlag. Es hinterließ eine vibrierende Stille. Nichts regte sich im dunkleren Teil der Kantine. Stocksteif standen die Hreng an den Tischen, die Vorderklauen hingen starr in der Luft. Zwischen ihnen, genau auf dem Weg, den Fabius gegangen war, bewegte sich ein Hreng gegen das drückende Schweigen voran. Das Hreng im Flottenoverall, Gabriell Primus oder genauer Primum. Ohne einen Blick zur Seite, stur und gleichförmig schritt es aus. Durchquerte es die drohende Dämmerung. Trat es hinaus ins Licht der Menschenabteilung. Eingeleitet von einigen schrill gezischten Lauten, brandete hinter ihm der Lärm wieder auf.

»Muß Gabriell sie unbedingt provozieren?« flüsterte Oulemm. »Anderen Hrengeng genügt die natürliche Haut, selbst in die Dreibeiner für Schmutzarbeiten steigen sie nur mit viel Geziere. Und er stolziert herum wie ein Mannequin.«

Zielstrebig steuerte Gabriell den Tisch der Menschen an. Er beugte sich herab, der Kommunikator gurrte: »Einen herrlichen guten Morgen wünsche ich euch. Gewähret mir die Gunst, mich in eurer Mitte zu dulden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, grätschte er die Beine und senkte das enorme Hinterteil auf einen unschuldigen Stuhl herab, der dem Gewicht erstaunlicherweise trotzte.

»Du solltest keine Barrieren zwischen dir und deinen Artgenossen errichten«, tadelte ihn Oulemm.

»Es sind Hreng aus den Bergen und Hreng vom Fluß. Sie scheuen das Licht, und sie verachten die Kleidung, welche der Anfang jeder Zivilisation ist. Dagegen: Ich denke wie ein Mensch, ich fühle wie ein Mensch, ich speise wie ein Mensch.« Der wuchtige Saurier erhob sich behende und zog sich im Handumdrehen eine zehnfache Portion Sahneeis. Genüßlich schleckte er mit einer violetten Zunge, groß wie ein Bettvorleger, daran herum.

Menschliches und Nichtmenschliches mischten sich bei dem Flottenhreng in einer Weise, die Fabius abstieß. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Sumpfweltbewohner die irdische »Krone der Evolution« bewußt und heimtückisch nachäffte, und allein er, der Außenstehende, spürte es. Oder sollten die Gemeinsamkeiten von Säugern und Sauriern so weit reichen, daß sie die einen in die Karikatur der anderen verwandelten? Steckte in der warzigen Haut tatsächlich ein Vernunftwesen, das dachte und fühlte wie ein Mensch?

Sadhanas Armreif piepste. Sie wurde weggerufen. Bedauernd verabschiedete sie sich. »Wir werden ja noch oft Gelegenheit haben, miteinander über die alten Zeiten oder auch über deine Zukunft zu plaudern, Fabius. Besuch mich einfach mal.« Warmherzig lächelte sie ihm, Oulemm und dem Hreng zu und eilte aus der Menschentür, die Fabius verfehlt hatte. Nebenan trampelten die werkzeugbehangenen Hreng pfeifend zum Hrengtor.

Nachdenklich drehte Fabius den Rest des Nährriegels in den Händen. Sie behandelte ihn wie ein Kind. Oder wie jemanden, der unter einem schweren Schock stand. Sah sie nicht, daß er ganz gut allein zurechtkam? Auch wenn er nie im Leben zu jenen bedauernswürdigen Kreaturen hatte gehören wollen, die für immer an einem Planeten festklebten.

»Eine seltsame Frau«, forschte er, »ich begreife nicht recht, was sie von mir wollte.«

Oulemm tippte die Fingerspitzen gegeneinander. Ein wenig Abtasten, Sondieren und Umgarnen der Neuen gehöre zu ihrem Beruf. »Sie ist die Botschafterin der Erde.«

Halbwegs zufrieden mit der Antwort, beendete Fabius das Frühstück. Neben manch anderen Dingen oblag es den Botschaftern, sich um das Wohlergehen jedes Menschen auf ihrem jeweiligen Himmelskörper zu kümmern. Als Flottenmitglied fiel er eigentlich nicht in ihren Verantwortungsbereich. Aber manche von ihnen richteten sich wohl mehr nach ihrem empfindsamen Gemüt als nach der Dienstordnung.

Er knüllte die Verpackung des Riegels zusammen und schnipste sie in den Schlucker. Dann quälte er sich gegen die Pulasterschwere hoch. »Also, jetzt besorge ich mir einen – wie nanntest du das Gerät? – Nitze-Translator, ja?«

Oulemms Ohrringe verschossen Funkengarben. »Richtig. Ausgezeichnet: Nitzescher Translator.« Die Ausrüstungsabteilung befinde sich zwei Etagen tiefer, und Fabius solle ein Hreng namens Hlan-ci von ihm grüßen. Er buchstabierte den Namen.

Zwei Ebenen schwerewärts – Fabius weigerte sich, den auf Planeten üblichen Ausdruck zu benutzen – herrschte ein reges Kommen und Gehen. An einem Übersichtsschirm orientierte er sich. Der kürzeste Weg zur Kleingeräteausgabe war ihm durch ein »temporäres Hindernis« versperrt. Vermutlich tratschten da einige Hreng, und niemand wagte, sie beiseite zu schieben.

In der Ausgabe arbeiteten ein Hreng und eine für Pulaster bestimmt viel zu korpulente Frau, seine Instruktorin. Das heißt, das Hreng arbeitete nicht, es thronte vielmehr wie ein Drache beim Schatzbewachen vor einem Haufen durcheinandergewürfelter Apparate, schnarchte laut und hob und senkte dabei den Kopf rhythmisch.

»Guten Tag, ich bin …«

»Grüß dich, Fabius Grosser.« Um das feiste Handgelenk der Frau klingelten die Glöckchen einer Goldkette. Fabius wunderte sich nicht, daß sie ihn beim Namen nannte. Er konnte es den wenigen Pulastermenschen nicht verdenken, daß sie jedes IS-Schiff als willkommene Abwechslung herbeisehnten und sich dann über die Neuankömmlinge weidlich austauschten.

»Ich brauche …«

»Spar dir die Müh, ich hab bereits alles zusammengestellt: Schutzemulsion, Schuhwerk, Kommunikator …«

»Wenn ich lieber einen Nitzeschen Translator …?«

Die Frau verschränkte die Arme und musterte ihn, als hätte er etwas Ungehöriges von ihr verlangt. »Einen Nitze. Schau her.« Sie ging zu einem langen Regal und wühlte klimpernd in einem Karton herum.

»Den Floh hat dir der Oulemm ins Ohr gesetzt, nicht? Na, der Nitze mag ja für seine Zwecke besser geeignet sein, beim Kommunikator weißt du wenigstens, woran du bist. Da wird nicht ein Hrengwort je nach Nitzes Laune auf fünferlei Weis’ gedolmetscht. Glaub mir, ein Nitze ist nichts für dich.«

Sie kam zurück und sortierte weitere Apparate, Dosen und Päckchen auf den Tisch, ständig begleitet von einem irritierenden Geklingel und Geläute. »Seil. Fernreif mit Schnatterbox, Molekelzelt, ein Satz Scheuchraketen, Handlichtwerfer …«

Fabius nagte an der Unterlippe. Nie im Leben benötigte er einen Schlafsack oder ein Luftstrahlmesser. Oder gehörte das zur Pulaster-Standardausrüstung?

»Die Gebrauchsanweisungen kannst aus Alles über Pulaster abrufen. Wenn du in den Sumpf spazierst, genügt nun mal ein fester Stiefel nicht.«

»In den Sumpf? Wieso denn?«

»Ja, ins Gebirg’ führt sie nicht, die Expedition.«

Wie verbrüht zog er die Hände zurück. »Georgia war hier?«

»Da fragst noch? Schau dir den Armen an, der muß sich sein Menschenbild erst wieder zurechtmeditieren.« Sie zeigte auf das schnarchende Hreng.

Angewidert starrte Fabius auf die Sachen. Die Extemporalistin! Was erlaubte sich diese Person! Verfügte über ihn wie über ihren Vakuumkoffer. Er war als freier Flottenmensch auf Pulaster, nicht als Planetenknecht im Sumpfbodendienst und schon gar nicht als Gepäckträger für eine überkandidelte Wissenschaftlerin!

»Ich nehme nur den Kommunikator mit, der Rest bleibt hier.«

Die Frau verzog spöttisch den Mund. Sie teilte wohl das Bodendienstlervorurteil über die verweichlichten Astronauten.

»Diese Georgia«, flüsterte sie dann vertraulich, »sie ist eine Belterin, die sich an Normschwere hat anpassen und modifizieren lassen, nicht?«

Er zuckte mit den Schultern. Es interessierte ihn nicht, ob die Extemporalistin von der Erde, dem Astroidengürtel oder von irgendwo jenseits des Jupiter stammte. Er hatte mit ihr nichts zu schaffen.

»Übrigens, ich soll ein Hreng namens Hlan-ci von Lich Oulemm grüßen.«

Schlagartig erwachte das Hreng aus seiner schnarchenden Meditation und beäugte ihn hoheitsvoll. »Du bist ein Freund von Lich?« erklang blechern die Übersetzung seines Gepfeifs. »Dann steht dir ein guter alter Nitze zu. Ich benutze selbst einen, da vermeidet man dieses Getue: Würden Sie mir bitte gütlichst die Freundlichkeit erweisen. Und der Nitze paßt sich automatisch an jede Situation an.«

Das Hreng schaukelte zum Regal und brachte Fabius ein olivgraues, handtellergroßes Oval. »In verbo veritas« war in den Rand eingraviert.

Dankend steckte es Fabius ein. Doch so schnell entließ ihn das Hreng nicht. Es wankte näher und bestürmte ihn von oben herab mit einer Salve außergewöhnlicher Fragen: Was Fabius von der Gregorianischen und der Lavinischen Kalenderreform halte. Ob er die Wochentage aufzählen könne. Welche Bedeutung für ihn »ganz persönlich« die Biorhythmen hätten.

Verdutzt stammelte Fabius die Namen von Dies Lunae bis Dies Solis. In der Flotte und folglich auf Pulaster waren sie längst nicht mehr gebräuchlich. Wie sollten sie auch bei Zeitdilatation und Kältesärgen. Zu den anderen Themen paßte er. Ein Kalender wurde eben reformiert, wenn dafür eine Notwendigkeit bestand. Und die Biorhythmen, nun ja, wer konnte die sich heutzutage noch leisten.

»Der Erdmond soll, wie ich gelesen habe, euer gesamtes Leben bestimmen. Kennst du zufällig die augenblickliche Phasenlage von Georgias Biorhythmen? Vielleicht erklärt sich dadurch ihr Auftreten.«

»Phasenlage?« Fabius begriff erst, als die Instruktorin des Hreng errötete, sich abwandte und sich glöckchenklingelnd hinter den Regalen beschäftigte. In den meisten Jahrhunderten galt es als unschicklich, ein so intimes Thema anzuschneiden. Aber woher sollte das ein Hreng wissen?

»Da mußt du sie selbst fragen«, meinte Fabius boshaft.

Das Hreng neigte sich zu ihm herunter und kratzte sich mit einer riesigen Fingerkralle unterhalb des linken schwarzen Saurierauges. »Manchmal vergesse ich diesen sogenannten kleinen Unterschied: Männchen, Weibchen, Kindchen. Ein Glück, daß der Nitze stets das Personalpronomen im rechten Genus wählt. Also auf Wiedersehen, männlicher Mensch Fabius, und grüße Lich von mir!« Es schlurfte durch den Apparatehaufen hindurch und langte von einem hohen Regal ein Buch. Sogleich versenkte es sich in die Lektüre. Der Titel huschte, für Fabius gerade noch erkennbar, über den kleinen Bildschirm des Buchs: Alles über Terra.

In der Spitze der Pyramide