Pure Desire - Zwischen uns - Mia Williams - E-Book

Pure Desire - Zwischen uns E-Book

Mia Williams

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Beschreibung

Manchmal muss man den Bad Boys zeigen, wo es lang geht… Fiona führt ein atemloses Leben zwischen Partys und bedeutungslosen Affären weit weg von ihrem Zuhause am Lake Tahoe - alles, um die schmerzhaften Erinnerungen an den Tod ihrer Eltern zu vergessen. Doch nun muss sie zurück an den See, um den American Diner ihrer Familie zu retten. Da ist ihr der heiße Bad Boy Evan eine willkommene Ablenkung, und die beiden stürzen sich in ein leidenschaftliches Abenteuer. Fi nimmt sich fest vor, dass es auf gar keinen Fall mehr werden darf. Denn eigentlich will sie doch bald wieder weg... Der zweite Band der unwiderstehlichen "Pure Desire"-Serie

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Seitenzahl: 330

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Mia Williams

Pure Desire – Zwischen uns

Band 2

FISCHER E-Books

Inhalt

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Epilog

Kapitel 1

Ich habe Truckee und die Interstate 80 vor gut einer halben Stunde hinter mir gelassen. Seitdem schüttelt mich die brüchige Fahrbahnoberfläche des Highway 267 durch. Ich rede mir ein, dass ich nur wegen des schlechten Untergrunds so sehr schleiche, dass die Tachonadel hysterisch an der Vierzig-Meilen-Marke kratzt. Dabei könnte der Pick-up, den ich mir am Flughafen von Sacramento geliehen habe, vermutlich sogar mit achtzig querfeldein ans Ufer des Lake Tahoe gelangen, ohne größeren Schaden zu nehmen.

Der Typ im Toyota hinter mir betätigt gerade zum gefühlt tausendsten Mal die Lichthupe, was ich mit einem Stinkefinger kommentiere, den ich ihm aus dem Fenster entgegenstrecke. Soll der Idiot doch vorbeifahren, wenn er es so verdammt eilig hat in sein Ferienhäuschen am See zu kommen.

Ich für meinen Teil würde lieber noch langsamer fahren, denn die Pinienwälder, die bis jetzt die Straße gesäumt haben, lichten sich bereits. Dabei bin ich alles andere als bereit für das, was mich dahinter erwartet – der See, Pinewood Meadows, meine Schwestern, mein Zuhause.

Liebevoll restaurierte Holzhäuschen säumen die Straße, als ich das Ortsschild von Kings Beach passiere. Ich halte den Wagen an der verwaisten Kreuzung, die den North Shore Boulevard mit dem North Lake Boulevard verbindet. Daneben liegt noch immer der alte Reifenhändler Sierra Tires.

Jake und ich haben nachts oft auf den aufgetürmten Reifenbergen gesessen, Marihuana geraucht und geredet. Ich glaube nicht, dass er Liz je etwas davon erzählt hat. Sie hätte uns beiden die Ohren langgezogen, und so gern Jake sie hat, so mochte er doch, dass dieser wenig anziehende Ort, der starke Geruch nach Gummi, Dreck und Gras allein uns gehörte.

Ich schließe für einen Moment die Augen, weil mich das Gefühlschaos in meinem Inneren fertigmacht. Jake ist nicht mehr hier. Meinetwegen. Ich sollte nicht hier sein. Fünf Jahre war ich fort, und der Grund dafür, dass ich nie vorhatte wiederzukommen, verknotet meine Eingeweide.

Meine Hände umklammern das Lenkrad, mein Herz rast, und mein Atem stolpert. Ich atme tief durch und fahre an, als die Ampel endlich auf Grün schaltet. Egal, wie sehr ich mir wünschte, mich den Erinnerungen an Mom und Dad und damit meiner Schuld nicht stellen zu müssen, ich kann nicht länger weglaufen. Meine Schwestern brauchen mich, sonst hätten sie mich niemals gebeten, meine Zelte in Frankreich abzubrechen und die Küche des Lakeshore Diners zu schmeißen, bis Hank, der alte Grummel, wieder auf dem Damm ist.

Er hat sich beim Segeln die Hüfte gebrochen, und die Prognose bei einem so alten Knochen liegt bei mindestens sechs Monaten Genesungszeit. Die wird er vermutlich damit verbringen, die hübschen Krankenschwestern des Rehazentrums in den Wahnsinn zu treiben, anstatt Burger zu braten.

Liz hat laut eigener Aussage rund eine Million Vorstellungsgespräche geführt, ohne auch nur einen einigermaßen vernünftigen Koch aufzutreiben, der im Budget des Diners liegt. Ich bin ihre letzte Hoffnung.

Ich lasse mich grundsätzlich nicht zu etwas breitschlagen, was ich partout nicht möchte. Wenn die Sehnsucht nach dem Lake Tahoe, meinen Schwestern, Pinewood Meadows und dem Diner nicht sowieso seit Monaten in meiner Brust gewütet hätte, hätte ich nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, Liz’ Bitte nachzukommen. Ich hätte einen meiner Kollegen empfohlen und mich weiter in Südfrankreich versteckt. Tatsache ist aber, dass neben all den schmerzhaften Gefühlen auch ein kitschiges Glücksgefühl in meiner Brust herumschwappt, als das erste Blau des Sees zwischen den Häusern hervorblitzt.

Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Mühsam schlucke ich sie hinunter. Wie von selbst biege ich direkt hinter der Transam-Tankstelle rechts ab, als wäre ich nur für einen Tag in Sacramento gewesen und nicht fünf Jahre auf einem anderen Kontinent.

Ich parke den Wagen auf dem ausladenden Parkplatz des Kings Beach. Der breite, goldgelbe Sandstrand, der dem Ort seinen Namen gegeben hat, liegt verlassen vor mir. Die Sommersaison ist fast vorüber, die Temperaturen bereits kühl, und der Wind tut sein Übriges, um die Sonnenanbeter vom Strand zu verjagen. Der Herbst ist schon immer meine liebste Jahreszeit gewesen. Ich mag den Wind, die Einsamkeit des Sees zwischen den beiden Hauptsaisons, wenn alle durchatmen. Sogar der Lake Tahoe selbst, mit seinen piniengesäumten Ufern und kleinen, verlassenen Buchten.

Ich öffne die Autotür. Sofort packt der Herbstwind meine dunklen Locken und verwirbelt sie vor meinem Gesicht. Ich lächle, weil sich alles so vertraut, so sehr nach Heimat anfühlt, die ich längst auf die Liste verlorener Dinge gesetzt hatte.

Tief atme ich den Geruch nach Zedernholz, Pinien und Wasser ein, während ich bis ans Ufer schlendere. Ich setze mich nah ans Wasser. Die Kühle des Sandes dringt durch den Stoff meiner Jeans, aber ich beachte sie gar nicht. Ich sehe über den See, lasse meine Augen über das weitentfernte Westufer gleiten, konzentriere mich auf die seichten Wellen, die am Strand lecken.

Erst als ich bereits am ganzen Körper zittere, stehe ich auf und kehre zum Wagen zurück. Die Sonne ist hinter den Bergen verschwunden, und die einsetzende Dämmerung legt Stille über den See und Ruhe in mein Gefühlschaos. Ich fühle mich so bereit, wie man eben sein kann, mich Pinewood Meadows zu stellen. Liz, die Mom so sehr ähnelt, dass ich sie liebe und gleichzeitig dafür hasse. Hazel und Grace, die mich mit ihrem verdammten siebten Zwillings-Sinn in den Wahnsinn treiben, und Amber, meine süße, kleine, widerborstige Schwester, die ich verloren habe, weil ich gegangen bin.

Ich starte den Motor, weil ich lieber nicht über Amber nachdenken will, die mir so ähnlich ist, dass ich mir verteufelt gut vorstellen kann, wie sie auf meine Rückkehr reagieren wird. Auf den Menschen, der ihr am nahesten stand, der sie einfach und ohne ein Wort verlassen hat und nie wiedergekehrt ist. Bis jetzt. Denn mich trennen nur noch etwas mehr als zwanzig Meilen von Pinewood Meadows, meiner verrückten, kleinen, starrköpfigen Schwester und dem Rest meiner Familie.

---

Es ist Dienstag. Während der Saison hat der Diner nur mittwochsvormittags geschlossen, aber zwischen der Sommer- und der Wintersaison machen wir den Diner an diesem Wochentag komplett zu. Das war schon immer so. Und meine vor Jahren neu eingeführte Tradition der Dienstags-Caipirinha-Abende scheint von meinen Schwestern sehr gewissenhaft fortgeführt und ausgeweitet worden zu sein.

Schon auf der Zufahrtsstraße nach Pinewood Meadows höre ich die typischen Partygeräusche – leises Stimmengewirr, das von der Terrasse den leicht ansteigenden Weg hinaufweht. Gelächter, das sich mit Countrymusik mischt. Und ich nehme den Geruch nach frisch Gegrilltem wahr.

Auf dem Parkplatz vor dem Haus steht nicht nur unser altersschwacher Buick, sondern auch ein bulliger Pick-up, ein unverschämt teuer aussehender Mercedes Sportwagen, einige andere Autos und Gretas knatschgelber Daihatsu Sirion. Ich kann nicht glauben, dass sie das hässliche Ding noch immer nicht verkauft hat. Dafür zieren noch mehr Blumenaufkleber als vor fünf Jahren den ausgeblichenen Lack der Reisschüssel. Ich bin allerdings nicht sicher, ob das eine Verbesserung darstellt.

Für einen Moment zögere ich. Ich bin normalerweise nicht der Typ, der eine so emotionale Sache wie das Wiedersehen mit meinen Schwestern vor Publikum durchzieht. Andererseits werde ich im Trubel der Party vielleicht um einen ausführlichen Bericht der letzten fünf Jahre herumkommen. Zumindest vorerst.

Ich straffe meine Schultern und folge dem Weg, der von Astern gesäumt ist und um das Haus bis auf die Terrasse führt. Bunte Lichterketten schwingen im Wind hin und her und tauchen die Holzbohlen des Terrassendecks in farbige Lichtpunkte. Ein betörender Duft nach Steaks und Maiskolben steigt von einem neuen Smokergrill auf.

Im Grunde weiß ich nicht, ob er wirklich neu ist. Er könnte bereits fünf Jahre alt sein, ohne dass ich das Ungetüm aus Chrom und Edelstahl kennen würde.

Davor steht ein Typ, den ich ebenfalls nicht kenne. Er kann nicht von hier sein. Da bin ich sicher.

Er ist groß, vielleicht ein Meter neunzig, und sieht verdammt gut aus. Markantes Gesicht, dunkle Haare, akkurat geschnitten, so dass nicht einmal der Wind, der vom See heraufweht, sie zerzausen kann. Er trägt eine dunkle Chinohose und ein enges Longsleeve, das seine Muskeln umspielt. Aber das alles ist nicht, was mich dazu bringt, einen Schritt auf ihn zuzumachen, obwohl ich mich bis eben noch gefragt habe, ob ich nicht einfach bis zum Ende der Party im Dunkeln des Gartens ausharren könnte. Es ist sein Lachen. Einnehmend. Warm. Und mitreißend. Ich spüre, wie es an meiner Anspannung und meinen Mundwinkeln zupft.

Aber dann kommt Grace aus dem völlig überfüllten Wohnzimmer und bugsiert einen Teller für das fertige Fleisch nach draußen. Dabei stolpert sie fast über ihre eigenen Füße, und mein Herz setzt aus. Ich habe meine Schwestern so sehr vermisst. Grace und Hazel, Liz und Amber. Ich versuche, tief durchzuatmen, aber ihre Nähe schnürt mir die Kehle zu. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde ein Riese darauf Polka tanzen. Ich schlinge die Arme um meine Mitte und sehe Gracie zu, wie sie zum Grill torkelt und dem Kerl unbeholfen den Teller aushändigt.

»Du hättest vielleicht etwas essen und erst dann mit der Vernichtung der Caipis anfangen sollen«, sagt er mit einem Grinsen und wendet sich wieder dem Fleisch zu. Grace setzt sich währenddessen stöhnend auf einen der Baumstammhocker.

Vermutlich dreht sich ihre Welt gerade wie eine Achterbahn. Sie ist schön wie immer, ein wenig Elfe und noch mehr ungestümer Labrador. Ihre ehemals langen Haare sind einem fransigen schulterlangen Schnitt gewichen, der gleichzeitig frech, aber auch weiblich und sexy wirkt. Es steht ihr und lässt sie, genau wie die hellblau gemusterte Bluse über einer knallengen Jeans, reifer wirken. Vielleicht sind es aber auch einfach die fünf Jahre, die ich Grace nicht gesehen habe, die sie erwachsen haben werden lassen.

Der Typ tätschelt Grace’ Kopf, während er routiniert die Steaks wendet. Sein Blick erfasst mich, und für einen Moment fühle ich mich ertappt, aber dann schwappt wieder dieses Lachen über seine Lippen – leise diesmal – und gibt mir die vollkommen unlogische Sicherheit, dass das Wiedersehen mit meinen Schwestern gut verlaufen wird. Ich halte mich an dieser Zuversicht und seinem Lächeln fest und will gerade auf Grace zusteuern, als sich ein blonder Adonis zwischen mich, meine Schwester und meinen Willkommenslächler schiebt.

Nach Liz’ Beschreibungen zu urteilen, muss das Cole sein. So verliebt, wie sie ist, war sie derartig genau in ihren Ausführungen, dass ich das Gefühl habe, ich würde ihn schon ewig kennen. Dabei habe ich die große Liebe meiner ältesten Schwester noch nie gesehen. Cole nimmt seinem Kumpel die Grillzange ab, klopft ihm auf die Schulter und betrachtet dann fachmännisch das Fleisch, während der Dunkelhaarige ins Innere des Hauses verschwindet.

Die Holzwand von Pinewood Meadows schmiegt sich mit seinen Astlöchern gegen meine Haut, und ich habe plötzlich das Gefühl, mir würde die Kraft fehlen, um meine Schwestern zu begrüßen und die Flut an Fragen zu ertragen, die dann über mich hereinbrechen wird.

Normalerweise packe ich unangenehme Dinge lieber sofort an, dann habe ich es wenigstens schnell hinter mir, aber das hier ist anders.

Nichts ist mehr so wie vor meiner Flucht vom Lake Tahoe. Ich habe kein Recht zu erwarten, dass alles beim Alten geblieben ist, während ich jahrelang durch Europa getingelt bin. Trotzdem wäre es leichter, wenn sich nicht alles so verflucht fremd anfühlen würde.

Mein Blick schweift über die fast leere Terrasse bis ins Innere des Hauses, wo die Gäste in kleinen Grüppchen zusammenstehen, sich unterhalten, trinken und lachen. Viele Gesichter sind mir bekannt, und dennoch kommen sie mir verändert vor.

Da ist Mira, die eine Zeitlang im Diner ausgeholfen hat und mit Liz in eine Klasse ging. Sie ist nach ihrem Abschluss weggezogen, aber offensichtlich irgendwann in den letzten Jahren an den See zurückgekehrt. Sie sieht glücklich aus, und schwer verliebt. In einen Typen, der sie mindestens genauso sehr anhimmelt wie sie ihn.

Gavin steht mit mehreren Männern in einer Ecke des Wohnzimmers. Er war die gesamte Middle School über in Liz verknallt, die ihn jedoch nie erhört hat. Mittlerweile ist er verheiratet, hat zwei Kinder und laut Liz den Dachdeckerbetrieb seines Vaters übernommen. Mark, Kevin und George, die früher in meine Klasse gingen, arbeiten für ihn. Sie alle sind so verdammt erwachsen geworden. Ich meine, Gavin trägt einen Vollbart und hat ein Kreuz wie ein Bär. Ich muss lächeln, und dann kommt Greta, Liz’ beste Freundin, die fast wie eine weitere Carson-Schwester mit uns aufgewachsen ist, aus dem Haus und schiebt dabei eine riesige Babykugel vor sich her, die sie von Zeit zu Zeit unbewusst streichelt.

Ich habe Greta nie als Mutter gesehen. Dafür war sie immer ein wenig zu bunt, zu feierlustig – und eine Spur zu chaotisch. Aber die Schwangerschaft steht ihr. Jetzt, wo ich sie so sehe, fällt es mir gar nicht mehr schwer, sie mir als liebevolle Mom vorzustellen, und das, obwohl ihre Haare wie immer zu einem wilden Wirrwarr hochgesteckt sind, in dem Buntstifte aller Art stecken, und ihre Fingernägel in zehn verschiedenen Farben leuchten.

Sie bückt sich zu Grace hinunter, redet leise mit ihr und gibt Cole einen Klaps, als er einen Witz auf Kosten von Grace macht.

Ich atme tief durch. Irgendwann muss ich zu ihnen gehen. Wenn ich es jetzt tue, habe ich zumindest die Chance, Greta und Grace zu begrüßen, ohne dass die komplette Partymeute Zeuge unserer Wiedervereinigung wird.

Ich steure auf die beiden zu und beschließe, dass ein einfaches »Hi« als Begrüßung genau richtig ist. Ich weiß, keine meiner Schwestern hat angenommen, ich würde wirklich kommen, noch dazu so umgehend. Und jedes weitere Wort meinerseits würde dies unterstreichen.

Grace steht eine Spur zu schnell für ihren Promillepegel auf, wankt, und umarmt mich dann so überschwänglich, dass sie mich fast zu Fall bringt. Ich kann den Rum in ihrem Atem riechen, als sie dicht an meinem Ohr »Fi!« quietscht.

Ich sage nichts, weil mir dank ihres Klammergriffs schlicht die Luft für jede Form von Antwort wegbleibt. Trotzdem fühlt es sich warm, vertraut und gut an. Richtig, auf eine merkwürdig vollkommene Weise.

Hazel ist nie weit entfernt von Grace und stößt zu uns, noch bevor Grace gewillt ist, mich wieder aus ihrer Umarmung zu entlassen. Hazel schlingt ihre Arme kurzerhand von hinten um mich und seufzt zufrieden, als wäre endlich alles so, wie es immer hätte sein sollen, während ich mich wie ein plattgedrücktes Schwesternsandwich fühle. Ein glückliches plattgedrücktes Sandwich.

Greta verschwindet und taucht wenig später mit Amber und Liz im Schlepptau wieder auf. Im Gegensatz zu meiner kleinen Schwester schlingt Liz ihre Arme, ohne zu zögern, um den schmalsten Punkt von uns allen – unsere Hälse – und sorgt dafür, dass ich noch weniger Luft bekomme.

Amber hingegen bleibt einige Schritte entfernt stehen und versucht, mich mit einem tödlichen Blick unschädlich zu machen. Obwohl ich mich in der Regel überhaupt nicht von so etwas beeinflussen lasse, setzt mir meine kleine Schwester mühelos zu.

»Das letzte Blatt des legendären fünfblättrigen Kleeblatts ist also zurück. Es ist schön, dich kennenzulernen«, höre ich Cole neben mir sagen, spüre, wie er meine Hand schüttelt, die irgendwo aus dem Knäuel Schwestern herauslugt. Ich sehe, wie er zufrieden grinst. So als würde es ihm tatsächlich etwas bedeuten, dass ich hier bin. Dabei kennen wir uns gar nicht.

Ich schließe die Augen und atme den holzigen Geruch des Blockhauses ein, den man nur wahrnimmt, wenn man nicht täglich hier ist, die klare frische Luft, die vom See herüberweht, der schwache Duft nach dem Mandelöl, das Liz immer benutzt.

Greta streicht mir über den Kopf, weil ihr immenser Bauchumfang es ihr nicht erlaubt, ebenfalls ihre Arme um das Knäuel aus uns Schwestern zu schlingen. Nur Amber hat sich keinen Millimeter auf uns zubewegt.

Ich blinzele sie vorsichtig durch einige von Liz’ langen dunklen Haarsträhnen an, die vor meinem Gesicht tanzen. Grace hüpft indes auf und ab wie ein hyperaktiver Terrier, und das obwohl sie durch Hazel und Liz’ Umarmung ebenso eingequetscht ist wie ich.

»Ich glaube, ich habe noch etwas Dringendes vor«, sagt Amber kühl, dreht sich um und zieht sich im Weggehen einen Pullover über, der aussieht, als wäre sie darin von einem Zug erfasst worden. Er passt sehr gut zu den zwei Kilo dunklem Kajal, der ihre Augen umrahmt, dem Undercut und den klobigen Bikerboots, die das Ensemble aus schwarzen Klamotten vollenden.

Cole hält sie auf, indem er Amber in seine Arme zieht. Wenn er hier wohnt und sich auch nur ein bisschen mit Amber beschäftigt hätte, wüsste er, dass Amber sich nicht in den Arm nehmen lässt. Nie. Selbst bei Liz und mir hat sie jedes Mal einen Mordsaufstand gemacht, wenn wir sie trotzdem gedrückt haben.

Zu meinem Erstaunen hält Amber bei Cole jedoch still. Ein flüchtiges Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen, als er ihr etwas zuflüstert, und dann erwidert sie die zärtliche Geste von ihm sogar. Ich fühle mich irgendwie betrogen, obwohl das idiotisch ist.

»Meinst du nicht, dass du bleiben könntest?«, fragt er und zuckt mit den Schultern. »Könnte dein Geburtstagsgeschenk für mich sein.«

Amber sieht Cole nicht an, sondern richtet ihren Blick wieder auf mich und schüttelt trotzig den Kopf.

»Kriegst was anderes«, sagt sie knapp.

Deswegen sind also so viele Leute hier. Das hier ist keine ausufernde Caipirinha-Party, sondern Coles Geburtstagsfeier. Warum hat Liz mir nichts davon gesagt? Ich krame in dem Wust aus Gesprächsfetzen unseres letzten Telefonats herum und schüttle leicht den Kopf. Wahrscheinlich hat sie es mir sogar erzählt, und ich habe der Information einfach nicht die nötige Beachtung geschenkt.

»Okay, ich verstehe«, sagt Cole und seufzt. Ich frage mich, was zum Henker er versteht. Als wüsste ausgerechnet er über Ambers und meine komplizierte Beziehung Bescheid, nur weil er was mit meiner großen Schwester hat.

Mit einem Mal fühlt sich der Platz inmitten meiner Schwestern nicht mehr geborgen an, sondern erinnert an den armen Mann beim Football, der nach einem Homerun unten liegt, während sich die gesamte Mannschaft oben drauf wirft.

»Ruf mich an, dann hole ich dich später bei Titus ab.«

Wer zum Henker ist Titus? Und warum holt Cole sie ab und nicht Liz oder eine der Zwillinge? Dass Cole sich gut in die Familie integriert, ist super, aber seine Art, einen auf Vater zu machen, reißt eine Wunde auf. Die Wunde, von der ich gehofft hatte, sie würde sich nicht öffnen, solange ich hier am Lake Tahoe bin.

Dad sollte Amber fahren. Er würde sie abholen können, wenn ich damals nicht so eine verdammte, egoistische Idiotin gewesen wäre.

Ich schließe die Augen und versuche die Erinnerungen wegzuschieben, die mir die Luft abschnüren. »Meine Sauerstoffsättigung liegt bestimmt schon unter achtzig Prozent«, quetsche ich verkrampft hervor und verschweige, dass nicht die feste Umarmung meiner Schwestern dafür verantwortlich ist, sondern die Erinnerungen, die mich heimsuchen. Ich befreie mich unter einiger Anstrengung aus dem Knäuel aus Armen und Beinen und murmle: »Ich bin jetzt ja eine Zeitlang da. Kein Grund, mich gleich am ersten Abend zu zerdrücken.«

Ich zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht, während sich mein Magen verkrampft und mein Puls einen neuen Weltrekord im Sprint aufzustellen versucht. Ich habe das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen.

Erschrocken schiebt Grace mich eine Armlänge von sich und mustert mich prüfend. »Zu viel? Zu doll?«, fragt sie so zerknirscht, dass ich unwillkürlich lächeln muss. Ich liebe sie und die anderen, und ich habe sie vermisst.

»Ein bisschen«, gebe ich zu und ringe mir ein weiteres Lächeln ab.

»Okay, wir setzen uns jetzt alle ganz brav hin. Außer mir, denn ich mache dir einen Gracie-Spezial-Caipirinha, und dann musst du alles erzählen. Von den Restaurants, in denen du gearbeitet hast, von den sexy Franzosen und Italienern und …« Sie verdreht genießerisch die Augen. »Und den Spaniern.«

»Ich war nie in Spanien, Gracie«, sage ich schwach, aber sie winkt nur ab.

»Egal, erzähl einfach alles!« Grace lächelt leicht angeschlagen, was mit Sicherheit den Caipis geschuldet ist, die sie zwar für andere gemixt, aber offenbar selbst vernichtet hat.

Ich nicke, weil mir klar ist, dass ich nicht Nein sagen kann, deute aber in Richtung Obergeschoss.

»Ich gehe nur mal eben ins Bad, wenn das in Ordnung ist«, quetsche ich hervor und versuche, meine Panikattacke im Zaum zu halten. »Bin gleich wieder da. Ach, und Cole, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich hatte das nicht mehr auf dem Schirm.«

Ich warte die Reaktion meiner Schwestern und die von Cole nicht ab, sondern kämpfe mich durch das Erdgeschoss bis zur Treppe durch.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rette ich mich ins Badezimmer und knalle die Tür hinter mir zu. Das Blut rauscht in meinen Ohren, und Übelkeit lässt meine Eingeweide flattern. Ich schließe die Augen und lehne mich von innen gegen die Tür. Die Hände presse ich gegen meine Schläfen und zähle im Stillen von Null aufwärts.

Früher hat Dad mein Gesicht so umfasst, und wir haben gemeinsam gezählt, wenn ich wegen irgendetwas Panik bekam. Dad brauchte nie weiter als bis fünf zu zählen, und es ging mir wieder gut. Ich bin bereits bei elf angekommen, ohne dass es besser wird, als mich eine dunkle, warme Stimme aus dem finsteren Strudel aus Schuld und Erinnerungen reißt.

»So schlimm?«

Ich reiße erschrocken meine Augen auf. Hier oben sollte niemand sein. Für die Gäste steht das untere Badezimmer zur Verfügung, und alle Personen, die hier oben etwas zu suchen hätten, hocken zusammen auf dem breiten Ecksofa und haben wahrscheinlich kein anderes Thema als meine überraschende Rückkehr.

Ich blicke direkt in ein Paar tiefdunkle Augen, die mich halb besorgt, halb belustigt mustern und zu dem Willkommenslächler von vorhin gehören.

»Was hast du hier oben zu suchen?« Ich weiß, dass ich mich kratzbürstig anhöre, aber der Typ, seine schmelzenden Schoko-Augen und sein lässiges Lächeln bringen mein sowieso schon durcheinandergewürfeltes Inneres besorgniserregend aus dem Konzept.

Allerdings ebbt die Panik durch den Schreck, nicht allein zu sein, ein wenig ab, und ich habe das unpassende Gefühl, ihm dafür dankbar sein zu müssen. Dabei ist mein Hirn mit Sicherheit einfach nur damit beschäftigt, wütend zu sein, weil ein Wildfremder durch unser Bad rennt und die Dreistigkeit besitzt, mich anzulächeln, anstatt anstandshalber das Weite zu suchen.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, sagt er und kneift in bester Sherlock-Holmes-Manier die Augen zusammen, was ihm einen leicht überheblichen, supersexy Look gibt. Ich beiße mir auf die Lippen und versuche, angemessen wütend zu bleiben.

»Ich wohne zufällig hier«, stelle ich kühl fest und sehe, wie er stutzt. Wahrscheinlich, weil er mich hier noch nie gesehen hat und die Tatsache, dass ich hier wohne, deswegen zu Recht anzweifelt.

»Seit wann das denn?« Er klingt belustigt, und ich frage mich, warum ich irgendeinem Typen Rede und Antwort stehen sollte, den ich nicht kenne und der wahrscheinlich noch heute Abend, spätestens aber morgen, zurück nach Sacramento, Modesta, San Francisco oder wo auch immer er herkommt, verschwindet. Es steht außer Frage, dass er einer von Coles Juppi-Freunden ist, und es geht ihn überhaupt nichts an, dass die Antwort »seit zwei Minuten« lautet. Ich kneife die Lippen zusammen und sehe demonstrativ zur Tür. Aber anstatt zu verschwinden, wedelt er mit seinem iPhone vor meiner Nase herum.

»Ich brauchte nur für fünf Minuten meine Ruhe«, sagt er. Diese Worte in Zusammenhang mit dem Telefon, das er in seiner rechten Hand flippen lässt, soll wahrscheinlich klarmachen, dass er in unserem Bad steht, weil er überaus wichtig ist und äußerst bedeutende Telefongespräche zu führen hat, wovon Normalsterbliche wie ich keinen blassen Schimmer haben.

Ich habe da mal eine Neuigkeit für ihn: Es gibt kein Telefongespräch der Welt, das ihn berechtigt, im Obergeschoss von Pinewood Meadows herumzuirren, egal wie unwiderstehlich er lächeln kann. Aber anstatt ihm genau das zu sagen, verhaken sich die Worte in meinem Hirn, als er einen Schritt auf mich zumacht.

»Cole sagte, es wäre okay, wenn ich mich kurz hierher zurückziehe«, lenkt er ein, deutet auf den geballten Wahnsinn rosafarbener Töpfchen und Tiegelchen, den meine Schwestern in den Regalen des großen Badezimmers angehäuft haben, und grinst dabei zufrieden.

»Na, wenn Cole das sagt«, bemerke ich spitz und blitze ihn wütend an. Als hätte er das Recht, in unserem privaten Bad seinen blöden Telefonaten nachzugehen und dabei wie beiläufig zu erfahren, welche Tamponmarke Liz benutzt, nur weil Cole so tut, als hätte er das Sagen in Pinewood Meadows.

»Es ist nicht okay«, zische ich ihm zu.

»Sagt wer?« Seine Stimme ist dunkel und warm, und ich bin mir nicht sicher, ob er eine offensive Taktik fährt, um meinen Namen zu erfahren, oder ob er einfach nur schlagfertig ist.

»Fiona Carson«, bringe ich hervor. Irgendetwas läuft hier verdammt verkehrt. Ich wollte ihn verunsichern und aus dem Bad schmeißen. Auf keinen Fall wollte ich ihm meinen Namen verraten oder ihm die Hand reichen, wie ich es jetzt gerade tue. Einfach, weil ich so überrumpelt bin.

»Hätte mir auch gleich auffallen können. Du siehst Liz wirklich verdammt ähnlich. Die sagenumwobene Fi, also.« Er gluckst, und ich bin mir nicht sicher, ob mir der Unterton in seinen Worten gefällt. Er impliziert, dass ich mir mindestens von der Hälfte der Informationen, die er vermutlich von Cole hat, wünschen würde, er hätte sie nie erfahren.

»Evan«, stellt er sich vor und streckt mir seine Hand entgegen.

Irgendwo in meinem Kopf klingelt etwas bei dem Namen, aber ich komme nicht darauf, wo ich ihn schon einmal gehört habe. Er scheint ein Freund von Cole zu sein, und Cole ist seit Monaten das Zentrum jeder Geschichte, die Liz von sich gibt. Gut möglich, dass er Teil einer dieser Geschichten gewesen ist.

»Ist alles okay?« Evan tritt näher an mich heran, und ich kann seinen Blick auf mir spüren. »Du siehst aus, als ginge es dir nicht besonders.«

Ich sollte lügen und ihm sagen, dass es mir super geht. Es geht ihn schließlich nichts an, dass ich gerade dabei bin durchzudrehen, weil ich nach fünf Jahren an den Ort zurückgekehrt bin, der alles verändert hat. Der Ort, an dem meine Eltern gestorben sind und an dem ich alle zurückgelassen habe, die ich liebe.

Ich fühle mich verloren und zerbrechlich. Gefühle, die nicht zu mir passen und mit denen ich nicht umgehen kann.

Als ich ihm eine Antwort schuldig bleibe, tritt Evan so nah an mich heran, dass seine harten Bauchmuskeln den Arm streifen, den ich um meine Mitte geschlungen habe.

Die Berührung durchbricht meine Gedanken. Der Schmerz in meinem Inneren weicht einem leisen Kribbeln, und meine Gedanken konzentrieren sich wie von selbst auf den leichten, aber sehr anziehenden Geruch nach Holz, Wald und Frische, den Evan verströmt. Ich bin so dankbar für diese Form der Ablenkung, dass ich ihm ein vorsichtiges Nicken schenke. Eines, das nicht erzwungen ist.

»Gut«, murmelt er leise, und das Vibrieren seines Brustkorbs bringt meine Eingeweide zum Summen. Ich spüre die Wärme seines Körpers, seinen Atem auf meiner Haut. Und dann legt er seine Hand auf meinen Arm, als wäre es das einzig Richtige, was er jetzt tun könnte. Es ist eine zurückhaltende Berührung, die trotzdem Stärke vermittelt und gleichzeitig warm und tröstlich ist. Ich sehe ihn an, und er tut dasselbe, ohne seine Hand von meinem Arm zu lösen oder den Moment durch Worte zu zerstören.

Was zum Henker stimmt nicht mit mir, dass ich mich allen Ernstes frage, wie es wohl wäre, den kompletten Abend hier mit ihm zu stehen und dem Kribbeln nachzugeben, das von seiner Berührung ausgehend mein Innerstes flutet und so viel besser ist als die Kälte zuvor? Ich sollte schleunigst nach unten zu meinen Schwestern gehen, aber die Antwort ist: Alles. Mit mir stimmt so ziemlich alles nicht.

Wahrscheinlich bleibe ich deswegen stehen und lasse zu, dass sich der Moment zwischen Evan und mir ausdehnt wie das Firmament am Nachthimmel, wenn man auf dem Steg der Halfmoon Bay liegt und die Sterne über dem Lake Tahoe betrachtet.

Evan lächelt, als wäre er sicher, er könnte meine Welt allein mit dieser winzigen Geste wieder geraderücken. Dabei sollte er nicht einmal ahnen, dass dies notwendig ist.

Ich mache mich mit meinem merkwürdigen, gefühlsduseligen Verhalten unendlich angreifbar. Dabei mache ich mich nie und für niemanden angreifbar. Von meinen Schwestern mal abgesehen.

Ich straffe die Schultern und reduziere den Moment mit einer aufreizenden Berührung meiner Finger an seiner Brust zu etwas rein Körperlichem. Das ist es, was ich immer tue. Ich berühre seine Schulter, folge den festen Muskeln bis zu seinem Nacken und ziehe ihn näher an mich. Meine Lippen berühren seine. Allein diese winzige Berührung ist wie eine Miniexplosion, die all die dunklen Erinnerungen auslöscht.

Ich spüre, wie er zögert, kaum merklich zurückweicht, bevor er nachgibt. Es gefällt ihm, dass ich in die Offensive gehe und ihn herausfordere. So lange, bis er sich nicht mehr zurückhalten kann und die Führung übernimmt.

Evans Kuss vertreibt auch die letzten zerfaserten Schatten der Erinnerungen. Und auch wenn es nur ein Ablenkungsmanöver war, will ich nicht, dass er aufhört. Das würde bedeuten, meine Gedanken an diesen dunklen Ort in mir zurücktrudeln zu lassen, und wenn die Alternative dazu ist, mit diesem heißen Typen zu knutschen, weiß ich, wofür ich mich entscheide. Es ist das, wofür ich mich seit fünf Jahren entscheide. Ich flirte, ich knutsche, ich vögle mit Typen, die mir nichts bedeuten, um zu vergessen. Und Evan scheint heiß genug, um so ziemlich alles zu vergessen.

Ich presse meine Lippen fester auf seine, und Evan reagiert genau so darauf, wie ich es beabsichtigt habe. Er drängt mich gegen die Badezimmerwand, vergräbt seine Finger in meinen Haaren und küsst mich tief und fordernd.

Die Art, wie seine Lippen meine finden, wie seine Zunge in mich eindringt und mir den Atem raubt, ist einzigartig, verschlingend und berauschend. Ein High, nachdem mich die Vergangenheit noch Minuten zuvor zu Boden gedrückt hat.

Ich lasse mich von dem Verlangen treiben, das durch meinen Körper schnellt, und beiße ihm leicht in die Unterlippe. Ich sauge daran, und es macht mich an, wie er darauf reagiert, indem sich sein Mund zu einem Grinsen verzieht, bevor er sich in den nächsten Kuss stürzt. Ein dominanter, wilder Kuss, der mich dazu bringt, mit ihm zu stürzen.

»Wir sollten das nicht tun. Nicht hier, nicht wir beide«, flüstert Evan atemlos, küsst mich aber weiter, als wäre ihm generell scheißegal, was von ihm erwartet wird. Dabei schiebt er seine Hand unter mein Shirt und liebkost meinen Rücken.

Er berührt nur meinen verdammten Rücken, und ich wünschte, er würde so viel mehr tun. Hier und jetzt, obwohl das im Grunde inakzeptabel ist. Aus so vielen Gründen. Da hat Evan recht. Ich schnappe atemlos nach Luft, als er sich von meinen Lippen löst und sein Atem heiß gegen meinen Hals prallt.

»Mein Bruder wird mich umbringen«, knurrt er, die Hände in meinen Haaren vergraben.

Es dauert zähe, lange Sekunden, bis seine Worte in mein Hirn vordringen und mir klar wird, woher ich Evans Namen kenne. Die Erkenntnis lässt mich abrupt innehalten, während Evans Atem noch immer meine Haut streift.

Er ist nicht der Surfertyp wie Cole. Eher die Heißer-Geschäftstyp-Variante, aber mir hätte auffallen müssen, dass sein Bruder und er dieselben markanten Gesichtszüge haben. Die Art, sich zu bewegen, ist ähnlich, sie haben dieselben tiefdunklen Augen und dieses Lächeln, das Kontinentalplatten verschieben könnte. Er ist einer der Harris-Brüder. Wieso ist mir das nicht früher aufgefallen?

Liz hat mir von ihm erzählt. Ich schließe die Augen, während Evans Atem noch immer meinen streift.

Evan hat Pinewood Meadows gerettet, aber ich werde nicht vergessen, dass Cole und er nur rein zufällig zu Helden geworden sind. Sie wollten uns unser Zuhause wegnehmen. Das war der Plan. Und soweit ich weiß, hätte Evan das Ding durchgezogen, wenn Cole nicht plötzlich sein Gewissen wiedergefunden hätte.

Ich lege meine Hand gegen seine Brust und schiebe ihn von mir.

»Was ist denn los?« Er sieht verwirrt aus und versucht, die Distanz zu überwinden, die ich geschaffen habe, aber ich tauche unter seinem Arm durch, bevor Evan mich noch einmal küssen kann.

»Komm schon, Fiona!« Er hebt verzweifelt und fragend die Hände, aber ich schlüpfe durch die Tür in den Flur, anstatt ihm eine Erklärung zu geben. Ich werde mich auf nichts einlassen, was meinen Aufenthalt noch mehr verkompliziert. Und mit dem Arschloch-Bruder meines zukünftigen Schwagers abzustürzen dürfte die Lage verdammt verkomplizieren.

Obwohl ich zugeben muss, dass ich es bedaure, dass Evan als Ablenkung tabu sein wird, denn sein Lächeln, seine dunklen Augen und seine Küsse eignen sich verteufelt gut, um Dinge zu vergessen, die an diesem Ort unweigerlich nach oben gespült werden.

Kapitel 2

Als ich am nächsten Morgen wach werde, schlafen alle anderen noch. Ich setze mich in meinem Bett auf und reibe mir stöhnend über die Schläfen. Ein beißender Kopfschmerz spaltet meinen Schädel, und das liegt nicht nur an Gracies Caipirinha-Mischungen, die es echt in sich hatten und von denen ich definitiv mehr getrunken habe, als ich sollte.

Der gestrige Abend war viel, vielleicht zu viel. Grace war unerbittlich in ihrem Kreuzverhör. Sie ist wirklich gut darin, Fragen zu stellen, die unter die Haut gehen. Sie hätte Detective werden sollen. Liz, Greta und Hazel haben sich etwas mehr zurückgehalten, aber mir wäre allein die geballte Aufmerksamkeit auch ohne Fragen schon zu viel gewesen. Ich bin es nicht mehr gewohnt, jemandem so nah zu sein, wie meine Schwestern es seit jeher sind. Früher hat es mich nie gestört, dass wir selbst die ekligsten Date-Geschichten und die peinlichsten Momente geteilt haben. Aber das hat sich, wie so vieles, geändert. Ich bin all die Jahre ein Einsiedlerkrebs gewesen, der jetzt mitten in einen temperamentvollen Haufen geschmissen wird.

Die einzige Möglichkeit, aus der Nummer rauszukommen, war, meine Schwestern so weit abzufüllen, dass ihre Fragen unartikulierter wurden. Und selbst so viel zu trinken, dass mir die Antworten irgendwann verdammt leicht über die Lippen kamen. Ich hoffe wirklich, ich habe keine allzu pikanten Details verraten.

Ich krabble aus dem Bett, schlüpfe in eine weiche Baumwollhose und ziehe mir eine dicke Strickjacke über das Tanktop, in dem ich geschlafen habe. Dann schleppe ich mich die Treppe herunter, um an die überlebensnotwendige Dosis Koffein zu gelangen.

Von der Party sind nur noch einige leere Flaschen und sechs schmutzige Gläser übrig, die ordentlich übereinandergestapelt auf der Kücheninsel stehen. Die Geschirrspülmaschine zeigt an, dass sie durchgelaufen ist und ausgeräumt werden will. Eine meiner Schwestern muss gestern Abend noch in der Lage gewesen sein, das Chaos der Party zu beseitigen und die Maschine anzustellen, was mich tief beeindruckt.

Ich erinnere mich hingegen nur noch bruchstückhaft an den Ausgang des Abends und daran, wie ich in mein Zimmer gelangt bin. Grace’ Mischungen sind echt tödlich, weswegen ich mich jetzt folgerichtig todkrank fühle.

Ich lehne mich gegen die Arbeitsplatte und halte meinen Kopf fest, der sonst vermutlich einfach herunterfallen würde. Umständlich stopfe ich ein Pad in die Kaffeemaschine und stelle sie an. Der Lärm, den das Gerät verursacht, ist ohrenbetäubend und nicht mit dem winzigen Resonanzkörper des modernen Apparats zu erklären. Als der Becher endlich voll ist, schnappe ich ihn mir und verlasse das Haus.

Die Luft, die mir entgegenschlägt, ist kalt und eiskristallklar. Sie friert den Kopfschmerz ein, wie erhofft. Ich schlinge meine Strickjacke fester um mich, vergrabe meine Hände in den Ärmeln und nehme einen tiefen Schluck, während ich den atemberaubenden Anblick der Bucht wie einen Schatz für den Moment abspeichere, wenn ich wieder weit fort von hier sein werde.

Der Lake Tahoe ist mit nichts zu vergleichen. Die Halfmoon Bay ist ein zwischen hohen Pinien versteckt liegendes Juwel, das trotz des verhangenen Morgens und all der dunklen Erinnerungen ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert. Ich schlendere die Holzstufen bis zum Steg hinab. Der kiefernnadelgesäumte Erdboden wird sandiger, das Gras spärlicher. Schließlich geht es ganz in feinpudrigen Sand über, und der Steg beginnt. Ich folge ihm bis zum Ende und setze mich mit meinem Kaffee auf die wettergegerbten Holzbohlen.

Meine Hose ist eigentlich zu dünn, und die Kälte sticht unangenehm durch den Baumwollstoff, aber meinem Kopf und meiner Seele tut der kühle, stille Morgen gut.

Früher bin ich jeden Morgen hier rausgekommen, und ich spüre, wie sehr mir dieses Ritual gefehlt hat. Nebel hängt über dem See. Das Wasser wirkt grau, fast schwarz, weil die Wasseroberfläche die Launen des Wetters spiegelt. Sobald die Wolken später am Tag aufreißen, wird der Lake Tahoe erneut die unnatürlich blaue Farbe annehmen, für die er so bekannt ist.

»Schon wach?«

Ich zucke zusammen. Evan schlendert hinter mir den Steg herunter, und ich spüre, wie der Frieden meines Morgens durch seine Nähe zerbricht.

Ich erwidere nichts und hoffe, er versteht den Wink mit dem Zaunpfahl.

Aber anstatt zu verschwinden und mich in Ruhe zu lassen, setzt er sich neben mich und lässt seine Beine über der Wasseroberfläche baumeln. Er trägt einen schweineteuer aussehenden, grauen Wollpullover, den er bis zu den Ellenbogen hinaufgeschoben hat und der dadurch ein helleres Longsleeve zeigt, das seine muskulösen Unterarme umspannt. Komplettiert wird das ganze durch eine gleichfarbige Stoffhose, die aussieht, als hätte er einfach das teuerste Stück aus einem Männermodemagazin erstanden.

»Kopfweh?«, fragt er mit einem leisen Lachen und zeigt auf meinen Kaffeebecher.

Ich schüttle den Kopf, was definitiv ein Fehler ist, denn es fühlt sich an, als würde mein Hirn lose in meinem Schädel herumpoltern. »Ich trinke einfach gern Kaffee«, presse ich hervor und versuche, den Schmerz wegzuatmen. »In Ruhe und allein!«

Er nickt, bleibt aber sitzen, als würde er die Information, dass ich keine Gesellschaft wünsche, gar nicht auf sich beziehen. »Grace mischt wirklich die besten Drinks. Ihr solltet die unbedingt in die Karte des Diners aufnehmen.«

»Wir sind kein Nachtclub.« Wenn wir die Karte des Diners um Cocktails erweitern würden, könnten wir aufgrund der Lage direkt am Ufer des Sees, und dank der großzügigen Außenterrasse, die halbe Nacht trinkwütige Touristen bedienen. Das Problem ist, dass wir eine weitere Schicht niemals abdecken könnten. Außerdem fehlt uns die Lizenz, Alkohol ausschenken zu dürfen. Aber die Beweggründe für Entscheidungen rund um den Diner gehen Evan überhaupt nichts an, also spare ich es mir, etwas dazu zu sagen.

»Allerdings sind sie so gut, dass man Gefahr läuft, komplett abzustürzen«, redet Evan unbeirrt weiter und deutet auf mich. »Echt gefährlich, wie man sieht.«

»Hör zu!« Wenn er taub ist für eine subtile Abfuhr und selbst den Wink mit dem Zaunpfahl nicht versteht, muss ich eben deutlicher werden. »Das gestern mit uns im Bad, das war …« Mir fällt kein geeignetes Wort ein, das nicht verraten würde, wie speziell dieser Moment zwischen uns war. »Ich brauchte Ablenkung«, fasse ich zusammen. »Das war alles etwas viel, und du warst da, aber das war es auch.«

Ich sehe ihn an und verliere mich sekundenlang in seinen Augen, die heute karamellfarben erscheinen und nicht so dunkel wie gestern Abend, bevor ich mich zusammenreiße und fortfahre mit dem, was ich ihm zu sagen habe. »Du bist bestimmt ganz nett und so.« Wobei ich bezweifle, dass er wirklich nett ist. Ich habe Liz’ Geschichten über ihn und seinen Bruder nicht vergessen. Er wollte einen hässlichen, chromglänzenden Hotelklotz in die Halfmoon Bay setzen. »Aber ich habe kein Interesse, mich hier auf irgendetwas einzulassen und dich näher kennenzulernen.«

Ich seufze und verdeutliche meine Aussage, indem ich sage: »Ich bin nur sechs Monate hier und habe nicht vor, in der Zeit etwas anderes zu tun, als zu kochen.«

»Nicht mal schlafen?«, fragt er, und ich kann das zweideutige Blitzen in seinem Blick sehen.

Ganz sicher nicht mit ihm. »Das geht dich überhaupt nichts an«, erwidere ich spitz. »Und nur um das klarzustellen: Ich will meinen Kaffee trinken, die Ruhe genießen und zwar allein, wenn das für dich in Ordnung ist.« Ich hole tief Luft, um noch etwas zu sagen, aber das Grinsen, das sich auf Evans Gesicht ausbreitet, lässt mich verstummen.

Ich habe dem Typen gerade unmissverständlich klargemacht, dass er verschwinden soll, dass unser Kuss eine einmalige Sache war und ich keinerlei Interesse an ihm habe. Also warum grinst er, verdammt nochmal, so bescheuert?

»Du bist ziemlich hinreißend, wenn du in Rage bist«, sagt er amüsiert.