Qualität in der Medizin - Andrea Abraham - E-Book

Qualität in der Medizin E-Book

Andrea Abraham

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Beschreibung

Qualität. Kaum ein Begriff der Gegenwart ist so ausgelaugt und wird so ungenau verwendet. Kaum etwas kann so missverständlich benutzt werden, wie die Qualität. In ihren Briefen reisen der Hausarzt Bruno Kissling und die Ethnologin Andrea Abraham diesem Begriff nach und führen die Leser an bekannte und weniger bekannte Orte der Qualität in der Medizin. Bruno schreibt mit seinem medizinischen Innenblick und mit über 30-jähriger Berufserfahrung. Andrea bringt mit ihrem Aussenblick die empirischen Ergebnisse ein, die sie in langjähriger Forschung im Feld der Hausarztmedizin erhoben hat. Die Autoren zeigen eindrucksvoll, dass es DIE Qualität in der Medizin nicht gibt. Qualität ist etwas unfertiges, stetig werdendes, eine Idee, die unser Denken durchflicht, ein Ziel, das Ärzte und Patienten gemeinsam anstreben. Das Ergebnis dieses Briefwechsels ist ein wissenschaftliches Buch in narrativer Form und allgemein verständlicher Sprache, gleichermassen geeignet für medizinische Fachpersonen und ein interessiertes nichtmedizinisches Publikum.

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Seitenzahl: 232

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Qualität in der Medizin

Briefe zwischen einem Hausarzt und einer Ethnologin

Dr. phil. Andrea Abraham, 1978, studierte an der Universität Bern Sozialanthropologie (Ethnologie), Religionswissenschaft und Englische Literatur. Mit einem Marie Heim-Vögtlin-Stipendium des SNF und einem SAMW-Beitrag promovierte sie 2012 zum Thema «Framing quality. Constructions of medical quality in Swiss Family Medicine». Andrea Abraham ist spezialisiert auf qualitative Forschungsmethoden im Bereich der Medizinanthropologie und leitet die Forschungsabteilung des interdisziplinären Instituts für Ethik im Gesundheitswesen «Dialog Ethik». Sie ist aktives Mitglied der Fachgruppe Medical Anthropology Switzerland (MAS), deren Präsidentin sie von 2011 bis 2014 war. Sie ist Verfasserin zahlreicher Fachartikel und Beiträge zum Thema Gesundheitswesen. Andrea Abraham ist verheiratet und Mutter von drei kleinen Kindern.

Dr. med. Bruno Kissling, 1949, studierte in Bern Medizin und arbeitet seit 1982 als Facharzt für Allgemeinmedizin in seiner Hausarztpraxis in einem Quartier der Stadt Bern. Zurzeit plant er die Praxisweitergabe. Neben seiner hausärztlichen Tätigkeit war Bruno Kissling Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin SGAM, Schweizer Delegierter beim Welthausärzteverband WONCA sowie Mitbegründer und langjähriger Co-Chefredaktor der Schweizerischen Zeitschrift für Hausarztmedizin «PrimaryCare». Bruno Kissling ist Verfasser zahlreicher fachspezifischer, politischer und polit-philosophischer Artikel zur Hausarztmedizin. Daneben schreibt er lyrische Texte und wirkt mit seinen Wortskulpturen an Kunstausstellungen mit. Bruno Kissling ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.

Andrea Abraham

Bruno Kissling

Qualität in der Medizin

Briefe zwischen einem Hausarzt und einer Ethnologin

EMH Schweizerischer Ärzteverlag

Die Autoren danken folgenden Personen für ihre wertvolle Unterstützung:

Peter Ryser, Sozialarbeiter, für seine kritische Lektüre des Manuskripts. Er führt seit vielen Jahren eine Praxis für systemische Beratung und Teamentwicklung und bildet als Kommunikationsexperte Ärzte und andere beratend tätige Personen aus. Er konzipierte einen Masterstudiengang in systemisch lösungsorientierter Beratung, wirkt als Supervisor in Fallbesprechungsgruppen und als Organisationsberater in verschiedenen Spitälern.

Dr. Celia Zwillenberg, der Madeleine und Albert Erlanger-Wyler-Stiftung und der SAMW für ihre grosszügige finanzielle Unterstützung für den Druck dieses Buches.

Den Hausärztinnen und Hausärzten, welche bei den Interviews im Rahmen der Dissertation von Andrea Abraham mitgewirkt haben.

Dem Qualitätszirkel Elfenau in Bern, der den Grundstein für diesen interdisziplinären Dialog gelegt hat.

Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle für die Idee, dieses Buch in Form eines Dialogs zu schreiben.

 

 

Copyright © 2015 EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschliesslich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.

Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel

ISBN 978-3-03754-084-8

ISBN eBook (ePUB) 978-3-03754-085-5

ISBN eBook (mobi) 978-3-03754-086-2

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Wie es zu diesem Briefwechsel kam

Qualität vor und nach 1996: von der berufsinhärenten Selbstverantwortung zur gesetzlichen Vorgabe

Industrielle Verankerung der Qualitätsidee – vom Auto zum Patienten

Qualitätszirkel

Fehler und Fehlerkultur

Patienten im Zentrum

Das verflochtene System von Arzt und Patient

Evidenz-basierte Medizin und die komplexe hausärztliche Realität

Qualitätsmessung

Jenseits der quantitativen Messungen

Angst, Unsicherheit und Medikalisierung

Selbstbestimmung und ökonomische Verantwortlichkeit

Ende des Briefwechsels

Anhang

Literaturverzeichnis

Vorwort

Im Zuge einer zunehmenden Markt- und Wettbewerbsgläubigkeit hat man in den letzten Jahrzehnten damit begonnen, überall dort künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, wo es keinen Markt gibt, um auch Bereiche wie Wissenschaft, Bildung oder das Gesundheitswesen auf Effizienz zu trimmen. Mit missionarischem Eifer werden auf diese Weise Leistungsanreize gesetzt, doch was dabei als Leistung herauskommt, ist in Wirklichkeit ein gigantischer Unsinn. Die künstlich inszenierten Wettbewerbe sorgen im Gegensatz zu einem funktionierenden Marktwettbewerb nicht dafür, dass die Produktion optimal auf die Bedürfnisse der Nachfrager angepasst ist. Nur wo Wettbewerb und Markt zusammenfallen, kann die von Adam Smith beschriebene «unsichtbare Hand» über das Preissystem wirken und dafür sorgen, dass genau das produziert wird, was die Konsumenten auch wünschen. Bei Wettbewerben ohne Markt ist das nicht der Fall. Statt an den Bedürfnissen der Nachfrager orientieren sich die Produzenten eines Produktes oder einer Leistung an irgendwelchen Kennzahlen oder Indikatoren. Die Ausrichtung an diesen Kennzahlen führt jedoch nicht zu Effizienz, sondern sorgt für perverse Anreize, die dann folgerichtig auch perverse Resultate ergeben.

Besonders gravierend sind die sinnlosen Wettbewerbe auch im Gesundheitswesen. Über lange Zeit wurden den Ärzten ihre Behandlungskosten von den Krankenkassen bezahlt, und Spitäler wurden nach den von ihnen erbrachten Leistungen entschädigt. Ein solches System setzt allerdings keinen Anreiz, effizient zu arbeiten oder besonders qualitativ hochstehende Leistungen zu erbringen, da man seine Kosten ja unbeschränkt abrechnen kann und die Qualität der Leistung nicht berücksichtigt wird. Seit geraumer Zeit glaubt man deshalb auch hier die neue, angebliche Wunderwaffe des künstlich inszenierten Wettbewerbs einsetzen zu können, um mehr Effizienz und bessere Qualität zu erzielen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist bereits erfolgt: die Einführung von Fallpauschalen, mit denen stationäre Behandlungen in Spitälern pauschal mit einem bestimmten Betrag abgegolten werden. Auf diese Weise wird indirekt ein Kostenwettbewerb zwischen den Spitälern in Gang gesetzt, der zu einer Senkung der Gesundheitskosten im stationären Bereich führen sollte. In der Realität ‹sparen› die Spitäler jedoch vor allem dadurch, dass sie ihre Kosten zulasten der ambulanten Versorgung reduzieren. Zudem versuchen sie mit möglichst standardisierten Behandlungen und einer «Optimierung der Patientenportfolios» möglichst hohe Fallpauschalen herauszuholen.

Ein noch drastischerer Schritt in Richtung mehr Wettbewerb ist das sogenannte Pay-for-Performance-Programm (P4P). Dabei geht es um eine leistungsorientierte Vergütung von Ärzten, die je nach Qualität ihrer Behandlungen mehr oder weniger Geld von den Krankenkassen bekommen. Solche Programme sind in den USA oder England schon seit längerer Zeit eingeführt. In Deutschland steckt man zurzeit noch in einer Versuchsphase. Bei P4P soll die ‹Qualität› von ärztlichen Dienstleistungen mit Hilfe von Indikatoren und Zielparametern gemessen und dann honoriert werden. Mit dieser Leistungsvergütung wollen die Kassen gute Ärzte und Praxisnetze belohnen – und gleichzeitig wollen sie sparen, da gute Behandlungen zu einer insgesamt gesünderen Bevölkerung führen sollten, die dann insgesamt weniger Kosten verursache.

Klingt wie ein Märchen und ist auch eins. Qualität in der Medizin lässt sich nicht an messbaren Kennzahlen festmachen. Denn was macht einen guten Arzt oder ein gutes Praxisnetz wirklich aus? Ist es der Prozentsatz der operierten Patienten, die nach der Operation keine Komplikationen aufweisen? Ist es die Gesprächsbereitschaft des Arztes, der sich Zeit für einen Patienten nimmt? Oder ist es der Arzt, der alles streng nach Vorschrift abwickelt? Auch aus hunderten von noch so ausgeklügelten Datensammlungen errechnete Indikatoren kann man die Qualität nicht adäquat erfassen. Was man mit P4P jedoch ausgezeichnet kann, ist den Ärzten perverse Anreize setzen. Diese reagieren dann auch, indem sie immer mehr unnötige Untersuchungen durchführen oder vorschnell Medikamente verschreiben, weil das zu mehr gemessener ‹Qualität› führt. Was diese dann wirklich produzieren, ist quantitativ messbarer Unsinn, den niemand braucht, während die wahre Qualität immer mehr verdrängt wird.

Es ist also dringend notwendig, das Verständnis von Qualität im Gesundheitswesen zu diskutieren. Das vorliegende Buch leistet dazu einen wichtigen Beitrag, denn ein Umdenken findet von offizieller Seite noch kaum statt.

Mathias Binswanger

Einleitung

Qualität. Kaum ein Begriff der Gegenwart scheint so ausgelaugt, ungenau verwendet und sogar abgedroschen zu sein. Trotzdem, oder gerade deswegen, wollen wir über die Qualität in der Medizin nachdenken.

Wir? Bruno und Andrea. Bruno, ein Hausarzt mit über 30 Jahren Berufserfahrung, der die Qualitätsbemühungen der letzten Jahrzehnte aktiv miterlebt hat. Andrea, eine Ethnologin, welche lange Jahre zur Qualitätsdebatte in der Hausarztmedizin geforscht und dazu ihre Doktorarbeit verfasst hat (Abraham 2014).

Während rund eines Jahres haben wir einander Briefe über die zahlreichen Dimensionen der Qualität geschrieben. In unseren Schreiben begegnen sich der medizinische Innenblick des Hausarztes Bruno und der wissenschaftliche Aussenblick der Ethnologin Andrea.

Wir betrachten Qualität als ein Konstrukt mit vielen untereinander interagierenden Aspekten. Klassischerweise richtet sich der Blick von Qualitätsmessungen auf Dinge wie die Struktur und Prozessgestaltung einer Institution, die Richtlinien für Abklärungen und Behandlungen sowie die Güte von Produkten und Resultaten. Zusätzlich zu diesen wichtigen Qualitätsklassikern spielen im medizinischen Bereich viele weitere Aspekte eine entscheidende Rolle, zum Beispiel die Vorstellungen einer Patientin über ihre Gesundheit und ihre individuellen Anforderungen an die Medizin und ihren Arzt. Darunter fallen auch die Selbstansprüche eines Arztes an seine Kompetenzen, berufsethische Erwartungen einer Ärztegesellschaft an ihre Mitglieder, wissenschaftliche Evidenzen und Erfahrungswerte zu spezifischen Eingriffen und Verläufen. Und über den unmittelbaren medizinischen Kontext hinaus prägen gesellschaftliche, philosophische und kulturelle Haltungen und Ansprüche, ökonomische Begebenheiten sowie gesundheitspolitische Steuerprozesse unsere Vorstellung von guter Medizin. Die Liste ist nicht abschliessend. Jedes der genannten Elemente spielt eine unabdingbare Rolle, und erst im Zusammenspiel entsteht umfassende Qualität.

Unsere ganzheitliche Betrachtungsweise erweitert das gegenwärtige Qualitätsdenken und weicht es gleichzeitig auf. Wir zeigen, dass Qualität etwas stetig Werdendes und Unfertiges ist, stellen herkömmliche Messinstrumente in Frage. Und wir weisen darauf hin, dass Qualität, wenn überhaupt, nur durch Kombination von unterschiedlichen Messmethoden angemessen beurteilt werden kann. Qualität gibt es als «Ding an sich» nicht, wohl aber als umfassendes Konstrukt mit vielen Facetten, an dem zahlreiche Menschen kontinuierlich arbeiten.

Als modernes Phänomen ist dabei der Umstand zu beachten, dass es nicht mehr ausreicht, an Qualität zu glauben und darauf zu vertrauen, dass eine Behandlung gut verläuft. Mit Befragungen, Evaluationen und Messungen wird versucht, medizinische Entscheidungen und Abläufe zu erfassen und transparent zu machen (Stehr & Wallner 2010; Strathern 2000a). Ziel dabei ist es, die ärztliche Tätigkeit an Standards auszurichten, zu kontrollieren und zu verbessern.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten wird die ärztliche Arbeit heute genau beobachtet, sozusagen auf eine Bühne gehoben und mit Scheinwerfern beleuchtet. Wie bei einer Theateraufführung erfolgt die Beleuchtung aus ganz bestimmten Winkeln, um gewisse Aspekte hervorzuheben und einen bestimmten Effekt zu erzielen. Die Zuschauer betrachten die Szene im Lichtkegel der Bühne und fokussieren ihren Blick auf das Sichtbare. Die beleuchtete Szene ist jedoch nicht zu verstehen, wenn nicht auch das Geschehen im Dunkeln der Bühne jederzeit mit präsent wäre. Und wo stünde eine Theaterinszenierung ohne die Regie, die im Dunkeln hinter der Bühne wirkt? Im unbelichteten nichtöffentlichen Bereich finden zahlreiche steuernde Aktivitäten statt, welche die Aufführung erst realisierbar machen. Dasselbe Theaterstück kann auf verschiedene Arten inszeniert werden. Durch unterschiedliche Besetzung, Kostümierung, Bühnenbild und Musik kann ein Regisseur entlang seiner persönlichen, professionellen und gesellschaftlichen Werte, Kriterien und Absichten, einem Theaterstück eine völlig andere Aussage verleihen.

In unserem Briefwechsel lassen wir uns nicht vom Geschehen im Scheinwerferlicht auf der Qualitätsbühne blenden, sondern leuchten in die Schattenbereiche rund um den Lichtkegel. Dort treffen wir auf Bereiche, die aufgrund ihrer Komplexität in den Krankengeschichten und anderen medizinischen Dokumenten nicht oder kaum erwähnt werden. Entsprechend sind sie schwierig nachweisbar. Und sie passen nicht unbedingt in die Raster der konventionellen, statistischen Qualitätsmessung. So werden viele qualitätsrelevante Themen ausgeblendet. Mit der Folge, dass unser Qualitätsverständnis immer enger und zahlenbasierter wird. Diese Enge wollen wir aufbrechen.

Das Ergebnis unseres Briefwechsels ist ein wissenschaftliches Buch in narrativer Form und allgemeinverständlicher Sprache. Wir wollen den Leser, die Leserin auf eine kurzweilige Qualitätsreise zu vielen Qualitätsdestinationen mitnehmen. Mit «Halt auf Verlangen» können die Reisenden je nach ihren individuellen Bedürfnissen an unterschiedlichen Stationen ein- und aussteigen, verweilen und sich anregen lassen.

Andrea Abraham und Bruno Kissling

Wie es zu diesem Briefwechsel kam

Lieber Bruno18. März 2013

Ich habe eine Frage an Dich. Ich möchte meine auf Englisch geschriebene Dissertation gerne als Buch in deutscher und allgemeinverständlicher Sprache herausbringen. Ich wünsche mir, dass es möglichst viele Interessierte erreicht.

Die Ansätze, Daten und Ergebnisse der Dissertation werden den Inhalt sicher massgebend prägen, aber es wird keine Copy-and-Paste-Version entstehen. Ich könnte das Buch alleine schreiben, aber es wäre für mich, für die Qualität des Buches und für die Leserschaft sicherlich ein Riesengewinn, wenn wir das Buch zusammen als Co-Autoren schreiben könnten. Ich würde mich ungemein darüber freuen. Was meinst Du dazu?

Herzlich, Andrea

Liebe Andrea19. März 2013

Deine Anfrage ehrt mich. Ich müsste aber mehr über Dein Projekt wissen. Wir sollten dies mündlich besprechen, telefonisch oder viva voce bei einem Kaffee.

Geht das für Dich?

Herzlich, Bruno

Lieber Bruno20. März 2013

Ja, auf jeden Fall, das habe ich mir ebenfalls gedacht. Treffen wir uns diesen Samstag um 9 Uhr im Bistro Steinhalle des Historischen Museums?

Herzlich, Andrea

Liebe Andrea23. März 2013

Es war sehr gut, heute Morgen, unser Gespräch über die Qualität in der Medizin, über deren unterschiedliche Ebenen bis hin zu ihrer gesellschaftspolitischen und philosophischen Dimension. Eine Zusammenarbeit würde mich auch sehr freuen. Bald werde ich Dir meine definitive Antwort geben, aber ich denke, unserer Zusammenarbeit steht nichts mehr im Weg.

Herzlich, Bruno

Liebe Andrea7. Juni 2013

Ich freue mich auf unsere Reise, auf viele Überraschungen und einen schönen Reisebericht mit vielen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Deiner Dissertationsarbeit. Es war ein sehr gutes Treffen gestern. Wie so oft bringt das Gespräch etwas hervor, woran man zuvor nicht im Traum gedacht hätte: die Idee, das Buch als Dialog zwischen uns beiden zu publizieren. Ein Gedanke hat den andern ergeben, und so entwickelte sich etwas Neues, Unerwartetes.

Rückblickend dürften es solche nicht voraussehbaren Erlebnisse mit unseren Patienten in unseren Hausarztpraxen gewesen sein, die uns 2002 im Qualitätszirkel Elfenau – einer Gruppe von Hausärztinnen und Hausärzten, die sich circa einmal pro Monat zum fachlichen Austausch treffen – das Thema «Komplexität» wählen liessen. Ein Thema, das uns danach lange nicht mehr losliess, auf das wir auch bei anderen Diskussionsanlässen immer wieder stiessen. In unseren Fallgeschichten zeigten sich jeweils unerwartete Wendungen. Oft gerade in jenen vertrakten Situationen, in denen wir keine Guidelines anwenden konnten, und gerade dann, wenn wir uns entschlossen, die Dinge offenzulassen und nicht medizinisch zu intervenieren. Wir erhielten mehr und mehr den Eindruck, dass solche Erlebnisse der Komplexität unser hausärztliches Denken und Handeln nachhaltig prägten. Es bestärkte uns immer wieder, für unsere Patienten mit und ohne Guidelines eine Behandlung von hoher Qualität zu erwirken.

Die Entscheidungspfade, die uns vom ‹geraden› Weg abweichen liessen, oder das, was gewirkt hatte, konnten wir jedoch nicht sichtbar machen. Denn entscheidungs- und qualitätsrelevante Gedanken und bedeutungsvolle Interaktionserlebnisse mit unseren Patienten hielten wir meistens nicht in der Krankengeschichte fest. Was wir notierten, waren Symptome, objektive Befunde der körperlichen Untersuchungen, die Resultate medizin-technischer Untersuchungen wie Labor, Röntgen, EKG, Ultraschall, unsere Beurteilungen der Untersuchungsergebnisse und die verordneten Medikamente. Im Unterschied zu diesen hard facts nannten wir die nicht festgehaltenen und doch wegleitenden und letztlich zu erlebter Qualität führenden Fakten soft facts.

Es wurde uns ein Anliegen, diese soft facts zu erfassen. Wir wollten zeigen, dass und warum eine gute patientenbezogene Qualität nicht nur aus der rigorosen Anwendung von Guidelines entsteht, sondern dass dafür auch ganz andere Dinge, diese soft facts, eine ganz bedeutende Rolle spielen. Mit den in der Medizin üblichen deduktiven und quantitativen Forschungsmethoden schien es uns nicht möglich, dieses Andere darzustellen. Dazu benötigten wir einen qualitativen Forschungsansatz, wie er in der Sozialanthropologie angewendet wird. Und sozialwissenschaftliche Erhebungs- und Analysemethoden wie die «teilnehmende Beobachtung»1 und die «Grounded Theory»2. So kam es zum Kontakt mit Dir. Du suchtest damals ein Thema für Deine Dissertation und warst vom ersten Augenblick von unserem Anliegen fasziniert. So wurdest du regelmässige Besucherin des Qualitätszirkels.

Wie hast Du die ersten gemeinsamen Schritte erlebt?

Herzlich, Bruno

Lieber Bruno9. Juni 2013

Im Sommer 2005 tauchte ich nach soeben abgeschlossenem Studium in Eure, mir bislang unbekannte Welt der Hausärzte ein. Einige Dinge fielen mir schnell auf, wobei ich sie erst einige Zeit später aus etwas Distanz interpretieren konnte. Ich bemerkte, dass Ihr eine einander vertraute Gruppe bildet, die mit viel Engagement die Begriffe «Qualität» und «Komplexität» verstehen wollte, sie aufbrach und schälte. Euch war klar, dass es für diesen Prozess neue Werkzeuge braucht, andere als diejenigen Eurer Ausbildung und das biomedizinische Paradigma.

Die Sozial- und Kulturwissenschaften oder, präziser, die Sozialanthropologie bot Euch Konzepte, Methoden und eine Sprache, mit der Ihr die soft facts empirisch greifbar machen konntet. Mit Hilfe dieser Ansätze wurde es möglich, Euer Erleben und Eure Perspektive von Qualität sichtbar zu machen.

Wenn medizinische Themen im Zentrum der Treffen standen, so war aus der Aussenperspektive auffallend: Kein Thema blieb auf der reinen Faktenebene, sondern wurde mit Fallgeschichten und Euren spezifischen Fragen verwoben. Dadurch erhieltet Ihr gegenseitigen Einblick in Euer ärztliches Handeln, in Eure Entscheidungswege, in Sicherheiten und Unsicherheiten und in Eure Fehlbarkeiten. Dies erforderte ein grosses Vertrauen untereinander – und auch in mich. Dass ich für sieben Jahre Teil des Qualitätszirkels werden konnte, ist rückblickend betrachtet keine Selbstverständlichkeit. Dieser Vertrauensaspekt, der darauf beruht, sich vor Sanktionen sicher zu fühlen, wurde später zu einer wichtigen Erkenntnis, als ich die Bedingungen für erfolgreiche Qualitätsarbeit in Fachgruppen wie dem Qualitätszirkel näher anschaute.

Mit der Zeit wurde mir klar, dass Euer Engagement auch eine standespolitische Dimension hat. Die Art und Weise, wie seit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) 1996 Qualität zwischen den Akteuren des Gesundheitswesens – zwischen Ärzteschaften, Versicherern, dem BAG und Patientenorganisationen – diskutiert wurde, unterschied sich von Eurem Verständnis von Qualität. In Euren Treffen hattet Ihr wohl schnell einmal realisiert, dass das andere Qualitätsverständnis, das mit der Revision einherging, keineswegs unbedeutend ist, sondern Euren Beruf und Eure Arbeitsweisen in einer Weise regulierte, die Euch fernlag. Entsprechend war die Schweizer Hausarztmedizin auf Forschung angewiesen, die sich mit ihren spezifischen Eigenschaften und Spezialitäten befasste.

Ich weiss nicht, ob sich alle Mitglieder des Qualitätszirkels dieser grösseren Dimension bewusst waren. Aber für meine Forschung bedeutete der professionspolitische Kontext, dass ich es beim Thema Qualität mit einem interessegeleiteten Thema zu tun hatte.

Diese Erkenntnis brachte mich später einen grossen Schritt weiter. Ich realisierte, dass Qualität nicht nur als Begriff für die eigentliche ärztliche Tätigkeit diente, sondern dass dieser Begriff auch immer öfter in anderer Bedeutung verwendet wurde. Qualität wurde obligater Bestandteil eines politischen Argumentariums und einer politischen Agenda. Qualität tauchte in den Positionspapieren des Bundes, der Versicherungen, der Ärzteschaften und der Patientenorganisationen auf. Diese ‹Verwendungswut› – ich nannte sie in meiner Dissertation einen «rhetorischen Qualitätsaktivismus» – faszinierte mich und führte zu einer weiteren Erkenntnis: Es gibt keine «Qualität an sich», sondern Qualität ist ein normatives Gebilde, das viele Gestalten hat und konstruiert wird.

Was ich mich während meiner Forschung immer wieder fragte: Was war vor 1996? In welcher Form war für Dich vor 1996 – das heisst in Deinen ersten 14 Jahren als Hausarzt – Qualität ein Thema? Welche Rolle spielte Qualität für Dich persönlich? Welche Rolle spielte sie für die Schweizer Hausarztmedizin?

Ich freue mich auf Deine Antwort.

Herzliche Grüsse, Andrea

1 Die «teilnehmende Beobachtung» ist eine Möglichkeit der qualitativen Datenerhebung, die ihren Ursprung in der Ethnologie hat. Es geht darum, Geschehnisse über einen gewissen Zeitraum vor Ort zu beobachten. Dabei kann der Forscher, die Forscherin in unterschiedlichem Masse in den Beobachtungsgegenstand involviert sein: Er/sie kann sich vor allem der Beobachtung widmen (z.B. der Datenerhebung in einem Wartzimmer ohne Gespräche mit den Patienten) oder sich aktiv in das Geschehen einbringen bzw. einbezogen werden (z.B. in der Praxis mithelfen und während dieser Tätigkeiten beobachten). Je nachdem ist das methodische Vorgehen dann eher eine Beobachtung oder wirklich eine teilnehmende Beobachtung. Aber auch bei Ersterem handelt es sich nicht um eine ‹reine› Beobachtung, da keine Laborsituation besteht, sondern der Forscher durch seine Präsenz bereits Teil des Geschehens ist. Die Beobachtung wird in Form von losen bis sehr systematischen Feldnotizen verschriftlicht (Hauser-Schäublin 2003; Lüders 2003; Spradley 2006).

2 Die «Grounded Theory» ist eine in den 1960er Jahren entwickelte methodische Vorgehensweise, um soziale Prozesse und Strukturen mit Hilfe von qualitativen Daten wie Beobachtungen, Interviews und Dokumenten zu analysieren (Polit et al. 2004: 219). Ihr Hauptziel liegt darin, empirische Daten dahingehend zu analysieren, dass deren Komplexität und Zusammenhänge am Ende des Analyseprozesses in der Form einer Theorie bzw. eines Theoriegebildes zum Ausdruck gebracht werden können. Obschon seit der ersten Publikation zur «Grounded Theory» (Glaser & Strauss 1967) verschiedene Arbeitsweisen mit dieser Methodik entwickelt wurden, bestehen Grundsätze, wie z.B. das Kodierungsverfahren und die Kategorienbildung (Dey 1999; Cresswell 1998). Auch wenn die Vorreiter der «Grounded Theory» ein unvoreingenommenes und streng induktiv verlaufendes Vorgehen als Voraussetzung festgelegt haben, wurde dies im Laufe der Zeit relativiert. Heute besteht weitgehend Konsens darüber, dass sowohl induktive als auch deduktive Prozesse stattfinden (Barbour 2001; Bowen 2006).

Qualität vor und nach 1996: von der berufsinhärenten Selbstverantwortung zur gesetzlichen Vorgabe

Liebe Andrea13. Juni 2013

Ich habe meine Hausarztpraxis 1982 in Bern eröffnet. Ab 1995 begann ich mein politisches Engagement im Vorstand der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM). Fast zeitgleich mit meiner politischen Zeit begann die Qualitätsdiskussion. Ob und wie man vor 1996 über die Qualität der hausärztlichen Arbeit gesprochen und gedacht hat, daran kann ich mich spontan nicht erinnern.

Qualität, das bedeutete für mich und für viele Ärzte, mit grossem Engagement für die Patienten da zu sein, in der Sprechstunde, auf Hausbesuchen und auch in der Freizeit. Ich war immer für die Patienten da. Auf meinem Telefonbeantworter verwies ich auf meine private Telefonnummer, und erst an zweiter Stelle auf den städtischen Notfalldienst. Das bedeutete, während 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr – ausgenommen zur Ferienzeit – in Bereitschaft zu sein.

Ich versuche mich an jene Zeit vor 1996 zu erinnern. Damals war ich noch sehr spitalgläubig. Ich meine damit: Wenn in einem Spital-, Spezialarzt- oder Röntgenbericht stand, dass dies oder jenes zu tun oder weiter abzuklären sei, habe ich dies ‹auftragsgemäss› durchgeführt. Ich nahm mich als den verlängerten Arm des Spitals und der Spezialisten wahr. Das bürgte für ‹richtiges› Tun und Handeln.

Eigenständiges, aktives Unterlassen von spezialärztlichen Anweisungen hätte damals nicht in mein Denkschema gepasst. Dieses Verhalten gab mir Sicherheit. Dass die Hausarztmedizin eine eigene Epidemiologie hat, war mir nicht bewusst. Mit der Zeit begann ich trotzdem, bewusst solche Aufträge zu weiteren Untersuchungen nicht mehr umzusetzen, weil sie mir nicht sinnvoll schienen. Ich erlebte, dass ich damit im Sinne meiner Patienten handle.

Darüber mit Kollegen zu sprechen, hätte ich jedoch nicht gewagt, denn ich befürchtete, dass es mir als sorgloses Handeln hätte ausgelegt werden können. Mir von anderen Ärzten in die ‹Karten blicken zu lassen›, wäre damals für mich unerträglich gewesen. Mein Selbstvertrauen in mein hausärztliches Handeln gegenüber meinen Berufskollegen war sehr klein. Ich ging nicht an Kongresse. Das war für die ‹Gescheiten›. Da hätte ich nichts beitragen können, dachte ich. Ich hätte damals auch kein Tutoriat bspw. für einen Gruppenunterricht übernommen. Dafür war ich zu wenig geeignet, wie mir schien.

Es dauerte rund zehn Jahre, bis für mich dieses Handeln im Auftrag der Sekundär- und Tertiärmedizin nicht mehr tragbar war. Ich fühlte mich sehr allein und allein gelassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, weitere 20 Jahre als Hausarzt zu arbeiten. Einem Burnout nahe, suchte ich zu jenem Zeitpunkt nach Lösungen und fand sie in Kursen für systemisch lösungsorientiertes Denken und Handeln. Daraus ergab sich für mich eine aussergewöhnlich positive persönliche und berufliche Wende.

Das Thema Ärzteplethora, der Überschuss an Ärzten, prägte den öffentlichen Diskurs der 1980er Jahre. In der medialen Berichterstattung ging es in meiner erinnerten Perzeption in erster Linie um Tariffragen, um den Streit zwischen Ärzteschaft und Versicherern. Der Taxpunktwert stieg jährlich zuverlässig an. Gelegentlich sperrten die Krankenkassen als Kampfmassnahme die Auszahlung der Honorare. Das war damals beim «Tiers payant»3 möglich. Die Argumente für die Tariferhöhungen bauten wahrscheinlich vor allem auf der Teuerung auf. An die Qualität als Argument erinnere ich mich nicht.

Das alles muss für Dich schrecklich tönen.

Herzlich, Bruno

Lieber Bruno20. Juni 2013

Deine Schilderungen zum Aufkommen der Qualitätsdiskussionen in den 1990er Jahren decken sich mit meinen Recherchen. Während beispielsweise in den 1970er Jahren Qualität noch weitgehend technisch im Sinne der Messgenauigkeit von Laborgeräten oder Röntgenapparaten verstanden wurde, verband man den Begriff «Qualität» nun zunehmend mit der direkten ärztlichen Arbeit. Die Ärzteplethora der 1980er Jahre, die Du erwähnst, bewirkte, dass der Status der Ärzte nicht mehr unantastbar war: Man hatte ja genügend Ärzte oder Anwärter und konnte deshalb auch mit Forderungen an Euch gelangen. Man verlangte von Euch zunehmend, dass Ihr Eurer Tun erklärt und begründet. Die Ärzteschaft war gegenüber diesen Forderungen gespalten, und sie ist es bis heute geblieben.

Im Gegensatz zur Schweiz waren Qualitätsdiskussionen in anderen westlichen Ländern bereits seit den 1950er Jahren ein Thema. Ein Hauptgrund liegt wohl darin, dass das britische und das amerikanische Gesundheitssystem schon früh verstaatlicht wurden und die Ärzte durch die damit einhergehenden finanziellen Regulierungen und externen Qualitätskontrollen weniger Handlungsfreiraum genossen als die Schweizer Ärzte. Die Schweizer Hausarztmedizin erlangte zudem in deutlichem Kontrast zu Ländern wie Dänemark, Deutschland oder England erst im 21. Jahrhundert akademische Anerkennung.

Du schreibst, dass Qualität in Deiner ersten Zeit als praktizierender Hausarzt ein persönliches Thema für Dich war, ein Thema, das Du bloss an die eigenen Ansprüche koppeltest. Das änderte sich grundlegend mit der KVG-Revision: Die darin enthaltenen Transparenzforderungen implizierten, dass dieses persönliche Empfinden abgebildet und standardisiert und damit gegen aussen gerichtet wird.

Der Streit zwischen Versicherern und Ärzteschaft wurde durch die Qualitätsforderungen des KVG nicht etwa gelöst, sondern eher noch verschärft. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen davon, was Qualität ausmacht und wie und zu welchem Zweck sie gemessen werden soll. Während die Versicherer an Ergebnissen (outcome-Qualität) interessiert sind, um mit Vergleichspunkten (Benchmarks) die einzelnen Ärzte vergleichen und gegebenenfalls sanktionieren zu können, geht es der Ärzteschaft um etwas anderes. Sie möchte Prozessqualität abbilden und betont, dass eine Kosten/Nutzen-Analyse von Qualitätsmassnahmen kaum quantifizierbar ist. Zudem will die Ärzteschaft die Daten von einzelnen Ärztinnen und Ärzten nicht aus der Hand geben, weil sie befürchtet, dass damit einzelne Ärztinnen und Ärzte von den Versicherungen kontrolliert und allenfalls sanktioniert werden könnten.

Ab 1996 genügten Eure persönlichen Qualitätsbemühungen also nicht mehr. Nun wollte man Euch in die Karten schauen. Deine Schilderungen zeigen eindrücklich, wie schwer dies früher den Hausärztinnen und Hausärzten gefallen sein muss, sich untereinander auszutauschen. So muss diese Forderung, Eure Arbeit nach aussen auszuweisen, sehr einschneidend gewesen sein. Ein Hausarzt, den ich für meine Dissertation interviewt habe, hat dazu gesagt:

Unter dem Mantel ‹Qualität› hat man die Ärzte dazu gezwungen, miteinander darüber zu reden, was wir überhaupt damit meinen. Vorher hat einfach jeder für sich selber gearbeitet.

In Deinen Schilderungen kommt diese Tendenz der individuellen Auseinandersetzung mit Qualität sehr deutlich zum Ausdruck. Die externe Qualitätsforderung hat also vielleicht das Potential, eine kollektive Reflexion anzuregen und das Konkurrenzgefühl unter den Hausärzten zu durchbrechen. Bestimmt ist das aber zu plakativ dargestellt, es gibt ja auch innerhalb der Hausärzteschaft durchaus verschiedene Lager.

Eine Vollzeitverfügbarkeit wie Du sie schilderst, ist für angehende Hausärztinnen und Hausärzte heute kaum mehr vorstellbar. Sie streben andere Arbeitsmodelle an, arbeiten Teilzeit beispielsweise in Gruppenpraxen. Qualität bedeutet für den Nachwuchs also nicht mehr zwingend Dauerpräsenz. Das schliesst das caring oder – um diesen überstrapazierten Begriff zu verwenden – eine ‹ganzheitliche› Behandlung aber nicht aus.

Deine Spitalgläubigkeit in den 1980er und frühen 1990er Jahren war sicher auch durch die Etablierung der evidenzbasierten Medizin mit ihren Behandlungsrichtlinien und gold standards geprägt. Die Normativität dieser Richtlinien lässt sich am Begriff «best practice» ablesen, der anzeigt, dass es klinische Abläufe gibt, die andere deutlich überragen. Heute hat sich die EBM weitgehend in den Praxisalltag eingefügt, aber in den 1990er Jahren entstand als Gegenbewegung dazu die narrativ-basierte Medizin4. Sie interessierte Euren Qualitätszirkel stark, weil sie für jene Bereiche des ärztlichen Berufsalltags Begriffe und Konzepte zur Verfügung stellte, die in Krankgeschichten oder Lehrbüchern kaum dokumentiert werden. Der Aspekt des Unterlassens, wenn eine Richtlinie bewusst nicht eingehalten oder abgeändert wird, kann damit zusammenhängen, dass eine Behandlung auf den spezifischen Patienten aus medizinischen Gründen nicht passt. Aber ich erinnere mich auch an weitere Punkte, die bei meiner Datenerhebung genannt wurden, dass auch andere Faktoren eine Rolle spielen können, wie beispielsweise Bequemlichkeit, Antipathie, Zeitnot.

Herzlich, Andrea

Liebe Andrea11. Juli 2013

Entschuldige mein langes Schweigen. Ich war Ende Juni am WONCA5-Weltkongress in Prag. WONCA, das ist die internationale Vereinigung der Hausärztinnen und Hausärzte. Jetzt arbeite ich wieder die zweite Woche in der Praxis, dann geht es in den nächsten beiden Wochen schon in die Sommerferien. Rund um Praxisabwesenheiten und ganz besonders, wenn diese wie jetzt so nahe beieinander liegen, häufen sich Vor- und Nachferienarbeiten für die Praxis und die Patienten. Es kommt hinzu, dass ich durch die Vorbereitung der Präsentationen am Kongress und mit der inneren und äusseren Verarbeitung des Erlebten emotional und gedanklich absorbiert war und mich erst jetzt wieder in unseren Qualitätsdialog einklinken kann.

Mit dem neuen KVG gab es tatsächlich mehr Druck auf uns Ärzte, wir waren nun gezwungen, uns mit der Dokumentation unserer Qualität zu befassen. Die Weiterbildung zum Facharzt und die freiwillige Fortbildungstätigkeit (die nicht nachzuweisen war)hatten als Qualitätsgrundlage in der Praxis ihre Glaubwürdigkeit verloren. Wir wurden damals mit der Donabedian’schen Trias bekannt gemacht: mit Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität6. Mit den beiden ersten Punkten konnten wir uns anfreunden. Am Resultat jedoch wollten wir uns von Anfang an nicht messen lassen.