Vorgriff auf das Lichte Morgen - Angela Steinmüller - E-Book

Vorgriff auf das Lichte Morgen E-Book

Angela Steinmüller

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Beschreibung

Im dritten Essayband ihrer Werkausgabe widmen sich die Steinmüllers speziell der Science Fiction der DDR. Nach einer Einleitung und einem Überblick über die Entwicklungsetappen der SF in der DDR untersuchen sie in vier Essays die von der staatlichen Kulturpolitik verordneten Funktionsbestimmungen sowie das Geschichts- und das Technikbild der DDR-SF und geben einen Einblick in das Menschen- und Gesellschaftsbild. Sie konzentrieren sich dabei auf die fünfziger und sechziger Jahre, in denen die DDR-SF noch nicht ihre spätere Vielfalt und Qualität erreicht hatte, aber gerade mit ihrer damals relativ einheitlichen Ausprägung charakteristische – und aus heutiger Sicht merkwürdige – Eigenheiten entwickelte.

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Seitenzahl: 289

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Angela und Karlheinz Steinmüller

Vorgriff auf das Lichte Morgen

Essays zur DDR-Science-Fiction

Angela und Karlheinz Steinmüller

Werke in Einzelausgaben. Essays Band 3

Herausgegeben von

Erik Simon

Impressum

Angela und Karlheinz Steinmüller: Vorgriff auf das Lichte Morgen.

Essays zur DDR-Science-Fiction

(Werke in Einzelausgaben. Essays Band 3)

Herausgegeben von Erik Simon

Titelbild: Illustration von Heinz Völkel zu Horst Müller: Kurs Ganymed

Originalausgabe

Erste Auflage 2023

© 1994, 1995, 2023 Angela & Karlheinz Steinmüller (für die Einleitung, die Essays und das Literaturverzeichnis)

© 2023 Angela Steinmüller (für das Vorwort)

© 2023 Erik Simon und Memoranda Verlag (für die Zusammenstellung dieser Ausgabe)

© dieser Ausgabe 2023 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Erik Simon

Korrektur: Steffi Herrmann

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.wordpress.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-86-1 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-87-8 (E-Book)

Inhalt

Vorwort

Von Angela Steinmüller

Unser dritter Band über Science Fiction unterscheidet sich von den beiden vorangehenden: Während wir uns in Streifzüge und in Erkundungen mit der SF verschiedener Epochen, einzelner Länder oder Autoren und mit einer breiten Palette von Themen befaßten, handelt dieser Band ausschließlich von der »utopischen Literatur«, der Science Fiction der DDR, also sozusagen unserer SF-Heimat. Den Schwerpunkt haben wir auf die 1950er und 1960er Jahre gelegt, die »Aufbaujahre« der DDR, in denen sich die einheimische SF durch ein recht einheitliches, durchweg optimistisches Zukunftsbild auszeichnete. Die Zukunftswelten, die die Autoren in den Büchern dieser Zeit ausmalten, waren im Grunde immer nach derselben Schablone entworfen. Heute würde man dergleichen als eine shared world bezeichnen. Die gemeinsame Schablone all dieser literarischen Zukunftswelten bestand in der Kombination von fortschrittlicher Technologie mit einer (vermeintlich) fortschrittlichen – also sozialistischen oder kommunistischen – Gesellschaft.

Ausgangspunkt für diesen Band sind die Studien, die ich von 1991 bis 1993 im Rahmen des ABM-Projekts »Der weiße Fleck« durchführte. Damals machte sich eine Gruppe von ostdeutschen Schriftstellern daran, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Mit dem »weißen Fleck« waren verschwiegene und verleugnete Aspekte der DDR-Literatur gemeint, also Bücher, die nicht erscheinen durften, Eingriffe der Zensur oder der Selbstzensur, Themen, die unerwünscht waren, der beständige Kampf gegen kulturpolitische Vorgaben und Einengungen. Ich befaßte mich unter dem Titel »Die befohlene Zukunft« mit dem Utopiebild in der SF der DDR. Zuerst einmal aber schaffte ich für den Trägerverein des Projekts, die Literaturbrücke e. V., Computer an und richtete sie ein. Probleme mit der Literaturbeschaffung gab es für mich nicht: In unseren Bücherschränken standen ja bereits sämtliche in der DDR verlegte SF-Bücher. Lediglich einige wenige Erzählungen, die in Zeitschriften erschienen waren, fehlten noch. Außerdem kannten wir einen Großteil der Autoren persönlich, viele davon über den »Arbeitskreis utopische Literatur« im Schriftstellerverband oder über Verlagsveranstaltungen. Einige der Kollegen befragte ich für meine Arbeit darüber, welche Erfahrungen sie mit Verlagen gemacht hatten oder auch wie sie mit ideologischen Vorgaben umgegangen waren.

Zur gleichen Zeit beschäftigte sich Karlheinz, der an ein neu gegründetes »Sekretariat für Zukunftsforschung« (SFZ) nach Gelsenkirchen gegangen war, mit Anregungen, die die Zukunftsforschung aus der Science Fiction erhalten konnte. Die DDR-SF war dafür bestimmt nicht das ideale Beispiel, aber die Frage, wie in der SF Zukunftsbilder entworfen werden und wie diese wirksam werden, beschäftigte uns beide.

Meine Ergebnisse faßte ich 1993 in einem Abschlußbericht Zukunft ohne Fehl und Tadel. Das Zukunftsbild der utopischen Literatur der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren zusammen. Nach Ende des Projekts führten Karlheinz und ich die Arbeiten gemeinsam fort. 1994 konnten wir eine erweiterte Fassung als SFZ-WerkstattBericht publizieren: Literatur als Prognostik. Das Zukunftsbild der utopischen Literatur der DDR in den fünfziger und sechziger Jahren. Ein Jahr später nutzten wir ein Angebot des EDFC (Erster Deutscher Fantasy Club e. V. Passau) und brachten die Studie, noch einmal überarbeitet, erweitert und kombiniert mit einem Essay zur Zensur in der DDR-SF und einer Bibliographie, die Hans-Peter Neumann beisteuerte, nun als Buch heraus: Vorgriff auf das Lichte Morgen. Studien zur DDR-Science Fiction.

Seither sind knapp drei Jahrzehnte vergangen. Die SF der DDR sinkt immer tiefer in die Sedimente der Literaturgeschichte. Die Autoren von damals, die heute noch publizieren, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Viele sind schon kurz nach der Einheit verstummt. Immerhin nimmt die Literaturwissenschaft inzwischen die SF der DDR ab und zu wahr, meist allerdings mit überschaubarem Ertrag. Sporadisch gibt es sogar öffentliche Aufmerksamkeit für die längst vergangenen literarischen Zukünfte, etwa, wenn sich die »Stiftung Aufarbeitung« mit dem Leseland DDR befaßt.

Mag sein, daß auch bei uns ein wenig Nostalgie mitschwingt, wenn wir uns wieder mit der DDR-SF befassen. Aus dem gewachsenen zeitlichen Abstand hat sich unser Blick auf manche Werke verändert, wir haben neue Vergleichsmöglichkeiten gewonnen, und vielleicht sehen wir aus der Distanz auch manche Entwicklungslinien deutlicher. Einiges haben wir schon deshalb ergänzen müssen, weil zumindest für die Jüngeren die DDR inzwischen ein entlegenes, fremdartiges Land mit merkwürdigen Sitten und Gebräuchen geworden ist. Da bedarf es ab und zu einer Erläuterung oder geschichtlichen Einordnung. Im Gegensatz zum EDFC-Buch von 1995 verzichten wir allerdings dieses Mal auf eine Komplettbibliographie der DDR-SF; diese existiert ja inzwischen in unübertrefflicher Detailliertheit als dickes, illustriertes Nachschlagewerk. Auch das Kapitel über die Zensur haben wir – schon aus Gründen des Umfangs – herausgenommen; es soll in erweiterter Form zusammen mit einigen anderen Texten zur DDR-SF in einen künftigen Essayband aufgenommen werden.

Sehen wir es positiv: Gerade der zeitliche – und der gesellschaftliche – Abstand macht die SF der DDR wieder interessant. Wir werfen hier einen Blick auf die »Utopiegeschichte« der frühen DDR und auf das »Perspektivbewußtsein«. Wir lassen die bald banalen oder verqueren, bald grandiosen und kosmisch weitgespannten Zukunftsvisionen aus den Aufbaujahren der DDR vor dem geistigen Auge wieder aufleben – um aus der fiktiven Zukunft heraus die Vergangenheit besser zu verstehen.

Einleitung

Im SF-Syndrom haben wir den Geist der Zeit, nicht eine bloße Quelle zum Geist der Zeit. SF ist nicht nur Ausdruck historischen Selbstverständnisses, sondern der unserer Generation zugängliche und – vielleicht – angemessene Weg zum historischen Selbstverständnis.

Michael Salewski:Zeitgeist und Zeitmaschine

Ein Blick zurück auf vergangene Zukunftsbilder

»Die Science Fiction von Atlantis und was aus ihr geworden ist«, überschrieb Erik Simon im Juli 1991 seinen Nachruf auf die DDR-Science-Fiction. Tatsächlich erscheint heute, nochmals drei Jahrzehnte später, die SF des untergegangenen Staates fast so fern wie die hypothetische Literatur der mythischen Insel. Sie ist vergangen und weitgehend vergessen – und dennoch lohnt es sich, einen Blick zurück auf die »utopische Literatur« zu werfen, schon allein deshalb, weil sie ein Stück Zeitgeschichte repräsentiert und einen Einblick in die Prägungen jener Epoche vermittelt, die heute noch nachwirken. Außerdem ist »Zukunft« wieder groß in Mode, und da mag es nützlich sein, die übersteigerten Erwartungen aus einer Zeit, in der »Zukunft« schon einmal groß in Mode war, vor sich Revue passieren zu lassen.

Naturgemäß reflektiert die SF Brüche und Umbrüche in der Gesellschaft. Stärker als die allgemeine Belletristik spürt sie den immensen Veränderungen, dem konstanten Anpassungsdruck nach, der von den schnell aufeinanderfolgenden Innovationen in unserer Welt ausgeht. Science Fiction bietet einen Zugang zu alltäglichen Hoffnungen und Befürchtungen, zum Zukunftsdenken einer Epoche. Vielleicht ist es nicht einmal übertrieben, die SF als die der »wissenschaftlich-technischen Revolution« angemessene Literaturform oder als direkten Ausdruck des Zeitgeistes zu interpretieren.

In diesem Band soll der Versuch gewagt werden, das populäre Zukunftsbild der Aufbaujahre der DDR und der Jahre unmittelbar nach dem Mauerbau nachzuzeichnen. Dabei sollen die charakteristischen Motive, bevorzugte und vernachlässigte Themen, Tabuzonen, ideologische Einengungen und Spielräume, Zukunftsträume und Zukunftsängste vor dem politischen und kulturellen Hintergrund ihrer Zeit analysiert und gegebenenfalls erklärt werden.

Wir wollen nicht, wie in der Literaturwissenschaft üblich, einzelne Werke tiefgehend interpretieren und ihre handwerkliche Qualität unter die Lupe nehmen, sondern eine Querauswertung der Gesamtheit der Romane und Erzählungen – mit kurzen Seitenblicken auf Filme und Comics – vornehmen: Was sind zentrale Elemente des Zukunftsbilds und wie wurden sie dargestellt? Welche individuellen Varianten gab es dabei? Wo sind Einflüsse erkennbar, wo ideologische Vorgaben?

Eine solche Herangehensweise ist natürlich nur dann berechtigt, wenn es überhaupt hinreichend starke Gemeinsamkeiten gibt. Genau das war und ist aber unser Eindruck für die frühe DDR-SF: Ein Held hätte in der Welt des einen Buchs einschlafen und in der Welt eines anderen aufwachen können, und er hätte kaum bemerkt, daß er umgesetzt wurde. Bis auf geringe Unterschiede bei den Bezeichnungen von Dingen und Einrichtungen hätte unser Held sich praktisch sofort zurechtfinden können. Dieses einigende Bild der Zukunft dominierte bis zum Anfang der 1970er Jahre. Danach schlugen die Autoren bei ihrem world building, wie es heute heißt, immer individuellere Wege ein, das Spektrum der als Zukunft etikettierten Phantasiewelten weitete sich rapide aus; selbst die Etikettierung als Zukunft wurde immer fadenscheiniger und verflüchtigte sich mehr und mehr. Aus diesem Grund haben wir uns auf den Zeitraum bis etwa 1972 beschränkt und uns allenfalls ab und an eine Bemerkung über die dann folgenden Veränderungen erlaubt.

Um die erwähnten Romane und Erzählungen einordnen zu können, ist jedoch ein Blick auf die Gesamtheit dessen, was an Science Fiction in der DDR verfaßt wurde, notwendig. Deshalb geben wir in Kapitel 2 einen Überblick über die Entwicklung der DDR-SF während der gesamten Existenz der DDR von 1949 (und ein wenig davor) bis zu ihrem Ende 1990 (und ein wenig danach), so daß auch die Wandlungen der ostdeutschen SF während dieser vier Jahrzehnte deutlich werden. Da die ideologischen Vorgaben bis zum Ende der DDR eine entscheidende Rolle spielten, haben wir den kulturpolitischen Rahmenbedingungen ein separates Kapitel gewidmet. Anschließend befassen wir uns mit verschiedenen Elementen der gemeinsamen Zukunft: mit dem Geschichtsbild, den Zukunftstechnologien, den Vorstellungen zur künftigen Gesellschaft und zum Alltag.

Ein Wort zur Terminologie: »Utopische Literatur« nannte man in unserem Untersuchungszeitraum, den 1950er und 1960er Jahren, und häufig auch noch später diejenigen Bücher, die zeitlich irgendwann in der Zukunft, bisweilen recht nah an der Gegenwart, bisweilen aber auch fern im Kommunismus angesiedelt waren. Bei vielen Romanen hatte das Wort Utopie – abgesehen vom leisen ironischen Beiklang – eine gewisse Berechtigung, denn sie versprachen eine chromblitzende und neonbeleuchtete Zukunft ohne Geld und ohne Krieg, mit alltäglichem Überfluß und mit frohgemuten Werktätigen, die – gekleidet in bunte synthetische Fasern – über weite Boulevards flanieren. Wir werden daher gelegentlich statt von »früher DDR-SF« auch von »utopischer Literatur« sprechen.

Fast synonym verwendeten damals die Verlage Bezeichnungen wie »Zukunftsroman«, »utopischer Roman« oder »technisch-utopischer Roman«. Später kam als Lehnübersetzung aus dem Russischen der klangvolle und etwas unscharfe Begriff »wissenschaftliche Phantastik« dazu. »Science Fiction« blieb noch lange Zeit verpönt; dieses Etikett wurde vorerst ausschließlich zur Abgrenzung genutzt: Science Fiction – das war doch diese imperialistische, antihumanistische Weltraum-Schundliteratur aus dem Westen!

Ein Leseland mit Besonderheiten

Seit dem Lexikon Die Science-fiction der DDR. Autoren und Werke [Simon/Spittel 1988] und der ursprünglichen, 1995er Fassung dieser Essays sind zahlreiche Einzeluntersuchungen zur DDR-SF erschienen. Vor allem aber hat unlängst Hans Frey mit der Monographie Vision und Verfall. Deutsche Science Fiction in der DDR (2023) eine umfassende und detaillierte Darstellung publiziert. Dank den Arbeiten engagierter SF-Liebhaber, insbesondere dank Hans-Peter Neumanns Standardwerk Große illustrierte Bibliographie der Science Fiction in der DDR (2002), ist die DDR-SF zudem bibliographisch außergewöhnlich gut erschlossen. Wie nicht anders zu erwarten, ist die Abgrenzung der Genre-Literatur – also auch der SF – vom literarischen Mainstream im Einzelfall durchaus problematisch. Die abstrakten Kriterien, die dafür von Literaturwissenschaftlern erarbeitet wurden, helfen zumeist kaum weiter. Trotzdem existierte schon zu DDR-Zeiten ein in Leserkreisen wenig umstrittenes Verständnis von SF – wozu auch beigetragen haben mag, daß sich die phantastische Literatur im weiteren Sinne, also Fantasy, Horror und weird fiction, unter den kulturpolitischen Bedingungen der DDR kaum entwickeln konnte. SF wurde von Autoren in der Regel als SF geschrieben und von den Lesern als solche erkannt. Grenzfälle – vor allem aus der Feder von Gegenwartsautoren – gab es allerdings auch.

Insgesamt erschienen in der sowjetischen Besatzungszone und der DDR im gesamten Zeitraum von 1945 bis 1990 etwa 150 Romane und über 1100 Erzählungen von ostdeutschen Autoren, die der SF zugeordnet werden können.[1] Dabei verlief die Entwicklung des Genres im ersten Nachkriegsjahrzehnt wie in der Bundesrepublik recht schleppend, um dann in den 1960er Jahren Dynamik zu gewinnen (vgl. Diagramm 1). Deutlich wird der quantitative Umbruch um 1972/73, dem – wie wir sehen werden – auch ein qualitativer entspricht. Die überaus starken Schwankungen der Romanproduktion in den 1970er und 1980er Jahren sind unseres Erachtens größtenteils der planwirtschaftlichen Arbeitsweise der Verlage anzulasten, die beinahe planmäßig zu Verzögerungen, Stockungen und nachfolgender Hektik führte. In vielen Fällen verzögerten auch die behördlichen Genehmigungsprozesse das Erscheinen von Büchern.

Der DDR-Buchmarkt war wie das Land insgesamt strikt abgeschottet. Regelmäßige Buchimporte gab es nur aus den befreundeten Ostblockländern[2], Lizenzen für Titel aus westlichen Ländern wurden schon aus Devisengründen kaum erworben – und dann auch nur für ausgewählte, politisch erwünschte Autoren. Die Science-Fiction-Autoren der DDR konkurrierten daher auf ihrem Heimatmarkt fast ausschließlich mit sowjetischen Kollegen und solchen aus anderen sozialistischen Ländern. Doch ein eigentlicher Wettbewerb um die Lesergunst fand nicht statt, denn der Markt war, wenn man von einer kleinen Stanisław-Lem-Schwemme in den 1980er Jahren absieht, niemals gesättigt, der Hunger nach spannenden Zukunfts- und Weltraumromanen blieb stets entschieden größer als das Angebot. SF-Freunde kannten buchstäblich jeden erschienenen Titel und verwandten viel Mühe darauf, sich die fehlenden zu besorgen. SF-Bücher mit Auflagen von einigen Zehntausend waren innerhalb von wenigen Tagen ausverkauft, wenn sie es überhaupt bis auf die Ladentheke schafften. Den eigentlichen Engpaß stellten hierbei nicht fehlende Druckkapazitäten dar, sondern schlicht die kulturpolitische Steuerung des Verlagswesens, die auch über die staatliche Zuteilung von Papierkontingenten erfolgte. Dabei wurde zwar die potentielle Nachfrage berücksichtigt, aber Bücher, die aus Sicht der DDR-Führung wichtig waren (von politischen Pamphleten bis zu linientreuen Romanen), hatten bei der Papierverteilung die Priorität. Die Verlage operierten innerhalb dieses Rahmens. In der Regel planten sie für stark nachgefragte Literatur – also für SF-Bücher oder Krimis – schon aus ökonomischen Gründen relativ hohe Auflagen ein. Hatte ein Verlag erst einmal sein für einen bestimmten Titel vorgesehenes Papierkontingent aufgebraucht, konnte er selbst bei größter Nachfrage in der Regel nicht einfach schnell nachdrucken. Die potentiellen Käufer mußten daher auf eine eventuelle Nachauflage hoffen, die im folgenden Jahr oder irgendwann später oder auch nie kommen konnte, etwa weil zwischenzeitlich ein Autor in Verruf geraten war, weil sich der kulturpolitische Wind gedreht hatte oder schlicht weil dem Verlag andere Titel wichtiger waren. Bei manchen Reihen war wie bei den Kompaß-Taschenbüchern (Neues Leben) in der Regel gar keine Nachauflage vorgesehen.

Diagramm 1: Publikationsstatistik der ostdeutschen Science Fiction von 1945 bis 1990

Der insgesamt geringen Anzahl der Titel stehen in der Regel hohe Auflagen und damit eine große Verbreitung gegenüber. Einige Publikationszahlen mögen dies belegen. Die üblichen Auflagenhöhen bei Reihen wie BASAR (Neues Leben, Paperback) oder »SF Utopia« (Das Neue Berlin, Taschenbücher) lagen zwischen 50 000 und 100 000, auch die Heftreihe »Das Neue Abenteuer« (Neues Leben) erreichte nicht selten 100 000 Exemplare, und sogar bei Büchern mit festem Einband waren Startauflagen von 20 000 und mehr nichts Ungewöhnliches, beispielsweise in der Reihe »Spannend erzählt« (Neues Leben) – vgl. Tabelle 1. Von den beiden Romanen del’Antonios Titanus (1959) und Die Heimkehr der Vorfahren (1966) wurden zusammengenommen mehr als eine halbe Million Exemplare verkauft, von Heiner Ranks Ohnmacht der Allmächtigen (1973) knapp 200 000, von Günther Krupkats Nabou (1968) immerhin 178 000 Exemplare; Alexander Kröger erreichte 1988 mit elf Titeln eine Gesamtauflage von zwei Millionen; die Anthologie von DDR-SF-Erzählungen Der Mann vom Anti (1975) wanderte 105 000 Mal über den Ladentisch – oder wurde »unter dem Ladentisch« gehandelt. Bei einer Gesamtauflagenhöhe einzelner SF-Titel von 200 000 Exemplaren und mehr konnten von einem einzigen »utopischen« Buch – konservativ geschätzt! – deutlich mehr als 1% der DDR-Bevölkerung erreicht werden; in den leseintensiven Altersgruppen der Heranwachsenden und jungen Erwachsenen konnte das Leserpotential für einzelne Titel durchaus in der Größenordnung von 10% oder mehr liegen.

Allerdings existiert keine umfassende Studie über die Rezeption der utopischen Literatur in der DDR. Nach einer Untersuchung von 1981 konnten 26% der Lehrlinge, 19% der jungen Arbeiter, 15% der Studenten und 9% der jungen Intelligenz zur festen Lesergruppe der SF gerechnet werden, auch wurde eine deutliche Korrelation mit einem Interesse an der Zukunft festgestellt. In der Altersgruppe der 16- bis 25jährigen war die utopische Literatur für 31% der Abiturienten die beliebteste Literaturgattung, für 33% der Lehrlinge und für 19% der Studenten.[3]

Allein aus den Auflagenhöhen und dem Leserinteresse läßt sich die ungeheure Rolle ermessen, die die DDR-SF bei der Formung des Zukunftsbildes der heranwachsenden Generationen spielte.

Tabelle 1: Typische Auflagenhöhen und Preise bis zur Währungsunion

[1] Auf den akademisch breit diskutierten Problemkreis der Definition und Abgrenzung – Was gehört zur SF und was nicht? – soll hier nicht eingegangen werden. Wir orientieren uns daran, ob ein Werk in die Große illustrierte Bibliographie der Science Fiction in der DDR von Hans-Peter Neumann (2002) aufgenommen wurde. Insofern folgen wir den dort formulierten Aufnahme-Kriterien. Auch die weiter unten aufgeführten Angaben über Auflagenhöhen entstammen diesem Werk.

[2] Einige wenige Verlage im sozialistischen Ausland – wie der Verlag für fremdsprachige Literatur in Moskau oder Artia (Prag) – publizierten ausnahmsweise auch einmal für den Export SF-Titel einheimischer Autoren in deutscher Sprache.

[3] Angaben nach Philosophische Information und Dokumentation der DDR. Reihe B, 1983, S. 31, sowie nach Göhler, Olaf (Hrsg.): Buch-Lektüre-Lesen. Berlin Weimar 1989, zitiert nach Hartung 1992, S. 124.

Annäherungen an eine vergangene Epoche

Der Zeitraum von 1947 bis etwa 1971 bietet sich für die Rekonstruktion des Zukunftsbildes aus mehreren Gründen an. Zum ersten wird damit die gesamte Ulbricht-Ära erfaßt, die Epoche von der Gründung der DDR und dem »Aufbau des Sozialismus« über den Mauerbau bis hin zum Ende der Ambitionen des »Überholens ohne einzuholen«. Zum zweiten erlebte die SF der DDR um 1972/1973 aus sich selbst heraus einen entscheidenden Entwicklungsschub, wozu sicherlich auch die vorübergehenden kulturpolitischen Lockerungen nach der Entmachtung Ulbrichts im Mai 1971 beitrugen. Wie im folgenden geschichtlichen Überblick geschildert wird, ist dieser Wandel formal durch ein wachsendes Gewicht der kürzeren Formen (speziell der Erzählung – vgl. Diagramm 1) und durch eine höhere handwerkliche Qualität der Texte, inhaltlich durch eine Abkehr vom utopischen Betriebs- und Weltraumroman gekennzeichnet. Zum dritten verliert sich im Zusammenhang damit in den späten 1960er, frühen 1970er Jahren auch der Anspruch, die »wirkliche Zukunft« zu beschreiben; das relativ einheitliche Zukunftsbild löst sich auf. Die »ernstgemeinte Darstellung der Zukunft [wurde] nicht mehr als gattungseigenes Anliegen empfunden« [Redlin 1983, S. 370].

In den Jahren von 1947 bis 1971 erschienen in der DDR bzw. vorher in der Sowjetischen Besatzungszone insgesamt

43 SF-Romane,

27 SF-Hefterzählungen sowie weitere

96 SF-Erzählungen inländischer Autoren.

Wie bereits bemerkt, haben wir, anders als in der Literaturwissenschaft üblich, nicht ein Werk oder das Œuvre eines einzelnen Autors tiefgehend analysiert, sondern uns die Gesamtheit der Romane und Erzählungen vorgenommen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Querbezüge und Zeittypisches herauszuarbeiten. Leitfragen waren für uns dabei: Was sind die Schauplätze, was ist die Zeit der Handlung, was das Kernthema, welche Personen treten auf? Welcher Nationalität sind sie, welche Berufe üben sie aus und welche Rolle spielen Frauen? Wer wird positiv als Held gezeichnet, wer sind die Schurken? Außerdem suchten wir nach wissenschaftlich-technischen Neuerungen etwa im Bereich von Energie und Verkehr, von Industrie und Landwirtschaft oder auch im Haushalt. Wichtiger noch war uns, welche Gesellschaftsmodelle die Autoren in die Zukunft projizieren und wie sie sich den Verlauf der künftigen Menschheitsgeschichte vorstellten. Hielten sie sich dabei immer eng an das offizielle Geschichtsbild? Oder blieben sie absichtlich oder unabsichtlich vage und unbestimmt? Natürlich suchten wir auch nach Passagen mit kritischer Zielrichtung.

Im konkreten Fall, beim einzelnen Werk fällt es jedoch ohne die Kenntnis näherer Umstände oft schwer, die Position der Autoren einzuschätzen. Wo ließen sie sich freiwillig und wo gezwungenermaßen auf ein bestimmtes Zukunftsbild ein? Was sind eigene Meinungen und Haltungen der Autoren? Wo übernehmen sie mehr oder weniger gedankenlos das, was eben üblich, unverdächtig oder als Klischee unauffällig ist? Wo richten sie sich in bewußtem, vorauseilendem Opportunismus an tatsächlichen oder nur mutmaßlichen Vorgaben aus und bringen ihren Text sozusagen auf Linie? Wo reagieren sie, um das Werk überhaupt gedruckt zu sehen, auf Forderungen von Lektoren oder Gutachtern? Allein am fertigen Werk erkennt man Debatten und Auseinandersetzungen, die möglicherweise vorangegangen sind, nicht.[4]

Als Leser von DDR-Literatur sind wir geübt, »zwischen den Zeilen« zu lesen. Aber gerade mit wachsendem zeitlichem Abstand wächst auch die Gefahr, aus der heutigen Perspektive heraus etwas in die Texte hinein- oder aus ihnen herauszulesen, was vom Autor nicht gemeint war und was vielleicht auch die meisten damaligen Leser nicht im Text gesehen hätten. Will man den Werken gerecht werden, ist ein behutsames Interpretieren aus den Zeitumständen heraus gefordert.

Die Auswahl der Zitate und Beispiele aus der Fülle des vorhandenen Materials ist naturgemäß subjektiv; wir haben uns aber bemüht, uns auch an der Rezeption zu orientieren und jene Werke (ein wenig) zu bevorzugen, die hoch in der Gunst der Leser standen. Als Fingerzeig dafür diente uns eine Umfrage, die die Zeitschrift Jugend und Technik im Jahr 1967 durchführte, also nicht allzulange vor dem Ende des untersuchten Zeitraumes. Über die Repräsentativität einer solchen Umfrage läßt sich allerdings streiten. Immerhin beteiligten sich daran über 500 Leser, mehrheitlich Schüler [vgl. Hein/Ludwig 1969, S. 32 f.].[5]

Tabelle 2: Die beliebtesten SF-Romane der DDR gemäß einer Umfrage im Jahr 1967

[4] Selbst extrem polemische Äußerungen über die imperialistische Science Fiction mögen im Einzelfall nicht die tatsächliche Meinung des Autors, Rezensenten oder Gutachters ausgedrückt haben, sondern zur Legitimation oder Absicherung gedient haben, etwa wenn es darum ging, Grenzen zu erweitern.

[5] Die Auswertung in der hier vorliegenden Form hat Adolf Sckerl vorgenommen.

Aufstieg und Ende der DDR-SF

Ein Überblick

Noch kein Entwicklungsabschnitt der Menschheit war so zukunftsträchtig wie unsere Zeit. Unser gemeinsames Schaffen ist zielbewußt auf die Zukunft gerichtet, sie bestimmt weitgehend unser gegenwärtiges Handeln. Wir wissen, daß wir heute den Grundstein legen für das Leben in der hochentwickelten sozialistischen Gesellschaft. Deshalb gewinnt das Träumen in die Zukunft als eine Vorausschau auf die Früchte unserer heutigen Anstrengungen eine gewichtige Bedeutung für die Gegenwart.

Eberhardt del’Antonio im Nachwort zum Roman Titanus

Ausgangspunkte

Die goldene Kugel – so heißt der Roman, der den Beginn der DDR-SF markiert. Er erschien 1949, im Jahr der Gründung der DDR, und verfaßt hat ihn Ludwig Turek, ein »Arbeiterschriftsteller« und überzeugter Kommunist, der schon 1929 mit seinem autobiographischen Werk Ein Prolet erzählt Aufsehen erregt hatte. Sein abenteuerliches Leben bildet auch den Hintergrund für einige seiner nach dem Krieg in der DDR erschienenen Romane, Drehbücher und Jugendbücher.

Der Inhalt von Tureks einzigem SF-Roman entspricht ganz dem Zeitgeist jener Jahre: Atomkraft, ein Raumschiff, Kalter Krieg. In dem Buch landen Außerirdische von der Venus mit ebenjener »goldenen Kugel« in den Vereinigten Staaten. Sie lesen die heimtückischen Gedanken der US-Imperialisten und Kriegstreiber. Dank ihrer überlegenen Technik gelingt es ihnen, anmarschierende Militärverbände außer Gefecht zu setzen und den Ausbruch des geplanten Atomkriegs zu verhindern. Damit nicht genug: Sie unterstützen progressive, humanistisch eingestellte Gegner von Kapitalismus und Militarismus – so daß die werktätigen Massen das Ausbeutersystem überwinden können. Als die Außerirdischen abfliegen, siegt überall auf der Erde der Sozialismus. Die recht platte Botschaft wird recht platt serviert: in einem durchaus einfalls- und wendungsreichen Reportagestil.

Fast könnte es so scheinen, als sei mit diesem programmatischen Werk die DDR-SF quasi aus dem Nichts heraus entstanden. Zumindest den Älteren war Kurd Laßwitz, der »deutsche Jules Verne«, noch gut bekannt. Allerdings fehlt in den frühen Jahren der DDR-SF eine deutliche Bezugnahme auf Laßwitz. Die wenigen Äußerungen fallen eher ambivalent aus: ein »bürgerlicher Utopienträumer« – so noch 1975 bei Gilsenbach. Erst Ende der 1970er Jahre wurde Laßwitz als SF-Klassiker und als »progressiver«, »humanistischer« Autor wiederentdeckt. Eine Auswahl Laßwitzscher Erzählungen erschien 1979 (Bis zum Nullpunkt des Seins), sein Hauptwerk Auf zwei Planeten 1984.[6]

Theoretisch hätte man erwarten können, daß in der DDR an die proletarisch-revolutionären Utopien wie Werner Illings Utopolis (1930) oder Kurt Karl Doberers Republik Nordpol (1936) angeknüpft würde. Doch waren die wenigen Romane dieser Richtung faktisch unbekannt. Von den linken Utopien, den »roten Blaupausen« (Both 2021), war lediglich Edward Bellamys Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 mit einer Neuauflage von Clara Zetkins Übersetzung im Jahr 1949 und einer 1954 folgenden Ausgabe als Romanzeitung im Bewußtsein geblieben. Andere Werke wurden nach unserer Einschätzung nicht ignoriert oder verleugnet; sie waren schlicht vergessen.[7]

Ähnlich könnte man rein theoretisch eine Vorbildfunktion der sowjetischen SF vermuten, doch auch das ist eine Leerstelle. Die Anzahl übersetzter Werke war bis in die 1950er Jahre überschaubar, und unter diesen dominierte das, was die Kulturpolitik der DDR (die der sowjetischen folgte) den Autoren sowieso verordnete: die Nahphantastik bzw. der utopische Betriebsroman. Die Einflußnahme erfolgte also nicht über Vorbilder, sondern über den kulturpolitischen Gleichklang. Erst mit dem explosionsartigen Aufleben der SF-Erzählung nach 1970 lassen sich in Texten von DDR-Autoren verstärkt Anklänge an sowjetische Autoren oder auch Anregungen durch Stanisław Lem oder Josef Nesvadba erkennen [Simon 1997].

Groß dagegen dürfte in den Anfangsjahren der Einfluß von Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel (1913) gewesen sein, der minutiös die gewaltigen sozialen Spannungen und Kämpfe beim Bau eines Transatlantiktunnels schildert und 1933 verfilmt wurde. Im engeren Sinne proletarisch-revolutionär ist Kellermanns Roman nicht, doch er schildert die brutale Arbeitswelt und die Konflikte mit der Welt des Kapitals so überzeugend, daß das Buch in der DDR schon 1950 wieder publiziert wurde. Selbstverständlich blieb auch Fritz Langs Film Metropolis (1927) ein Werk von anhaltender Faszination und ein Orientierungspunkt für Zukunftsvisionen – obwohl aus ideologischer Sicht Grundlegendes daran auszusetzen war: propagierte es doch statt Klassenkampf die Versöhnung von »Hirn und Hand«!

Die stärksten und nachhaltigsten Wirkungen gingen vom technischen Zukunftsroman aus, der seinerseits an den deutschen Ingenieursroman anknüpfte. Nicht wenige Autoren verfaßten in der Weimarer Republik und im Dritten Reich technisch-utopische Romane, darunter viele um Zukunftskriege, erinnert sei beispielsweise an Hans Richter und Paul Eugen Sieg oder auch St. Bialkowski.[8] Doch stand wie kein anderer Hans Dominik für diese Art von Literatur. Mit sechzehn SF-Romanen, die zwischen 1922 und 1940 mit hohen Auflagen erschienen, prägte Dominik das Bild des technischen Zukunftsromans in Deutschland. Als ein Autor aber, der oft die Rassenideologie des nordischen Übermenschen bedient und stets auf überragende Führer – meist Erfinder oder Unternehmer – gesetzt hatte, war Dominik in der DDR verpönt; seine Romane wurden aus den Leihbüchereien herausgesäubert, und in Antiquariaten wurden seine Bücher nicht offen angeboten.

Da die angloamerikanische SF schon durch die Nazis von Deutschland ferngehalten worden war und da diese auch für die neuen Herrscher in der sowjetischen Besatzungszone ideologisch völlig inakzeptabel war, ergab sich, wie Simon und Spittel bemerken, eine »paradoxe Situation«:

Für die neu beginnenden deutschen Autoren in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, war im Grunde nur ein Weg denkbar, das Genre wieder zu beleben: Man mußte neue Ideen in das ungebrochen populäre, aber diskreditierte literarische Gewand stecken – unausgesprochen war das die Forderung nach einem »antifaschistischen Dominik«. [Simon/Spittel 1988, S. 20 f.]

In dieser Situation verbindet sich in den Anfangsjahren der DDR-SF handwerkliche Kontinuität – SF als Abenteuer- und Spannungsliteratur ohne höheren literarischen Anspruch – mit einem personellen Neuanfang, der sich schon daraus ergab, daß die ältere Generation von SF-Autoren, die vor 1945 aktiv war, nicht mehr publizierte.[9] Die neuen Autoren folgten aber den alten Mustern.

[6] Generell hatte die DDR-Kulturpolitik in den Anfangsjahren ein sehr enges Verständnis davon, was als »bürgerlich-humanistisches« Werk ins literarische Erbe der DDR aufgenommen und wieder gedruckt werden durfte. Das betraf Romantiker wie etwa Novalis, aber auch Autoren der Moderne. So betrachteten die Kulturfunktionäre der DDR Franz Kafka lange Zeit als einen formalistischen, dekadenten, pessimistischen Autor, der politisch unerwünscht war.

[7] Im Jahr 1974 fragte Adolf Sckerl im Rahmen seines Dissertationsprojekts G. und J. Braun, H. Ziergiebel, G. Krupkat und E. del’Antonio nach ihren genrespezifischen Lektüreerfahrungen. Sie nannten neben Kurd Laßwitz und Jules Verne sämtlich auch Hans Dominik, der – wie Krupkat sagte – »nicht zu umgehen« war und von dem sie sich ausnahmslos distanzierten. Krupkat erwähnte noch Tolstois Aëlita. Ziergiebel, der gerade mit dem Roman Zeit der Sternschnuppen (1972) sein Können abermals unter Beweis gestellt hatte, und auch Krupkat bezogen sich weiterhin auf Bruno H. Bürgel. Damit erschöpften sich aber schon ihre Bezüge zu SF-Autoren der Vorkriegszeit.

[8] Hans Frey (2020) und Franz Rottensteiner (2019) haben die Entwicklung der deutschen SF in der Zwischenkriegszeit – mit ihrer Faszination für die Technik, den wenigen sozialutopischen Werken und den Niederungen der revanchistischen Romane – detailliert dargestellt.

[9] Einem einzigen Nazi-Autor gelang es, in der frühen DDR-SF Fuß zu fassen: Kurt Herwarth Ball. Als fanatischer Anhänger des Nationalsozialismus verfaßte er in den 1930er Jahren mehrere Romane, die den »nordischen Geist« propagierten. Mit seinen »12 Thesen wider den undeutschen Geist« machte er Stimmung für die Bücherverbrennung. Nach dem Zweiten Weltkrieg paßte sich Ball an, wurde Mitglied der Blockpartei NDPD (Nationaldemokratische Partei Deutschlands), schrieb mehrere Romane über den Aufbau des Sozialismus und gemeinsam mit Lothar Weise mehrere SF-Hefterzählungen. Eine Zeitlang war der vormalige Nazi-Autor sogar Sekretär des Leipziger Schriftstellerverbands.

Der utopische Betriebsroman

Vor Tureks Roman Die goldene Kugel – in der unmittelbaren Nachkriegszeit – wurden, abgesehen von einigen wenigen Werken sowjetischer Autoren wie Iwan Jefremow, die im SWA-Verlag[10] erschienen, in der sowjetischen Besatzungszone kaum Bücher verlegt, die der SF zuzuordnen wären. Und bei den wenigen Ausnahmen handelt es sich um technisch-utopische Abenteuererzählungen für Jugendliche. Diese Art von Erzählungen blieb auch fortan Bestandteil der DDR-SF.

Erst im Jahr 1952 erschienen wieder zwei einschlägige SF-Titel. Arthur Bagemühls Jugendbuch Das Weltraumschiff schildert aus der Perspektive eines Jungen Pioniers[11] den Flug mit einem atomgetriebenen Weltraumschiff, das sein Vater, Professor an einem »Atominstitut«, konstruiert hat. Als der Assistent des Professors ausfällt, darf der Sohn am Probeflug zum Saturn teilnehmen. Doch das Raumschiff stürzt über dem Nordiran ab. Amerikanische und englische Spione wollen sich der überlegenen Technik bemächtigen, persische Nomaden helfen, so kommt alles zu einem guten Ende. Drei Jahre später erschien dann noch eine gekürzte Fassung in Gestalt zweier »Bären-Lesehefte«. Der zweite einschlägige Roman des Jahres 1952, Klaus Kunkels Heißes Metall, ist eher ein Kriminal- und Spionageroman als SF, trägt aber bereits Charakteristika des utopischen Betriebsromans.

Mit sieben der insgesamt elf in den 1950er Jahren publizierten SF-Romane bestimmte diese Spielart das Bild der frühen DDR-SF. Der utopische Betriebsroman übernahm einerseits von der sozialistischen Gegenwartsliteratur der Aufbaujahre die Fixierung auf die Arbeitswelt, ebenso die Helden- und Konfliktgestaltung, knüpfte aber andererseits auch an die Traditionslinie der technisch-utopischen Zukunftsromane an. Daher kombinieren sich in ihm zeittypische Themen: der Wiederaufbau nach dem Krieg, der Systemkonflikt mit den imperialistischen Störversuchen, Nutzung der Atomkraft und anderer neuer Techniken. Politisch und auch technisch sind diese Bücher relativ nah an der Gegenwart angesiedelt. Die Autoren hatten durchweg einen naturwissenschaftlich-technischen Hintergrund: H. L. Fahlberg (Pseudonym von Hans Werner Fricke) und Eberhard del’Antonio hatten eine Ausbildung als Ingenieur genossen, Heinz Vieweg war Diplomphysiker. Ihre Stärke war es, wissenschaftliche oder technische Fragen populär darzulegen, bei den Charakteren und der Handlung hielten sie sich, positiv ausgedrückt, an die etablierten Konventionen des Genres.

Schauplatz der utopischen Betriebsromane ist zumeist ein Forschungsinstitut oder die Forschungseinrichtung eines Betriebes, wahlweise auch in einem befreundeten Land der Dritten Welt. Die Handlung dreht sich um aufregende Experimente und um die aufreibende Entwicklungsarbeit des Kollektivs, meist geleitet von einem genialen, bisweilen etwas weltfremden Erfinder. Als Spannungsmoment dient neben technischen Problemen die Störtätigkeit imperialistischer Spione und Diversanten. In Heißes Metall kommen diese aus dem »Agentennest« Westberlin und versuchen, dem ostdeutschen Professor seine Erfindung abzujagen. Selbstverständlich werden die finsteren Machenschaften der Bösewichter aus dem Westen zum Schluß vereitelt.

In Heinz Viewegs vielfach nachaufgelegtem Roman Ultrasymet bleibt geheim (1955) wird der Schauplatz in ein künftiges, von französischer Fremdherrschaft befreites Algerien verlegt. Die technische Utopie – die Produktion des synthetischen Wunder-Werkstoffs Ultrasymet aus einem in der Sahara vorhandenen Rohstoff – ist bei Vieweg Anlaß für eine rasante Abenteuer- und Spionagehandlung. Die kapitalistischen Stahlkonzerne versuchen mit allen Mitteln, die potentielle Konkurrenz auszuschalten, und stacheln sogar einen nationalistischen Aufstand an.

Eine geradezu globale Dimension erhält der utopische Betriebsroman in zwei Büchern: H. L. Fahlbergs Erde ohne Nacht (1956) und Viewegs Die zweite Sonne (1958). In diesen Romanen sorgen, wie die Titel verraten, ein atomar entzündeter Mond bzw. eine künstliche, über der Arktis schwebende Mini-Sonne für mehr Licht und Wärme im hohen Norden, also für mehr urbares Land und besseres Pflanzenwachstum. Ein Hoheslied auf den (sozialistischen) Menschen, der die Erde umgestaltet und die Nacht in Tag verwandelt!

Auch im utopischen Kinderbuch werden die großartigen Perspektiven der Technik auf einer geeinten Erde vorgeführt, so beispielsweise in Werner Benders Messeabenteuer 1999 (1956). Ein Münchner und ein Leipziger Junge kommen darin als einzige dem Geheimnis von Blasius auf die Spur, einem Mann, der schneller rennt als der Weltrekordler, besser Schach spielt als der beste Schachspieler – und außerdem an zwei Orten gleichzeitig auftritt. Quer über das Leipziger Messegelände mit seinen technisch weit fortgeschrittenen Exponaten geht die Suchjagd, bis die Freunde endlich die beiden Experimentalroboter stellen. Das Buch erhielt einen Preis des Ministeriums für Volksbildung und wurde zwei Jahrzehnte später von der DEFA in Kooperation mit den tschechischen Barrandov-Studios verfilmt, allerdings ohne den Charme der Vorlage auch nur näherungsweise zu erreichen (Abenteuer mit Blasius, 1975).

Als vielleicht überzeugendster utopischer Betriebsroman ist Eberhard del’Antonios Gigantum (1957) einzuschätzen, ein Roman, der Realitätsnähe mit zahlreichen technischen Neuerungen und die übliche Spionage- und Liebeshandlung mit einem breiteren Panorama der Zukunftsgesellschaft verbindet. Einschienenbahnen von Paris nach Moskau, superschnelle Automobile, neue Werkstoffe und der neue Treibstoff Gigantum (ein nicht radioaktives Transuran), Übersetzungscomputer, Wetterkontrolle, die »Raketa-Werke Dresden«, der Kampf der Ingenieure um die Verwirklichung ihrer Neuerungen, ein längst wiedervereinigtes, sozialistisches Deutschland (um 1980!) – das alles fügt sich in eine begeisternde Zukunftsvision vom wissenschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritt. Und typischerweise komplettieren im Anhang populärwissenschaftliche Begriffserläuterungen den Roman.

Auch in den sechziger Jahren erschienen noch utopische Betriebsromane, die jedoch wie del’Antonios Projekt Sahara (1962) immer weniger überzeugen konnten und trotz der grandiosen Dimension der Vorhaben, etwa der Bewässerung der Sahara, sich immer mehr im Grau des Betriebsalltags verloren.

Illustration zu Eberhard del’Antonios Gigantum

[10] Der SWA-Verlag war der Verlag der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland.

[11] Als politische Massenorganisation für Kinder war die »Pionierorganisation Ernst Thälmann« bereits im Jahr 1948 als ein Ableger der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) gegründet worden. Ihr Ziel war es, die Kinder an den Staat zu binden und im Sinne der herrschenden Ideologie zu beeinflussen.

Aufbruch in den Weltraum

Am 4. Oktober 1957 startete die Sowjetunion Sputnik I. Der erste künstliche Erdtrabant wurde von einer Welle öffentlicher Begeisterung und überschwenglicher Propaganda begleitet, die immer wieder die Überlegenheit der sowjetischen Wissenschaft herausstrich. Sputnik I gab auch den Startschuß für einen allgemeinen Aufbruch der DDR-SF in den Weltraum. Einen »allgemeinen« wohlbemerkt, denn schon vorher hatte Bagemühl Das Weltraumschiff (1952) veröffentlicht, und 1956 debütierte Günther Krupkat mit sowohl einer Erzählung als auch einem Roman mit Weltraumthematik.

Günther Krupkat ist der in unseren Augen interessanteste Autor der frühen DDR-SF.[12]