Erkundungen - Angela Steinmüller - E-Book

Erkundungen E-Book

Angela Steinmüller

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Beschreibung

Der zweite Essayband in der Steinmüller-Werkausgabe präsentiert nach einem Vorwort der Autoren zehn Essays und Artikel, die jeweils ein Thema oder einen Topos der Science Fiction erkunden, darunter Atlantis, Nanotechnologie, Alternativgeschichte, Sprachutopien und Weltuntergänge. Zwei dieser Beiträge, künftigen Modifikationen des Menschen und außerirdischen Lebensformen gewidmet, kommen als ausführliche Rezension nicht existierender Bücher daher; noch stärker ausgeprägt ist der spielerisch-belletristische Ansatz im letzten, elften Essay des Bandes, in dem unsere Enkel auf typische Motive der alten (also unserer) SF zurückblicken. Alle elf Essays, erstmals in den Jahren 1999 bis 2020 ver­öffentlicht, wurden für die Werkausgabe überarbeitet, ­einige auch stark erweitert.

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Seitenzahl: 276

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Angela und Karlheinz Steinmüller

Erkundungen

Essays zu Welten

der Science Fiction

Angela und Karlheinz Steinmüller

Werke in Einzelausgaben. Essays Band 2

Herausgegeben von

Erik Simon

Impressum

Angela und Karlheinz Steinmüller: Erkundungen

Essays zu Welten der Science Fiction

(Werke in Einzelausgaben. Essays Band 2)

Herausgegeben von Erik Simon

Titelbild: Ausschnitt aus einer Illustration von Stanley L. Wood, 1900

Originalausgabe

Erste Auflage 2022

© 2006, 2010, 2022 Angela & Karlheinz Steinmüller (für »Totes Leben«,

»Mars – ein Sehnsuchtsort« und das Vorwort)

© 1999–2020, 2022 Karlheinz Steinmüller (für die übrigen Essays)

Die Daten der Erstpublikationen sind der »Publikationsgeschichte«

am Ende des Bandes zu entnehmen.

© 2022 Erik Simon und Memoranda Verlag (für die Zusammenstellung dieser Ausgabe)

© dieser Ausgabe 2022 by Memoranda Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Erik Simon

Korrektur: Christian W. Winkelmann

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-70-0 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-71-7 (E-Book)

Inhalt

Impressum

Inhalt

Erkundungen in Fiktionesien

Vorwort

Ferne Welten – fremde Welten

Eine Betrachtung

Mars – ein Sehnsuchtsort

Atlantis muß untergehen!

Zwischen Implosion und Explosion

Gedanken zu Demographie und Science Fiction

Totes Leben

Ein Rückblick auf Nanotechnologie-Visionen in der Science Fiction

Spiele mit der Geschichte

Gedankenexperimente in Science Fiction, Zukunftsforschung und Geschichtswissenschaft

Von Babel zum Babelfisch

Notizen zu Sprachutopien

Geistlose Monstrositäten

Kritische Betrachtungen über ein neues Buch zur Zukunft des Menschen

Alien Animals

Eine Geschichte der extraterrestrischen Fauna

Corona und ihre Schwestern

Über Weltenden und andere Katastrophen

Die Geschichte der Zukunft

Was sich in den Internet-Archiven unserer Enkel über die Science-Fiction-Literatur findet

Publikationsgeschichte

Abbildungsverzeichnis

Bücher bei MEMORANDA

Erkundungen in Fiktionesien

Vorwort

Wer sich mit der Geschichte der Science Fiction befaßt, befindet sich auf einer permanenten Entdeckungsreise. Manchmal stößt man dabei auf spannende Kleinigkeiten: Schau an, schon vor H. G. Wells’ Zeitmaschine gab es ein Zeitreisevehikel! Hier: Sprachutopisten schaffen »mein« und »dein« ab! Bisweilen führen die Pfade in ausgedehnte Gegenden mit bizarren Bestien, verqueren Einwohnern, absonderlichen Sitten – wild wuchert überall die Phantasie, und dann stolpert man unerwartet über eine veritable Weltuntergangsmaschine. Zugegeben, solche Geräte gibt es auch hier in unserer Heimat, die Realität heißt.

Dort aber in Fiktionesien treffen wir immer wieder auf verrückte Erfinder, die sich verkleinern lassen, um Bazillen mit Schwertern zu bekämpfen; wir geraten plötzlich in einen historischen Zeitstrom, in dem das Römische Reich nicht untergegangen ist – oder zumindest nicht so, wie wir denken. Und dann strahlt auf einmal vor uns Atlantis, längst versunken und verloren, doch bereit, immer wieder neu aufzutauchen.

Wir müssen bekennen: Ein wenig schwingt Nostalgie bei unseren Erkundungstouren kreuz und quer durch Fiktionesien mit, Nostalgie nach früheren, atemberaubenden Entdeckungen, auch nach einem Goldenen Zeitalter der SF, das es doch so nie gab. Längst verflossene Zukunftsvisionen haben erstaunlich oft bis heute ihren Glanz behalten, Schreckvisionen von erdachten und doch irgendwo realen Katastrophen berühren uns noch heute. Auf unseren Touren weichen wir CliFi, Solarpunk und KI-Fiktionen aus, da treiben sich einfach zu viele Forscher:innen herum. Wir warten einfach ab, bis auch diese Themen einmal in die Nostalgie-Sedimente hinabgesunken sein werden. Aus der Distanz erst zeigt sich, was Charme hat, was bleibt.

Science Fiction ist ein privilegierter Zugang zu den Visionen, den Hoffnungen und Ängsten, den Erwartungen und Spekulationen früherer Epochen. So hatte jedes Zeitalter das Atlantis, das zu ihm paßt, die Sprachutopien, die ihm entsprechen, die Ängste vor Volkstod oder Überbevölkerung, die gerade politisch opportun waren. Privilegiert ist dieser Zugang schon deshalb, weil SF, wo sie überzeugt, wo sie den Nerv trifft, überlebt – im Gegensatz zu anderen Quellen. In der Regel sind Sachbücher über die Zukunft, futurologische Artikel oder auch Zukunftsvisionen in Journalen und TV-Dokumentationen heute – meist zu Recht! – vergessen. Eben Zeitung von gestern, vergilbt, brüchig und oft ziemlich schrullig. Wo frühere Visionen aber Eingang in packende SF-Werke gefunden haben, sind sie noch heute lebendig. Das Sachbuch über die Bevölkerungsbombe wird (trotz grundsätzlich bleibender Aktualität) nicht mehr gelesen, den Film – und den Begriff! – Soylent Green aber kennt immerhin noch eine ganze Generation von SF-Fans, und den Zufallszuschauer fesselt die düstere Vision und gibt Anlaß zu perversen Gedankenspielen: Sind Nahrungsmittel aus rezyklierten Veganer-Leichen eigentlich vegan oder nicht?

Mit dem Band Erkundungen setzen wir die Streifzüge unseres ersten Essaybands mit anderen Schwerpunkten fort. Während wir in Band 1 in grober chronologischer Ordnung durch die Epochen der SF gewandert sind, greifen wir hier eine breite Vielfalt von Themenpfaden heraus und folgen diesen bald eher systematisch, bald eher chronologisch. Stets sind wir bei unserer Entdeckungstour auf der Suche nach literarischen Abstammungslinien, nach Zusammenhängen, Ursprüngen und nach dem gesellschaftlichen Zukunftsdenken, das sich in der SF ausdrückt.

Wie im Band Streifzüge haben wir die älteren Texte – manche gehen zurück bis auf das Jahr 1999 – redaktionell durchgesehen, gegebenenfalls ergänzt, die Zitierweisen angeglichen und möglichst einfach gehalten. So werden jetzt in deutscher Übersetzung vorliegende Werke mit deutschem Titel erwähnt, aber mit dem Jahr der Originalpublikation. Fußnoten wollten und konnten wir nicht vermeiden, zu viele Randbemerkungen gab es anzubringen. Und wie schon beim Band Streifzüge hat die Suche nach sinnfälligen Illustrationen viel Mühe und manche Freude bereitet. Diese Suche war eine Forschungsreise eigener Art – mit der ständigen Gefahr, im Ozean der Bilder zu versinken.

Bei der Überarbeitung und generell bei der Konzipierung und Vorbereitung des Bands hat uns wie immer Erik Simon maßgeblich unterstützt; unser Dank gilt aber ebenso Hardy Kettlitz, der unsere Werkausgabe nicht nur verlegt, sondern uns auch zu weiteren Bänden ermutigt.

Fiktionesien, das Land der Science Fiction, ist nicht einfach ein fernes utopisches Eiland, sondern ein unüberschaubar vielfältiger Archipel mit zerklüfteten Phantasie-Inseln, die noch manche Erkundungstour wert sind.

Angela & Karlheinz Steinmüller

Ferne Welten – fremde Welten

Eine Betrachtung

To boldly go where no man has gone before.

In Harry Harrisons Erzählung »Begegnung in der Unendlichkeit« (1964) haben irgendwann in einer ziemlich fernen Zukunft Abkömmlinge der Menschheit die Milchstraße halb umrundet. Jetzt, auf der anderen Seite der Galaxis, treffen sie auf fremdartige Wesen, die aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Schließlich gelingt es ihnen, eine Verständigungsbasis herzustellen. DNS-Analysen zeigen: Auch die fremdartigen Anderen stammen vom Homo sapiens ab. In kosmischer Distanz trifft der Mensch sich selbst.

Die Science Fiction spielt mit großen Dimensionen. Ferne Welten sollten schon wirklich weit, weit weg sein. Genügte vor hundert Jahren noch das Sonnensystem, so sind spätestens seit Star Trek ferne Sternsysteme gefragt oder, wie es der deutsche Vorspanntext zur Serie kräftig übertreibend formuliert, »Galaxien, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat«. Man darf allerdings nicht genauer überlegen, wie viele Lichtjahre fremde Galaxien wirklich von unserer entfernt sind – nämlich Millionen – und daß sie bestimmt schon einmal von einem Astronomen durch ein Teleskop betrachtet worden sind.

Fakt ist: Ferne Welten faszinieren. Schon immer wollten Menschen wissen, was hinter dem Horizont liegt. Ein Trieb noch aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte läßt uns die Welt erkunden und erzeugt wundersame Geschichten von den Ländern jenseits des großen Meeres, jenseits des Sternenabgrunds. Allzuoft allerdings findet man hinter dem Horizont dieselbe Landschaft mit denselben Leuten und denselben Problemen wieder. Wo beginnt die wirkliche Ferne?

Cover des SF-­Magazins Galaxy zu H. Harrisons Story »Begegnung in der Unendlichkeit«

Wir sind gewohnt, Entfernungen in Kilometern oder eben Lichtjahren zu messen, ablesbar in Zentimetern auf der Land- oder Sternkarte. Seit der Eisenbahn und dem Flugzeug auf der Erde, seit dem Warpantrieb im All hat die reine physische Distanz an Bedeutung verloren. »Die Eisenbahn vernichtet den Raum«, hieß es in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im praktischen täglichen Leben geht es um Erreichbarkeit: Wie lange brauche ich, um von A nach B zu gelangen? Die Reisezeit wird zum Entfernungsmaß. Wo vor zwei, drei Generationen noch die nächste größere Stadt in der Ferne liegen konnte, Reisezeit ein Tag und mehr, gehört heute ganz Europa – mit Ausnahme verkehrsungünstiger Ecken oder an Streiktagen oder in Pandemien – zu unserer näheren Nachbarschaft. Und nicht einmal mehr die Pazifikinseln betrachten wir heute als ferne Welten.

An der SF läßt sich die Schrumpfung der Distanzen recht genau beobachten: Lukian reiste in seiner Wahrhaftigen Geschichte in die Reiche der Mond- und Sonnenkönige. Lange Zeit blieb der Erdtrabant das Sehnsuchtsziel, Johannes Kepler träumte von einem Besuch auf dem Mond, Francis Godwin schickte seinen Domingo Gonzales dorthin, Cyrano de Bergerac malte Mondreiche und Sonnenstaaten aus – und das waren damals exotische Welten mit schrulligen Einwohnern, die merkwürdigen Philosophien folgten, bizarre Sitten an den Tag legten, sich anders – und oft unziemlich! – verhielten. Ab und zu mischte sich freilich ein Komödiant unter die Phantasiereisenden und behauptete wie Nolant de Fatouville in seiner Komödie Arlequin Empereur dans la Lune (1694) [»Harlekin, Kaiser im Mond«, nicht übersetzt]: »C’est tout comme chez nous.« – Das ist alles wie bei uns zu Haus.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beschränkte sich der Blick auf Himmelskörper innerhalb unseres Sonnensystems; andere Sternsysteme bildeten eine seltene Ausnahme. Nach dem Mond geriet ab 1877 mit Schiaparellis Beobachtung von vermeintlichen Marskanälen der Rote Planet ins Fadenkreuz der Astronomen und der SF-Autoren. Der Mars wurde zum Inbegriff einer anderen Erde: ethisch fortgeschritten bei Laßwitz, pazifistisch im Film Das Himmelsschiff (1917), gealtert und doch revolutionsbedürftig bei Tolstoi, bevölkert von Blutsaugern bei Gustave Le Rouge, technologisch überlegen und invasionslüstern bei Wells und exotisch-bunt bei Burroughs. Zum Schluß bleibt wie bei Bradbury die nostalgische Erinnerung an frühere Epochen, als die ferne Welt wirklich noch hinter dem Horizont lag und nicht Teil des Menschenreichs war.[1]

Mit den SF-Magazinen der 1920er und 1930er Jahre verschob sich die Grenze immer weiter hinaus. Auch der unwirtlichste Planet, der unbedeutendste Mond, selbst der letzte Asteroid wurde eingemeindet.

Autoren wie Stanley G. Weinbaum eroberten für ihre Leser bald das gesamte Sonnensystem, andere schickten wie E. E. »Doc« Smith ihre Helden bereits auf galaktische Patrouille. Die Space Opera wurde geboren.

Zur räumlichen Distanz gesellte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert die zeitliche. Enrique Gaspar y Rimbau beschrieb 1887 wohl als erster eine Zeitmaschine. In dem Roman El Anacronópete[2] geht es im Stil eines wendungsreichen Lustspiels bis ins China der Han-Dynastie, zum Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 und zur Sintflut. Das Anacronópete – »Das zurück durch die Zeit fliegt« – ist ein riesiges, zweietagiges, elektrisch angetriebenes Zeitschiff. 1888 folgte die Kurzgeschichte »Die Argonauten der Zeit« von H. G. Wells, in der bereits ein Abstecher in die Zukunft erwähnt wird. Die eigentliche Zeitreise in die Zukunft findet jedoch erst 1895 im Roman Die Zeitmaschine statt. Während Gaspars Anacronópete zurück bis zum Anfang der Zeit, dem Tag der Schöpfung, fliegt, gelangt Wells’ Zeitreisender bis zum Erlöschen des Lebens auf der Erde. Zahllose SF-Helden sind seither zu den Vormenschen und den Dinosauriern, zu unseren fernen Nachfahren oder postapokalyptischen Erden aufgebrochen – mit viktorianisch bequemen Zeitmaschinen, mit Zeitfahrrädern, mit Zeitschiffen, mit der TARDIS und vielen anderen Zeit-Vehikeln. Unser eigener Planet in immer früheren oder späteren Epochen ist nun die ferne Welt, erreichbar durch Imagination und Zeitmaschinen. Welche Spanne man abschreiten kann, zeigte 1930 Olaf Stapledon in Die letzten und die ersten Menschen: Menschheiten kommen und vergehen, der Mensch verläßt die Erde, verändert sich biologisch und sozial, Jahrmillionen verstreichen, selbst die Gestalt des Sonnensystems wandelt sich.[3]

Darstellung des Zeitschiffs Anacronópete (im Kreis) auf Gaspars Novellensammlung von 1887

Allein die Dimension, Millionen Lichtjahre hier, Millionen oder gar Milliarden Jahre da, erzeugt nicht mehr den Eindruck wirklicher Distanz. Eine Million, eine Milliarde ist nur eine Zahl mit vielen Nullen, abzulesen an dem sich schnell drehenden Jahreszähler der Zeitmaschine. Ferne Welten sind dann tatsächlich fern, wenn sie fremde Welten sind, andere, exotische, irgendwie verrückte, vielleicht völlig unverständliche Welten, nicht unbedingt physisch unerreichbare Welten, wohl aber unerreichbar für den Menschengeist. – Doch besteht nicht gerade das Prinzip der Science Fiction darin, das, was sich vormals unserer Vorstellungskraft entzog, zu erfassen und zu erschließen?

Nach Darko Suvin zielt die Science Fiction auf eine erkenntnisorientierte Verfremdung ab. Nun wohl, nicht alle SF ist erkenntnisorientiert … SF ist, so Suvin, durch eine Abweichung von der empirisch gegebenen Welt, der Null-Welt, gekennzeichnet, ein »Novum« unterscheidet sie von dem, was wir erleben und kennen oder wenigstens zu kennen meinen.

Wenn wir die Ferne, die Distanz nicht schlicht physikalisch in Kilometern und Jahren messen wollen, bietet sich dann nicht die Größe der Abweichung, die Stärke der Deviation als Maß für die Fremdheit an? Wie viele »Nova« führt ein Autor ein, um seine Geschichte zu erzählen? – Wenn es denn so einfach wäre! SF-Ideen zu zählen, mag bei Storys über einen unsichtbaren Menschen noch einigermaßen funktionieren, bei Erzählungen um die Klonierung von Neandertalern oder andere Innovationen wohl kaum noch. Spätestens bei der Schilderung einer fremdartigen Gesellschaft setzt ein zentrales Novum weitere Annahmen voraus, ohne die das Novum überhaupt nicht funktionieren würde: Eine Welt ohne Geld braucht ein anderes Tauschsystem, für einen Sieg der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg wäre wohl mehr als nur eine effektive deutsche Luftflotte nötig gewesen. »Was wäre, wenn?« ist eine so fruchtbare wie anspruchsvolle Fragestellung, für die »aus A folgt B« nicht mehr genügt.

Charles Renouvier, der Erfinder der Alternativgeschichte oder Uchronie, schrieb davon, daß eine Veränderung im Geschichtsverlauf, das Drehen an einer historischen Stellschraube in der Regel andere, korrelierte Eingriffe erfordert, um überhaupt ein plausibles Geschichtsganzes zu ergeben – und dann einen Rattenschwanz von Folgen und Folgen von Folgen etc. nach sich zieht. Die an einem Ende verdrehte Historie erzeugt eine abgedrehte Gegenwart.[4]

Die fernen, fremden Welten liegen oft nur einen Schritt quer in der Zeit, wie die Sliders aus der TV-Serie kann man in sie hineinrutschen oder sich mit Baxter und Pratchett auf Entdeckungsreise durch unendlich viele Parallelerden begeben (Die lange Erde, 2012). Von der räumlichen und zeitlichen Distanz sind wir nun zu den Parallelgegenwarten gelangt. Irgendwann tief in der Vergangenheit müssen sie sich von unserer Zeitlinie abgespalten haben. Und dann noch einmal gespalten und wieder gespalten, Bifurkation jagt Bifurkation. – Wenn wir der Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie Glauben schenken wollen, dann werden alle Quanten-Möglichkeiten zugleich realisiert, in jedem Augenblick spalten sich die Universen auf quintillionenfache Weise auf. Eine beunruhigende, gruslige Vorstellung! Wer bin ich, wenn es mich in so unendlich vielen Varianten gibt?

Ein Soziologe mag dagegenhalten, daß wir ja noch nicht einmal in derselben wahrgenommenen Gegenwart leben. Jeder besitzt eine eigene Perspektive, und die subjektiven Gegenwarten unterscheiden sich nun einmal. Der Philosoph Wittgenstein hat in seinem Tractatus logico-philosophicus einmal formuliert: »Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.« [Wittgenstein, S. 11] Aber was sind Fakten heutzutage noch – im postfaktischen Zeitalter? Neben die einst so mächtige Tatsache sind alternative Fakten getreten, und das nicht nur in der alternativgeschichtlichen SF!

Frei nach Wittgenstein könnten wir also den Abstand zweier Welten als die Anzahl der Fakten, in denen sie sich unterscheiden, definieren. Um es ironisch auf die Spitze zu treiben: Der Abstand zweier Gegenwarten ist die Anzahl der nicht geteilten Fakes.

Aber Fakt ist nicht gleich Fakt, und nicht einmal die Fakes stehen alle auf derselben Stufe: Banale Übertreibungen, ausgemachte Lügen, ehrliche Irrtümer, gezielte Propaganda, hanebüchenes Seemannsgarn, man sollte da schon unterscheiden. Rechts und links von unserer Welt liegen Lügenwelten und Irrtumswelten und einfach bizarre und verrückte Welten!

Gerade für die Science Fiction könnte sich eine Hierarchie der (Un-) Möglichkeiten als brauchbarer Ersatz für ein besseres Abstandsmaß erweisen. Auch die Zukunftsforschung unterscheidet dreierlei: erstens all das, was wir als Zukunft erwarten und für wahrscheinlich halten, zweitens all diejenigen Zukünfte, die nicht gerade wahrscheinlich, aber zumindest einigermaßen plausibel möglich sind, und drittens die extremen, gerade noch irgendwie erlaubten Möglichkeiten – im Unterschied zu all den in sich unmöglichen oder richtiggehend lächerlichen Vorstellungen über die Zukunft. Doch Vorsicht! Oft genug realisieren sich gerade letztere.

Versuchen wir einmal, Stufen der Abweichung von der Realität, der Unmöglichkeit zu beschreiben. Die Grenzen sind dabei freilich fließend. Stufe 0 besteht in kleinen, alltäglichen Änderungen, wie sie jeder Schriftsteller vornimmt: Man erfindet Personen, die es in der Realität nicht gibt, und schildert Ereignisse aus ihrem Leben, die sehr wohl hätten passieren können, aber doch nie passiert sind. Alle Literatur bewegt sich mindestens auf dieser Ebene der Abweichung von der Null-Welt.[5]

Stufe 1 beherbergt das sozial und ökonomisch Unmögliche: Geschehnisse, die in unserer Null-Welt nicht plausibel sind, weil sie den Mechanismen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems und letztlich unserem Menschenbild widersprechen. Etwa wenn es keine Verbrechen mehr gibt, alle Menschen sich gegenseitig respektieren und achten und das Gemeinwohl im Sinne haben, oder wenn Flughäfen in Deutschland rechtzeitig fertig werden und im Kostenrahmen bleiben. Plausibilität ist ein weites Feld, schon weil das, was für den einen plausibel klingt, ein anderer für absurd halten mag. Die Satire spielt mit Plausibilitäten und zeigt, wie brüchig sie im Grunde sind.

Stufe 2 beinhaltet das technisch Unmögliche. Das fängt schon bei ungeheuer leistungsfähigen Superbatterien für die Mobilität der Zukunft an und endet bei Mondkanonen à la Jules Verne oder bei Orbitallifts. Nach heutigem Kenntnisstand gibt es eben leider kein Material, das es erlauben würde, solche Lifts zu errichten. – Wohlgemerkt: nach heutigem Kenntnisstand. Innovationen können hier die Grenzen immer weiter hinausschieben; was gestern noch technisch unmöglich war, kann morgen gängige Praxis sein. Oder eben nicht. Die Zuordnung zu den Stufen 1 und 2 kann sich mit der Zeit – mit Veränderungen in der Null-Welt! – ebenfalls ändern.

Stufe 3 umschließt das naturgesetzlich Unmögliche. Das rein physikalisch Verbotene läßt sich hier noch einigermaßen leicht bestimmen: ein Perpetuum mobile, Reisen schneller als Licht, Zeitreisen. Doch was ist biologisch unmöglich? Die naheliegenden Beispiele klingen, als entstammten sie Stufe 1: Ein Garten Eden, in dem Löwen und Lämmer friedlich nebeneinander lagern, also keine heterotrophe Ernährung stattfindet – sagen wir: das Gesetz von Fressen und Gefressenwerden nicht gilt. Oder eine Welt, in der fruchtbarer Sex über Artgrenzen hinweg die Regel ist.

In anderen Universen mit einer anderen Physik mag manches, das in unserem ausgeschlossen ist, realisiert sein; das wären für uns schon deutlich fremde, fremdartige Welten, so wie ja für uns Bewohner der makroskopischen Welt schon die Welt der Quanten mit ihrem Welle-Teilchen-Dualismus, mit Unschärferelation und Verschränkung sehr befremdlich ist. Ob in einem andersartigen Universum überhaupt ein Erzählen möglich ist, mag dahingestellt bleiben, etwa wenn dort Zeit nicht so gerichtet und linear funktioniert wie hier. Doch mit dieser Überlegung sind wir eigentlich schon fast bei der nächsten Stufe angelangt.

Stufe 4 umfaßt das logisch Unmögliche, Pseudo-Tatsachen, die sich zwar aufschreiben und aussprechen lassen, aber wegen innerer Widersprüchlichkeit nie Realität sein können. Einfache, klassische Beispiele sind hölzernes Eisen und knallrotes Grün. Weiten wir diese Stufe aus, indem wir auch philosophisch Unmögliches einschließen, können wir die Zeitreisen hier einordnen und sie damit noch ein wenig »unmöglicher« machen als auf Stufe 3: Sie verletzen neben physikalischen Erhaltungssätzen auch das Kausalitätsprinzip mit seiner eindeutigen Abfolge von Ursache und Wirkung. Ähnliches gilt für die Bilokation – die Fähigkeit von Personen, wie der Heilige Antonius von Padua (oder wie die schon erwähnten Quanten) gleichzeitig an zwei Orten zu sein.

Bei der Frage nach der Distanz zu unserer Realität hilft die Hierarchie des Unmöglichen vielleicht weiter, nicht aber, wenn es um Fremdheit geht. Menschlich gesehen empfinden wir Fremdheit auf Stufe 1, wenn es sozial oder ökonomisch im landläufigen Sinne »unvorstellbar« wird. Interstellarflüge mit Warpantrieb (Stufe 3) nehmen wir hin, maximal mit einem leichten Achselzucken, aber eine Gesellschaft, in der man beim Bezahlen stets mehr Geld herausbekommt, als man hingibt, die wäre nun wirklich echt befremdlich.

Da mag man über Universen spekulieren, in denen andere physikalische Gesetze gelten, das scheint unter Kosmologen heute geradezu die Mode zu sein, aber wirklich literarisch fruchtbar geworden sind dergleichen Spekulationen bislang kaum. Es sei denn, man betrachtet Magie als Technik in einem Alternativuniversum mit anderen Naturgesetzen, wie es ab und zu in der Fantasy anklingt. Doch auch hier gilt: Die Fremdheit entsteht nicht durch Zaubersprüche und Drachenreiterei, die erzeugen allenfalls den Eindruck bunter Exotik, sondern dann, wenn sich die handelnden Personen nicht so verhalten, wie wir es von Menschen (oder von Elben, Trollen, Orks, Zombies, Zauberern usw. oder in der SF von Außerirdischen, Robotern, Klonen, Cyborgs …) erwarten, wenn sie sich in einer irgendwie verqueren Gesellschaft bewegen, wenn sie nicht nachvollziehbaren Sitten und Gebräuchen anhängen.

Für das »maximal Fremde« [Schetsche] fehlen uns die Wörter und Begriffe, ja, es wird sogar fragwürdig, ob man beispielsweise bei maximal fremden Wesen überhaupt von Gesellschaft oder Individuen sprechen kann, ob nicht selbst diese grundlegenden Konzepte ihren Sinn verlieren, weil sie doch anthropomorph geprägt sind. Wenn die Aliens also – wie der Solaris-Ozean – wirkliche Aliens sind, ist folglich auch keine Verständigung möglich.

Fassen wir zusammen: Ferne zählt man in Reisetagen, Exotik wird durch die Kulissen erzeugt, aber Fremdheit? – Die wirklich fernen, weil fremden Welten liegen hinter dem Horizont unseres Weltbildes.

Literatur

Renouvier, Charles: Uchronie. L’utopie dans l’histoire. Paris: Fayard 1988 (Erstausgabe 1876) [meines Wissens ohne deutsche Übersetzung].

Schetsche, Michael: »Auge in Auge mit dem maximal Fremden? Kontaktszenarien aus soziologischer Sicht«, in: Schetsche, Michael / Engelbrecht, Martin (Hrsg.): Von Menschen und Außerirdischen. Transterrestrische Begegnungen im Spiegel der Kulturwissenschaft. Bielefeld: transcript 2008, S. 227–253.

Suvin, Darko: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.

Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984 (Erstausgabe 1921).

[1] Siehe dazu »Mars – ein Sehnsuchtsort« in diesem Band.

[2] Der Roman wurde meines Wissens nicht ins Deutsche übersetzt.

[3] Siehe zu Stapledon »Interplanetary Man« in Essays 1 Streifzüge.

[4] Siehe dazu »Spiele mit der Geschichte« in diesem Band.

[5] Diese Null-Welt, die wirkliche Welt, in der wir allesamt leben, ist ein eigen Ding. Jeder nimmt sie anders wahr. Hoffen wir nicht darauf, sie in Dokumentationen, Reportagen oder wissenschaftlichen Werken sozusagen 1 : 1 wiederzufinden! Oft bedarf es der literarischen Fiktion, um der Realität wenigstens nahe zu kommen.